Wilhelm Vossenkuhl: Glauben und Wissen – ein spannungsvolles Paar

SWR2 AULA – 
Autor: Professor Wilhelm Vossenkuhl *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung SWR2: Teil 1 Sonntag, 25. 12 2011, 8.30 Uhr; Teil 2: Montag, 26.12.2011, 8.30 – 9.00 Uhr
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR2.

* Zum Autor:
Wilhelm Vossenkuhl, geboren 1945, studierte Philosophie, Neuere Geschichte und Politikwissenschaft in München. 1972 Promotion zum Dr. phil. an der Universität München;1980 Habilitation. Seit 1993 hat Vossenkuhl den Lehrstuhl für Philosophie1 an der LMU in München inne. Schwerpunkte: Praktische Philosophie und
Handlungstheorie, Grundlagen der Ethik, Philosophie der Sozialwissenschaften, Theorie der Rationalität.
Bücher (Auswahl):
- Die Großen Denker: Philosophie im Dialog. Zus. mit Harald Lesch. Komplett-Media.
2011.
- Philosophie Basics. Piper. 2011.


ÜBERBLICK (1-2)
Glauben und Wissen – ein spannungsvolles Paar
Wie ist das nun: Sind Wissen und Glauben auf irgendeine Weise aufeinander bezogen, bedingen sie sich gegenseitig, macht der Glauben Wissen erst möglich? Oder muss man den Glauben vollständig beseitigen, um zu einem gesicherten Wissen zu kommen, so wie es die moderne säkularisierte Gesellschaft fordert? Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der LMU München, zeigt in zwei Teilen, warum man beide Bereiche


INHALT 1__________________________________________________________________

Ansage:
Mit dem Thema: „Glauben und Wissen – ein spannungsvolles Paar“.
Sind Wissen und Glauben auf irgendeine Weise aufeinander bezogen, können wir
nur dann etwas wissen oder neues Wissen erlangen, wenn wir vorher geglaubt
haben, zum Beispiel daran, dass Wissensvermehrung prinzipiell sinnvoll und gut ist?
Konnte Newton nur deshalb die Schwerkraft entdecken, weil er vorher an so eine
Kraft geglaubt hatte? Oder muss man den Glauben, erst recht den Aberglauben,
vollständig eliminieren, um ein Wissender zu werden
Die Fragen beantwortet in zwei Teilen Wilhelm Vossenkuhl, emeritierter Professor für
Philosophie. Heute, im ersten Teil, geht es um Glauben, Aberglauben, Wahrheit und
Wissen.

Wilhelm Vossenkuhl:
Es herrscht keinerlei Zweifel: Der Wert des Wissens ist unschätzbar. Natürlich denkt
man als Philosoph nur gut über das Wissen, schließlich wird das Erkenntnisideal der
Wahrheit im Wissen realisiert. Außerdem ist wirkliches Wissen bestätigbar, es ist
rechtfertigbar, und es ist natürlich für Vieles relevant: Wissen rettet Leben, macht das
Leben lebenswert, Kranke könnten ohne medizinisches Wissen nicht geheilt werden.
Wissen bildet, macht Menschen erfolgreich usw. Es herrscht überhaupt kein Zweifel:
Die Vorzüge des Wissens sind abundant und unvergleichbar. Francis Bacon hat
schon vor Jahrhunderten gemeint, Wissen sei Macht. Aber es ist nicht nur Macht,
sondern es ist ein immenser humaner Faktor. Und natürlich gäbe ist keine
Technologien ohne Wissen.
Aber - und jetzt kommt ein Aber - es ist nie genügend Wissen vorhanden. Siehe
Tschernobyl, siehe Fukushima. Ich will aber heute gar nicht über die Defizite des
Wissens reden, ich möchte auch nicht das Wissen einfach nur preisen, denn Wissen
ist hervorragend, wenn es überhaupt Wissen ist, wenn es wahres Wissen ist. Ich
möchte auch nicht so sehr über die Wissensrisiken sprechen. Wir leben in einer
Wissensgesellschaft. Ich will eher über das Verhältnis zum Glauben sprechen und
zwar in verschiedensten Dimensionen. Natürlich wird dabei auch zum Thema
werden, dass wir nicht nur in einer Wissens-, sondern auch in einer Unwissens-
Gesellschaft leben und darunter auch leiden. Warum? Auf eine kurze Formel
gebracht könnte man sagen, wir leben mit ungeheuer vielen Wissensvorurteilen, mit
Scheinwissen, mit Wissen, das nicht wirkliches Wissen ist..
Ich wage nun zunächst einmal über etwas zu sprechen, was scheinbar überwunden
geglaubt wird: den Aberglauben, den Aberglauben, der ja doch – man meint, seit
dem 18. Jahrhundert eigentlich – decouvriert ist, der – von Spinoza bis Kant – kein
Thema war und heute doch eigentlich nicht mehr thematisiert werden sollte. Können
wir uns überhaupt, das ist meine erste Frage, dauerhaft vom Aberglauben befreien?
Und wenn ja, wie? Und wenn nein, warum nicht?
Ich habe eben schon mit Spinoza angefangen. Der hat in seinen „tractatus
theologico-politicus“, den er 1670 veröffentlicht hat – übrigens anonym, es wäre ihm
sonst schlecht ergangen –, geschrieben: Wenn die Menschen ihre Angelegenheiten
nach bestimmten Plane zu führen im Stande wären und wenn das Glück sich ihnen
jederzeit als günstig erwiesen hätte, so stünden sie nicht im Banner des
Aberglaubens. Das ist eine ganz hervorragende Zusammenfassung des Problems.
Da steckt nämlich eine Menge drin von dem, was noch heute gilt. Deswegen bin ich
der Ansicht, dass der Aberglaube in keiner Weise überwunden ist. Was steckt da
alles drin?
Erstens: Spinoza hat erkannt, es gibt völlig natürliche, mit uns Menschen als
Naturwesen verbundene Quellen des Aberglaubens, als da sind: die Angst, Angst
vor allen möglichen Dingen, nicht nur die Angst vor dem Nicht-Sein, wie Heidegger
meinte. Natürlich können alle unsere Befürchtungen möglicherweise zum
Aberglauben führen. Angst und Furcht sind nichts, was dauerhaft überwindbar ist.
Wenn das so ist, so müsste man Spinoza wohl folgen und ihm Recht geben, dann ist
die Gefahr des Aberglaubens bleibend. Warum? Weil aus Angst und Furcht
Ratlosigkeit entsteht, weil der Wissensmangel, den wir haben, verbunden mit der
Furcht, dass etwas schief geht, leicht zum Aberglauben werden kann. Die
Planungsunsicherheit, ein interessanter Punkt, den Spinoza schon ansprach, ist
ebenfalls eine Wurzel des Aberglaubens. Und natürlich die ganzen Risiken, die mit
dem Unglück, dem und dem vermeintlichen Glück verbunden sind. Alles Dinge, auf
die wir hoffen, aber die auch schiefgehen können.
Das ist das eine. Das nächste ist, wir haben einfach eine Menge psychischer
Schwächen oder man könnte sagen: Defizite. Schwächen, auf die wir immer wieder
reinfallen. Wir streben, und auch das hat Spinoza schon gesehen, einfach zu sehr –
aus Gier oder aus Maßlosigkeit – nach Glücksgütern. Heute spricht man vom
Zockertum. Sie verstehen, was ich meine: dieses Zockertum, das uns einen Teil der
Finanzskandale eingebrockt hat. Wir haben diese Schwäche, dass wir immer
meinen, wir müssten ganz große Güter erringen. Dann geht irgendwas schief und
schon glauben wir alles Mögliche.
Die Schwäche, die Zweifel, die Unsicherheit, die uns begleiten, sind quasi die
Rückseite des Zockertums, dieses vermeintlich sicheren Glücksstrebens, das immer
wieder schiefgehen kann. Dann entsteht plötzlich große Skepsis und wir flüchten uns
zu allen möglichen Heilmitteln, die wir auf einmal glauben. Das ist eine Art des
Aberglaubens.
Das sind schon zwei Quellen des Aberglaubens, die heute noch keineswegs
überwunden sind.
Es gibt weitere Quellen, die für Spinoza sicherlich größere Bedeutung hatten als für
uns heute, zum Beispiel die verworrene unklare Idee von einem Gott oder einem
höchsten Wesen, der religiöse Schein ist damit verbunden. Spinoza war der
Überzeugung, dass verworrene Ideen Gottes zur Irreligiosität führen. Irreligiös ist
man übrigens nicht, wenn man an nichts glaubt. Irreligiös ist man, wenn man an
etwas glaubt, aber an etwas Falsches glaubt. Also nicht der Ungläubige ist irreligiös,
sondern derjenige, der abergläubisch ist, der Wahngebilde verehrt, der die Religion
als Vorwand nimmt. Man kann die heutigen Fundamentalismen von Ost nach West,
von Süd nach Nord dazu zählen. Was dabei herauskommt, sieht man: Intoleranz,
Unduldsamkeit, ja sogar Terror. Terror gehört in genau die gleiche Kiste wie der
Aberglaube.
Natürlich sind die Gründe für diese Art von Aberglauben nicht zuletzt Hass, Zorn,
auch betrügerisches Verhalten. Man kann schließlich feststellen: All die Wurzeln, die
bei Spinoza wichtig waren für die Existenz des Aberglaubens, sind noch keineswegs
verdorrt, die Wurzeln sind noch da und die Quellen sind nicht versiegt. Wir finden
immer wieder neue Ventile für unsere Furcht. Und wir tun oft das nicht, was wir nach
Kants Maxime der Aufklärung unbedingt tun müssten: Wir müssten nämlich selbst
denken, wir müssten selbst als Probierstein der Wahrheit fungieren. Das meinte er.
Denn wenn wir das nicht tun, fallen wir auf sehr Vieles herein, was schließlich zum
Aberglauben führt.
Der Aberglaube, damit möchte ich den ersten Gedanken zu Ende führen, ist auch
heute noch ein sehr wirksames Suchtmittel wie Alkohol. Es macht abhängig, es
macht unfrei. Wir glauben an Dinge, die einfach absurd sind, weil wir nicht
nachdenken, weil wir uns nicht unseres eigenen Verstandes bedienen. Aber – und
das ist auch eine Ähnlichkeit mit anderen Suchtmitteln – der Aberglaube beginnt als
freiwillig gewählte Unfreiheit. Wir geben quasi unsere Freiheit an der Garderobe ab,
indem wir uns dem Aberglauben anhängen. Eine wirkliche Absurdität.
Welcher Glaube kann zum Aberglauben werden? Natürlich sind all die Beispiele, die
ich genannt habe, von historischer Qualität, und man könnte sagen, in Spinozas
Zeiten, also im 17. Jahrhundert, war das wirklich so und da konnte man, einfach weil
man nicht genügend Wissen hatte, auf alle Ängste und Befürchtungen, die die
Menschen unsicher machten, nicht anders reagieren. Es war einfach kein sicheres
Wissen da, deswegen haben die Menschen Zuflucht genommen zu allen möglichen
Absurditäten.
Noch heute haben wir genügend Absurditäten, die wir gerne glauben. Ich habe
vorhin schon auf die Tatsache hingewiesen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in
der Wissen ganz groß geschrieben wird, in der das Wissen eine immense Bedeutung
hat. Man kann ruhig sagen, wir leben nicht nur in einer Wissensgesellschaft, sondern
wir leben mit einem Wissenschaftsglauben (Szientismus). Wir leben mit einer
wissenschaftlichen Weltanschauung. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere,
dass es diese Art der wissenschaftlichen Weltanschauung seit den 20er Jahren des
letzten Jahrhunderts programmatisch in Wien gab, wo die Mitglieder des Wiener
Kreises sogar ein Manifest zur wissenschaftlichen Weltanschauung geschrieben
haben. Da steht alles drin, was man aus sozialistischer, wissenstheoretischer Sicht
für gut und richtig halten kann: Hoffnungen auf Erlösung, auf Befreiung von allen
Übeln mittels Wissenschaft.
Es ist also nicht so, dass man aus irgendwelchen Gründen einen
Wissenschaftsglauben vertritt, sondern man will natürlich damit die Welt verbessern,
die Menschen befreien, so dass sie endlich ein lebenswertes Leben führen. Aber ist
das überhaupt erreichbar? Ist das durch Wissen erreichbar? Also noch einmal die
Frage, welcher Glaube steht heute in Gefahr, zum Aberglauben zu werden?
Da gibt es zunächst den Glauben, den wir brauchen, um bestimmte Lücken in
unserem Wissen zu füllen. Wir wissen sehr viel und wir wissen immer mehr. Aber je
mehr wir wissen – das bestätigt eigentlich jede Wissenschaft von der Physik bis zur
Biologie – desto weniger wissen wir. Das heißt, wir müssen immer mehr Lücken
füllen. Und diese Lückenbüßer sind Überzeugungen, das sind scheinbar plausible
Überzeugungen. Das gibt es übrigens auch schon lange. Einer, der mit dem Manifest
der wissenschaftlichen Weltanschauung nicht viel anfangen konnte, war der große
Philosoph des letzten Jahrhunderts: Ludwig Wittgenstein. Der hat schon in seiner
ersten Schrift, im „Tractatus theologico-politicus“, geschrieben, dass der Glaube an
den Kausalnexus schon Aberglaube sei. Das ist ganz überraschend. Wie kann denn
der Glaube an etwas wissenschaftlich so wichtiges wie Kausalnexus ein Aberglaube
sein?
Es geht natürlich zunächst einmal darum, dass der Kausalnexus, also die universale
Ursache-Wirkung-Verbindung, benutzt wird, um Prognosen zu machen. Man will mit
Naturgesetzen natürlich auch in die Zukunft gucken, man will etwas von dem, was
morgen wahrscheinlich passieren wird, jetzt schon erahnen und sich darauf
vorbereiten. In diesem Sinne ist dieser Satz von Wittgenstein zu verstehen, dass der
Glaube an den Kausalnexus ein Aberglaube sei, denn künftige Ereignisse – das stellt
Wittgenstein fest – kann man eben nicht erschließen aus der Gegenwart. Aber das
ist ein typischer Glaube, der quasi zwei Wissensaspekte oder zwei Wissensbestände
miteinander verbindet. Wir haben zwischen Ursache und Wirkung immer eine Lücke.
Diese Lücke kann zeitlicher Art sein, und die wird dann durch den Glauben, naja es
wird schon ungefähr so laufen wie bisher, gefüllt werden.
An einer anderen Stelle – auch das ist interessant für die Frage, welcher Glaube
eigentlich Gefahr läuft, Aberglaube zu werden – sagt Wittgenstein: Der ganzen
modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, dass die sogenannten
Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien. Auch das ist ja
interessant, dass im beginnenden 20. Jahrhundert ein hochgebildeter Philosoph wie
Ludwig Wittgenstein der Ansicht ist, dass die moderne Weltanschauung einer
Täuschung aufsitzt, nämlich der: zu meinen, dass die Naturgesetze uns das erklären,
was wir sehen, hören und wahrnehmen, also die Naturerscheinungen. Natürlich
erklären uns die Naturgesetze nicht das, was wir sehen, wenn das schöne Abendrot
sehen. Der Untergang der Sonne wird natürlich durch kein Naturgesetz erklärt. Das
verstehen wir aber trotzdem. Die Naturgesetze erklären uns vieles, aber sehr vieles
von dem, was wir tagtäglich sehen und erfahren, wird von ihnen nicht erklärt.
Wir haben aber noch etwas sehr viel Aktuelleres als das, woran Wittgenstein uns
erinnert hat: Wir haben heute wieder einen neuen Glauben, nämlich den an den
Determinismus. Sie haben wahrscheinlich schon davon gehört, dass einige, nicht
sehr viele, aber doch einige Hirnforscher meinen, wir seien determiniert. Einer hat
sogar den sehr einprägsamen Satz geprägt: „Wir tun nicht das, was wir wollen,
sondern wir wollen das, was wir tun.“ Anhand von Untersuchungen, die der
amerikanische Psychologe Benjamin Libet gemacht hat und die tausendfach
wiederholt wurden, hat man festgestellt, dass es im menschlichen Gehirn so etwas
gibt wie ein Bereitschaftspotential, das schon aktiviert wird, bevor wir zum Beispiel
die Absicht haben, mit einem Finger zu schnippen. Eine interessante Beobachtung.
Und einige Psychologen schließen daraus messerscharf, dass wir ganz offensichtlich
determiniert sind durch neuronale Vorgänge, dass wir also einfach nur Zombies sind,
die das tun, was irgendwie von unserem Gehirn gewollt wird. Also nicht wir wollen,
sondern das Gehirn will. Hier gibt es ganz absurde Vorstellungen.
Natürlich passiert im Hirn sehr viel, was wir weder wissen noch durchschauen. Und
natürlich tun wir auch vieles, was das Gehirn mit uns macht. Wir unterscheiden oben
– unten, links – rechts, wir denken, meistens kommt das Licht von oben und ähnliche
Dinge. Das liegt an der Entwicklungsgeschichte des Gehirns. Die Ursprünge liegen
wahrscheinlich 500 Millionen Jahre zurück! Das ist schon eine erstaunliche Zeit.
Natürlich hat sich da sehr vieles herausgebildet, was wir heute noch nicht
durchschauen.
Also der Glaube an den Determinismus ist auch ein Aberglaube.
Man sieht, wie klein der Schritt ist von dem, was man wissenschaftlich eroieren kann,
zu dem, was man quasi metaphysisch daraus macht: es geht um eine Art von
Hirnaberglaube, ein Hirndeterminismus, der letztlich doch keiner ist. Das Gehirn
muss natürlich sehr Vieles automatisch tun. Man merkt das zum Beispiel bei
Menschen, die einen Schlaganfall hatten, die müssen mühselig die Sprache wieder
erlernen. Das ist ein Hinweis darauf, dass Automatismen, die vom Hirn gesteuert
werden, ganz wichtig für unser tägliches Leben sind. Aber das heißt doch nicht, dass
wir determiniert sind. Nein, wir wollen das, was wir wollen. Und wenn wir uns
entscheiden für eine Person, eine Freundschaft, selbst für ein neues Auto, dann
überlegen wir das lange und entscheiden anschließend nach bestem Wissen und
Gewissen. Also von wegen Determinismus: das ist ein Aberglaube.
Und jetzt komme ich zu Immanuel Kant. Denn der hat in der „Kritik der reinen
Vernunft“, einem der größten Werke der Philosophie überhaupt, für eine klare und
saubere Trennung zwischen Wissen und Glauben plädiert. Er sagt ganz einfach, und
das klingt heute noch sehr plausibel: Von Übersinnlichem, also von alledem, was mit
Gott, der Unsterblichkeit, aber auch mit der Freiheit zu tun hat, gibt es kein Wissen
im Sinne einer Theorie. Es gibt überhaupt kein Wissen im engeren Sinne von diesen
Dingen, die Kant das Übersinnliche nennt. Es gibt nur von dem, was sinnlich
wahrnehmbar und empirisch erfassbar ist, wirkliches Wissen. Und dafür gibt es
natürlich auch Gesetzmäßigkeiten. Aber alles andere wird davon nicht berührt. Das
heißt, das Übersinnliche wird nicht berührt von den Gesetzen der Natur oder von den
Möglichkeiten des empirischen Wissens. Das ist ein eigener Bereich, sagt Kant. In
diesen Bereich gehört übrigens auch die Moral. Und er meint, von diesem Bereich
wissen wir auch etwas, aber nicht im gleichen Sinne wie von der Natur. Die Vernunft
hat sogar das Bedürfnis, diesen Bereich zu kennen und etwas über Gott, die
Unsterblichkeit und die Freiheit – das waren die Themen, die Kant genannt hat – zu
wissen. Das sind Glaubensinhalte, aber wissenschaftlich kann man sie weder
beweisen noch belegen. Man spricht hier vom subjektiven Fürwahrhalten, und das
unterscheidet sich vom objektiven Fürwahrhalten, das dem Wissenschaftler und dem
Wissen reserviert ist. Also zwei Bereiche.
So kann man das natürlich machen, dann hat man eine schöne Trennung. Aber so
schön das ist, diese Trennung funktioniert natürlich nicht immer. Wir können die
Bereiche des Wissens und des Glaubens nicht immer sauber und rein voneinander
trennen. Das fängt schon mit dem moralischen Glauben an. Denn natürlich geht es
im moralischen Glauben um die Frage, ob wir frei sind oder nicht. Und natürlich
sehen wir sofort ein – auch das hat Kant uns wunderbar erläutert –, dass wir allein
für Frage „Tun wir das, was gut ist oder das, was schlecht ist?“ Freiheit benötigen.
Wir müssen uns zum Guten entscheiden. Wir können nicht einfach annehmen, dass
wir zu irgendetwas determiniert wären. Wären wir determiniert, wären wir nie schuld,
wenn wir das Böse wählen würden. Nein, wir können wählen, wir müssen sogar
wählen. Und das ist einfach ein Zeichen dafür, dass es unsere Freiheit gibt. Ob diese
Freiheit nun eng mit unserer Natur verbunden ist oder nicht, ist eine ganz andere
Frage. Manche behaupten ja, diese Art von Freiheit, die Wahlfreit, wäre mit dem
Determinismus gut vereinbar. Aber das sind Fragen, die gar nicht so wichtig sind.
Das Moralische glauben – das ist schon ein Indiz dafür, dass die von Kant so schön
getrennten Bereiche des Wissens und des Glaubens nicht immer so fein säuberlich
getrennt werden können. Er hat übrigens gemeint, dass der religiöse Glaube immer
dann, wenn er für Wissen gehalten wird, zum Dogmatismus und zur Rechthaberei
wird. Das ist auch eine interessante Beobachtung. Das Gleiche trifft natürlich auch
für den moralischen Glauben zu. Immer wenn wir meinen, wir wüssten etwas, sei es
religiöser Natur, sei es moralischer Natur, dann neigen wir zur Rechthaberei. Wir
meinen, wir haben recht und der andere nicht. Was daraus folgt, wissen wir: nicht nur
Rechthaberei und Dogmatismus, sondern alle Arten von Fundamentalismus sind
damit verbunden.
Wir müssen also, wenn es um den moralischen Glauben geht, Kant nannte ihn auch
den „Vernunftglauben“, sehr vorsichtig sein. Wir dürfen nicht übersehen, dass wir da
kein Wissen haben können, sondern dass es dabei um Pflichten geht, um Dinge, die
wir zu tun haben, und um Wahlfreiheit, Entscheidungsfreiheit, das eine oder das
andere zu wählen, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Also der moralische
Glaube ist sehr anspruchsvoll, aber wir können nicht auf irgendeine Art von
Wissensfundus zurückgreifen und sagen, ach, wir wissen doch das und das und
deswegen tun wir jetzt das und das ist richtig oder das ist falsch, weil wir jetzt das
und das wissen. Nein, keineswegs. Kant sagt ganz klar, die Erreichung einer Absicht,
die gut ist, ist Pflicht. Das heißt, wir müssen das freiwillig tun. Wir müssen uns dazu
entscheiden aufgrund unserer Freiheit, auch aufgrund der Verheißung, sagt er, das
wir dafür belohnt werden könnten. Auch das ist etwas, wofür es keinerlei
wissenschaftlichen oder empirischen Anhaltspunkt gibt. Auch das gehört zum
moralischen Glauben.
Kant ist sicherlich der interessanteste, vielleicht auch der wichtigste Zeuge dafür,
dass man in diesem Bereich den Glauben, also den Vernunftglauben oder den
moralischen Glauben, nicht durch Wissen ersetzen kann. Kein Wissen der Welt kann
diesen Bereich des Glaubens ersetzen.
Das heißt, wir haben einen Bereich, in dem die Gesetzmäßigkeit und die Regeln,
auch die Zielsetzungen des Wissens nicht funktionieren. Wenn man das eingesehen
hat, dann versteht man wiederum einen Aspekt des Wissenschaftsglaubens besser,
der uns heute so verunsichert. Denn dieser Aspekt betrifft die Frage, wie weit geht
denn das Wissen, wie weit kann es gehen? Der Wissenschaftsglaube suggeriert,
dass wir grundsätzlich alles einmal wissen können. Das heißt alles, was es an
Phänomenen gibt, alle Inhalte, die uns beschäftigen, können irgendwann einmal
gewusst werden. Das ist eine Absurdität. Denn wir können nur das wissen, wofür wir
selbst die Gesetz entwickelt, gefunden und auch ausgelegt haben. Diese
Gesetzmäßigkeiten sind noch immer sehr beschränkt. Das heißt, wenn wir nicht
wissen, wo die Grenzen unseres Wissens sind, dann wissen wir eigentlich ziemlich
wenig. Dann neigen wir zu Aberglauben.
Der Glaube, den wir brauchen, ist nicht durch Wissen ersetzbar. Und wir müssen, um
überhaupt einen sinnvollen Wissensbegriff zu haben, etwas über die Grenzen des
Wissens gedacht und herausbekommen haben. Wir tun also gut daran, wenn wir uns
bemühen, noch heute dem Glauben Platz zu geben.
Aber wir sollten auch daran denken, dass ein Großteil der Probleme, die uns heute
beschäftigen – ich habe die Zockerei genannt, die Maßlosigkeit, die unser Leben
beherrscht- verursacht werden durch falschen, fehlgeleiteten Glauben, durch
Aberglauben, der uns nach wie vor beschäftigt, der unser Leben schwer macht und
den wir ernst nehmen müssen. Es ist keineswegs so, dass wir diesen Aberglauben
ein für allemal überwunden haben. Wir sind auf Gedeih und Verderb aufgrund
unserer Anlagen, unserer Furchtsamkeit und all der Dinge, die damit verbunden sind,
irgendwie ständig mit diesem Problem beschäftigt. Aber die Maßlosigkeit und die
Gier können wir bekämpfen. Gegen die können wir etwas unternehmen. Das heißt,
die Neigung dazu können wir unterdrücken oder zumindest lernen, sie zu
unterdrücken. Ein Teil dieser Arbeit besteht darin, dass wir uns selbst als denkende
Wesen begreifen, dass wir uns die Pflicht auferlegen, selber zu denken. Das ist
übrigens das einzige Rezept, das uns davor bewahrt, Unsinn zu glauben oder auf die
aufgestellten Fallen des Aberglaubens hereinzufallen.
Das Wissen wird durch diese Überlegungen in keinster Weise infrage gestellt – im
Gegenteil. Aber wir müssen etwas über den Wissensgehalt herausgefunden haben,
über die Grenzen des Wissens, über die Reichweite. Sonst fallen wir in diese Fallen
hinein und meinen, wir könnten alles wissen.
Ende Teil 1, es folgt

*****
Teil 2: Montag, 26.12.2011, 8.30 – 9.00 Uhr, SWR2 Aula)

Ansage:
Mit dem Thema: „Glauben und Wissen – ein spannungsvolles Paar, Teil 2“.
Sind Wissen und Glauben auf irgendeine Weise aufeinander bezogen, können wir
nur dann etwas wissen oder neues Wissen erlangen, wenn wir vorher geglaubt
haben, zum Beispiel daran, dass Wissensvermehrung prinzipiell sinnvoll und gut ist?
Konnte Newton nur deshalb die Schwerkraft entdecken, weil er vorher an so eine
Kraft geglaubt hatte? Oder muss man den Glauben, erst recht den Aberglauben,
vollständig eliminieren, um ein Wissender zu werden? Die Fragen beantwortet
Wilhelm Vossenkuhl, emeritierter Professor für Philosophie. Heute, im zweiten und
letzten Teil, zeigt Vossenkuhl, wie Wissen aus Glauben hervorgeht.

Wilhelm Vossenkuhl:
Ist Wissen ohne Glauben überhaupt möglich?
Ich beginne mit dem guten alten Platon. Der hat nämlich in seinem schönen Dialog
„Menon“ darüber nachgedacht, wie es um das Verhältnis zwischen Wissen und
Glauben steht. Eigentlich wollte er etwas ganz anderes herausfinden, nämlich ob die
Tugend lehrbar ist. Das ist jetzt nicht unser Thema, aber ein sehr naheliegendes
Thema. Platon war der Ansicht, dass alles Wissen mit dem Glauben beginnt. Er
meinte deswegen, Wissen sei wahres und gerechtfertigtes glauben. Man könnte
anstatt Glauben auch Meinen oder Überzeugt-Sein sagen – das spielt hier keine
Rolle. Nennen wir es einfach Glauben. Wahres gerechtfertigtes Glauben sei Wissen,
meinte er da. So etwas Ähnliches wie Kant mit dem subjektiven Fürwahrhalten, das
dann zu einem objektiven wird, wenn das Wissen aus dem Glauben entsteht. Aber
wir wissen heute, und das hat Platon wahrscheinlich auch gewusst, dass der Glaube
selbst keine hinreichende Bedingung des Wissens ist. Auch wenn der Glaube wahr
und gerechtfertigt ist, ist er nicht hinreichend dafür, dass wir überhaupt etwas wissen.
Wir können zum Beispiel aus dem falschen Glauben daran, dass die Sonne um die
Erde kreise, schließen, dass die Sonne auch morgen wieder aufgeht. Dieser Schluss
selbst ist wahr, aber der Glaube, dass die Sonne um die Erde kreist, ist natürlich
falsch. Also schließen wir aus einem falschen Glauben etwas Wahres. Das ist nun
mal so, deswegen können wir nicht annehmen, dass die wahre gerechtfertigte
Überzeugung oder der wahre gerechtfertigte Glaube eine hinreichende Bedingung
des Wissens ist.
Platons Idee ist interessant, aber sie führt eigentlich zu einem merkwürdigen
Ergebnis. Wir können aus dem Glauben nicht mit Sicherheit, nicht mit Gewissheit
das Wissen erschließen in dem Sinne, dass wir einen direkten Übergang machen
könnten von der gerechtfertigten und wahren Glaubensüberzeugung hin zu Wissen.
Es kann etwas dazwischen liegen, was uns unklar ist, und das kann genau diesen
Übergang gefährden. Aber trotzdem beginnt alles Wissen mit irgendeinem
subjektiven Fürwahrhalten, mit irgendeinem Glauben.
Wenn wir nicht als Menschheit lange geglaubt hätten, dass die Sonne um die Erde
kreist und es einige Phänomene gegeben hätte, die damit nicht vereinbar sind, hätte
es nie ein Wissen vom Sonnensystem in der heutigen Form gegeben. Auch da
brauchten wir als ersten Schritt diesen Glauben, dieses subjektive Fürwahrhalten. Es
ist interessant, wenn man lange zurück geht, wie ähnlich die Probleme sind, wenn es
um das Verhältnis von Wissen und Glauben geht. Es ist keineswegs so, dass wir
darüber schon weit hinaus gestiegen wären. Wir stecken nach wie vor in den
Kinderschuhen.
Glauben kann ohne Wissen – und das wäre der zweite Schritt meiner heutigen
Überlegungen – prekär werden, merkwürdig. Ich erzähle Ihnen dazu eine kleine
englische Geschichte, die sich wirklich so begeben haben soll: die Geschichte des
Duke of Wellington. Der ist, das ist allerdings schon einige Zeit her, in Piccadilly,
einem Londoner Stadtteil, einem Fremden begegnet. Dieser Fremde ging mit
ausgestreckter Hand auf ihn zu und sagte: „Mr. Smith, I believe?“ – „Herr Schmidt,
glaube ich?“. Darauf sagte der Duke etwas entrüstet: „If you believe that, Sir, you will
believe anything.“ – „Wenn Sie das glauben, mein Herr, dann glauben Sie alles
Mögliche.“
Hier haben wir eine ähnliche Situation: Der Duke weiß, er kann sich nicht ausweisen.
So hat der Fremde auch keinen Beweis, dass es sich um den Duke und nicht um Mr.
Smith handelt. Die Frage lautet also: Haben wir überhaupt ein Kriterium für Wissen?
Ein Kriterium, das hinreichend ist, eine Art Test, Bestätigung. Natürlich würde man
heute sagen, der hätte vielleicht einfach seinen Personalausweis rausholen sollen.
Das Dumme ist nur, es gibt bis heute keine Personalausweise in Großbritannien.
Das hätte er also gar nicht machen können. Er hätte ein Briefpapier mit seinem
Namen herausholen können, aber auch das hätte nicht gereicht. Der Fremde, der ihn
als Mr. Smith identifiziert hat, hätte das nicht glauben müssen. Was ist also das
Kriterium sicheren Wissens?
Auch da sind wir noch nicht so weit, wie wir gerne wären. Wir können uns einfach
nicht in Sicherheit wiegen, etwas ganz genau aufgrund der Vorkenntnisse, die wir
haben, zu wissen. Das fängt schon bei ganz simplen Dingen an: Wenn wir in der
Schule erfahren, dass es in der Nähe von Paris einen Ur-Meter gibt, also eine
Maßeinheit, die für alle Maßeinheiten, die sich darauf beziehen, das Modell liefert,
dann könnte ein kluger Schüler oder eine kluge Schülerin sagen: Was ist denn der
Maßstab für dieses Ur-Meter? Wer hat das festgelegt? Und warum gilt es so, wie es
damals festgelegt wurde? Und schon ist man in der blödsinnigen Situation feststellen
zu müssen, dass das Kriterium, das wir hier benutzen, die Maßeinheit von 1 Meter,
einfach nur von uns Menschen festgelegt wurde. Es gibt überhaupt keine höhere
Gewissheit, dass dieses Meter 1 Meter ist. Es ist eine freie Erfindung.
Wir müssen also, wenn ich das ein bisschen abkürzen darf, alles, was wir als
Kriterien für Wissen, auch für das strengste Wissen benutzen, erst mal selber
erfinden. Wir müssen die Kriterien selber festlegen, sie wachsen nicht auf Bäumen,
man findet sie nicht auf der Straße, wir müssen das selber erfinden. Das ist der
zweite Punkt: Wir straucheln keineswegs an diesem Übergang zwischen Glauben
und Wissen, sondern dazwischen liegt etwas, was wir selber klären müssen – die
Kriterien, die hinreichend sind für Wissen.
Drittens: Selbst wenn wir heute schauen, was in den Wissenschaften, nehmen wir
mal die Physik als Beispiel, an Wissen herrscht, werden wir feststellen, auch dort ist
nicht alles, was geglaubt wird, Wissen. Ich bin zwar kein Physiker, aber ich kenne
doch mindestens zwei schöne Beispiele, die auch ein Physiker akzeptieren wird,
nämlich die Gravitation und die Bildung von Regentropfen. In beiden Fällen kennen
wir zwar die Tatsachen, aber wir wissen nicht, wie sie zustande kommen.
Die Gravitation, also das, was immer funktioniert, wenn wir etwas fallen lassen oder
wenn wir selber fallen, ist eine erstaunlich wirksame Kraft. Wir können diese Kraft
sogar selbst bestimmen. Aber wir wissen nicht, woher die Kraft kommt. Was bewirkt
die Gravitation? Das wissen wir nicht, da haben wir eine große Lücke. Ähnliches gilt
für die Bildung von Regentropfen. Das hat mich übrigens sehr erstaunt, denn ich
dachte, das sei so simpel, dass man das im Unterschied zur Gravitation gut
verstehen müsste. Die Tatsachen sind bekannt: Wenn man rausgeht und es regnet,
wird man von den Tropfen nass. Aber wie sich die Regentropfen in den Wolken hoch
oben bilden, das ist unklar. Also drittens: Wir haben ein beschränktes Ursachen-
Wissen.
Es ist nicht nur so, wie Wittgenstein festgestellt hat, dass der Glaube an den
Kausalnexus ein Aberglaube ist, sondern auch dort, wo wir tatsächliche Ursache-
Wirkungszusammenhänge kennen, fehlt noch immer ein Stück Wissen – nicht
überall, aber in manchen Fällen.
Kant habe ich schon in der letzten Sendung erwähnt, und er wird immer wieder zu
nennen sein – ganz besonders in folgendem Zusammenhang: Denn Kant hat auf ein
interessantes Phänomen aufmerksam gemacht, das wir vergessen zu haben
scheinen, das einem in den Sinn kommt, wenn man an Gravitation und Regentropfen
und dergleichen als noch immer unerklärte Phänomene denkt. Er meinte nämlich,
dass immer dann, wenn wir unsere Vernunft, unser Nachdenken, unser Wissen unter
facta legen, das heißt facta unterwerfen, wenn wir sagen, das und das ist eine
Tatsache und deswegen ist das und das so, wenn wir das tun, dann nähern wir uns
wieder dem, worüber wir schon gehört haben, nämlich dem Aberglauben. Er sagte
sogar wörtlich: „Die Unterwerfung der Vernunft unter facta ist Aberglaube.“ Und hier
kommt er natürlich wieder mit der Maxime des Selbstdenkens, dass die Vernunft sich
ihr Recht nicht nehmen lassen sollte, als Erste Stellung zu nehmen und zu sagen,
was sie weiß und was sie nicht weiß.
Das ist schon interessant. Was haben wir nicht alles für Tatsachen in der Welt? Und
sind wir nicht immer in der Situation, dass wir sagen, der hat uns das beigebracht,
das sind Tatsachen, deswegen muss das so sein? Wir brauchen da gar nicht weit zu
gehen, jeden Tag begegnet uns dieses Phänomen. Wenn wir das das nächste Mal
wieder hören, sollten wir einen kurzen Moment innehalten und sagen, aha, das ist
das, was Kant gemeint hat. Unterwerfen wir uns nun einfach diesen Tatsachen?
Lassen wir unsere Vernunft durch die Tatsache quasi an der Nase herumführen?
Oder halten wir kurz inne und überlegen, ist das denn wirklich so, wie es uns da
suggeriert wird? Sind die Tatsachen wirklich per se überzeugend?
Wenn man viele Probleme in Bereichen wie der Medizinethik anschaut, wird man
übrigens feststellen, dass man sich da überhaupt nicht den Tatsachen unterwerfen
kann. Denn welche Tatsache etwa entscheidet, wann Leben beginnt und wann es zu
Ende ist? Die Tatsachen, die die Medizin uns liefern kann, sagen nichts aus über
Beginn und Ende des Lebens. Wir müssen sie selber bestimmen. Die jetzt wieder
aufgeflammte Debatte über den Hirntod ist nur ein Zeichen dafür. Aber natürlich auch
die Diskussion über das schützenswerte Leben am Anfang.
All diese Probleme sind nicht durch Tatsachen, durch facta, wirklich lösbar. Wir
können nicht auf Fakten zurückgreifen, wenn es darum geht. Leider Gottes ist es bei
vielen Dingen so. Andererseits brauchen wir natürlich Fakten, wenn es etwas zu
entscheiden gibt. Man denke nur an die vielen Verfahren vor Gericht. Dort sind
Fakten natürlich entscheidend.
Es gibt sogar, und das ist der letzte Punkt zu dieser Frage, in wie weit Wissen ohne
Glauben möglich ist, merkwürdige Situationen, wo wir mit Fakten konfrontiert
werden, auch mit Wissensgehalten konfrontiert werden, und trotzdem das größte
Problem haben, daran zu glauben. Das klingt unwahrscheinlich, es ist aber so.
Dieses Phänomen wird „Moore’s Paradox“ genannt. George Edward Moore war ein
Philosoph, ein Zeitgenosse und Freund Ludwig Wittgensteins in Cambridge. Moore’s
Paradox besteht in etwas ganz Simplem: Als Beispiel nehme ich die Tatsache, dass
es regnet. Stellen Sie sich vor, es regnet. Und nun sagt einer: Ja, es regnet, aber ich
glaube es nicht. Man denkt, der kann nicht mehr alle Tassen im Schrank haben. Aber
es gibt viele Zusammenhänge, wo man genau so reagiert, wo dieses Mooresche
Paradox einen Sitz im Leben hat. Wenn ein Freund etwas gemacht hat, was Sie für
ganz unmöglich halten, dann werden Sie sagen: Ja, er wurde verklagt, vielleicht
sogar verurteilt für diese Tat, aber ich glaube es einfach nicht, dass er das war, dass
er das tun konnte. Es gibt diese Situation, dass wir ein Wissen haben, und wir
können einfach nicht daran glauben.
Wenn es regnet und wir sagen, wir glauben es nicht, bekommen wir natürlich sofort
die Quittung dafür: Wenn wir im Freien stehen, werden wir nass und sehen ein
bisschen doof aus. Soviel zur Abhängigkeit und Verflochtenheit von Wissen und
Glauben.
Es gibt noch einen großen interessanten Bereich, der uns veranlasst zu überlegen,
ob der Glaube ersetzbar ist oder ob er nicht doch unersetztlich ist. Ich rede nicht von
Religion und auch nicht mehr von Moral. Die Frage ist, wo – außer in Religion und
Moral – ist der Glaube unersetzbar? Die kürzestmögliche Antwort ist einfach: im
Handeln, in dem was wir tun. Und natürlich im Leben mit den Anderen, in der
Gemeinschaft mit den Anderen. Es ist tatsächlich so, dass wir im Handeln, in dem,
was wir tun, und vor allem in der Gemeinschaft mit Anderen auf das Glauben nicht
verzichten können. Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele.
Nehmen wir die vornehmsten Beispiele als da wären Liebe und Freundschaft. Wir
brauchen, um jemanden lieben zu können, einfach den Glauben an diese Person,
Glauben im Sinne des Vertrauens. Wer nicht wirklich Vertrauen zu einem Menschen
hat, kann ihn doch nicht lieben. Das ist völlig unmöglich. Das heißt, wir müssen uns
hier auf den Glauben einlassen, dass diese Person das Vertrauen verdient. Wenn wir
das nicht tun, wenn wir der Person misstrauen, wenn wir Zweifel an der Person
haben, dann können wir diese Person nicht lieben. Und dann ist es auch völlig
unsinnig zu sagen: „Aber ich liebe dich doch – obwohl ich dir misstraue.“ Das ist
Quatsch, das sind nur Lippenbekenntnisse und das ist völlig sinnlos. Zweifel
zerstören in dem Fall das, was wir glauben sollten. Die Zweifel zerstören das, was
wir brauchen, um jemanden zu lieben. Der Glaube ist natürlich ein sehr fragiles
Gewebe. Er lässt sich leicht konterkarieren. Wenn es nicht so wäre, gäbe es viele
schöne Opern und Romane nicht. Mit Zweifel kann man den Glauben wirklich leicht
kaputt machen. Und plötzlich entsteht aus Liebe Hass – oder vielleicht sogar der
Tod, weil jemand sich so enttäuscht sieht und so gekränkt, dass er den Partner, den
er einmal liebte, zu Tode bringt. Schreckliche Sache, aber es kann so sein und es
passiert nicht eben selten. Liebe und Freundschaft ist ein Bereich, in dem wir
Glauben für unersetzlich halten müssen.
Ein zweiter Bereich ist das Hoffen. Das ist ein großes Wort. Wie meine ich das?
Ganz einfach: Wenn man nicht an etwas Gutes, was irgendwann mal sein wird, was
ich erhoffe, was ich bewirken will, was kommen soll und was mir genau das Motiv
gibt, um es auch zu bewirken, wenn wir diese Hoffnung, diesen Glauben an das Gute
nicht haben, werden wir es auch nicht erhoffen. Das heißt, wir brauchen für die
Hoffnung den Glauben an etwas Gutes – was immer das sei: an eine gute Tat, an
einen guten Menschen oder an etwas Gutes, was wir bewirkt haben. Wenn wir Angst
haben, dann ist die Hoffnung sehr schnell zerstört. Das heißt, Angst vor der
Ungewissheit zerstört unsere Hoffnungsfähigkeit. Hoffnungsfähigkeit ist abhängig
von der Integrität des Glaubens an etwas Gutes, an etwas, das in der Zukunft so sein
soll oder so sein wird oder so sein müsste, damit das Leben gut wird. Also Sie
sehen, auch bei der Hoffnung ist der Glaube unersetzbar. So ist es nun mal egal, wie
viel wir wissen können. Viele haben gehofft - und ich erinnere mich noch gut an die
Zeit in den 80er Jahren, als die wissenschaftliche Politikberatung sehr hoch
geschätzt wurde-, viele haben gehofft, dass man irgendwann einmal die Hoffnung
gar nicht mehr braucht, weil die wissenschaftliche Politikberatung in der Lage ist zu
sagen, was zu tun ist, damit zum Beispiel alle Menschen Arbeit haben, keine
Erbkrankheiten mehr existieren, wir werden das alles in den Griff bekommen. Durch
Wissenschaft.
Heute haben wir diese unsinnigen Vorstellungen vom Glück nicht mehr. Diese
Glaubenserwartungen sind bitter enttäuscht worden. Deswegen brauchen wir wieder
Hoffnung. Wir brauchen die Hoffnung auf das, was wir selber bewirken können. Es
hat gar keinen Sinn, darauf zu bauen, dass irgendeine Art von Wissenschaft uns mit
dem Wissen ausstattet, das uns in die Lage versetzt, die Zukunft schön und
lebensfähig zu machen. Also: Die Fähigkeit zu hoffen ist ohne Glauben einfach nicht
möglich.
Drittens: Wir sind auf uns selbst angewiesen. Wir müssen an uns selbst glauben.
Wer nicht an sich selbst glaubt, wem das Vertrauen auf sich selbst fehlt, wer nicht
glaubt, dass er selbst wertvoll ist, dass er etwas Gutes bewirken kann, der wird nicht
die Entschiedenheit und den Mut aufbringen, das Richtige zu tun. Der wird einfach
angepasst sein, der wird mit der Menge schwimmen, der wird das kaufen, was die
anderen auch kaufen usw.
Also: Auch im Hinblick auf uns selbst brauchen wir einen Glauben. Das ist natürlich
nicht so leicht zu entwickeln, denn wir kennen unsere Fehler, wir kennen vor allem
auch die Fehler, die darin bestehen, dass wir uns in einem viel zu schönen Licht
sehen. Niemand auf der Welt hält uns für so gut und so fantastisch wie wir selbst.
Selbst jemand, der etwas Schlimmes gemacht hat, glaubt immer noch, dass er doch
eigentlich im Kern ein guter Mensch ist. Komisch, aber so ist es.
Andererseits gibt es Menschen, die überhaupt kein Vertrauen zu sich selbst haben,
obwohl es dafür keinerlei Grund gibt. Das ist die Ausnahme. Die halten sich selbst
nicht für gut, die halten sich nicht für übertrieben gut – jedenfalls nicht so wie die
meisten anderen. Ich gehöre eher zu denen, die sich für übertrieben gut halten, und
muss ständig darum kämpfen, dass ich diesen Irrglauben nicht glaube. Wir müssen,
um kritisch einzuschätzen, wer wir sind, an uns selbst arbeiten und gucken, wie hoch
das Vertrauen in uns selbst eigentlich sein kann. Wir wissen ja nicht genau, wie gut
wir sind. Kant hat uns einen interessanten Hinweis gegeben. Er sagte nämlich an
mehreren Stellen, dass wir nicht einmal wissen, ob wir moralisch wirklich integer
sind. Das heißt, wir kennen nicht einmal unsere eigene moralische Qualität. Wir sind
uns nicht sicher. Gott sei Dank. Denn gesetzt dem Fall, wir hätten ein Wissen von
unserem moralischen Status, das wäre furchtbar. Wir wären besserwisserisch und
würden uns ständig aufspielen. Das wäre doch schrecklich – vor allem für die
anderen natürlich.
Das Selbstvertrauen und das Vertrauen darauf, dass wir Vertrauen verdienen, dass
wir uns selbst vertrauen können, dass schafft eine Basis dafür, dass wir mutig sind,
das wir entschieden sind, dass wir uns auch zu etwas Richtigem entscheiden, auch
dann, wenn wir nicht wirklich wissen können, ob es das Richtige ist. Wir können nie
wissen, ob es das Richtige ist, niemand kann uns dabei helfen, dieses Wissen zu
haben. Wenn es nur um Informationen geht, die können wir nicht selber an Land
ziehen, die müssen wir erwerben. Aber gesetzt den Fall, wir tun dies, wir tun dies
offen und ohne Vorurteile, dann werden wir immer noch selber entscheiden müssen,
was richtig und was falsch ist, und es wird uns niemand diese Entscheidung
abnehmen. Also das eigene Selbstvertrauen ist ganz wichtig und ohne den Glauben
an uns selbst geht das nicht.
Da haben wir also schon drei große Bereiche. Und dieser dritte schließt wohl an die
anderen an. Wer in diesen drei Bereichen Liebe und Freundschaft, Hoffnung und
Selbstvertrauen allein nur auf Wissen und Wissbares baut, wer also meint, er müsse
erst zum Psychologen gehen, um herauszufinden, wie zuverlässig er im Hinblick auf
sich selbst ist, wer meint, er könnte nur etwas mit Wissen tun, aus Wissen heraus
tun, der ist bedauernswert. Denn er versteht nicht, wie wichtig in diesem Bereich das
Glauben ist, wie risikohaft auch das Glauben ist. Wir werden nicht ohne Risiko
Selbstvertrauen haben können, wir werden nicht ohne Risiko hoffen können, wir
werden nicht ohne Risiko jemanden lieben können. Keine Freundschaft ist ohne
Risiko.
Wissen als Voraussetzung des Handelns ist in vielen Bereichen zwar wichtig, und es
wäre unsinnig, etwa in Technologien ohne Wissen etwas zu investieren, aber wenn
es um die subjektiven eigenen Entscheidungen, das eigene Handeln geht, dann ist
der, der nur aufs Wissen setzt, wirklich bedauernswert.
All das führt uns zu einer interessanten Einsicht: Die Krankheit unserer Zeit ist also,
dass wir meinen, wir seien in allem vom Wissen abhängig.
Viele glauben, dass Informationen Wissen sind. Diejenigen, die das glauben, sind s
zu bedauern, denn die meisten Informationsgehalte sind gar kein Wissen im engeren
Sinne, weil man nicht weiß, ob das alles wahr ist. Auch das, was in den Zeitungen
steht, sind Informationen, aber ob sie stimmen, ist eine völlig andere Frage. Niemand
kann beweisen, ob der und der das und das getan hat.
Wenn wir nun diese Krankheit unserer Zeit eingesehen haben, die unmittelbar aus
unserem Wissenschaftsglauben, aus diesem falschen Glauben resultiert, aus diesem
abergläubischen Glauben an die Wissenschaft, dann verstehen wir auch, dass wir
heute eigentlich etwas ganz anderes brauchen. Wir bräuchten nämlich die
Entschiedenheit und den Mut, uns auf uns selbst, auf unser Urteil zu verlassen und
uns nicht auf andere zu berufen. Wir müssten wieder den Mut entwickeln zu sagen:
„Hier stehe ich und das tue ich jetzt und es ist immer noch möglich, dass es falsch
ist, aber ich tue es trotzdem.“ Das ist doch eigentlich eine vernünftige Haltung.
Natürlich wäre es unvernünftig, pauschal gegen Wissen zu sein. Ich habe das
Wissen ja auch hinreichend gelobt. Ohne Wissen geht gar nichts. Kein Zahnweh
kann beseitigt werden, wenn es nicht das Wissen des Zahnarztes gibt, völlig klar.
Aber es wäre doch vernünftiger, herauszufinden, wo ist das Wissen unumgänglich.
Für diese Entscheidung ist Erfahrung wichtig. Um diese Erfahrung zu integrieren in
unser Denken, müssen wir Urteilsvermögen entwickeln. Unser Urteilsvermögen ist
immer dann optimal und am besten, wenn unser gesunder Menschenverstand mit
Erfahrung gepaart wird, wenn wir nicht einfach nur theoretisches Wissen vorbringen
und uns als Basis unserer Entscheidungen darauf kaprizieren, sondern wenn wir
unseren Menschenverstand sprechen lassen und unsere Erfahrung, wenn wir das
Wissen, den Menschenverstand und die Erfahrung versuchen miteinander zu
verbinden. Und natürlich muss man an diese Verbindung auch glauben können,
sonst wird sie keine Früchte bringen. Das heißt, selbst dann, wenn wir unser
Urteilsvermögen schulen und nutzen wollen, brauchen wir noch einen ganz wichtigen
Teil dessen, was ich eben gerade so sehr gelobt habe, nämlich den Glauben an uns selbst.