SWR2 Wissen: Aula - Wolfgang Streeck: Nicht ohne meine Identität? Die Zukunft der Nationalstaaten

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Zukunft - Nationalstaaten (W. Streeck)
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SWR2 Wissen: Aula - Wolfgang Streeck: Nicht ohne meine Identität? Die Zukunft der Nationalstaaten

Autor
Wolfgang Streeck ist Soziologe und Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln. Er beschäftigt sich in seiner Forschung mit Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und Politik, vorrangig mit Auswirkungen und Problemen des Kapitalismus. Seit 2012 fungiert er als Research Council des European University Institute (EUI) und ist Mitglied im International Advisory Board am Sheffield Political Economy Research Institute der University of Sheffield. Im Jahr 2016 wurde er zum Corresponding Fellow (auswärtigen Mitglied) der British Academy gewählt.
https://wolfgangstreeck.com
Buch von Wolfgang Streeck zum Thema:
- Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Suhrkamp, Berlin 2013
Wolfgang Streeck ist Soziologe und Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln. Er beschäftigt sich in seiner Forschung mit Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und Politik, vorrangig mit Auswirkungen und Problemen des Kapitalismus. Seit 2012 fungiert er als Research Council des European University Institute (EUI) und ist Mitglied im International Advisory Board am Sheffield Political Economy Research Institute der University of Sheffield. Im Jahr 2016 wurde er zum Corresponding Fellow (auswärtigen Mitglied) der British Academy gewählt.
Internetseite: https://wolfgangstreeck.com
Buch von Wolfgang Streeck zum Thema:
– Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Suhrkamp, Berlin 2013

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ÜBERBLICK
Sind die europäischen Nationalstaaten nur noch museale Überbleibsel einer vergangenen Epoche? Die Globalisierung hat schließlich die Tendenz, Nationalstaaten zu überwinden, gelten sie doch mit ihren eigenen Identitäten, Kulturen und Ökonomien als Hemmschuhe für einen einheitlichen Weltmarkt und einen europäischen Superstaat, der alle nationalen Identitäten getilgt hat. Dabei wird übersehen, dass die Nationalstaaten eine Alternative sind zum Traum von neoliberaler Grenzenlosigkeit. Professor Wolfgang Streeck, emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, beschreibt diese Alternative.

INHALT
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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Aula
Nicht ohne meine Identität?
Die Zukunft der Nationalstaaten
Von Wolfgang Streeck
Sendung: Sonntag, 29. Oktober 2017, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2017
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Online-Teaser:
Der moderne säkulare Staat steht für Normen jenseits religiöser Begründungen. Ulrike Spohn zeigt, wie der Konflikt zwischen Säkularismus und Religiosität zu überwinden ist.
MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: "Nicht ohne meine Identität? Die Zukunft der Nationalstaaten“.
Sind die europäischen Nationalstaaten nur noch museale Überbleibsel einer vergangenen Epoche? Die Globalisierung hat schließlich die Tendenz, Nationalstaaten zu überwinden, gelten sie doch mit ihren eigenen Identitäten, Kulturen und Ökonomien als Hemmschuhe für einen einheitlichen Weltmarkt und einen europäischen Superstaat, der alle nationalen Identitäten getilgt hat. Dabei wird übersehen, dass die Nationalstaaten eine sinnvolle Alternative sind zum Traum von neoliberaler Grenzenlosigkeit. Professor Wolfgang Streeck, emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, beschreibt diese Alternative.
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Wolfgang Streeck:
Wer heute in Deutschland bezweifelt, dass die Europäische Union besser geeignet ist als ihre Mitgliedstaaten, Frieden, Freiheit, Wohlstand und Demokratie in Europa zu sichern, der muss sich auf die Frage gefasst machen, ob er denn „zurück in den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts“ wolle. Die Antwort kann nur sein: Was heißt „zurück“? Niemals in der Geschichte der Menschheit gab es mehr Nationalstaaten als heute; im 19. Jahrhundert dagegen, der Epoche multinationaler Groß- und Kolonialreiche, gab es fast keine. 1950, nach zwei Weltkriegen, war die Zahl der Nationalstaaten auf 91 gewachsen, von denen 60 den gerade neu gegründeten Vereinten Nationen angehörten. Dann begann die Ära der Entkolonialisierung, in der die Zahl der Nationalstaaten bis 1980 auf 177 stieg. Anschließend, im Zuge der nun einsetzenden beschleunigten „Globalisierung“ und der Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens, wuchs sie weiter. 2010 gab es nach Angabe der Vereinten Nationen – ich betone: Nationen! – 202 souveräne Staaten, unter ihnen 192 UN-Mitgliedstaaten.
Nationalstaatliche Souveränität ist noch immer eine begehrte politische Ressource, zumal das heutige Völkerrecht den Staaten mehr Möglichkeiten als je zuvor bietet, ihre Rechte einzuklagen und zu verteidigen – auch wenn Großmächte wie die USA immer wieder Gründe suchen und finden, zur Durchsetzung von „Menschenrechten“ oder Eigeninteressen die territoriale Integrität schwächerer Staaten zu missachten oder gar bestehende Staaten in failed states zu verwandeln. Auffällig ist, dass die meisten Staaten dennoch klein sind und offenbar klein sein wollen. So hatte 2010 die Hälfte der damals bestehenden Staaten weniger als 7,1 Millionen Einwohner. Zwar war 1980 der Mittelwert mit 4,9 Millionen noch niedriger gewesen; der dann folgende Anstieg der durchschnittlichen Einwohnerzahl ging auf den Anstieg der Weltbevölkerung zurück, fiel aber wegen der gleichzeitig gestiegenen Zahl der Staaten geringer aus als dieser. Scheidungen gab es am laufenden Band: blutige wie im Sudan und in Jugoslawien (militärisch gefördert von „humanitären Interventionen“ des „Westens“), friedliche wie die Auflösung der Tschechoslowakei nach 1989. Von freiwilligen Zusammenschlüssen dagegen – etwa von Italien, Spanien und Portugal zu Latino-Mediterranien, von Norwegen, Schweden, Dänemark und Finnland zu Groß-Skandinavien, von Estland, Lettland und Litauen zu Ost-Baltistan – ist nichts bekannt.
Wer heute das System der Nationalstaatlichkeit als überholt hinter sich lassen will – eine Haltung, die vor allem im Deutschland verbreitet ist – denkt vermutlich an die nach innen wie außen gewaltsame Geschichte der Herausbildung der modernen Nationalstaaten im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg suchten die Siegermächte, die sich zur Ordnung der Hinterlassenschaft der großen Imperien berufen fühlten, aber auch die betroffenen Völker nach Staatsgrenzen, die zugleich Völkergrenzen sein sollten – wobei Völker wie selbstverständlich als einheitliche Ethnien gedacht wurden. Dies endete in weiträumigen ethnischen Säuberungen und bis dahin ungekannten rassistischen Exzessen. Nationalstaaten sollten grenzgleich werden mit Nationen, die als Abstammungsgemeinschaften verstanden wurden und sich selber so verstanden. In Wahrheit verhält es sich nur in sehr seltenen Fällen so, annähernd etwa in Island. Die allermeisten Nationen sind genetisch auf das Bunteste zusammengesetzt, und kaum ein Nationalstaat ist ethnisch homogen. Schon Römer, Franken, Langobarden,
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Bajuwaren begannen als zusammengewürfelte Haufen von Straßenräubern; allgemein verhält es sich mit Nationen, um Bismarck zu paraphrasieren, wie mit Blutwurst und Gesetzen: man möchte nicht unbedingt wissen, wie sie gemacht wurden. Normalerweise konstruieren Staaten Nationen, nicht umgekehrt, wobei sie wie in Frankreich mehr oder in Jugoslawien weniger erfolgreich sind. Kriege, mit anderen Ländern (Frankreich unter Napoleon, Deutschland unter Bismarck) oder mit eigenen Landesteilen (die USA im amerikanischen Bürgerkrieg) sind dabei hilfreich, auch Ohrfeigen für Schüler, die im Unterricht ihre Regionalsprache sprechen. Keins dieser Mittel steht übrigens, glücklicherweise, den Brüsseler europäischen Einigern zur Verfügung.
Nationen und ihre Staaten
Heute sollten wir gelernt haben, zwischen Nationalstaaten und Nationen zu unterscheiden. Beide sind, so wird uns versichert, „soziale Konstruktionen“. Aber das heißt nicht, dass sie jederzeit dekonstruiert werden könnten. Nationen sind historisch gewachsene Erfahrungs- und Verständigungsgemeinschaften. Ihre kollektiven Erinnerungen, festgehalten in einer gemeinsamen Sprache, begründen kollektive Identitäten, gestützt von unvermeidlich „monokulturellen“, von Kindheit an aufgebauten emotionalen Bindungen an Landschaft, Dialekt, Musik, Küche usw. Fast immer geht damit ein Wunsch nach kollektiver Selbstbestimmung einher, ein Anspruch auf Autonomie, nationalstaatlich verfasst oder nach nationalstaatlicher Verfassung strebend, in einer gerechten zwischen-nationalen Ordnung.1 Nationalstaaten suchen nach Legitimität, indem sie die gegen jede Kantianische Rationalisierung resistente Heimatliebe der Menschen auf sich zu übertragen und, zum Guten wie Bösen, in Vaterlandsliebe oder Patriotismus zu verwandeln bemüht sind. Die sich dabei herausbildenden politischen Identitäten sind alles andere als statisch. Aber was ihnen, vor allem von außen, zuwachsen soll – was sie an Heimat aufgeben oder neu aufnehmen wollen – darüber wollen sie in aller Regel souverän selber bestimmen.
Soziale Integration bedeutet immer auch soziale Differenzierung: Kein Innen ohne Außen. Nationale Verständigungsgemeinschaften sind deshalb füreinander grundsätzlich rätselhaft; ein durchschnittlich begabter vergleichender Politikwissenschaftler braucht mindestens ein Jahrzehnt, um auch nur ein benachbartes Land annähernd zu „verstehen“. Schon daran muss die vielbeschworene „Überwindung des Nationalstaats“ scheitern, selbst innerhalb Europas, auch wenn dies seine Vielfalt in einer langen gemeinsamen Geschichte gemeinsam hervorgebracht hat. Eine „europäische Öffentlichkeit“, auf die sich eine europäische Demokratie gründen ließe, gibt es schon deshalb nicht und wird es lange nicht geben – oder nur in der synthetischen Form unverständlicher, weil „kulturloser“, wie Computersignale ohne Obertöne daherkommender Brüsseler
1 Man tut gut daran, den Nationenbegriff weit zu fassen. In den USA haben es die früher „Stämme“ genannten ethnischen Gemeinschaften der Überlebenden der „Indianerkriege“ durchgesetzt, im offiziellen Sprachgebrauch als „Nationen“ bezeichnet zu werden („the Sioux nation“, „the Osage nation“ usw.). Malcolm X (ermordet 1965) betrieb als Gegenspieler Martin Luther Kings (ermordet 1968) die Konstituierung der amerikanischen Schwarzen als Nation mit Anspruch als Segregation und Selbstregierung. Bekanntlich gewann der Integrationist King innerhalb der Bürgerrechtsbewegung die Oberhand. Die Frage kann aber dennoch gestellt werden, ob die amerikanischen Schwarzen sich heute mit einem eigenen Staat oder Bundestaat nicht besser stünden als unter der Aufsicht „integrierter“ gesamtamerikanischer Polizeibehörden.
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Verlautbarungen. Selbst ein entschiedener Rationalist wie Jürgen Habermas konnte sich noch 1990 das geeinte Europa nur, de Gaulle zitierend, als „Europa der Vaterländer“ vorstellen – ein Ideal, das seine Anhänger heute für einen auf das Schärfste zu verurteilenden nationalistischen Atavismus halten.
Nationalstaaten, im Unterschied zu Nationen, sind Institutionen. Konstituiert werden sie nicht durch Abstammung, sondern durch politische und soziale Bürgerrechte, insbesondere Rechte auf demokratische Beteiligung. Nationalstaaten und Nationen beziehen sich aufeinander, aber sie sind nicht dasselbe und so gut wie nie deckungsgleich; fast überall gibt es nicht-identische Einschlüsse, sprachlich, ethnisch, kulturell. Auch sind die Grenzen zwischen Nationalstaaten fast immer mehr oder weniger willkürlich und die Übergänge zwischen ihnen fließend, und „Gemeinschaften“, die sich als Nationen fühlen, können sich in einem Nationalstaat wiederfinden, der ihnen falsch vorkommt, und möchten dann ihren eigenen Staat gründen – womit die Zahl der Staaten weiter steigen und ihre durchschnittliche Größe weiter sinken würde. Schottland und Katalonien sind Beispiele, längst nicht die einzigen, für mehr oder weniger starke separatistische Tendenzen in multi-ethnischen europäischen Staaten. Ein Mittel, Ab- und Aufspaltungen zu verhindern, ist eine föderale staatliche Organisation – die Erfolgsformel der Schweiz mit ihren vier Ethnien. In den langen Friedensjahren nach 1945 haben viele europäische Nationalstaaten ihre Lektionen aus den Katastrophen der Zwischenkriegszeit gelernt und auf interne ethnische Vielfalt mit Dezentralisierung und verfassungsmäßig garantierter Autonomie statt mit Unterdrückung geantwortet, um so ihren inneren Frieden zu bewahren – während sie zugleich ihren äußeren Frieden durch Anerkennung ihrer gewordenen Grenzen und Verzicht auf territoriale Ansprüche auch dort sicherten, wo ethnische Gemeinschaften von Staatsgrenzen durchtrennt werden.
Europa: Integration und Desintegration
Nicht, dass Art, Umfang und Rechtfertigung (national-) staatlicher Organisation heute unumstritten wären; im Gegenteil stellt auch hier die sogenannte Globalisierung fast alles in Frage, einschließlich des so lange befriedeten europäischen Staatensystems der Nachkriegszeit. Hier scheint sich die Europäische Union als Vehikel einer kollektiven europäischen Abkehr von einer ererbten, wegen des wirtschaftlichen Zusammenwachsens der Welt angeblich unzeitgemäß gewordenen „Kleinstaaterei“ und ihrer Ersetzung durch einen supranationalen Zentralstaat anzubieten, der auch gegenüber den USA und China satisfaktionsfähig wäre. Tatsächlich aber sind fast alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union dieser nicht beigetreten, um ihre nationale Souveränität an sie abzugeben, sondern im Gegenteil um sie zu verteidigen oder überhaupt erst voll zu verwirklichen – siehe Irland, Dänemark, die Niederlande und Luxemburg, Finnland, die baltischen Staaten, Polen, Ungarn, Tschechien usw. Als „Herren der Verträge“ sind es die Mitgliedstaaten, und sie allein, die über Ziel, Zweck und weitere Entwicklung der EU entscheiden.2 Das einzige
2 Die EU selber tut so, als sei dies anders und sie eine Art Staat oder Protostaat. Mitunter helfen ihr ihre Mitgliedstaaten dabei, diesen Anschein zu kultivieren, etwa wenn von einer EU-Staatsbürgerschaft oder gar einer EU-Verfassung die Rede ist. Aber Bürger der EU ist man nur als Bürger eines ihrer Mitgliedstaaten, und was Anfang der 2000er Jahre als Verfassung verabschiedet werden sollte, war von Anbeginn nichts anderes als ein internationaler Vertrag – und trat nach seinem Scheitern in einem französischen Referendum denn auch nahezu unverändert als „Verfassungsvertrag“ in Kraft.
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Land, dass von dieser erwartet, dass sie den europäischen Nationalstaat „überwindet“, dürfte Deutschland sein – ein Land, das aus historischen Gründen immer noch nach Wegen sucht, nicht mehr es selber sein zu müssen. Dass der deutsche Europa-„Diskurs“ als selbstverständlich unterstellt, dass am Ende der europäischen Einigung das Ende nicht nur des deutschen Nationalstaats, sondern aller Nationalstaaten stehen soll, erscheint im europäischen Ausland allerdings eher als neo-imperialer Herrschaftsanspruch denn als europadienliche Selbstaufopferung. Es gehört in diesen Zusammenhang, dass Frankreich in den 1990er Jahren Kohl jene „politische Union“ verweigert hat, die Deutschland, übrigens zu Recht, als Voraussetzung für eine funktionsfähige Währungsunion ansah.
Freilich ist damit die Frage noch nicht beantwortet, ob der gegenwärtige Zuschnitt des europäischen Staatensystems den Anforderungen einer veränderten Welt noch gerecht wird. In der Tat stellen sich heute auch und gerade in Europa fundamentale Probleme staatlicher Organisation von neuem, die man lange für erledigt gehalten hatte: Ist es besser, als Staat klein zu sein oder groß, und wenn klein, wie in eine internationale Ordnung eingebettet, wenn groß, wie verfasst? In der EU geht es derzeit kleinen Ländern außerhalb der Währungsunion (Dänemark, Schweden) besser als innerhalb (Finnland, Portugal, Griechenland, Irland), und kleinen Ländern außerhalb der EU (Norwegen, Schweiz, Island) zumindest nicht schlechter als kleinen Ländern in ihr, selbst wenn diese noch über eine eigene Währung verfügen. Vielleicht liegt dies daran, dass sich kleine Länder bei der Suche nach strategischen Nischen im Weltmarkt auf das volle Instrumentarium nationalstaatlicher Souveränität stützen können – wie etwa Norwegen, das seine Öleinnahmen nicht konsumiert, sondern für die Zukunft spart, oder Dänemark, das sich als Volkswirtschaft auf Logistik, Design und Dienstleistungen wie Consulting spezialisiert hat, mit überwiegend Klein- und Mittelbetrieben und hohen öffentlichen Investitionen in Bildung und Ausbildung. Andererseits ist Spezialisierung immer auch riskant – siehe Finnland, das in wenigen Jahren vom Rohstoff- zum Hochtechnologie-Exporteur wurde, nun aber wegen der Krise von Nokia auch als Land in der Krise steckt. Große Länder können Risiken mischen und Erträge intern von Gewinnern zu Verlierern umverteilen – vorausgesetzt, dass internationaler Wettbewerb und die innerstaatlichen Macht- und Verfassungsverhältnisse dies zulassen. Zumindest letzteres ist jedenfalls in der EU nicht gegeben, vermutlich aber auch nicht, oder immer weniger, in den USA und China.
Kleine Staaten haben noch andere Vorteile, die erklären können, warum es keine Beispiele für freiwillige Großstaaterei gibt. Je kleiner eine Bevölkerung, desto homogener wird sie in der Regel sein, und Homogenität erleichtert die Wahrung des sozialen Zusammenhalts. Klein und souverän zu sein bedeutet auch, auf seine eigenen Anstrengungen angewiesen zu sein. Auch deshalb scheinen kleine Staaten eher als große in der Lage zu sein, ihre Bürger zu demokratischer Beteiligung zu motivieren: je kleiner ein Staat, desto kürzer und überschaubarer der Weg vom Beschluss zur Umsetzung einer Politik, desto und ausgeprägter womöglich das persönliche Verantwortungsgefühl der Bürger für die gemeinsamen Angelegenheiten. Ähnlich mag es sich auch in stark dezentralisierten föderalistischen Systemen verhalten. Kleine Staaten wirken darüber hinaus für ihre Nachbarn nicht bedrohlich und sind nach außen darauf angewiesen, sich für eine stabile internationale Friedens- und Rechtsordnung einzusetzen, die sie davor schützt, von Großmächten mit Krieg überzogen, von mobilem Kapital erpresst oder von den externen Effekten der Entscheidungen anderer Staaten geschädigt zu werden.
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Auch wenn eine solche internationale Ordnung noch weit entfernt zu sein scheint – deswegen auf die Vorteile nationaler Souveränität verzichten will offenbar kein Staat. Versprechungen der Europäischen Union, an sie übertragene nationale Souveränität in effektivere supranationale Souveränität umzuwandeln, sind zu oft enttäuscht worden; siehe die Unfähigkeit der europäischen Behörden, die britischen und luxemburgischen Steuerschlupflöcher zu schließen, die Nichtbesteuerung amerikanischer Konzerne durch einzelne Mitgliedstaaten zu verbieten oder den zwischenstaatlichen Wettbewerb um die Ansiedlung multinationaler Konzernzentralen zu beenden. Auch deshalb sieht sich das europäische Staatensystem, Nationalstaaten wie Europäische Union, durchaus krisenhaften Auflösungstendenzen ausgesetzt. So muss die EU nach dem britischen Referendum erstmals befürchten, dass ein Mitgliedstaat aus ihr ausschert, um zu voller nationaler Souveränität zurückzukehren. Und was die Nationalstaaten selber betrifft, so lösen sich diese, wenn überhaupt, nicht nach oben auf, durch Übertragung ihrer Souveränität an die EU, sondern nach unten, in zunehmenden Bestrebungen europäischer Regionen, sich von ihren Nationalstaaten loszusagen und sich selber als – kleinere! – souveräne Nationalstaaten zu konstituieren.
Die derzeit spektakulärsten, bei weitem aber nicht einzigen Beispiele hierfür sind, wie erwähnt, Katalonien und Schottland. Sowohl in Spanien als auch in Großbritannien machen sich weitere Regionen bereit, ähnliche Ansprüche zu erheben – das Baskenland und Andalusien hier, Wales dort. Separatistische Tendenzen gibt es auch in Italien – in Venetien und der Lombardei eher noch als in Südtirol – und in Belgien. Oft sind auch Nachbarstaaten betroffen, etwa Frankreich im Fall Kataloniens und des Baskenlandes, was zu internationalen Konflikten führen kann. Eine Vielzahl von Motiven kommt dabei zusammen – von bis ins Mittelalter zurückreichenden Erinnerungen an militärische Unterdrückung und kulturelle Demütigung bis zu einem, oft berechtigten, Gefühl, von einer unfähigen oder korrupten Zentralregierung („Roma ladra“) um die Früchte des eigenen Fleißes gebracht zu werden. Für eine friedliche Lösung im nationalstaatlichen Rahmen kommt es darauf an, ob die jeweilige Zentralregierung zu Verfassungsreformen in Richtung auf mehr wirtschaftliche und kulturelle Autonomie in der Lage ist, insbesondere zur Durchsetzung einer als gerecht wahrnehmbaren Finanzverfassung. Dies stellt hohe Ansprüche an ihre politische Integrität und technische Kompetenz sowie, vor allem, an ihre Bereitschaft, den Einheitsnationalismus des Zentralstaats regional aufgliedern und nationale Identität weiter nach unten abwandern zu lassen. Gerade in Großbritannien und Spanien sind zumindest einige dieser Bedingungen nicht unbedingt gegeben.
Es trifft zu, dass sezessionistische Bewegungen wie die in Katalonien und Schottland erklären, nach Erlangung staatlicher Unabhängigkeit weiterhin der EU angehören zu wollen. Aber die EU, die sie sich vorstellen, ist eine andere als der in Brüssel erstrebte supranationale Einheitsstaat. Wie vor ihnen die Länder Osteuropas, etwa die baltischen Staaten, so werden auch selbständig gewordene Regionen europäischer Nationalstaaten ihre mühsam erkämpfte Souveränität nicht umgehend bei der EU wieder abgeben wollen. Ihre EU ist eine autonomiesichernde Ordnung freiwilliger internationaler Zusammenarbeit. Die real existierende EU dagegen ist ein politisches Instrument ihrer Vertragsstaaten zur „Integration“ ihrer Gesellschaften in ein supranational zentralisiertes und zentral gesteuertes politisch-ökonomisches Einheitsregime – was unter anderem bedeutet, dass sie in innerstaatlichen Konflikten über regionale Autonomie darauf bestehen muss, dass eine aus einem Mitgliedstaat
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ausgetretene Region ohne dessen Zustimmung und die aller anderen Mitgliedstaaten keine Chance hat, in die EU aufgenommen zu werden.
Subnationalismus und Neonationalismus in der neoliberalen Revolution
Woran liegt es, dass sich in vielen europäischen Nationalstaaten gerade heute zum Teil uralte zentrifugale Tendenzen so nachdrücklich bemerkbar machen? Um dies zu verstehen, ist es hilfreich, sich daran zu erinnern, dass der neue subnationale Regionalismus in Europa zeitlich mit dem Auftreten eines neuen Nationalismus,3 gemeinhin als „Rechtspopulismus“ bezeichnet, zusammenfällt, der in so gut wie allen europäischen Ländern an Bedeutung gewonnen hat, nunmehr auch in Deutschland – vielleicht mit Ausnahme Spaniens, wo stattdessen der regionale Separatismus besonders ausgeprägt ist, sicherlich aber in Großbritannien, wo er Parlament und Regierung in den Brexit getrieben hat. Beide Entwicklungen, Separatismus und Neonationalismus, sind Reaktionen auf einen Funktionswandel des Nationalstaats im Zeitalter der sogenannten „Globalisierung“: auf die internationalistische Wende nationalstaatlicher Politik in Gestalt einer, insbesondere in Europa und der EU, zwischenstaatlich abgestimmten Nutzung der wichtigsten Ressource des Nationalstaats, seiner Souveränität, zur Entgrenzung der nationalen politischen Ökonomien und Durchsetzung ihrer Integration in den Weltmarkt. Dieser Prozess, der gemeinhin als neoliberale Revolution bezeichnet wird, geht einher mit einer Entwertung der bestehenden Nationalstaaten als Schutzmächte ihrer Gesellschaften gegen von außen kommende überwältigende Anpassungszwänge – eine Entwertung, die den motivierenden Hintergrund sowohl des neo-separatistischen Rückzugs auf kleinere, besser „von unten“ kontrollierbare, identitätssichernde politische Einheiten als auch neonationalistischer Forderungen nach souveränem Staatshandeln zur Verteidigung territorial lokalisierter Interessen und Lebensweisen abgibt.
Es lohnt sich, diesen Zusammenhang noch etwas genauer zu betrachten. Der neoliberale Globalismus beinhaltet eine deregulierende Selbstzurücknahme des Nationalstaats als protektionistischer Wohlfahrtsstaat und Garant kultureller Identität. Eine solche Politik ist in den europäischen Massendemokratien der Nachkriegszeit nur schwer durchzusetzen. Die Internationalisierung von politischen Entscheidungen durch Übertragung auf Gipfelkonferenzen und Institutionen wie die Europäische Kommission oder die Europäische Zentralbank hat sich unter diesen Bedingungen als geeignetes Mittel erwiesen, nationale demokratische Prozesse substanziell zu entleeren und sie als Vehikel eines populären Widerstands gegen beschleunigten Wandel, verschärften Wettbewerb und technokratischen Gesellschaftsumbau zu neutralisieren. Die einschlägige Liberalisierungsrhetorik beschreibt die damit verbundene Selbstschwächung nationaler Politik als naturwüchsigen Kontrollverlust, etwa wenn Grenzen mit dem Argument geöffnet werden, dass sie sich ohnehin nicht mehr geschlossen halten ließen. Schaut man aber genauer hin, dann erweist sich die Entgrenzung der nationalen Solidaritätsgemeinschaften als politische Strategie zu deren Umgestaltung mit dem Ziel einer (nach oben offenen) Steigerung ihrer nationalen „Wettbewerbsfähigkeit“. Dies erklärt, warum dieselben Nationalstaaten, die ihren Bürgern gegenüber ständig ihre eigene Obsoleszenz beteuern, gar nicht daran denken, ihre souveräne politische Handlungsfähigkeit an größere politische
3 Neu insofern, als er eher defensiv als aggressiv orientiert ist: auf Verteidigung der nationalen Autonomie und Lebensweise, weniger auf Bestreitung der Autonomie anderer Nationen oder ihre Umerziehung.
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Einheiten abzugeben. Die EU, um es überspitzt zu formulieren, wird von ihren Mitgliedstaaten gebraucht, nicht um sich selber, sondern um ihre Bürger politisch zu entmachten. „Populistischer“ Neonationalismus, nationalistische Renationalisierung a la Brexit und regionaler Separatismus haben gemeinsam, dass sie Gegenbewegungen gegen die internationalistische Um- bzw. Entfunktionalisierung des Nationalstaats im Zeitalter der „Globalisierung“ sind.
Es ist deshalb nicht nur die Dauerhaftigkeit identitätsstiftender Erinnerungen, die der in Deutschland immer wieder geforderten „Überwindung des Nationalstaats“ im Weg steht. Die Widerständigkeit der Nationen und Nationalstaaten gegen supranationale Eingemeindung ergibt sich auch daraus, dass zwei Jahrhunderte moderner Klassen- und Kulturkonflikte unterschiedliche „historische Kompromisse“ an der Schnittstelle zwischen sozialer Lebenswelt und kapitalistischer Entwicklung hervorgebracht haben, denen unterschiedliche Lebens- und Wirtschaftsweisen entsprechen. Keiner dieser Kompromisse ist perfekt oder auch nur stabil, und keiner ist den anderen per se moralisch überlegen; alle sind auf ihre Art unsauber und niemals mehr als ein zeitweiliger, dauerhaft umkämpfter Interessenausgleich bei gegebenen geostrategischen Bedingungen, materieller Ressourcenausstattung, erstrittener Klassen- und Staatsstruktur usw. Ideallösungen gibt es hier nicht, auch wenn internationalistisch gesinnte Globalisten und EU-Technokraten das glauben und den europäischen Gesellschaften mithilfe eines zentralisierten Superstaats ein einheitliches neoliberales Wirtschafts- und Lebensregime als Ende ihrer kapitalistischen Konfliktgeschichte aufreformieren wollen.
Kosmopolitische Hoffnungen, auf den Rockschößen einer selbstgetriebenen „Globalisierung“ der Ökonomie in eine von nationalen Identitäten befreite, allgemeinmenschliche Zukunft reisen zu können, sind illusionär. Wirtschaftliche „Globalisierung“ und politische Demokratie, so Dani Rodrik, Ökonom an der Harvard University, sind nur unter einer Weltregierung vereinbar; solange es aber eine solche nicht gibt und die Welt nur abschnittsweise durch Nationalstaaten regiert werden kann, erfordert tiefe wirtschaftliche Integration die Abschaffung von Demokratie auf nationaler Ebene und ihre Ersetzung, so Rodrik, durch eine „goldene Zwangsjacke“ aus internationalen Öffnungs- und Anpassungsverpflichtungen. Wenn man deshalb die Demokratie und mit ihr die soziale Gestaltbarkeit der kapitalistischen Ökonomie verteidigen will, muss man mit dem Dogma brechen, dass es im 21. Jahrhundert zur Globalisierung von allem und jedem keine Alternative gibt – einem Dogma, das den Anhängern eines postnationalistischen Menschenrechtsuniversalismus ebenso lieb und teuer ist wie den amerikanischen Riesenunternehmen, in deren Expansion die „Überwinder“ des Nationalstaats so etwas wie eine List der Vernunft zu erkennen glauben.
„Verantwortlicher Nationalismus“
Wer vermeiden will, in die Falle des neoliberalen Globalismus zu laufen, sollte sich nicht in das Bockshorn einer Dämonisierung des Nationalstaats jagen lassen. 1914 ist mehr als hundert Jahre her, und die demokratischen Nationalstaaten Westeuropas haben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelernt, in Frieden miteinander zu leben, einen Patriotismus zu kultivieren, der Respekt für andere Völker nicht ausschließt, ihre gegenseitigen Grenzen anzuerkennen, Minderheiten föderalistisch zu integrieren sowie Klassenkonflikte durch soziale Kompromisse einzudämmen, ohne sie in die internationale Politik zu verlängern. Ihr friedliches Neben- und Miteinander bedarf einer zwischenstaatlichen Organisation, allerdings
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einer, die ihre Verschiedenheit und deren autonome Weiterentwicklung unterstützt, statt sie durch Vereinheitlichung überflüssig machen zu wollen. Europa wird nicht dadurch geeint, dass es die Außenpolitik zwischen seinen Mitgliedstaaten in die Innenpolitik eines europäischen Superstaats überführt; im Gegenteil wird es dadurch gespalten. Regierungen und internationale Bürokratien, die den Bürgern der demokratischen europäischen Nationalstaaten erklären, dass sie von diesen keinen Schutz vor Weltmarkt und Weltgesellschaft zu erwarten haben, werden sie dazu bringen, es dann eben mit nicht-demokratischen Nationalstaaten zu versuchen.
Anders als von den internationalistischen Globalisten behauptet, sind Nationalstaatlichkeit und nationale Souveränität vor allem aus der Perspektive expansionistischer Mächte reaktionär, deren imperialen Ambitionen sie im Wege stehen. Dies gilt für die USA, die letzten Endes nur einem einzigen Staat Souveränität zugestehen, nämlich sich selber. Es gilt auch für große Unternehmen, die nirgendwo Steuern zahlen, aber von überall Arbeitskräfte importieren wollen, deren Ausbildung ihre Herkunftsländer finanziert haben. Und es gilt für globale Bewegungen für den Islamismus, aus dessen Sicht Nationalstaaten ein Verrat an der Idee der weltweiten Gemeinde der Muslime, der Umma, sind. Allen diesen gegenüber ist daran zu erinnern, dass der weltweite Ausbau der Nationalstaatlichkeit nach 1945 ein historischer, weil Demokratie ermöglichender Fortschritt gegenüber Imperialismus und Kolonialismus war – vor allem für kleinere Länder, die andernfalls in großen Herrschaftsräumen auf- und womöglich untergegangen wären, sowie für Länder, die sich die Fähigkeit zu politischer Umverteilung von Lebenschancen bewahren wollen, statt die Ergebnisse des Marktes diesem selber zu überlassen. „Der Hauptfeind des Neoliberalismus“, so die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, ist die – politisch verfasste – „Souveränität des Volkes“.
Unter diesen Voraussetzungen lohnt es sich, über die von der internationalistischen Propaganda geleugnete Selbstregierungsfähigkeit moderner Nationalstaaten noch einmal nachzudenken. Dem neoliberalen Mantra eines untrennbaren Zusammenhangs von weltweiten Märkten und Wohlstand für alle, vor allem in Deutschland ad nauseam wiederholt, wird heute zunehmend auch aus der Mitte der Weltgesellschaft widersprochen – nicht nur von Donald Trump, sondern ihrerzeit sogar, zu spät, von Hillary Clinton in ihrem Wahlprogramm. Dass der Welthandel seit einiger Zeit stagniert, offenbar infolge eines wachsenden sogenannten „Protektionismus“, kann bedeuten, dass klug gezogene und kompetent verwaltete Grenzen wieder zu Ansehen kommen. Kein Geringerer als Larry Summers, langjähriger Chefmechaniker im Maschinenraum des amerikanischen Finanzkapitalismus und einer der ersten, die dessen „säkulare Stagnation“ zutreffend diagnostiziert haben, spricht heute, unter dem Eindruck der weltweiten „populistischen“ Revolte, von der Möglichkeit und Notwendigkeit eines „verantwortungsvollen Nationalismus“. Man habe, so Summers, die zweifellos vorhandenen Vorteile des Freihandels übertrieben, müsse mehr gegen die wachsende Ungleichheit tun und wirtschaftliche Umbrüche besser abfedern. Vor allem aber müsse man sich wieder daran erinnern, dass die Hauptverantwortung von Regierungen darin besteht, das Wohlergehen ihrer Bürger zu fördern. „Eng damit verbunden“, so Summers, „ist die Idee, dass Menschen das Gefühl haben wollen, dass sie die Gesellschaft, in der sie leben, mitgestalten können… Sie fühlen sich nicht ernstgenommen, wenn Regierungen immer mehr Entscheidungen an internationale Gremien der einen oder anderen Art abtreten. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn aus rechtlichen oder praktischen Gründen Unternehmen
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überproportionalen Einfluss auf den Inhalt globaler Vereinbarungen haben.“ Die gegenwärtige Krise des Internationalismus geht nicht nur darauf zurück, dass er seine Versprechungen von Wohlstand für alle nicht einlösen konnte, sondern auch auf seine Ersetzung nationalstaatlicher Demokratie durch internationale Diplomatie und Technokratie unter der Kontrolle einer transnationalen Oligarchie, von der immer mehr Bürger sich immer weniger verstanden fühlen.
Daraus ließe sich auch für die Zukunft Europas etwas lernen. Worin immer die europäische politische Ordnung am Ende bestehen wird, sie kann nur mit den europäischen Nationalstaaten und durch gelingen, nicht ohne oder gegen sie. Auflösen werden sich europäische Nationalstaaten allenfalls nach unten, in kleinere Nationalstaaten, nicht nach oben in einen gesamteuropäischen Superstaat, auch wenn dessen mangelnde Demokratiefähigkeit neoliberalen Technokraten noch so attraktiv erscheinen mag.
Als Verständigungs- und Solidargemeinschaften, als soziale Orte von Konflikten und Kompromissen, als Garanten kultureller Vielfalt nach innen wie außen sind die Staaten Europas unentbehrlich. Nichts spricht dafür, dass ihre Bürger sie abschaffen wollen; vieles lässt erwarten, dass sie sich ihrer koordinierten Selbstabschaffung als Orte demokratischer Regulierung globaler Märkte in den Weg stellen werden. Sicher ist, dass supranationale Zentralisierung unter gegenwärtigen Bedingungen nichts anderes bedeuten kann als technokratische Entdemokratisierung und verschärfte „Strukturreformen“ – mehr Wettbewerb, mehr Ungleichheit, mehr Privatisierung von Risiken usw. Widerstände dagegen haben sich lange aufgebaut und sind heute womöglich stark genug, die neoliberale Variante des europäischen Internationalismus zum Scheitern zu bringen. Worauf es ankäme wäre, die Verteidigung nationaler Autonomie und nationalstaatlicher Souveränität nicht nationalistischen Antidemokraten zu überlassen, sondern sie mit einem an die Wurzeln der kapitalistischen Gegenwartsgesellschaften gehenden Demokratisierungsprojekt zu verknüpfen.
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