Tim Engartner : Pädagogisch bedenklich! Problematische Unterrichtsmaterialien

Diskurs SWR2
T. Engartner: Problem  - Unterrichtsmaterialien
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SWR2 Wissen - Aula -
Sendung: Sonntag, 20. September 2015, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2015
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Service:

Zum Autor:
Tim Engartner, geb. 1976, ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt schulische Politische Bildung am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie Direktor der Akademie für Bildungsforschung und Lehrerbildung (ABL). Er studierte Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Bonn, Oxford und Köln, bevor er an der Universität zu Köln promoviert wurde. Er ist Träger des Deutschen Studienpreises, des 1822-Universitätspreises für exzellente Lehre, des Günter Reimann Wissenschaftspreises sowie des Förderpreises der Gregor-Louisoder-Umweltstiftung. Im Rahmen eines Fellowships der Columbia University schreibt er derzeit an einem Buch über die Politik der Privatisierung.
Buch:
Pluralismus in der sozialwissenschaftlichen Bildung: Zur Relevanz eines politikdidaktischen Prinzips. Verlag Duncker & Humblot. 2014.

ÜBERBLICK
Die Anzahl kostenloser und externer Lehr- und Lernmaterialien ist nicht mehr zu überblicken, Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich dadurch fast bedrängt. Dabei sind viele dieser Broschüren, Leitfäden, Themensammlungen, Onlineportale hochproblematisch, vermitteln sie doch Werte und Weltbilder, die von den Machern propagiert werden. In diesem Zusammenhang spricht man von Lobbyismus im Klassenzimmer. Da kann es schon mal vorkommen, dass ein Versicherungsunternehmen in den Materialien für seine eigenen Angebote wirbt. Tim Engartner, Professor für die Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität in Frankfurt am Main, zeigt, warum das so nicht weitergehen kann.

INHALT
Manuskript
Ansage:
Mit dem Thema "Pädagogisch bedenklich – problematische Unterrichtsmaterialien". Die Anzahl kostenloser und externer Lehr- und Lernmaterialien ist nicht mehr zu überblicken. Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich dadurch fast bedrängt. Dabei sind viele dieser Broschüren, Leitfäden, Themensammlungen, Online-Portale hoch problematisch. Vermitteln sie doch Werte und Weltbilder, die von den Machern propergiert werden. In diesem Zusammenhang spricht man von Lobbyismus im Klassenzimmer, und da kann es schon einmal vorkommen, dass ein Versicherungsunternehmen in den Materialien für seine eigenen Angebote wirbt. Tim Engartner, Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität in Frankfurt am Main zeigt, warum das so nicht weitergehen kann.Tim Engartner:
Befördert wird der unternehmerische Einfluss durch die klammen kommunalen Kassen. Schließlich sind die Städte und Gemeinden für die Ausstattung der Schulen verantwortlich. Sinkende Schulbuchetats, gedeckelte Kopierkontingente und die teilweise Preisgabe der Lernmittelfreiheit – immerhin eine Kernforderung der Revolution von 1848 – haben dazu geführt, dass der Anschaffungsturnus von Schulbüchern systematisch ausgeweitet wurde. Immer mehr Lehrerinnen und Lehrer nehmen daher Unterrichtsmaterialien privater Bildungsanbieter in Anspruch, wobei Praktikanten und Referendare, die während ihrer Ausbildung Orientierung suchen, besonders häufig auf gratis ausgegebene Bücher und Broschüren zurückgreifen. So bieten derzeit 16 der 20 umsatzstärksten deutschen Unternehmen kostenlose Unterrichtsmaterialien an, um der nachfolgenden Generation ihre Sicht der Dinge zu vermitteln. Sogar Unternehmensmitarbeiter unterrichten teilweise an Schulen. Immerhin können hierzulande knapp 11 Mio. Schülerinnen und Schülern durch Werbemaßnahmen erreicht werden.
Diesen attraktiven Adressatenkreis preisen u. a. auf Education-Marketing spezialisierte Agenturen an. Die Firma "spread blue" wirbt z. B. auf ihrer Website offensiv für die Schule als „Werbeplattform“: „Es gibt kaum einen anderen Ort, an dem Sie die Jugendlichen konzentrierter ansprechen können. Die konsumfreudige junge Zielgruppe ist für viele Markenartikler der Adressat für Werbebotschaften und verfügt über viele Milliarden an Kaufkraft.“ Schon im Vorschulalter beherrschen viele Sprösslinge ein erstaunliches Repertoire an Werbesprüchen und Melodien, und von diesen bleibt offensichtlich auch Einiges hängen, wie neue Studien belegen. So orientieren sich Mädchen unter sieben Jahren, die ihre Wunschliste für Weihnachten zusammenstellen, vor allem an das ihnen über Werbung präsentierte.
Um Werbebotschaften und Firmenlogos zu platzieren, werden Hausaufgabenhefte, Schülerzeitungen, Stundenpläne, Turnhallenbanner, Zeichenblöcke u.v.m. angeboten – im Übrigen inklusive kostenloser Verteilung der Materialien an den Schulen. Ruft man sich in Erinnerung, welche gewaltigen Widerstände es lange Zeit gab – und glücklicherweise zum Teil noch immer gibt –, wenn Lehrerinnen und
Lehrer ihren Schülerinnen und Schülern ihre persönlichen Meinungen oktroyieren, fragt man sich, warum die Kultusministerien nicht Alarm schlagen, wenn als Indoktrinationsinitiativen zu bezeichnende Netzwerke mit Unterrichtsmaterialien und Mitarbeitern in die Schulen drängen.
Die „Öffnung von Schule“ gegenüber unternehmerischen Einflüssen hat zu einer tektonischen Verschiebung der Akteurskonstellationen im Bildungssektor geführt: Gewinn- und Gemeinwohlorientierung prallen aufeinander. Denn nicht wenige der mehr als 1.000 Initiativen, die vorgeben, sich um die schulische Bildung verdient zu machen, speisen die Schulen mit selektiven, tendenziösen und manipulativen Unterrichtsmaterialien, gerade auch um die Vor- und Einstellungen Heranwachsender zu prägen. Die Deutsche Bank, der Schokoladenhersteller Ritter Sport oder die Fast-Food-Kette McDonald‘s adressieren die einst neutrale Bildungsinstitution Schule aber nicht nur, um eine bestimmte Weltsicht zu präsentieren. Zugleich wollen sie ihre Produkte bewerben, ihr Image aufbessern, Kunden an sich binden und Personal rekrutieren. Sie wissen, dass an Kinder gerichtete Werbung besonders effektiv ist. Bei Kundern muss nur ein Viertel des Budgets veranschlagt werden, um denselben Werbeeffekt zu erzielen wie bei Erwachsenen. Außerdem beeinflussen Kinder oftmals die Kaufentscheidungen von Eltern und Großeltern.
Die privat-öffentlichen „Bildungs- und Lernpartnerschaften“ haben im Zeichen der „Öffnung von Schule“ ein historisches Ausmaß erreicht. So offenbarte die PISA-Studie 2006, dass mehr als 87 Prozent der 15-Jährigen hierzulande eine Schule besuchen, an der Industrie und Wirtschaft Einfluss auf die Lehrinhalte ausüben. Dies grenzt im OECD-Vergleich an einen „Negativrekord“. Die prekäre finanzielle Situation des Bildungswesens in der von Bundeskanzlerin Merkel ausgerufenen „Bildungsrepublik“ wird jedoch nicht nur dort sichtbar, wo Schulleitungen sich genötigt sehen, über Initiativen wie die Aktion Bildungslückenfüller Spenden für Computer, Türen und Regale einzuwerben. Die Sparpolitik im Bildungssektor leistet insbesondere sog. privaten Content-Anbietern Vorschub. So identifizierte eine Studie der Universität Augsburg unlängst rund 880.000 kostenfrei im Internet verfügbare Lehrmaterialien, die weit überwiegend aus der Privatwirtschaft stammen. Eine Untersuchung der Verbraucherzentrale Bundesverband e.V. belegt, dass von rund 450 Unterrichtsmaterialien, die in den Themenfeldern „Finanz- und Medienkompetenz“, „Nachhaltiger Konsum“ sowie „Ernährung“ analysiert wurden, fast 40 % mit der Note „ausreichend“ oder „mangelhaft“ bewertet werden müssen, wenn sie von Unternehmen und ihnen nahestehenden Institutionen kommen.
Direkte Werbung an Schulen ist zwar in den meisten Bundesländern verboten. Unter wachsendem finanziellem Druck haben sich die Kultusminister allerdings immer weiter der Wirtschaft geöffnet, so dass inzwischen Sponsoring in allen Bundesländern erlaubt ist. Unternehmen können Schulen somit in vertraglich geregelter Form finanzielle, sachliche oder personelle Ressourcen zur Verfügung stellen und erhalten dafür eine werbewirksame Gegenleistung. Problematisch dabei: Die Grenzen zwischen Werbung und Schulsponsoring sind fließend. Zudem kann auch direkte Werbung in einigen Bundesländern – so z. B. in Nordrhein-Westfalen – dann eingesetzt werden, wenn es den „Erziehungsauftrag der Schule nicht beeinträchtigt“ oder wenn die Werbung „hinter den pädagogischen Nutzen“
zurückfällt. Viele Regelungen sind unpräzise, der Interpretationsspielraum entsprechend groß. Die chronische Unterfinanzierung der Schulen stellt dabei das Haupteinfallstor für Werbemaßnahmen dar.
Die Hoffnung der privaten Akteure, ihre Ideen schon bei den Jüngsten zu implementieren, speist sich nämlich jener mangelenden Finanzierung. So ließ sich Reinhard Mohn, der Gründer der Bertelsmann Stiftung, schon in den 1990er-Jahren mit den Worten zitieren: „Es ist ein Segen, dass uns das Geld ausgeht. Anders kriegen wir das notwendige Umdenken nicht in Gang“.
Der Bertelsmann Konzern engagiert sich u.a. in der Initiative Media Smart. Zu den Unterstützern der für Grundschulen entwickelten Unterrichtsmaterialien zählen Ferrero, Kellogg‘s, Lego, Super RTL und die Organisation Werbungstreibende im Markenverband. Pikanterweise handelt es sich dabei vornehmlich um Unternehmen und Verbände, die Werbung betreiben oder verkaufen – und deren Zielgruppe vor allem Kinder sind. So führt der zum Bertelsmann-Imperium zählende TV-Sender Super RTL den Reigen der Kinderfernsehsender hinsichtlich der Einschaltquoten mit weitem Abstand an. Der sich aus dieser Akteurs- und Finanzierungskonstellation speisende Anfangsverdacht gegenüber Media Smart wird durch die Unterrichtsreihe mit dem Titel „Augen auf Werbung“ erhärtet. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich gegenseitig auf Markennamen und Logos untersuchen und diese anschließend beschreiben. Zu Hause soll die „Werbespurensuche“ dann fortgesetzt werden. Mit derartigem Unterrichtsmaterial wird der Werbe-, Konsum- und Markendruck, dem sich Kinder heutzutage schon in jungen Jahren ausgesetzt sehen, weiter verschärft. Die kritische Reflexion von Werbebotschaften bleibt aus.
Besonders augenfällig ist die lobbyistisch motivierte Einflussnahme mittels Unterrichtsmaterialien im Feld der ökonomischen Bildung. Nicht wenige der 250 Initiativen, die vorgeben, sich um die ökonomische Bildung verdient zu machen, wollen tatsächlich nur mit ihr verdienen. Im Hintergrund steht das Anliegen, die ökonomische Bildung mit einem Unterrichtsfach „Wirtschaft“ aufzuwerten, in dem zuvorderst „Finanzielle Bildung“ und „Entrepreneurship Education“ gelehrt werden sollen. Die von den verschiedenen Akteuren gestreuten Lernmaterialien zielen zumeist auf unternehmensnahe Weltbilder ab, indem sie einseitig unternehmerische Akteure und deren Interessen beleuchten.
Einige Beispiele: Während bis in die 1980er-Jahre hinein die Humanisierung und Demokratisierung der Arbeit aus der Perspektive der Arbeitnehmer im Unterricht beleuchtet wurde, sieht sich die Analyse, Deutung und Erkundung arbeitsweltlicher Phänomene seit einiger Zeit einer Vereinnahmung durch arbeitgeberorientierte Initiativen wie business@school, Schüler im Chefsessel, Gründerwoche, Gründerkids oder Junior ausgesetzt. So bietet das renommierte Institut der Deutschen Wirtschaft Köln verschiedene Projekte an, die unternehmerisches Denken und Handeln bei Schülerinnen und Schülern fördern soll. Im Projekt "Junior" beispielsweise gründen
Kleingruppen ein eigenes Unternehmen, für das sie bei einer Laufzeit von einem Schuljahr eine Geschäftsidee entwickeln und diese auch umsetzen sollen. Ziel des Projektes ist es nach Angaben des IW Köln "zur Förderung eines gründungsfreundlichen Klimas beizutragen und Schülerinnen und Schüler in der Ausbildung ihrer Unternehmerpersönlichkeit zu fördern."
Mit dem Aufbau von Schülerfirmen wird das betriebswirtschaftliche Denken zum Dreh- und Angelpunkt von Lehr- und Lernprozessen erklärt. Auch das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderte Aktivitätennetzwerk Unternehmergeist in die Schulen nimmt allein die berufliche Selbständigkeit in den Blick. Dieser inhaltlichen Verengung auf die „Weckung von Unternehmergeist“ ist entgegenzuhalten, dass neun von zehn Schülerinnen und Schülern später als abhängige Beschäftigte berufstätig sein werden. Die beruflichen Perspektiven der Mehrheit bleiben im Widerspruch zum didaktischen Gebot der Schülerorientierung auf der Strecke.
Im Schatten der Wirtschafts- und Finanzkrise wird finanzielle Bildung vor allem von Kreditinstituten und Versicherungskonzernen als Erfolg versprechender Weg aus ihrer Legitimationskrise gedeutet. Nahezu sämtliche Initiativen zielen auf bloßes Faktenwissen – oder gar auf reine „Produktkunde“. Was zählt, ist Wissen über Aktien und Anleihen, Devisen und Derivate sowie Fonds und Futures. Eine Analyse der Wirtschafts-, Finanz- und Eurokrise hingegen wird ausgespart. Die Kritik am schulischen Engagement derartiger Initiativen zielt gerade im Kontext ökonomischer Bildung auch auf die externen Referentinnen und Referenten, die in Vertretung ihrer Unternehmen – oder eben ihrer selbst – in die Klassen kommen.
Große Aufmerksamkeit erregte zuletzt der Verein Geldlehrer Deutschland e.V. Knapp 100 Vermögens- und Finanzberater sind dort engagiert und haben nach eigenen Angaben mittlerweile mehr als 3.200 Unterrichtsstunden erteilt, in denen Schülerinnen und Schüler angeleitet werden, Sparpläne, Ratenkredite und Altersvorsorge zu berechnen. Zwar sind diese „Geldlehrer“ laut „Ehrenkodex“ gehalten, Werbemaßnahmen im Unterricht zu unterlassen, aber natürlich liegt der Verdacht nahe, dass die „Geldlehrer“ ihre Arbeitszeit nicht ohne Grund hinter den Schultoren verbringen. Da sie für ihre dreitägige Ausbildung 2.900,- Euro zahlen, darf erst recht vermutet werden, dass sie in den Klassenzimmern gezielt für ihre Finanz- und Versicherungsprodukte werben, indem sie die staatliche Umlagefinanzierung schlecht- und das privatwirtschaftlich organisierte Kapitaldeckungsprinzip schönreden.
Auch das schulische Engagement der millionenschweren Initiative My Finance Coach wirft die Frage auf, ob das knappe Zeitkontingent 12-Jähriger auf die Fragen „Wie sorge ich privat für das Alter vor?“, „Wie betreibe ich bei meinen Finanzanlagen Risikodiversifikation?“ und „Wie versichere ich mich richtig?“ verwandt werden sollte. Eine zu kritischem Bewusstsein erziehende finanzielle Bildung, die auf die Gefahren
von Missbrauch durch Finanzintermediäre verweist oder vor finanziellen Risiken bei Geldanlagen warnt, findet so jedenfalls nicht statt. In dem Materialordner zum Thema „Sparen“ etwa werden die Risiken von Aktien und Anleihen niedriger Bonität oder hoher Volatilität ebenso ausgeblendet wie Inflationsrisiken, Kreditfallen oder Falschberatungen. Zudem erteilen die Finance Coaches der beteiligten Gründungsunternehmen Allianz, Grey und McKinsey auf Basis der umfassenden Materialsammlung Unterricht. Die Liste der Kooperationspartner ist mit mehr als 60 Unternehmen und Organisationen außergewöhnlich lang. Der Versicherungskonzern Allianz, die Deutsche Börse, die Kreditbank, die Cornelsen-Akademie, die Klett-Mint GmbH, die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG und die Unternehmensberatung McKincey und Company, sie alle reihen sich in das Lobbybündnis ein. Aber warum unterstützen auch die OCD, die UNESCO und der Deutsche Philologenverband diese privatwirtschaftliche Initiative. Glauben sie ernsthaft, dass externer Sachverstand über Unternehmensmitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den schulischen Regelkontext Eingang finden sollte? Müssen nicht gerade sie sich nicht die Frage stellen, warum Vermittler von Strukturbetrieben Schulen besuchen dürfen, um potenzielle Kunden zu werben, indem sie erst deren Ängste vor Altersarmut schüren und dann die private Altersvorsorge als Allheilmittel propagieren? Das ist beinahe so, als würden Fast Food-Restaurantleiter die Kinder über Ernährung informieren oder Pharmareferenten den Biologie- oder Chemieunterricht gestalten. Wollen wir das ernsthaft?
Um ein weiteres privatwirtschaftlich finanziertes Projekt, mit dem die Schulen zur Werbefläche degradiert wird, handelt es sich bei business@school. Unter dem Dach der Initiative, mit der die Boston Consulting Group als eine der weltgrößten Unternehmensberatungen seit mehr als 15 Jahren Einfluss auf die Bildungslandschaft nimmt, engagieren sich die Postbank, der Energiekonzern ENBW, das Handelsblatt u.v.m. Seit 1998 haben weltweit mehr als 15.000 Schülerinnen und Schüler im Rahmen des Wettbewerbs eine eigene Geschäftsidee samt Businessplan entwickelt. Das Handelsblatt stellt neben einem Abonnement für die teilnehmenden Schulen auch Unterrichtsmaterialien bereit, um den Unternehmergeist des Nachwuchses zu wecken, in dem vor allem betriebswirtschaftliche Grundlagen vermittelt werden. Die viel beschworene Praxisnähe soll dabei durch regelmäßige Besuche von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Beratungsfirma BCG und der Partnerunternehmen gewährleistet werden.
business@school degradiert die Institution Schule aber nicht nur zum Ort der Nachwuchsrekrutierung, sondern hebelt mit kostenlosen BWL-Seminaren für Lehrkräfte auch die staatlichen Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote aus.
Aus diesem Grund ist auch die mit einem Jahresetat von rund sieben Mio. Euro ausgestattete Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft in das Fadenkreuz der Debatte geraten. Neben Lehrerfortbildungen bietet die Initiative kostenlose
Unterrichtsmaterialien an. Manipulierend wirkt dabei zum Beispiel das Material „Das kleine 1 x 1 der Sozialen Marktwirtschaft“, in dem die Frage aufgeworfen wird, ob „nicht die soziale Balance in Deutschland gerade deshalb aus den Fugen geraten [ist], weil wir […] krampfhaft versuchen, die Schicksale von mehr als 80 Millionen Menschen in ein einziges, nämlich das vom Staat vorgegebene Korsett zu zwängen?“. Der in Art. 14 Abs. 2 GG verankerte Eigentumsvorbehalt – „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ – wird mit den Worten kommentiert: „Zugegeben, dieses Gebot ist ohne Zweifel gut gemeint, doch von einer freiheitlichen Wirtschaftsverfassung zeugt es nun wirklich nicht“. Prominente Erwähnung findet die Initiative Soziale Marktwirtschaft sogar in Schulbüchern. So konzipierte das Institut für politische Bildung Oldenburg im Auftrag der Gemeinschaftsinitiative soziale Marktwirtschaft, der Bertelsmann Stiftung, der Heinz Nixdorf Stiftung und der Ludwig Erhard Stiftung, dass Schulbuch Grundfragen wirtschaftlichen Handelns. In dieses hat der Kampagnentext der INSM die Debatte nach dem sozialen Eingang gefunden. Das grundsätzliche Problem bleibt: Schon für Lehrerinnen und Lehrer, die Sozialwissenschaften studiert haben, stellt die kritische Prüfung derartiger Materialien eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Für diejenigen, die die Inhalte ohne einschlägige Lehrbefähigung unterrichten müssen, bedeutet dies zumeist eine strukturelle Überforderung.
In immer stärkerem Maße nutzen auch Lebensmittelhersteller das „Einfallstor Schule“, um Kinder und Jugendliche in ihren Kauf- und Ernährungsgewohnheiten zu prägen. Diese Form der Kundengewinnung und -bindung ist dann als besonders problematisch anzusehen, wenn es sich um nachweislich ungesunde Lebensmittel handelt. Dazu zählen u.a. Angebote von Nestlé, Dr. Oetker und Kellogg‘s, aber auch die vom Getränkehersteller Capri-Sonne knapp fünf Jahre lang zum Einsatz gebrachte Unterrichtsmappe Fit, fair und schlau. Das für Grundschulen entwickelte Unterrichtsmaterial suggeriert, mit Zucker gesüßte Getränke seien vitaminreich und stünden in der Ernährungspyramide auf der gleichen Stufe wie Wasser – verbunden mit dem Hinweis, dass man davon viel trinken solle. Dabei ist das Getränk nach den Kriterien des von der Bundesregierung geförderten aid Infodienstes in der Rubrik „Süßigkeiten und Fett“ an der Spitze der Ernährungspyramide mit der Empfehlung platziert, es nur sparsam zu verzehren. Zwar wird die Materialmappe nach heftiger Kritik der Verbraucherorganisation foodwatch inzwischen nicht mehr verbreitet. Mit einem eigenen Schwimmabzeichen die Jüngsten von dem Getränkehersteller noch immer umgarnt.
Auch das vom Fast-Food-Konzern Mc Donald’s im Jahre 2006 publizierte Unterrichtsmaterial für die Primarstufe Mit Verstand groß werden – richtig essen und bewegen zeigt eindrücklich, wie weit die Firmen mit ihrer Marketingstrategie zu gehen bereit sind. Ähnlich wie Capri-Sonne hat auch der Junkfood-Riese ein eigenwilliges Verständnis von Lebensmittelkategorien. So weist ein Hamburger in dem Themenheft dieselben Gütekriterien wie Obst auf. Im didaktischen Kommentar des Materials heißt es: „Auf dem Tisch liegen Obst, Bilder von verschiedenen Gerichten, Hamburger und Pommes. Die Kinder sollen nun einordnen, was davon unter ,Fast Food‘ fällt. Hier ist die Definition des Begriffes wichtig. ,Fast Food‘ ist alles, was schnell und aus der Hand gegessen werden kann – also zählt zum
Beispiel auch Obst dazu.“ Wenngleich das Material derzeit nicht mehr abrufbar ist, nutzt Mc Donald’s doch weiterhin zahlreiche andere Kanäle wie etwa die Beteiligung an der Bundesarbeitsgemeinschaft SCHULEWIRTSCHAFT oder die Vergabe des DFB & McDonald‘s Fußball-Abzeichens, um durch vermeintlich selbstloses Engagement für seine Produkte zu werben.
Der Schokoladenhersteller Alfred Ritter GmbH & Co. KG. verfolgt ähnliche Manipulationsstrategien. So prangt auf der als Unterrichtsmaterial deklarierten Ritter Sport-Werbemappe mit dem Titel Von der Kakaobohne zur Schokolade derselbe Schrifttyp wie auf der handelsüblichen Schokoladenverpackung. Und auch inhaltlich liefert der Schokoladenproduzent ein Paradebeispiel für das noch immer weitgehend verkannte Ausmaß von „Schulmarketing“. Im Wege einer Entspannungsübung, zu deren Beginn die Lehrkraft allen Kindern ein Stückchen Schokolade reicht, lernen die Grundschülerinnen und -schüler, dass Schokoladenkonsum vorteilhaft für Geist und Körper ist. Im gesamten Heft wird Schokolade mit Belohnung, Glück und Entspannung gleichgesetzt. An einer Stelle heißt es wörtlich: „Außerdem ist Schokolade einfach lecker und damit eine gute Belohnung“. Diese Glorifizierung von Schokolade ist in Zeiten steigender gesundheitlicher Probleme aufgrund von einseitiger Ernährung sowie unzureichender Bewegung bei Kindern und Jugendlichen als ausgesprochen folgenschwer zu bezeichnen.
Die Beispiele zeigen, dass auf vielen von Lebensmittelunternehmen und -verbänden gesponserten Materialien nicht nur das entsprechende Markenlogo prangt, sondern dass diese auch ein verzerrtes Bild von Lebensmitteln liefern. Die notwendige Regulierung bleibt jedoch aus – ganz im Gegenteil: Statt dafür zu sorgen, dass Schulen vor dem Zugriff von Unternehmen geschützt werden, setzt die Politik gemeinsame Projekte mit der Lebensmittelindustrie auf, so z. B. mit der „Plattform Ernährung und Bewegung“.
Aber nicht nur Privatunternehmen werben in Schulen, sondern auch staatliche Akteure. So gab das Bundesverteidigungsministerium im vergangenen Jahr knapp 30 Mio. Euro für Nachwuchswerbung an Schulen aus. Soldaten und speziell geschulte „Jugendoffiziere“ halten dort Vorträge und nehmen an Podiumsdiskussionen oder Karrieremessen teil, um Personal zu rekrutieren, das seit der Abschaffung der Wehrpflicht knapp wird. Auf einer eigenen Website wirbt die Bundeswehr für sog. „Bundeswehr Adventure Camps“. Der Soldatenberuf wird als spannendes Abenteuer dargestellt, die mit Militäreinsätzen verbundenen Risiken werden verharmlost. Erfreulicherweise wächst die Kritik an dieser Praxis, sodass einige Schulen der Bundeswehr inzwischen den Zutritt verwehren. Zwei von ihnen wurden zuletzt mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet. Das macht Hoffnung – ebenso wie die Tatsache, dass Jugendoffiziere in Baden-Württemberg seit vergangenem Jahr nicht mehr offen für den Dienst an der Waffe werben dürfen. Es bleibt zu hoffen, dass sich der „UN-Fachausschuss für die Rechte des Kindes“ endgültig durchsetzt. Er fordert ein grundsätzliches Verbot aller Formen von Werbekampagnen für die Bundeswehr, die Jugendliche adressieren.
Hoffen lässt auch der Fall ExxonMobil. Der weltgrößte Energiekonzern förderte bis vor wenigen Wochen zwei Schulen in Niedersachsen – nicht zufällig in einer Region, in der mit einer Kette von Erdgasfeldern einer der größten Bodenschätze Deutschlands liegt. ExxonMobil zahlte den Schulen 10.000,- Euro pro Jahr, der PR-Chef des Unternehmens erläuterte den Schülerinnen und Schülern die Erdgasförderung und warb für eine Ausbildung im Unternehmen. Der Wirtschaftsverband Erdöl und Erdgasgewinnung formuliert die Ziele hinter solchen Kooperationen erstaunlich offen: Die Reputation der Branche soll verbessert und die Darstellungen über die Erdöl- und Erdgasproduktion in Schulen versachlicht werden. Offenkundig ist diese Art des „Greenwashing“ erfolgreich: Immerhin hat sich für 45 Prozent der Schülerinnen und Schüler, die an der Kooperation mit ExxonMobil teilgenommen haben, „die Bewertung des Partnerunternehmens verbessert“. Bereits 2013 sorgte die Kooperation für Aufsehen, als das Magazin Frontal 21 kritisch darüber berichtete. Nun hat auch die niedersächsische Landesregierung den dringenden Handlungsbedarf erkannt und beendet ab kommendem Schuljahr die umstrittene Kooperation zwischen Gymnasien und Energiekonzernen wie ExxonMobil, RWE, GDF und SUEZ. In diesen Fällen hatte die Landesregierung zuletzt klare Verstöße gegen die Antikorruptionsrichtlinien des Landes erkannt. Somit ist zumindest in Niedersachsen ein erster wichtiger Schritt getan, wenngleich der Branchenverband nach eigener Auskunft an neuen Verträgen arbeitet, die den geänderten Vorgaben für Schulsponsoring entsprechen.
Womöglich und hoffentlich erkennt die Politik allmählich, dass Werbung in Schulen einen nicht tragfähigen Zustand darstellt. Es bleibt zu hoffen, dass folgende Kernargumente der Kritiker endlich Gehör finden:

1. Schulen sind der Auf- und nicht der „Verklärung“ verpflichtet, dürfen folglich keine Weltbilder heranzuzüchten.
2. Da Kinder und Jugendliche im Umgang mit Meinungen vergleichsweise unerfahren sind, müssen die ihnen vorgetragenen Standpunkte behutsam ausgewählt werden. Die Umworbenen können sich den unterrichtlich eingebetteten „Werbeveranstaltungen“ aufgrund des schulischen Pflichtcharakters schließlich nicht entziehen.
3. Schülerinnen und Schüler wissen den im Unterrichtskontext vermittelten Eindruck von Seriosität und Neutralität der externen Experten nicht in jedem Einzelfall zu enttarnen. Schon deshalb müssen sie vor externen Sachverständigen, denen mit ihrer Einbeziehung in den Pflichtschulkontext eine hohe Glaubwürdigkeit zugeschrieben wird, geschützt werden.
4. Lernprozesse sind erfahrungsgemäß nur dann erfolgreich, wenn Argumente sachlogisch generiert, analysiert und reflektiert werden. Auf kritische Reflexion zielen die Aktivitäten der Werbetreibenden aber gerade nicht.
5. Die Übernahme des Unterrichts durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Privatunternehmen mit eigenen Unterrichtsmaterialien hat weitreichende Konsequenzen für die öffentliche Wahrnehmung des Lehrerberufs, erfährt die professionsbezogene Ausbildung mit dieser Form der „Öffnung von Schule“ doch einen nachhaltigen Reputationsverlust.
6. Das auf Allgemeinbildung zielende Schulwesen wird durch diese schleichende Privatisierung zu einem Handlungsfeld degradiert, in dem Unternehmensrepräsentanten frei von curricularen Vorgaben agieren können. Damit wird kein Verhältnis unter gleichen geschaffen, wie es die Begriffe Bildungs- und Lernpartnerschaft suggerieren, sondern ein Ungleichgewicht gefördert, dass sich in finanziellen und inhaltlichen Abhängigkeiten niederschlägt.
7. Die frappierende Schieflage zwischen Schulen als staatlichen Institutionen einerseits und privatwirtschaftlichen Akteuren andererseits geht zu Lasten solcher Interessengruppen, die nicht über die nötigen finanziellen und personellen Ressourcen für schulische Lobbyarbeit verfügen – wie z. B. Wohlfahrts- und Umweltverbände, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch Gewerkschaften oder klassische Nichtregierungsorganisationen.
8. Dieselben Akteure, die die Schulen mit Unterrichtsmaterialen zu Wirtschaftsthemen fluten fordern seit Jahren die Einführung eines eigenständischen Fachs Wirtschaft, wie es nun zum Herbst 2015 in Baden-Württemberg mit der Bezeichnung Wirtschafts-, Beruf- und Studienorientierung eingeführt werden wird. Dahinter steht die Behauptung, dass Wirtschaft- und Finanzwissen der Jugendlichen sei ungenügend, weshalb diesen Themen mehr Unterrichtszeit zugebilligt werden müsse. Aber wissen Schülerinnen und Schüler über Wirtschaft wirklich weniger als über Politik, Gesellschaft und Geschichte? Brauchen wir in Zeiten von Fremdenfeindlichkeit im Schatten von Pegida und Hogesa, der Hooligans gegen Salafisten, nicht dringend mehr politische Bildung?
9. Die meisten Unterrichtsmaterialien gefährden die eigenständige Urteilsbildung und die Ausbildung von Kritikfähigkeit. Sie unterminieren damit den Beutelsbacher Konsens, in dem 1976 mit dem Überwältigungsverbot, dem Kontroversitätsverbot und der Schülerorientierung drei Grundprinzipien der sozialwissenschaftlichen Bildung festgeschrieben worden.
10. Es ist nicht einzusehen, dass Schulbücher in beinahe allen Bundesländern einem engmaschigen Prüfverfahren unterliegen, die Unterrichtsmaterialien privater Content-Anbieter hingegen nicht. Dies stellt bis heute eine nicht zu rechtfertigende Zweiklassenbehandlung dar.

Kurzum: Längst ist im einstigen „Schonraum Schule“ ein Kampf um die Köpfe der Kinder entbrannt, der die Unterrichtsqualität gefährdet und das auf Mündigkeit zielende emanzipatorische Bildungsverständnis aushöhlt. Je mehr Schulen sich für private Geschäftsinteressen öffnen und je mehr der Staat die Schulen dazu zwingt, weil er sie unzureichend finanziert, desto weniger wird die Schule ein Ort sein, an dem junge Menschen kritisches Denken und Handeln lernen. Wenn wir uns wirklich als „Bildungsrepublik“ begreifen, muss die immer weitreichendere Instrumentalisierung der Schule als Ort der Werbung und des Sponsoring ein Ende finden. Es ist an der Zeit, dass die bildungspolitischen Entscheidungsträger den schulischen Allgemeinbildungsauftrag nicht länger privatwirtschaftlichen Interessen opfern, sondern die Schultore für dubiose Akteure schließen. Andernfalls drohen Schulen endgültig zu „Werbeplattformen“ zu verkommen.