Gerd-Günter Voß: “Autark, selbstbestimmt und motiviert - Der Mitarbeiter der Zukunft

SWR2 AULA - Prof. Gerd-Günter Voß: “Autark, selbstbestimmt und motiviert - Der Mitarbeiter der Zukunft”

Autor und Sprecher: Prof. Dr. Gerd-Günter Voß *Technische Universität Chemnitz
Institut für Soziologie/Industrie- und Techniksoziologie
(Chemnitz University of Technology - Department of Sociology)
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A K T U E L L
Neuerscheinung:
Huchler, N./Voß, G.G./Weihrich, M. (2007):
Soziale Mechanismen im Betrieb. Empirische und theoretische Analysen zur Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit.
München, Mering: R. Hampp.

Matuschek, I./Arnold, K./Voß, G.G. (2007):
Subjektivierte Taylorisierung. Organisation und Praxis medienvermittelter Dienstleistungsarbeit.
München, Mering: R. Hampp.

Nach wie vor in der öffentlichen Diskussion:
Voß, G.G./Rieder, K. (2005):
Der arbeitende Kunde. Wie Konsumenten zu unbezahlten Mitarbeitern werden.
Frankfurt a.M., New York: Campus. 2. Auflg. 2006 i.E.

SWR2
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Dienstag, 1. Mai 2007, 8.30 Uhr, SWR2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

INHALT

Ansage:
Heute mit dem Thema: „Autark, selbstbestimmt und hoch motiviert - der Mitarbeiter der Zukunft“.

Es gibt ein Zauberwort, unter dem man fast alle wichtigen sozialen Strömungen unserer Gesellschaft zusammenfassen kann, es heißt: Individualisierung. Damit ist gemeint: Wir Post-Postmodernen geben uns nicht mehr ab mit standardisierten Denk- und Handlungsabläufen, wir lassen uns nicht mehr von oben kontrollieren, wir wollen flache Hierarchien, Transparenz, Flexibilität, wir wollen Herausforderungen, die uns über uns selbst hinauswachsen lassen.

Genau diese Ideologie ist auch mittlerweile in die Arbeitswelt eingesickert und hat einen ganz neuen Typus des Arbeitnehmers kreiert. Das sagt Gerd-Günter Voß, Professor für Industrie- und Arbeitssoziologie an der Universität Chemnitz, Voß beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Wandel der Arbeits- und Lebenswelt. Und dieser neue Typus - so Voß - signalisiert zugleich einen Paradigmenwechsel in der Arbeitswelt, der Vor- aber auch viele Nachteile mit sich bringt.

In der SWR2 AULA skizziert Voß den neuen Arbeitnehmer und die Gefahren dieses Paradigmenwechsels:


Gerd-Günter Voß:

Bisher dominierte eine spezifische Form von Arbeitskraft, wir nennen sie in unseren Untersuchungen den „ver-beruflichten Arbeitnehmer“, der nun - so unsere These - von einem grundsätzlich neuen Typus nach und nach abgelöst wird. Man kann diesen neuen Typus den „Arbeitskraftunternehmer“ nennen.

In diesem Zusammenhang wird auch öfter davon gesprochen, dass Arbeitskräfte zu Unternehmern werden oder werden sollen, etwa wenn man von der Ich-AG redet oder von Selbst-GmbH oder vom Lebensunternehmer oder der Ich-Aktie und vieles andere mehr.

Unsere Überlegungen - soviel noch vorab - sind sehr allgemein und sie sind bewusst pointiert, und letztlich sind sie auch prognostisch. Wir möchten damit jedoch auf einen möglichen grundlegenden Wandel der Arbeit an einer ganz bestimmten Stelle hinweisen, der, wenn wir Recht haben, erhebliche Folgen haben wird.

Damit zu meinem Thema: Ich beginne mit der Frage, wie Betriebe in neuer Weise mit Arbeitskraft umgehen. In den letzten Jahren vollziehen sich in fast allen Bereichen der Wirtschaft Reorganisationsprozesse in einer bisher nicht gekannten Qualität. Manche vergleichen das mit dem Übergang von der traditionellen zur industrialisierten Gesellschaft. Hintergrund ist primär ein drastisch verschärfter nationaler und internationaler Wettbewerb, Stichwort: Globalisierung. Dies erfordert in den Betrieben nicht nur einen massiven Kostenabbau oder eine Produktivitätssteigerung, sondern vor allem auch eine Erweiterung der Reaktionspotenziale und der Produktqualitäten. Die bisher weitgehend vorherrschende Strategie der Betriebe zur Nutzung von Arbeitskraft durch eine rigide Detailsteuerung wird dabei in vielen Bereichen zum Hindernis. Darüber sind sich alle Beobachter einig. Folge ist, dass nun zunehmend versucht wird, die Verantwortlichkeiten und Spielräume der Arbeitenden zu erhöhen, um Flexibilität und Innovativität freizusetzen. Die Industriesoziologen sprechen hier von einer zunehmenden „Autonomisierung“ oder auch „Subjektivierung der Arbeit“.

Das passiert nicht überall, aber doch in vielen Branchen und in vielen Berufsfeldern, und zum Teil geht das bis auf die Ebene der Arbeiter und der einfachen Angestellten. Es geht dabei nicht um wirkliche neue Autonomie der Arbeitenden, es geht allein um erweiterte Spielräume, die im Interesse der Unternehmen genutzt werden sollen, mit meist erheblich steigendem Leistungsdruck.

Für die Arbeitskräfte bedeutet dies nun, dass sie immer mehr ihre Arbeit selbstorganisiert betreiben können, dies aber auch - was nicht immer gesehen wird - tun und vor allen Dingen können müssen. Wenn man genau hinschaut, erkennt man, dass dabei der Tendenz nach das Verhältnis von Betrieb und Arbeitskraft auf eine weitgehend neue Grundlage gestellt wird. Statt detaillierter Durchstrukturierung von Arbeit werden zunehmend so etwas wie „temporäre Auftragsbeziehungen“ gebildet. In der Industriesoziologie spricht man auch davon, dass die Arbeitssteuerung auf „Ergebnisorientierung“ umgestellt wird. Das ist Teil einer generell verstärkten Nutzung marktförmiger Mechanismen in der Betriebsorganisation. Die Entwicklung ist nicht ganz neu, so etwas wie Delegation oder partizipative Führung sind z. B. Auftragskonzepte, die schon länger propagiert werden, wenn sie auch nicht immer konsequent angewendet wurden. In den letzten Jahren hat sich dies jedoch massiv ausgeweitet.

Neue, verstärkt auf Selbstorganisation beruhende Formen von Arbeit haben vielfältige Erscheinungen, und man kann grob zwei Bereiche unterscheiden: Zum einen neue Formen der Strukturierung von Arbeit im Rahmen von konventionellen Beschäftigungsverhältnissen: Gruppen- und Teamarbeit, Projektorganisation, Führung durch Zielvereinbarung, hochflexible Arbeitszeiten etwa über Arbeitszeitkonten, sogenannte Profit-Center oder Entrepreneur-Konzepte, wo Arbeitnehmer interne Unternehmer im Unternehmen werden, neue Heimarbeit, massive Mobilarbeit und vieles andere mehr.

Immer mehr finden sich aber auch so etwas wie betriebsübergreifende Arbeitsverhältnisse, mit denen Arbeitskraft im Zuge von Auslagerungsstrategien flexibler genutzt werden soll, so z. B. bei der Kooperation von Betrieben mit sogenannten Scheinselbständigen, bei der Auslagerung von Aufgaben auf echte Selbständige und Unterauftragnehmer, bei sogenannten virtuellen Betrieben und Abteilungen.

Die Verbreitung solcher Formen ist mangels Daten schwer abzuschätzen. Die Zahlen sind jedoch keineswegs gering, und sie haben eine deutlich steigende Tendenz. Dass es zunehmend auf Selbstorganisation beruhende Formen gibt, wird daher weitgehend gesehen. Dass den doch sehr verschiedenen Formen vieles gemeinsam ist, das ist nicht immer so offensichtlich. Erlauben Sie mir dazu einen Ausflug in die Theorie meines Fachs, der Arbeits- und Industriesoziologie:

Es geht um das sogenannte Transformationsproblem, das meint, dass Betriebe bei der Anstellung von Mitarbeitern nicht fertige Arbeit kaufen - was sie gerne tun würden -, sondern sie kaufen allein das Recht auf eine zeitweise Nutzung des Potentials von Personen, überhaupt arbeiten zu können. Das sichert jedoch bedauerlicherweise keineswegs, dass die gewünschte Arbeitsleistung auch tatsächlich erbracht wird. Der Betrieb steht damit notorisch vor dem Problem, dass das arbeitsvertraglich gekaufte, sozusagen latente, Arbeitsvermögen in manifeste, nützliche Arbeitsleistung transformiert werden muss. Daher der Ausdruck Transformationsproblem. Lösung des Problems ist die gezielte Kontrolle oder Steuerung von Arbeit durch vielfältige organisatorische und technische Verfahren.

Lange Zeit war nun theoretisch wie vor allen Dingen auch praktisch relativ klar, dass bis auf einige Ausnahmen eine möglichst rigide Kontrolle der Arbeitnehmer die optimale Strategie sei, und der Taylorismus war diesbezüglich ein weitgehend akzeptiertes Leitbild. Diese Strategie stößt nun - wie gesagt - zunehmend an Grenzen. Verschärfung von Kontrolle und Steuerung erzeugt nicht nur überproportional Kosten, sondern sie behindern vor allem die immer wichtigere Innovationskraft und Flexibilität der Arbeitenden. Folge ist, dass nun geradezu das Gegenteil von dem propagiert wird, was bisher eine Leitlinie war, also jetzt geht es darum: Kontrolle zu reduzieren, Freiräume zu schaffen, Selbstorganisation zu fördern usw. Und für alle Beobachter ist das eine ganz neue Welt.

Das bedeutet keineswegs, dass betrieblich auf Steuerung verzichtet würde. Das wäre auch sehr verwunderlich. Im Gegenteil: Die Rücknahme von direkter Arbeitssteuerung ist meist von einer Ausweitung indirekter Steuerungen begleitet, z. B. durch eine gezielte Kontrolle strategischer Betriebsparameter: Kosten, Umsatz, Lagerhaltung, Qualität, Kundenzufriedenheit und vieles andere mehr. Und das passiert oft auf Basis datentechnischer Systeme. Es ist kein Zufall, dass die Berufsgruppe der Controller in diesem Prozess eine hohe Konjunktur hat.

Der entscheidende Unterschied ist trotzdem die bemerkenswerte Tatsache, dass zunehmende direkte Kontrolle in den Betrieben zurückgenommen wird. Das heißt jedoch nichts anderes, als dass das komplizierte und vor allen Dingen auch teure Geschäft der Transformation von Arbeitspotential in Arbeitsleistung - Sie erinnern sich - zunehmend den Beschäftigten selber zugewiesen wird. Sie müssen nun immer mehr diese basale betriebliche Funktion übernehmen. Man versucht also das Transformationsproblem dadurch besser zu lösen, dass man es, wie Soziologen sagen würden, in die personale Umwelt des Betriebes verlagert, also es wird in neuer Weise externalisiert, nach außen gegeben.

Die Auslagerung von Aufgaben wird seit einiger Zeit als strategische Gestaltungsdimension von Betrieben angesehen. Hier geht es jedoch um ein Outsourcing der ganz besonderen Art. Einmal, weil hier eine betriebliche Kernfunktion verstärkt nach außen verlagert wird. Vor allem aber, weil die Instanzen, auf die diese Funktion ausgelagert wird, diejenigen sind, auf die sich die Aufgabe richtet. Oder anders ausgedrückt: Die, die das Problem erzeugen, müssen es jetzt auch immer mehr lösen. Damit komme ich zur Idee des Arbeitskraftunternehmers.

Externalisieren Betriebe verstärkt das beschriebene Transformationsproblem, müssen es, was trivial ist, die Beschäftigten internalisieren, d. h. sie müssen diese erweiterte neue Anforderung zunehmend übernehmen und auch bewältigen. Sollte sich diese Entwicklung ausweiten - und vieles deutet darauf hin -, dürfte dies nicht nur individuelle Folgen für die einzelnen Personen haben. Dies könnte vielmehr, so unsere zentrale Annahme, eine grundlegende Veränderung der generellen Verfassung von Arbeitsvermögen in unserer Gesellschaft nach sich ziehen.

Bisher dominierte eine Form von Arbeitskraft, die darauf ausgerichtet und dazu ausgebildet war und immer noch ist, ihre Arbeitsfähigkeit an einen Betrieb gegen Lohn zu verkaufen und sich eher passiv Kontrollanweisungen zu unterwerfen. Nun entsteht jedoch eine regelrechte Umkehrung. Arbeit heißt immer weniger die Erfüllung fremdgesetzter Anforderungen bei geringen Gestaltungsspielräumen und fixen Ressourcen. Zunehmend ist genau das Gegenteil verlangt: Aktive Selbststeuerung im Sinne allgemeiner Unternehmenserfordernisse, die im Detail erst definiert und für die Ressourcen erst noch beschafft und dann auch noch kostenbewusst gehandhabt werden müssen. Aus dem eher reaktiv agierenden Arbeitnehmer muss ein neuer Typus von aktiver Arbeitskraft entstehen. Diese Arbeitskraft zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie sich auf dem Arbeitsmarkt, vor allen Dingen auch innerhalb ihres Tätigkeitsbereichs, kontinuierlich zur Leistung anbietet und dann im Prozess selbst organisiert. Man kann sagen, sie muss zunehmend über unternehmerische Eigenschaften und Qualifikationen verfügen.

Mit drei Merkmalen kann man diesen neuen Typus näher bestimmen. Die Verlagerung des Transformationsproblems auf die Arbeitenden bedeutet, wie gesagt, dass nun die arbeitenden Personen selber die Umformung ihres sozusagen „rohen“ Fähigkeitspotenzials in konkrete Arbeitsleistung steuern und überwachen. Damit wird jedoch die vom Betrieb gekaufte Arbeitskraft um ein entscheidendes Moment bereichert. Die bisher dem Betrieb zufallende Steuerung von Arbeitskraft ist nun zunehmend Teil der gekauften Arbeitskraft, und sie wird dadurch zu einem substantiell höherwertigen Produktionsfaktor. Nehmen Sie als Beispiel die Mitglieder eines stark selbst organisierten Projektteams im Vergleich zum ruhenden Potenzial relativ gleichgültiger Lohnabhängiger, die durch den aufwändigen Einsatz von Vorgesetzten, Lohnsystemen, Disziplinartechniken usw. zur Leistung genötigt werden müssen. Erstere liefern dem Betrieb fast ohne sein Zutun schon die weitgehend unmittelbar verwendbare qualifizierte Leistung, und zwar als Ergebnis der Selbstkontrolle der einzelnen Teammitglieder. Zum Teil wird dies begleitet von ganz neuen Leitformeln in den Betrieben, z. B. heißt es manchmal: „Macht, was Ihr wollt, aber seid profitabel!“

Zweites Merkmal: Wichtige Folge der verstärkten Auslagerung der Kontrollfunktion für die Betroffenen ist, wie vorhin schon gesagt, dass sie sich auf dem Arbeitsmarkt wie vor allem innerhalb der Betriebe zunehmend völlig anders verhalten müssen als bisher. Aus einem Arbeitnehmer, der in der Regel eher reaktiv Anweisungen ausführt und höchstens punktuell seine Potenziale einsetzen kann, muss nun ein kontinuierlich effizienzorientiert handelnder Akteur werden. Ein Akteur, der seine Fähigkeit hochgradig gezielt auf eine wirtschaftliche Nutzung hin entwickeln und auch noch verwerten muss. Dies bedeutet jedoch nichts anderes, das sagen Industriesoziologen, als eine verstärkte Selbstökonomisierung der Arbeitskraft, und zwar gleich in doppelter Hinsicht: Zum einen müssen Arbeitskräfte zunehmend ihre Fähigkeiten und Leistungen sozusagen zweckgerichtet und kostenbewusst aktiv herstellen, d. h. sie betreiben immer mehr eine Art systematischer Produktionsökonomie ihrer selbst. Zum anderen müssen sie ihre Fähigkeiten und Leistungen zunehmend auf betrieblichen und überbetrieblichen Märkten für Arbeit aktiv vermarkten. Und sie müssen gezielt sicherstellen, dass ihre Fähigkeiten und Leistungen gebraucht, gekauft und dann auch noch effektiv genutzt werden. Das ist nichts anderes als eine Form von individueller Marktökonomie.

Noch einmal das Beispiel Projektarbeit: Wer hier abwartet, bis seine Qualifikationen veraltet sind, und wer auf detaillierte Vorgaben für seine Arbeit hofft, der hat schon verloren. Er gilt als unselbständig, unflexibel, lernunfähig und nicht teamfähig. Nur wer seine Fähigkeiten kontinuierlich anpasst, nur wer sich darum bemüht, dass seine Leistungen in der richtigen Form an die richtige Stelle kommen und vom Betrieb profitabel genutzt werden können, und wer auch noch dafür sorgt, dass man das sieht, nur der hat bei intensiver Projektorganisation eine Chance. Das gilt erst recht für Entrepreneure, Tele-Heimarbeiter, Mobilarbeiter usw. Es reicht also im Zuge der geschilderten Entwicklung nicht mehr, einmal berufliche Kompetenzen zu erwerben und diese hin und wieder einem Beschäftiger anzubieten und dann innerbetrieblich auf Weisungen zu warten, denen man dann mehr oder weniger fleißig nachkommt. Jetzt müssen in ganz neuer Weise Fähigkeiten und Leistungen fortwährend ausgebaut und auf echten wie innerbetrieblichen Märkten angeboten werden. Aus Arbeitnehmern werden auch ökonomisch Unternehmer ihrer selbst. Auch hierzu hört man neue Töne, z. B.: „Sie bleiben nur so lange wie Sie sicherstellen und nachweisen, dass Sie Profit erwirtschaften.“

Drittes Merkmal: Müssen Arbeitskräfte in diesem Sinne zunehmend eine systematische Selbstproduktion und aktive Selbstvermarktung betreiben, so wird dies auch eine neue Qualität ihres gesamten Lebens nach sich ziehen. Aus einem noch „naturwüchsigen“ Leben mit starren Formen von Arbeit und Freizeit muss eine systematische Organisation des gesamten Lebenszusammenhangs werden. Nur so ist man in der Lage, den erhöhten Anforderungen an eine erweiterte Produktion und Vermarktung seiner selbst gerecht zu werden. Ein letztes Mal unser Beispiel mit der Projektarbeit: Nur wer als Mitglieder einer dynamischen Projektgruppe in der Lage ist, seinen gesamten Alltag flexibel und gut organisiert auf die Erfordernisse des Teamprozesses auszurichten, kann hier noch mithalten. Wer während einer Stressphase etwa auf feste Arbeits- und Urlaubszeiten pocht, wird nicht lange bleiben. Arbeitszeiten und alles andere auch müssen nicht nur mit den Kollegen, sondern auch mit der Familie, den Freunden und Verwandten koordiniert werden. Und während des Projekts muss man immer schon den nächsten Auftrag vermutlich mit ganz anderen Kollegen und vielleicht sogar einen ganz neuen Job vorbereiten. Auch dies gilt erst recht für Heim- und Mobilarbeiter, die Scheinselbständigen usw. Und auch hier gibt es neue Formeln, z. B.: „Wir brauchen Sie voll und ganz an jedem Ort und zu jeder Zeit und dazu müssen Sie Ihr Leben voll im Griff haben.“

Was die Produzenten und Verkäufer von Arbeitskraft mit einer solchen Durchgestaltung ihres Lebens aber tun, gleicht immer mehr dem, was diejenigen tun, die Waren anderer Art produzieren und verkaufen. Sie entwickeln und unterhalten nichts anderes als eine Art Betrieb. Das ist natürlich kein Betrieb im gewohnten Sinn, die Mechanismen sind aber bis ins Detail die gleichen.

Das, was ich gerade beschrieben habe, ist der neue mögliche Leittypus von Arbeitskraft für eine verstärkt marktorientierte und globalisierte Wirtschaft, und zwar als Nachfolger für den bisher bei uns typischen Arbeitnehmer. Historisch gesehen kann man dies in ein idealtypisches Schema der Entwicklung moderner Arbeitskraft einordnen. Nur ganz kurz dazu:
Mit der Industrialisierung entsteht als eine ganz neue Form von Arbeitskraft der Typus des im wesentlichen sozial ungeregelten und hochgradigen ausgebeuteten proletarischen Lohnarbeiters. Später mit dem Fortschreiten der Industrialisierung bildete sich das für uns bis heute leitende Modell des stark sozialstaatlich regulierten und nur gedämpft ausgebeuteten Arbeitnehmers. Aktuell zeichnet sich ein neuer Typus ab, der kaum mehr sozial regulierte, im Gegenzug aber hoch individualisierte und auf den Markt ausgerichtete und in ganz neuer Weise sich selbst kontrollierende Arbeitskraftunternehmer, der selber eine Art Betrieb betreibt. Das ist natürlich nur sehr grob und idealtypisch gemeint, und der Übergang wird keinesfalls schnell und schon gar nicht unkompliziert verlaufen; und er kann manche überraschende Konsequenzen haben.

Damit komme ich zu den gesellschaftlichen Folgen. Es geht um Macht und Herrschaft in der Arbeitswelt. Die entscheidende Eigenschaft des neuen Arbeitskrafttypus sind seine erweiterten Handlungsspielräume oder seine Autonomien. Damit stellt sich die Frage, ob zentrale Aspekte der bisherigen stark fremdbestimmten Nutzung von Arbeitskraft nun überflüssig werden. Sind damit traditionelle Phänomene und Begriffe wie Herrschaft, Ausbeutung oder die Interessendifferenz von Kapital und Arbeit historisch überholt? Managementnahe Veröffentlichungen unterstellen dies nicht selten. Industriesoziologen beharren dagegen mit guten Gründen darauf, dass sich an diesen Momenten eigentlich nichts ändert.

Für mich ist das ein wenig komplizierter. Auch stärker autonomisierte Arbeitsformen finden nicht im herrschaftsfreien Raum statt. An die Stelle direkter betrieblicher Einflussnahme tritt jetzt zunehmend eine auf ganz neue Weise indirekte Macht: eine Beherrschung von Arbeit durch die systematische Nutzung und Zurichtung der menschlichen Fähigkeiten, sich eigenverantwortlich selbst zu steuern, also eine Herrschaft, die die Arbeitskräfte über sich selber ausüben, mit der sie jedoch nach wie vor Ziele erreichen müssen, die nicht ihre eigenen sind, und unter Bedingungen, die sie nur partiell beeinflussen können. Es könnte sich erweisen, dass die Nutzung der Selbstbeherrschung von Menschen nicht nur billiger, sondern vor allem wesentlich effektiver ist. Denn kein Vorgesetzter kann Mitarbeiter so gut zu Leistung bewegen wie sie selbst. Die Arbeitskräfte übernehmen damit sozusagen die Rolle des Unternehmers nicht nur sachlich, sondern auch sozial in der Herrschaftsdimension. Sie tun dies, indem sie sich zu sich selber wie ein Herrschaft ausübender Unternehmer verhalten. Sie installieren in sich selber einen Herrschaftszusammenhang, wir nennen das die Selbstbeherrschung, der aber in einen fremden Herrschaftszusammenhang, dem Betrieb, eingebunden bleibt.

Dass Betriebe auf Märkten Ressourcen einkaufen, um sie dann auszubeuten, ist trivial. Nichts anderes geschieht mit Arbeitskraft. Der neue Typus von Arbeitskraft wird aber auf keinen Fall so drastisch ausgepowert wie etwas das Proletariat während der frühen Industrialisierung. Die Nutzung des Arbeitskraftunternehmers entspricht aber auch nicht mehr der Nutzung von traditionellen Arbeitnehmern, also Arbeitskräften, die mit standardisierten Fähigkeiten auf regulierten Arbeitsmärkten besorgt werden, um sie dann in durchkontrollierten Arbeitszusammenhängen auf mehr oder weniger humane Weise auszunutzen. Der Arbeitskraftunternehmer hat und braucht dem gegenüber ein wesentlich selbstbewussteres individuelleres und vor allem autonomeres Verhältnis zur Verwertung seiner Fähigkeiten. Betrieblich muss er entsprechend eingesetzt und geführt werden, was nicht einfach ist, will man seine Potentiale wirklich nutzen. Trotzdem geht es auch beim Arbeitskraftunternehmer um eine möglichst effiziente betriebliche Ausbeutung seiner Potenziale, und zwar mehr denn je. Aber auch hier ist die Bewertung kompliziert.

Charakteristisch ist, dass sich in neuen Arbeitsformen Arbeitskräfte zunehmend selber ausbeuten. Und auch hierbei kann sich zeigen, dass keiner aus einem Menschen so viel herausholt wie er selbst. Da nämlich, wo konventionelle betriebliche Kontrolle immer wieder an kaum zu überwindende Grenzen der Leistungsgewinnung stößt, kann man durch den Einsatz von Arbeitskraftunternehmern ungehobene Schätze zutage fördern. Mit Arbeitskraftunternehmern kann man hoffen, das zu nutzen, was selbst den kooperativsten Personalführern meistens unzugänglich bleibt, nämlich die tiefsten Schichten menschlicher Fähigkeiten und Potenziale, z. B. Kreativität und Fantasie, Begeisterungsfähigkeit und der Wille zur ultimativen Leistung, Erfahrungswissen und Gespür, Reaktionsvermögen und Lernbereitschaft, Kooperationsfähigkeit, Loyalität, Solidarität und viele andere Elemente und Gefühle. Das ist das Objekt der Begierde, wenn Betriebe Selbstorganisation ermöglichen. Es geht um einen grundlegend erweiterten und letztlich sogar totalen Zugriff auf Arbeitskraft. Und dies wird auch völlig offen so formuliert.

Auch der für unser Wirtschaftssystem nach wie vor konstitutive Interessenkonflikt von Kapital und Arbeit bekommt eine neue Qualität. Auf den ersten Blick ist der Arbeitskraftunternehmer der Typus, der am weitesten die seit Jahren zu beobachtende Verschiebung des Interessensgegensatzes auf einer arbeitsplatznahen Ebene repräsentiert. Er übernimmt derart weitgehend betriebliche Funktion, dass er wie das Management nahezu schon das Lager gewechselt hat. Trotzdem taucht auch dabei der Interessenswiderspruch in voller Drastik wieder auf, genau dann nämlich, wenn Arbeitskräfte die Betriebsinteressen derart weitgehend verinnerlichen und sich selber kontrollieren, genau dann holen sie auch den Interessenkonflikt in sich hinein. Zunehmend empfinden sie „zwei Seelen in ihrer Brust“. Sie sind nach wie vor abhängig Beschäftigte, zugleich aber Arbeitskräfte, die mehr als alle anderen gelernt haben, im Sinne eines fremden Unternehmers zu handeln, zu denken und auch zu fühlen. Der industriegesellschaftliche Grundkonflikt findet damit aber nur noch bedingt zwischen Betrieb und Arbeitsperson und ihren Vertretern in den Gewerkschaften statt, darüber hinaus findet er zwischen zwei Seiten ein- und derselben Person statt. Mit anderen Worten: Nicht nur die Kontrollfunktion wird verstärkt betrieblich nach außen gegeben und dann von den Arbeitskräften internalisiert, sondern auch der Klassenkampf.

Ein zweites Thema: Die neue Form von Arbeitskraft wirft nicht nur ein neuartiges Licht auf die Arbeitsverhältnisse. In ihr kulminieren vielmehr längerfristige Prozesse des Wandels der Gesellschaft generell. Der Arbeitskraftunternehmer repräsentiert in nahezu idealer Weise den in der Soziologie derzeit verstärkt thematisierten möglichen Übergang der Gesellschaft von einer primär normativen, an Großgruppen gebundenen Vergesellschaftung, zu einer Sozialregulierung, die auf einer verstärkten Selbstvergesellschaftung von Individuen beruht. Die populäre These der Individualisierung spitzt dies in markanter Form zu. Individualisierung bedeutet im Lichte meiner Thesen jedoch keine schöne neue Freiheit der lustvollen Wahl von Lebensstilen, wie es manchmal verstanden wird. Sie erweist sich vielmehr als wachsende Anforderung an eine effiziente Durchgestaltung des eigenen Lebens. Das bedeutet vorwiegend Stress und wenig Selbstverwirklichung. Aus einer bisher eher passiven Lebens- und Vergesellschaftungsweise wird eine aktiv rationalisierte Lebensführung und gezielte Selbstintegration in die Gesellschaft. Exakt dies ist auch die innere Logik der neuen Form von Arbeitskraft.

Ein drittes Thema: Die soziale Ungleichheit. Wie bei vielen sozialen Entwicklungen wird es auch beim Übergang zum neuen Arbeitskraftunternehmer strukturelle Gewinner und vor allen Dingen auch Verlierer geben. Es werden sich diejenigen finden, denen der neue Typus von Arbeitskraft systematisch Vorteile bringt, sozusagen die Erfolgsunternehmer ihrer Arbeitskraft, die jedoch mehr denn je unter massivem Leistungsdruck stehen. Man könnte sie die „Turboarbeitskräfte des Turbokapitalismus“ nennen. Zum anderen wird es aber - keineswegs kleine - Gruppen geben, bei denen die Nachteile einer verstärkt marktorientierten Nutzung von Arbeitskraft kumulieren, das sind wenig erfolgreiche Arbeitskraft-Kleingewerbetreibende und zunehmend sogar ein neues Tagelöhnertum. Die heutige Diskussion über die Unterschicht zielt genau darauf, viele Beispiele aus dem Bereich der Ich-AG können hier auch eingeordnet werden. Der Arbeitskraftunternehmer kann damit für manche eine attraktive neue Herausforderung bedeuten, z. B. in der IT-Industrie, deren Experten stark nachgefragt sind, oder für Freiberufler, die als Consultants in der Industrie arbeiten. Für viele andere wird er aber eine notorische Überforderung und Gefährdung ihrer selbst mit sich bringen. Wie die Gewichte verteilt sein werden, wird wesentlich davon abhängen, wie der Übergang zu einem neuen Typus von Arbeitskraft gesellschaftspolitisch eingebunden wird, d. h. davon, ob es gelingt, sozial- und arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, eine lebbare Existenz als qualifizierter Arbeitskraftunternehmer zu finden und aufrecht zu erhalten. Die Linie zwischen den Gewinnern und den Verlierern dürfte aber mehr noch eine Frage der neuen Kompetenzen sein, nicht der fachlichen Fähigkeiten und auch nicht der heute so oft diskutierten extrafunktionalen Qualifikationen. Mit dem Arbeitskraftunternehmer geraten Kompetenzen ins Blickfeld, und sie sind keineswegs Thema der Bildungspolitik, z. B. die Fähigkeiten zur aktiven Selbstproduktion und Selbstvermarktung, zur effizienten Organisation von Alltag und Lebenslauf, zur Organisation der erforderlichen Sozialbeziehungen (Networking heißt das heute), zum flexiblen Identitätsmanagement, zur Ich-Stabilisierung, zur Begrenzung von Selbstausbeutung und vieles andere mehr. Das sind die zentralen Schlüsselqualifikationen von Arbeitsunternehmern. Und wie gesagt, diese Problematik, diese neuen Kompetenzen sind selten Thema der aktuellen bildungspolitischen Diskussion. Sie widersprechen sogar fundamental den derzeitigen berufsfachlichen Verschlankungen und Verkürzungen von Ausbildung. Dabei müsste man jetzt auf allen bildungspolitischen Ebenen den Menschen helfen, den neuen Anforderungen gerecht zu werden, man müsste ihnen helfen, damit sie auf systematische Weise allgemeine Persönlichkeits- und Lebenskompetenzen ausbilden können.

Zum Schluss eine politische Bemerkung: Der Arbeitskraftunternehmer birgt erhebliche Risiken für die Betroffenen, für die Betriebe, was sie noch nicht ahnen, und für die Gesellschaft insgesamt, was noch selten diskutiert wird. Zugleich entstehen mit ihm aber Chancen für neue Freiheiten in Wirtschaft und Gesellschaft. Man sollte dies nicht unterschätzen. Diese neue Möglichkeiten sind aber nur zu realisieren, wenn der neue Arbeitskrafttypus in einen neuen industriegesellschaftlichen Kompromiss eingebunden wird. Ein Kompromiss, der auf einer flexiblen Neuregulierung und einer neuartigen sozialpolitischen Flankierung der Arbeits- und Sozialverhältnisse beruht. Dies ist keine einfache Aufgabe, politische Schnellschüsse sind überhaupt nicht angesagt. Nur so ist für mich ein ökonomisch nutzbarer, sozial verträglicher und individuell lebbarer Übergang zu einem neuen Modell von Arbeitskraft denkbar.

Den Prozess ungezügelten Marktkräften zu überlassen, halte ich für wirtschaftspolitisch und gesellschaftspolitisch unverantwortlich. Er muss viel mehr gesellschaftlich gestaltet werden. Denn wenn meine Thesen stimmen, dann ist die kapitalistische geprägte Arbeitsgesellschaft keineswegs am Ende - im Gegenteil, sie kommt jetzt erst, und wir müssen entscheiden, wie sie aussehen soll.

Zuletzt noch ein Beispiel, um diesen neuen Typus von Arbeitskraft ein wenig näher zu beschreiben:

Ein positiver erfolgreicher Arbeitskraftunternehmer ist jemand, der in einer erfolgreichen Branche eine seltene Arbeitskraft anbieten kann, etwa ein spezialisierter Experte in der IT-Industrie. Dem werden, um seine spezialisierten Fähigkeiten nutzen zu können, oft sehr große Freiräume eingeräumt. Es wird z. B. eine sogenannte „Vertrauensarbeitszeit“ installiert, das bedeutet, es gibt keine festen Arbeitszeiten mehr. Er kann kommen und gehen, wann er will, er kann Urlaub nehmen, wann er möchte. Das klingt hervorragend. Schaut man sich das näher an, dann merkt man, dass genau unter solchen Bedingungen Arbeitskräfte anfangen, ihren Urlaubsanspruch nicht mehr wahrzunehmen, rund um die Uhr und bis an die Kante ihrer Fähigkeiten und Belastungsmöglichkeiten zu arbeiten. Dies ist an vielen Stellen beschrieben worden. Trotzdem ist es für diese positiven Arbeitskräfte ein wichtiger Schritt, wenn sie lernen, die Selbstausbeutung zu begrenzen.

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* Zum Autor:
Prof. G. Günter Voß wurde 1950 geboren. Nach dem Abitur und nach einer Tätigkeit als Berufsoffizier studierte er Soziologie, Politologie und Psychologie in München.

Anschließend universitäre Assistententätigkeit in München, Voß beschäftigte sich in dieser Zeit mit den Grundlagen sozialwissenschaftlicher Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sowie mit den Entwicklungsperspektiven von Arbeit. Seit 1994 ist er an der TU Chemnitz Professor für Industrie- und Techniksoziologie. Weitere Arbeitsschwerpunkte: Berufssoziologie, Management- und Organisationssoziologie, Alltags- und Lebensführungsforschung.


Auswahl der Bücher:
- (zus. mit Kerstin Rieder): Der arbeitende Kunde. Wenn Konsumenten zu unbezahlten Mitarbeitern werden. Campus
- Lebensführung als Arbeit. Über die Autonomie der Person im Alltag der Gesellschaft. Enke
- Arbeitssituation und Bewusstsein. Campus
- Innovative Verwaltungsarbeit (zus. m. Th. Lau u. a.). Campus

Günter G. Voß : Ohne Lohn - der arbeitende Kunde - ( u.v.a. im Web 2.0 *)

SWR2 Wissen: Aula - Prof. Günter G. Voß : Ohne Lohn - der arbeitende Kunde - ( u.v.a. im Web 2.0 *)
Abschrift eines frei gehaltenen Vortrags. Anmerkung :( kultur-punkt)
Ohne Lohn – der arbeitende Kunde
Autor und Sprecher: Professor G. Günter Voß *
Redaktion: Ralf Caspary
Erst-Sendung: Sonntag, 1. Mai 2011, 8.30 Uhr, SWR2
Wiederholung: Dienstag, 1. Mai 2012, 8.30 Uhr, SWR2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

ÜBERBLICK
Sie sitzen an Ihrem PC und stellen sich bei einer Firma Ihren Traumschuh zusammen: Farbe, Größe, Form, eventuelle Muster - das alles können Sie selbstständig bestimmen. Oder Sie werden via PC von einer anderen Firma dazu aufgefordert, bestimmte Produkte zu beurteilen und eventuell zu verbessern. Beide Beispiele zeigen nicht nur die schöne neue digitale Konsumwelt, sondern auch, welche Gefahren diese Welt mit sich bringt. Sie als Konsument leisten nämlich in den genannten Fällen für bestimmte Firmen unbezahlte Arbeit. Und das ist ein Problem. Professor Günter Voß, Industrie- und Techniksoziologe an der TU Chemnitz, zeigt die Ursachen und Wirkungen dieser Entwicklung. (Produktion 2011)

Autor
Gerd-Günter Voß studierte Soziologie (mit Psychologie und Politischer Wissenschaft) an der Universität München und ist seit 1994 Professor an der Universität Chemnitz. Er leitet dort die Professur Industrie- und Techniksoziologie. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind u. a.: Wandel des Verhältnisses von Produktion und Konsumtion; neue Formen des (technisch vermittelten) betrieblichen Zugriffs auf private Arbeit und Kompetenzen ("Arbeitende Kunden"), vor allem auf Basis 'neuer Medien', wie etwa den web2.0; Wandel des Verhältnisses von Arbeit und Leben, Beruf und Familie ("Lebensführung").
Bücher (Auswahl):
Wie Surfen zu Arbeit wird. Crowdsourcing im Web 2.0. (zus. mit Christian Papsdorf). Campus-Verlag. 2010.
Der arbeitende Kunde. Wenn Konsumenten zu unbezahlten Mitarbeitern werden (zus. mit Kerstin Rieder). Campus-Verlag. 2005.

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INHALT
Das ist ein Wunschtraum der Unternehmen: Sie haben lauter Kunden, die für sie Arbeit verrichten, die man nicht bezahlen muss. Diese Kunden designen sich zum Beispiel selbst die Produkte, die sie kaufen wollen, Taschen, Schuhe, T-Shirts etc.; oder diese Kunden versorgen die Firma mit neuen Ideen in Bezug auf Werbestrategien.
Der Trend ist seit langem zu bemerken, er hat einen neuen Kick durch das Internet erfahren, vor allem durch das neue Web 2.0. Günter G. Voß ist Professor für Industrie- und Techniksoziologie an der TU-Chemnitz, und er beschäftigt sich mit neuen Formen unbezahlter und quasi auch unsichtbarer Kundenarbeit im Internet. In der SWR2 Aula beschreibt Voß diese Formen und erklärt, warum das ein gefährlicher Trend ist.
Günter Voß:
Mein Thema ist, dass es im Web 2.0 in einer zunehmenden Weise neue Formen von Arbeit gibt, die nicht Erwerbsarbeit ist, sondern informell und nicht reguliert – und vor allen Dingen, die nicht bezahlt wird. Bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich darauf hinweisen, dass dieses neue Internet oder Web 2.0 auch eine Sphäre von erwerbsförmiger Arbeit ist. Alle möglichen Selbstständigen sind präsent im Internet, es gibt, glaube ich, keinen Arzt, Handwerker oder Anwalt, der nicht eine Web-Seite hat. Es entstehen ganz neue Typen von Selbstständigen, die nur im Internet unterwegs sind: Übersetzer, Designer, Journalisten, Händler, die etwa auf Ebay einen eigenen Shop haben und etwas verkaufen.
Es entstehen auch noch ganz neue Formen von Selbstständigen, nämlich solche, deren Geschäftsmodell ausschließlich über das World Wide Web funktioniert, die ganz besondere Produkte anbieten. Das könnte eine Web-Seite sein, die Informationen über den Sicherheitsstandard von Airlines verbreitet (gleichzeitig aber Werbung der Airlines aufnimmt, worüber man noch einmal gesondert nachdenken kann); oder wenn jemand seine privaten Fotos als semiprofessioneller Hobby-Fotograf ins Netz stellt und glaubt, sie vermarkten zu können – was tatsächlich gelegentlich funktioniert; oder wenn jemand wie ich seine alten Bücher im Internet verkauft; oder wenn jemand eine Seite entwickelt, die berühmt geworden ist für die individuelle Gestaltung von T-Shirts und damit ziemlich viel Geld verdient.
Das sind neue Geschäftsmodelle, die eigentlich nur im Internet funktionieren. Und es gibt noch eine neue Erwerbsform, nämlich Internet-Tagelöhner oder Mini-Jobber. Das sind zum Beispiel Personen, die von großen Unternehmen den Auftrag bekommen, minimale Arbeiten zu übernehmen, etwa von einem großen Buchversender die Bilder in den Büchern zu verschlagworten, weil das eine Software noch nicht übernehmen kann. Für jedes Stichwort bzw. jedes Schlagwort, das sie eingeben, bekommen sie eine Minimalbezahlung (Micro-Pay). Man nennt diese Menschen Klick-Worker oder Micro-Tasker. Inzwischen gibt es große Internet-Portale, die nur diese Form von Mini-Jobs verteilen und vermarkten.
Aber wie gesagt, ich will eigentlich gar nicht über die Erwerbsarbeit reden, sondern über die andere Arbeit im Internet – die informelle, nicht sichtbare, die unbezahlte Arbeit. Ich behaupte, dass das eine wichtige Entwicklung ist, sie wird, so meine ich, breiteste Folgen haben und ist deshalb nicht zu unterschätzen. Hier entsteht eine ganz neue Sphäre, eine ganz neue Qualität gesellschaftlicher Arbeit von großer Dynamik. Und wir sind mitten in dieser Entwicklung beziehungsweise ich glaube fast, wir sind erst am Anfang dieser Entwicklung. Ich werde einige Beispiele nennen, um die Dimension zu verdeutlichen.
Ich möchte vier Felder dieser neuen Arbeit unterscheiden und lehne mich damit einigen Kategorien an, die in der Soziologie der Arbeit – das ist mein wissenschaftliches Fach – durchaus gängig sind.
Das erste Feld ist eine neue Form von Freiwilligen-Arbeit im Internet, manche würden vielleicht auch von ehrenamtlicher Arbeit sprechen, was hier aber nicht so ganz passt. Die berühmteste Form ist die so genannte Wiki-Bewegung. Die ist den meisten Internet-Usern bekannt, gemeint ist die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Hier nehmen viele User die Aufgabe auf sich, ganze Artikel zu schreiben oder Artikel zu überarbeiten. Das ist eine sehr aufwändige, kollaborative und kooperative Arbeit von vielen Menschen, oft Laien, die viel Mühe investieren, aber dafür nichts bekommen außer der Ehre, daran beteiligt zu sein. Eine Variante der Wiki-Bewegung ist die so genannte Open-Source-Bewegung. Das sind mehr oder weniger etablierte Programmierer, die an Software arbeiten, Betriebssysteme entwickeln, allen voran das berühmte Linux, ein Hauptkonkurrent des Marktführers.
Es haben sich eine Fülle von Selbsthilfeaktivitäten und Selbsthilfenetzwerken im Internet gebildet zu allen möglichen Themen. Um es ein bisschen ironisch zu sagen: das geht von Blinddarm bis Backrezept, von Hundehaltungen bis zu Ratschlägen für den Hausbau. Daneben gibt es Tauschbörsen für eigentlich alles, unter anderem Tauschbörsen für soziale Kontakte, nämlich Partner-Tauschbörsen aller Art, mehr oder weniger solide oder seriös. Es gibt eine große Sphäre von Aktivitäten, die sich mit Kultur und Politik beschäftigen. Das ist der Bereich von aktiven Bürgern, den sogenannten Bloggern oder Twitterern. Ich bin selber aktiver Twitterer. Das sind Menschen, die sich öffentlich äußern wollen zu allen möglichen Themen, so genannte Bürger-Journalisten (citizen journalists).
Berühmt ist auch der Wiki-Plug, das ist die Wiki-Seite, wo viele Menschen kollaborativ die Dissertation eines berühmten Politikers auseinander genommen haben. Wie man weiß, waren sie sehr erfolgreich damit. Und auch aktuell ist immer noch das kollektive Strahlenmess-System in Japan rund um Fukushima, das entstanden ist, weil die japanische Regierung nicht in der Lage ist, ihre Bürger mit angemessenen Daten über die Verstrahlung ihrer Wohngebiete zu versorgen.
Ein weiteres Beispiel sind die citizen scientists: Bürger, die als Wissenschaftler arbeiten. Entstanden ist diese Idee bei der Nasa, die eine große Anzahl von Aufnahmen wahrscheinlich von irgendwelchen Sternen und kosmischen Erscheinungen hatte, aber nicht genügend Gelegenheiten, diese auszuwerten. So hat die Nasa die Bilder kurzerhand ins Internet gestellt und vergibt kleine Aufträge an interessierte Bürger, vielleicht Krater zu vermessen oder Krater zu suchen oder
Ähnliches. Bezahlt werden die Menschen nicht, sie sind einfach nur stolz darauf, am großen Geschäft der Wissenschaft beteiligt zu sein. (click-worker)
Ein letztes, ganz aktuelles Beispiel: Etliche Museen haben Dinge in ihren Befunden, von denen sie nicht genau wissen, was diese Dinge darstellen oder symbolisieren. Sie stellen die Bilder ins Netz und fragen: „Wisst Ihr, was das ist? Das ist ein seltsames Instrument, wir haben es in unserem Technikfundus, aber wir wissen nicht, was es ist.“ Und das scheint zu funktionieren.
Es gibt also eine große, unüberschaubare, vielfältige und irgendwie auch amüsante und gesellschaftlich nützliche Sphäre von Arbeit, die die meisten gar nicht als Arbeit wahrnehmen, die nicht bezahlt wird, die aber eine große gesellschaftliche Bedeutung hat. Das sind alles freiwillige Tätigkeiten im Internet in unterschiedlichsten Ausmaßen.
Eine zweite Sphäre würde ich Eigenarbeit im Internet nennen, also eine Arbeit, die man für sich macht und nicht wie im Beispiel vorher für irgendwelche gesellschaftlichen Bedürfnisse. Wir alle, die wir im Internet unterwegs sind, beschaffen uns fast selbstredend Informationen im Internet über Dinge, die uns interessieren oder betreffen, sei es eine Krankheit oder ein Artikel, den wir kaufen wollen, ein Reise etc. Das haben wir zwar auch vor dem Internet-Zeitalter getan, aber bei weitem nicht in einer solchen Intensität wie heute. Gerade die jüngere Generation geht kaum noch in einen Laden, ohne vorher Preisvergleiche im Internet angestellt zu haben. Man findet Partner im Internet, man pflegt seine Freundschaften, entwickelt neue Freundschaften und macht das, was Soziologen schlicht Beziehungsarbeit nennen. Das ist die Sphäre der klassischen social networks: Facebook, StudiVZ, Xing und vieles andere mehr.
Und natürlich ist das Internet eine Sphäre der Selbstdarstellung. Das meine ich gar nicht mal nur negativ. Fast jeder Profi braucht eine eigene Website als Teil der Selbstvermarktung. Ein paar Zahlen zu Facebook, um die Dimension zu verdeutlichen: Facebook hat 700 Millionen Mitglieder, der tägliche Zuwachs beträgt eine Million neuer Mitglieder. Innerhalb von 20 Minuten werden drei Millionen Fotos werden hochgeladen. Facebooks Top-Seite ist die eines großen Softdrinks-Anbieters, nämlich Coca-Cola, mit 24 Millionen sogenannten „Freunden“. Im Jahr 2010 wurden auf Youtube 13 Millionen Stunden Video hochgeladen und 700 Milliarden Videos angeschaut. Das sind keine Peanuts, das sind gigantische Ausmaße.
Eine dritte Sphäre sind die arbeitenden Kunden im Internet, und jetzt wird es ökonomisch spannend. Das sind Kunden, die Arbeiten im Internet verrichten, die nicht nur zu ihrem eigenen Nutzen, sondern auch zum Nutzen der Unternehmen sind. Sie arbeiten den Unternehmen zu. Hier möchte ich zwei Formen unterscheiden. Die erste Form ist eine erweiterte Selbstbedienung. Selbstbedienung gibt es schon seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als man begann, sich die gewünschten Artikel selbst aus dem Regal zu nehmen. Inzwischen hat das neue Formen angenommen. Es ist inzwischen fast normal, dass wir, nämlich 27 Millionen Deutsche, Online-Banking betreiben, dass wir Bahntickets online kaufen, 31 Millionen Deutsche tun das in einem Jahr. Wir betreiben Online-Shopping, viele Menschen kaufen nur noch über das Internet. Der größte Online-Versand von
Büchern vermarktet inzwischen alles Mögliche von Schrauben bis Unterhosen – und natürlich auch Bücher. Alle, die sich im Internet bewegen, wissen, wie mühsam es sein kann, sich eine Software selbst zu installieren und immer wieder zu aktualisieren und dass das ständig schiefgeht. Selbst wenn wir eine Hardware installieren, müssen wir ins Internet gehen. Wenn wir einen Kühlschrank kaufen, müssen wir ihn vorher online prüfen, und wahrscheinlich wird er sogar irgendwann online vernetzt. Das ist viel Arbeit, die wir erbringen müssen, denn es ist niemand mehr da, der uns berät. Man kann ja mal versuchen, eine Hotline anzurufen, um Hilfe zu erbitten – meistens kommt man da nicht durch.
Daneben müssen wir noch Selbstberatung betreiben, denn auch professionelle Beratung ist selten geworden. Handbücher, die wir bekommen, sind oft kaum zu verstehen, so dass sie meist in der Ecke landen. Ich denke, das ist bei den meisten Menschen so.
Hervorheben möchte ich nun das Mass-Customization, eine eigenartige Wortschöpfung. Unter Mass-Customization versteht man ein Produkt, dass zwar ein Massenprodukt ist, es wird jedoch individuell konfiguriert. Ich kann mir wie schon erwähnt ein T-Shirt nach meinen persönlichen Wünschen erstellen lassen, ich kann mir ein Müesli oder eine Schokolade zusammen basteln und dabei unter den verschiedensten Zutaten, mitunter ganz absurden Zutaten wählen und sie, individuell verpackt, meiner Frau schenken. Ich kann mir Schuhe designen lassen und ich kann mir sogar, was ich mir gar nicht vorstellen kann, ein individuelles Parfum mischen lassen. Im Internet finde ich ein Tool dafür, es gibt 20 Ingredienzen, ich stelle mir meinen eigenen Duft zusammen und der wird zu mir nach Hause geliefert in einem Flakon, den ich mir auch gestalten kann. Das ist Mass-Customization. Dass ich mein Auto maß-konfigurieren kann, ist fast schon selbstverständlich. Das ist wunderbar! Ich bekomme meine ganz eigene Schokolade – die Arbeit erledige aber ich. Nebenbei freut sich das Unternehmen sehr, wenn ich ein neues interessantes Rezept entwickele, das es gesondert vermarkten kann.
Ein zweites, ökonomisch äußerst interessantes Feld möchte ich hervorheben, bei dem es um viel Geld geht. Es geht um Kunden, die Arbeiten im Internet nicht für sich selbst ausführen im Sinne von Selbstbedienung, sondern sie arbeiten Unternehmen zu. Die Unternehmen fahren dadurch mitunter immense Gewinne ein – wenn das Geschäftsmodell funktioniert, was nicht immer der Fall ist. Auf den ersten Blick wirken diese Arbeiten jedenfalls harmlos:
Wir alle haben uns daran gewöhnt, dass wir nach einem Kauf im Internet Rückmeldungen abgeben, in Form von Sternchen, die wir vergeben, Kommentare und Bewertungen, die wir hinterlassen. Damit sind wir Teil der betrieblichen Qualitätskontrolle. Das hat eine hohe Bedeutung für Unternehmen, denn bisher mussten sie das selbst erledigen, jetzt haben ihre Kunden das übernommen. Für jeden Einzelnen ist das nur ein kleiner Schritt, für das Unternehmen hat das eine große Bedeutung.
Aber es geht weiter: Kunden entwickeln an ganz vielen Stellen Ideen. Systematisch wird versucht, Ideen der Kunden für alles Mögliche abzurufen. Große Kampagnen sind damit berühmt geworden, zum Beispiel „Starbucks Idea“. Starbucks hat weltweit dazu aufgerufen, Ideen für die Gestaltung ihrer Angebote zu machen. Und es hat
funktioniert: Tausende von Design-Ideen gingen ein, die Starbucks auswerten konnte. Gekostet hat das das Unternehmen erst mal fast nichts. Dell hat das nachgeahmt, in Deutschland macht es Tchibo, Lego lässt von Vätern neue Lego-Schachteln entwickeln und vermarktet das.
Das sind Produktideen von größter Bedeutung, weil sie direkt vom Kunden kommen und nichts kosten. Sogar gesamte Inhalte von Unternehmen werden von Kunden entworfen und geliefert. Wir hatten schon Youtube angesprochen. Youtube lebt von nichts anderem als von den Inhalten, die die Konsumenten oder User produzieren, und verdient damit eine Menge Geld. Man nennt das user generated content (nutzergenerierter Inhalt), eine gängige Formulierung für ganz viele Anbieter im Internet. Dazu gehören zum Beispiel auch Ebay und Facebook, letztere Firma lebt nur davon, dass Millionen Menschen Inhalte einstellen, und dieses Portal versucht damit, Geld zu verdienen.
Auch konventionelle Medien greifen darauf zurück, dass die Menschen, die Zuhörer, Zuschauer und Leser sich an allen möglichen Diskussionen beteiligen, im Internet ihre Meinung hinterlassen und Kommentare abgeben. Das macht inzwischen einen großen Teil der Print-Journale aus.
Es gibt eine Fülle von Beratungs- und Info-Seiten, von Bewertungsseiten für fast jedes Produkt, aber auch für Lebensfragen aller Art, zum Beispiel die Seite „Frag Oma“. Diese Seite funktioniert so, dass ein Nutzer eine Frage stellt, vielleicht wie ein bestimmter Fleck aus meiner Hose entfernt werden kann, und ein anderer User hat möglicherweise eine Antwort darauf. Dieses Angebot besteht ausschließlich aus Fragen und Antworten der Nutzer.
Ein wichtiger Begriff an dieser Stelle ist das sogenannte Crowdsourcing. Dieser Begriff ist abgeleitet von dem Wort Outsourcing, das besagt, dass eine Firma Aufgaben nicht selbst erledigt, sondern sie woanders einkauft. Crowdsourcing ist ein tausendfach genutztes Mittel im Internet, es geht darum, Möglichkeiten zu finden, wie User dazu gebracht werden können, etwas zu generieren, das vermarktet werden kann. Dabei geht es um viel Geld. Und das sind Portale, die nur funktionieren, weil User etwas hochladen.
Die Geschichte weitet sich aus. Inzwischen gibt es das E-Government. Bürger werden an vielen Stellen aufgefordert, über das Internet alle möglichen Dinge selbst zu erledigen. Bekanntes Beispiel ist die elektronische Steuererklärung Elster, die wir in Zukunft alle selbst machen müssen und dabei nicht nur unsere Daten eintragen müssen, sondern wir müssen auch selbst kontrollieren, ob die Berechnungen stimmen. Sie werden, abgesehen von Stichproben, nicht mehr überprüft. Ich muss also selbst die Berechnungen nachvollziehen und trage entsprechend die Verantwortung für die Richtigkeit meiner Steuererklärung, nicht mehr der Bearbeiter im Finanzamt. Ähnlich funktionieren viele Bereiche: die Gewerbeanmeldung, Fahrzeuganmeldung, vielleicht irgendwann sogar die Anmeldung eines neugeborenen Kindes. Außerdem gibt es die Möglichkeit, im Internet Strafanzeige zu stellen. Bürger erbringen aktiv Leistung, manchmal sogar als Hilfspolizisten. Bei uns ist das noch nicht so gängig, aber die US-Border-Patrol an der Grenze zu Mexiko hat überall Videokameras aufgestellt, im Internet kann man die Videos buchen und dann damit auf Fang gehen und Leute melden, die dann von der US-Border-Patrol
festgenommen werden. Das mag uns außergewöhnlich erscheinen, ist aber ein Vorgeschmack auf das, was uns noch passieren kann.
Bürgermeister starten Umfragen, um ihre Bürger zu befragen, ob das örtliche Schwimmbad geschlossen werden soll oder nicht, weil die Kommune kein Geld mehr hat. Die Obama-Regierung ist berühmt dafür, dass sie systematisch ihre Bürger befragt, nicht nur um Meinungen herauszufinden, sondern auch um Ideen zu bekommen, was man anders machen kann, vor allen Dingen, wo man Einsparungen vornehmen kann.
Manche Kommunen betreiben ein sogenanntes crowdfunding. Darunter versteht man das Besorgen von Kapital über die Masse von Usern. Ein Fußballclub hat Fans dazu aufgefordert, kleine Summen zu spenden, um eine interessante Mannschaft zusammen zu stellen. Im Gegenzug dürfen sich die Fans an der Mannschaftsaufstellung beteiligen.
Ein weiterer Begriff ist E-health. Zunehmend werden im Medizinbereich Kosten auf Patienten abgewälzt. E-health oder Tele-Medizin sind Stichworte dazu. Das ist eine ambivalente Angelegenheit. Jeder ist froh, wenn die Oma ein Gerät bekommt, das ihren Blutdruck misst, die Werte werden ins Internet gestellt und der Arzt kann, wenn nötig, schnell reagieren. Inzwischen verlangen Krankenkassen in anderen Ländern, dass man erst übers Internet sich mit einem Experten bespricht, bevor man einen realen Arzt aufsuchen darf. Der Experte stellt eine Ferndiagnose und macht eventuell eine Fernbehandlung. Wenn das Internet dazu genutzt wird, dass ich zuerst eine Selbstdiagnose stellen muss, dann wird es gefährlich.
Aber immerhin: Jährlich kontaktieren 15 Millionen Deutsche regelmäßig Gesundheitsportale aller Art, um sich zu informieren. Das sind Portale wie netdoktor.de, sprechzimmer.de oder netgate.ch mit dem besonderen Angebot „doc around the clock“, was bedeutet, „unser Arzt ist immer für Sie da“. Ich finde das gar nicht so schlecht. Aber schauen Sie sich mal medgle.com an, dort können Sie Symptome eingeben und bekommen einen Diagnose-Vorschlag – und natürlich Werbung, welche Medikamente Sie benutzen können. Spätestens bei solchen Beispielen wird es unseriös.
Auch der Bildungsbereich ist ins Internet gewandert. Ein Stichwort dazu ist E-Learning. Ich warte schon darauf, wann es die ersten virtuellen Professoren gibt und ich meinen Job verliere. Virtuelle Universitäten gibt es, das muss ja nicht schlecht sein, die Konsequenz ist trotzdem, dass die Studierenden immer mehr Arbeit machen müssen.
Und noch etwas Absurdes: Es gibt auch E-Churches. Gehen Sie mal auf beichte.de. Dort können Sie online eine Beichte ablegen mit Glockengeläut, Weihrauch können Sie zwar noch nicht riechen, aber – man ahnt es schon – Sie bekommen auch online eine Absolution, natürlich mit der Auflage, drei Vater Unser zu beten.
Erste Frage: Was steckt eigentlich dahinter, wer sind die Akteure und was sind ihre Interessen? Zum einen sind es natürlich – ich denke, das ist deutlich geworden – die Organisationen oder Unternehmen, die schlicht ihre Kosten senken, denen es aber auch über Crowdsourcing gelingt, produktive Leistungen ihrer Nutzer, also ihrer
Kunden, Patienten etc., abzurufen und direkt in ihre Wertschöpfung einzuspeisen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Dinge, die die Kunden machen, verbunden sind mit Werbeauftritten oder dem Abzocken von Daten aller Art. Damit werden Millionen-Gewinne gemacht. Das betriebswirtschaftliche Stichwort der Wertschöpfungspartner, dass nämlich der Kunde oder User neuerdings ein Partner des Betriebes bei der Herstellung von Gewinn ist, ist ein Euphemismus, denn das sind keine Partner auf gleicher Augenhöhe.
Warum machen die User das mit? An vielen Stellen haben sie gar keine andere Wahl. Sie können ja mal versuchen, eine Bank zu finden, die noch einen Schalter hat. Wenn Sie Ihr Bahnticket am Schalter kaufen, müssen Sie einen Aufschlag bezahlen gegenüber dem Online-Ticket. Manchmal hat man online tatsächlich einen kleinen Preisvorteil, aber Sie ahnen es, sobald sich das Online-Verfahren etabliert hat, werden die Preise angehoben. Nicht selten ist es aber auch so, dass Online-Arbeiten Spaß machen – wenn man es kann und es funktioniert. Manchmal spart man auch Zeit oder Aufwand. An vielen Stellen hat man sich aber schlicht daran gewöhnt wie zum Beispiel beim Online-Banking. Wir machen es, obwohl wir es stressig finden. Und wenn man sich auskennt, kann man vielleicht die eine Bank gegen die andere ausspielen, um zum Beispiel höhere Zinsen zu bekommen oder bessere Konditionen für den Kredit.
Nicht zuletzt gibt es eine neue Generation von jungen Menschen, die ins Internetzeitalter hineingewachsen ist und die es gar nicht anders kennt, die es völlig selbstverständlich findet, dass wir überall im Internet die Arbeit machen.
Eine letzte Bemerkung zum Thema Arbeitsgesellschaft, mit dem ich angefangen habe. Über das Internet wird die Arbeitsgesellschaft ausgeweitet. Es entsteht eine ganz neue Form von Gesellschaft, die systematisch auf Selbsterledigung umgestellt wird. Und diese Selbsterledigung bedeutet in jeglicher Hinsicht Arbeit, eine Arbeit, die in fast allen gesellschaftlichen Sphären ausgeführt wird. Ein paar absurde Beispiele hatte ich ja genannt.
Die berühmte Informations- und Wissensgesellschaft basiert in diesem Sinne auf zunehmend aktiven, produktiven und damit auch arbeitenden Menschen, wobei es sich nicht mehr nur um Erwerbsarbeit handelt, sondern um neue, sehr intensive, anstrengende, Qualifikation erfordernde private Arbeit im Internet. Dies hat eine Menge von Folgen, und ich will das nicht nur so beschreiben, dass das von Elend wäre, denn wer es hinbekommt, hat große Vorteile. Aber wir müssen natürlich fragen, wer bekommt es nicht hin? Was ist mit denen, die die Qualifikationen nicht haben? Was ist mit denen, die die entsprechenden Ressourcen nicht haben? Man muss ja immer die neueste Generation von Hard- und Software haben, ich denke, alle zwei bis drei Jahre muss man einen Austausch vornehmen, das kostet ziemlich viel Geld. Das können sich viele Leute nicht leisten. Und ich würde sagen, die sind eher Verlierer dieser Prozesse.
Die neue Arbeit im Internet beinhaltet auch eine philosophische Frage: Was ist dann eigentlich Arbeit in der Gesellschaft? Ich würde sagen, es gibt wahrscheinlich keine einheitliche Definition, sondern es gibt unendlich viele Formen von Arbeit in der Gesellschaft. Und wir fangen an, das zu begreifen. Das macht den Begriff Arbeitsgesellschaft noch einmal in ganz neuer Weise relevant.
Nicht zuletzt ist, und damit möchte ich schließen, auch die Politik gefragt; all das, was ich eben beschrieben habe, muss möglicherweise an der einen oder anderen Stelle reguliert werden, und damit meine ich nicht nur den Datenschutz. Sondern es stellt sich die Frage, ob viele Prozesse nicht schlichtweg begrenzt oder zumindest gestaltet werden müssen. Das Stichwort der Netzwerkpolitik, das ganz aktuell überall diskutiert wird, meint nicht nur, dass alle User freien Zugang zu allen Inhalten bekommen sollen, sondern dass die Politik ein Stück weit Verantwortung übernehmen muss. Denn wer vertritt die Interessen der User, die im Internet arbeiten? Die Gewerkschaften sind es nicht, die Verbraucherschützer sind es auch nicht. Es haben sich übrigens die ersten Internet-Gewerkschaften gebildet, in denen Leute, die im Internet arbeiten, etwa Entwickler von Androids oder Apps, versuchen, sich international zu organisieren. Es muss also etwas passieren, damit diese Arbeitenden in irgendeiner Weise geschützt oder zumindest ihre Interessen artikuliert werden.
Es ist auch eine Aufgabe für jeden persönlich, sich selbst zu schützen. Das müssen wir neu lernen. Vielleicht müssen wir lernen, nicht nur abzuschalten, sondern einfach mal auszuschalten – Internetabstinenz oder World Wide Web-Fasten an einem Tag in der Woche, das ist ein guter Weg. Ich kann Ihnen versichern, ich versuche das und es gelingt mir so gut wie nicht. Aber ich weiß, wie wichtig das wäre. Und vielleicht müssten wir lernen, die schöne alte analoge Welt, den ganz praktischen Alltag wieder neu zu schätzen und uns dessen Qualitäten wieder in Erinnerung zu rufen