Professor Josef Reichholf : Das grüne Wunder . Faszination Tropischer Regenwald
SWR2 AULA – 
 (Abschrift eines frei gehaltenen Vortrags)
 Das grüne Wunder
 Faszination Tropischer Regenwald
 Autor und Sprecher: Professor Josef Reichholf *
 Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
 Sendung: Sonntag, 8. Mai 2011, 8.30 Uhr, SWR 2
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 ÜBERBLICK
 Der Regenwald im Amazonas . Der Regenwald ist voller Superlative. Er ist der artenreichste Lebensraum der Erde, er ist ein einzigartiges Ökosystem, von dem das Erdklima auf entscheidende Weise abhängig ist. Gleichzeitig greift der Mensch auf unverantwortliche Weise in dieses System ein, indem er zum Beispiel riesige Flächen des Waldes abholzt und so das natürliche Gleichgewicht stört. Der renommierte Biologe und Bestsellerautor Professor Josef H. Reichholf beschreibt die Ökobiologie des Regenwaldes.
 * Zum Autor:
 Josef Reichholf ist Zoologe, Evolutionsbiologie und Ökologe und lehrt als Honorarprofessor an der Technischen Universität München. Er war Präsidiumsmitglied des WWF und leitete bis 2010 die Sektion Ornithologie der Zoologischen Staatssammlung München. Seine Thesen zu Natur und Umwelt sind in Fachkreisen umstritten. 
 Bücher (Auswahl):
 "Der Tropische Regenwald" S. Fischer Verlag, Frankfurt 2010
 Der Tanz um das goldene Kalb – Der Ökokolonialismus Europas. Verlag Klaus Wagenbach. 3. und überarbeitete Ausgabe 2011.
 Warum die Menschen sesshaft wurden: Das große Rätsel unserer Geschichte. Fischer Taschenbuchverlag. 2. Aufl. 2010.
 Rabenschwarze Intelligenz – Was wir von Krähen lernen können. Herbig-Verlag. 8. Aufl. 2010.
 INHALT
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 Ansage:
 Mit dem Thema: „Das grüne Wunder – Faszination Tropischer Regenwald“.
Der Regenwald symbolisiert für uns das ganz Andere: die Wildnis, das
 Unbeherrschbare, das Unzivilisierbare, das Paradies, und vor allem: die Fülle.
 Regenwald ist für uns Synonym für eine faszinierende Artenvielfalt, die nur zu einem
 ganz geringen Teil erschlossen ist, Regenwald ist aber auch für uns eine Fülle und
 Überfülle an Nährstoffen und Lebensenergie.
 Das mit der Überfülle an Nährstoffen stimmt überhaupt nicht: Im Tropischen
 Regenwald herrscht in gewisser Hinsicht eine Mangelsituation, und genau diese hat
 zu der Artenvielfalt geführt. Wie das möglich ist, erklärt nun der Zoologe, Biologe und
 Buchautor Professor Josef H. Reichholf. In seinem Vortrag geht er dann auch auf die
 gefährliche Zerstörung des Tropischen Regenwaldes ein.
 Josef Reichholf:
 Tropische Regenwälder entwickeln sich im äquatorialen Bereich in einer Zone, in der
 es natürlicherweise sehr viel regnet. In Zahlen ausgedrückt: mindestens 2.000 bis
 2.500 mm Niederschlag pro Jahr. In dieser dauerfeuchten Regionen ist der
 Tropenwald quasi die Antwort der Natur auf das Zusammenwirken von folgenden
 Faktoren: von hoher Sonneneinstrahlung – die Sonne steht ja nahezu das ganze
 Jahr über senkrecht –, also hoher Energiezufuhr, hoher Luftfeuchtigkeit mit reichlich
 bis überreichlich Niederschlägen, so dass für das Pflanzenwachstum kein Mangel
 herrscht, und – und das ist jetzt besonders wichtig, um die nachfolgenden
 Ausführungen verstehen zu können – den Böden, die dort vorhanden sind. Denn
 diese Böden werden durch die hohen Niederschläge kontinuierlich ausgewaschen,
 das bedeutet, mineralische Nährstoffen, die für das Pflanzenwachstum notwendig
 sind, werden ausgewaschen. Insofern haben wir zwei Bereiche der Fülle in diesem
 Biotop, nämlich Licht und Wasser, und eine des Mangels, und das ist die
 Verfügbarkeit mineralischer Nährstoffe für Pflanzen.
 Aus diesem Grundmuster des Zusammenwirkens hat sich etwas ergeben, was wir
 erst in neuester Zeit begonnen haben zu schätzen, nämlich eine ungeheure Vielfalt
 an Pflanzen- und Tierarten. Der tropische Regenwald, nicht nur der amazonische,
 sondern ganz allgemein, in Afrika wie in Südostasien, ist mit Abstand das
 artenreichste Gebiet der Erde.
 Diese Fülle ist aber nicht auf den ersten Blick sichtbar. Oft sogar auch nicht auf den
 zweiten oder dritten, sondern sie offenbart sich nur über längere Beschäftigung mit
 der Vielfalt. Denn aufgrund der Tatsache, dass die Böden so nährstoffarm sind, von
 wenigen Ausnahmen auf vulkanischem Gelände abgesehen, sind die Tropen
 dadurch gekennzeichnet, dass die meisten Arten, die dort vorkommen – Pflanzen
 wie Tiere – selten sind.
 Ein Beispiel dazu: Auf 1 ha in Inneramazonien gibt es mehr als 500 verschiedene
 Baumarten. Nun sind das ja keine kleinen Bäume, sondern sehr große
 Urwaldbäume. Das bedeutet, dass praktisch jeder einzelne Baum auf diesen Flächen
 einer anderen Art angehört. Ähnlich reichhaltig erwiesen sich die Regenwälder in
 Südostasien, nicht ganz so vielfältig allerdings wie die in Zentralafrika. Wo nun die
 Pflanzenwelt besonders vielfältig ist, folgt zwangsläufig auch das Tierleben diesem
 vorgegebenen Muster von Vielfalt. Wenn wir Europa als Bezugsbasis nehmen,
 finden wir etwa 300 verschiedene Vogelarten, die hier auch brüten und sich
 fortpflanzen. In Amazonien im Regenwald sind es fünfmal so viele. Also man könnte
 sagen, eine Steigerung der Artenvielfalt auf das Fünf- bis Zehnfache im Vergleich zu
 gemäßigten Breiten ist normal. Die Vögel sind gar nicht so stark für diese Steigerung
 verantwortlich, sie sind ja sehr beweglich, sie können sich dank ihrer Flugfähigkeit
 die Orte aussuchen, an denen sie leben. Infolgedessen sind sie weniger den
 örtlichen Einschränkungen unterworfen als zum Beispiel Frösche oder Schlangen,
 also Tiere, die" schlecht zu Fuß sind", wenn ich das so vereinfacht ausdrücken darf.
 Da sind mit 70,80 verschiedenen Froscharten auf 1 km² in Amazonien natürlich
 unvergleichlich höhere Reichhaltigkeitswerte gegeben als bei der Hand voll
 Froscharten, die bei uns auf dieser Fläche vorkommen.
 Und geradezu unüberschaubar wird die Artenfülle, wenn wir uns die Insekten
 vornehmen. Zu Beginn der 1980er Jahre wurde der gesamte Bestand an Arten, die
 es weltweit gibt, sehr stark unterschätzt, weil man den Reichtum an Insektenarten im
 Kronenbereich der tropischen Regenwälder nicht oder nur unzureichend gekannt
 hatte. Damals, Ende der 1970er Jahre, fingen amerikanische Ökologen an, sich mit
 dem Walddach, mit den Kronen der Regenwaldbäume in Panama, näher zu
 befassen. Es folgten Untersuchungen in anderen Tropenwäldern. Das Ergebnis war,
 dass dort oben – 30,50, 70 m über dem Erdboden – eine so immense Fülle
 insbesondere an Käfern, aber auch anderen Insektenarten vorkommt, dass wir
 unsere Vorstellungen vom Reichtum der Arten, die es auf der ganzen Erde gibt,
 grundlegend ändern mussten. Bis Ende der 1970er Jahre ging man von etwa 2
 Millionen verschiedener Tier-und Pflanzenarten aus, die es auf der Erde geben
 sollte, einschließlich der Bewohner der Tiefsee.
 Nach den Hochrechnungen, die aus den Befunden in den tropischen Regenwäldern,
 in den Kronen der tropischen Regenwälder erarbeitet worden sind, mussten diese
 Vorstellungen von Grund auf revidiert werden. Die ersten, noch sehr groben
 Schätzungen gingen von 30 Millionen verschiedener Arten aus, spätere sprachen
 von100 Millionen. Sehr zurückhaltende Schätzungen gehen heutzutage immer noch
 von wenigstens 10 Millionen Arten aus. Das hat erhebliche Folgen für die in Gang
 gekommene Vernichtung der Tropenwälder, auf die ich später zu sprechen kommen
 werde.
 Bleiben wir noch kurz bei dieser Artenvielfalt. Wie ist sie möglich? Wie ist sie
 entstanden? Möglich ist sie, weil die Arten- und da wiederum insbesondere die
 Insektenarten- in den tropischen Regenwäldern extrem spezialisiert leben. Das kann
 wirklich so extrem sein, dass zum Beispiel die Raupen bestimmter
 Schmetterlingsarten im Fell von Faultieren leben, nicht vom Fell, sondern im Fell als
 Lebensraum, weil sich in diesem Faultierfell unter den tropischen feuchten
 Bedingungen mikroskopisch kleine Algen ansiedeln, und diese Algen weiden die
 Raupen dieser Schmetterlinge ab. Das ist ein Beispiel einer vielleicht ganz
 besonders merkwürdigen Spezialisierung.
 Ein anderes führt zu den Grundprinzipien, die den tropischen Regenwald
 charakterisieren, und das ist die Spezialisierung der mengenmäßig auffälligsten, in
 vielen Tropenwaldgebieten Südamerikas auch absolut häufigsten Insektengruppe,
 nämlich den Blattschneideameisen. Diese allgegenwärtigen Ameisen, die wie schon
 angedeutet, praktisch sofort zu sehen sind und überall auffallen, auch aufgrund ihrer
 Tätigkeit – der Name sagt es –, dass sie Blätter zerschneiden und die Blattstücke in
 unterirdische Nestkammern transportieren, diese Ameisen leben von Pilzen, die sie
 auf dem Futterbrei züchten.
 Diese Ameisen haben die ganze Fülle des Tropenwaldes, da können über 1000
 Tonnen lebendes Pflanzenmaterial auf 1 ha vorkommen, und dann wird dieses von
 den Ameisen nicht direkt genützt, sondern indirekt über unterirdische Pilzzucht. Auch
 das ist ein ganz gewichtiger Hinweis darauf, wie knapp nicht nur die Nährstoffe ganz
 allgemein in Tropenwäldern sind, sondern ganz speziell auch in Amazonien. Die
 Rede ist von Nährstoffen, aus denen sich das aufbauen lässt, was das Leben
 eigentlich ausmacht, nämlich Eiweißstoffe und die Stickstoffverbindungen. Stickstoff
 ist besonders rar im Tropenwald, sehr schwierig zu bekommen, und die ebenfalls mit
 dem Leben eng verbundenen weiteren Mineralstoffe wie Phosphat. Unter diesem
 Mangel leidet, wenn ich das so vermenschlicht ausdrücken darf, die Tierwelt;
 andererseits fördert dieser Mangel gerade auch die Artenvielfalt. Denn wo die
 Grundlagen für das Leben so knapp sind, können die Spezialisten am besten
 überleben und gut mit anderen Spezialisten auskommen, Spezialisten, wie die eben
 erwähnte Ameisenart. Es kommt in den Tropenwäldern selten dazu, dass sich
 einzelne Arten in Massen vermehren und die Lebensgrundlagen für andere Arten
 zerstören. Der Mangel, der für die Pflanzenwelt so wichtig ist, verbindet sich also mit
 der Artenvielfalt, weil er es den Spezialisten und den Schwachen ermöglicht in
 Nischen zu überleben.
 Und das ist nun eminent wichtig, wenn wir die Bedeutung dieser großen Artenvielfalt
 nicht nur für sich betrachten wollen, sondern für die ganze Erde bewerten möchten.
 Dazu ein kurzer Einschub: Ich hatte ja bereits betont, dass die Niederschläge in
 diesen Zonen, in denen sich tropische Regenwälder ausbilden, sehr groß sind, in der
 Regel über 2.000 mm pro Jahr. Diese Niederschläge werden aber zu einem
 wesentlichen Teil vom Wald selbst erzeugt. Es ist die Verdunstung, die in den
 Wäldern stattfindet, so dass ein so genannter „kleiner Kreislauf“ des Wassers
 entsteht, mit dem sich der Wald selbst erhält. Niederschläge garantieren, dass in
 dieser Waschküche – so wirkt sie auf uns – ein beständig hoher Umsatz in der
 Atmosphäre stattfindet, auch durch Gewitter, die durch Verbrennung von
 Luftstickstoff die notwendigen Stickstoffverbindungen für das Pflanzenwachstum
 liefern. Damit schafft sich der Wald sein eigenes Klima und er greift indirekt in das
 Weltklima ein. Denn wenn in den Tropenwäldern viel pflanzliche Biomasse erzeugt
 wird, bedeutet das, dass viel Kohlendioxid aus der Luft gebunden und in den
 Stämmen der Regenwaldbäume auf Jahrhunderte oder Jahrtausende erhalten bleibt,
 eben in gebundener Form.
 Wird nun der Wald gerodet und dann ersetzt durch Pflanzungen von Nutzpflanzen
 oder Anlegen von Rinderweiden, dann wird mit praktisch einem Schlag die
 festgelegte Menge an Kohlendioxid frei und in die Atmosphäre zurückgeschickt, die
 in Jahrhunderten oder Jahrtausenden gebunden worden war. Insofern nimmt der
 tropische Regenwald massiv Einfluss auf das Weltklima.
 Das wissen wir erst seit relativ kurzer Zeit, denn die Erforschung der Tropenwälder
 setzte eigentlich erst vor ungefähr 200 Jahren ein. An erster Stelle ist hier Alexander
 von Humboldt zu nennen, er war ein universeller Gelehrter, der mehr in Frankreich
 lebte und für Russland unterwegs war als speziell in deutschen Diensten. Er schuf
 mit seinem Werk über die Reisen in die, wie es damals noch hieß, Äquinoktial-
Gegenden der Neuen Welt, das sind die Gegenden der Tag- und Nachtgleiche, also
 der inneren Tropen, eine Vorstellung von der Natur des tropischen Regenwaldes, die
 bis heute nachwirkt. Eine Vorstellung, die man zusammenfassen könnte mit dem
 Wort: paradiesisch.
 Humboldts Vorstellung war: Wo die Natur so üppig wuchern kann, wo es eine solche
 Fülle an Pflanzen wie Orchideen mit ihren fantastischen Blüten gibt, da muss die
 Natur gleichsam gut sein, gut zu den Menschen und sie muss gut zu nutzen sein. Er
 hatte nicht verstanden, was ihm der Blick nach oben in die Bäume eigentlich gezeigt
 hätte. Dort sitzen oft tonnenweise in großen Mengen aufgesetzte Pflanzen,
 Epiphyten, Bromelien, Orchideen, Farne, Flechten, die dort gedeihen, obwohl ihre
 Wurzeln überhaupt keine Chance haben, den Boden zu erreichen. Das heißt, diese
 Pflanzen werden aus der Luft ernährt. Und sie werden auf dem Luftweg offenbar
 ausreichend mit Nährstoffen versorgt. Und dieser Luftweg ist es auch, wie wir heute
 wissen, der große Teile der Tropenwälder dieser Erde mit den nötigen Nährstoffen
 versorgt, die sonst durch die Auswaschungen, die zwangsläufig durch die starken
 Niederschläge geschehen, immer wieder verloren gehen.
 Die Nährstoffe im Fall Amazoniens liefert, und das ist vielleicht eine besondere
 Überraschung, die Sahara. Staubstürme in der Sahara wirbeln feinste
 Mineralteilchen so hoch in die Luft, das sie vom Passat-Windsystem erfasst werden
 und bis nach Südamerika, bis nach Amazonien transportiert werden können. Insofern
 ist es wichtig zu betonen, dass ein Wald, der im Kronenbereich viele Epiphyten hat,
 ein Zeichen dafür ist, dass die Böden wenig ergiebig sind. Also das Bild, das
 Alexander von Humboldt sich von den Tropen machte, die ihn natürlich zutiefst
 beeindruckt hatten, führte dazu, dass wir bis in unsere Zeit der falschen, der
 trügerischen Annahme erlegen sind, in diesen Tropenwäldern wären die letzten
 großen Landreserven für die Menschheit, in diesen Wäldern gäbe es nur fruchtbare
 Böden, die man ohne Ende ausbeuten könne.
 In bezug auf diese Ausbeutung sind zuerst wir Europäer zu nennen und dann in
 zunehmendem Maße die Chinesen. Denn die abgeholzten Flächen der
 Tropenwälder dienen seit Jahrzehnten indirekt der Fleischproduktion in Form von
 Rinderweiden, die als sehr magere Weiden nicht unbedingt ein hochwertiges
 Rindfleisch liefern; und dann seit den 1980er Jahren wird auf den abgeholzten
 Flächen zunehmend Soja angebaut, das als das wichtigste, weil sehr proteinreiches
 Viehfutter in die Stallhaltung unseres Viehs geht. Und das ist die ganz große
 Bedrohung für die Tropenwälder geworden. Die ganzflächige Vernichtung der
 Tropenwälder geschieht vornehmlich in Südamerika, um kurzfristige Anbauflächen
 für die Produktion von Soja zu gewinnen, das als Futtermitteln nach Europa und
 China transportiert wird.
 Hinzu kommt in unserer heutigen Zeit eine weitere Bedrohung, die, so sieht es aus,
 der Entwicklung der Produktion von Soja bald gleichkommen wird. Es geht um den
 Anbau von Pflanzen, die für die Erzeugung von Bio-Diesel wichtig sind. Diese
 Energiepflanzen, die natürlich unter dem starken Wirken der energiereichen
 Tropensonne eine Zeit lang üppig gedeihen, sind ein weiterer Grund dafür, dass die
 Tropenwälder in einem Umfang, in einer Geschwindigkeit zerstört werden, wie wir
 uns das eigentlich aus mitteleuropäischer Sicht gar nicht mehr vorstellen können.
 Allein in Brasilien zwischen eineinhalb und zweieinhalb Millionen Hektar pro Jahr. 14
 Millionen bis 15 Millionen ha Tropenwald werden alljährlich zerstört. Das ist eine
 Fläche, die, man kann das sehr leicht hochrechnen, in wenigen Jahrzehnten
 Größenordnungen von ganz Mitteleuropa erreichen wird und damit natürlich nicht
 folgenlos bleiben kann, weder für das Weltklima noch für die Erhaltung der
 Artenvielfalt.
 Zum Weltklima: Mit der Zerstörung der Tropenwälder wird die gebundene Menge an
 Kohlenstoff in Form von Kohlendioxid wieder freigesetzt, die, wie schon erwähnt,
 über Jahrhunderte und Jahrtausende dort in den Wäldern gebunden worden war.
 Aber das ist es nicht allein. Denn mit der Rodung dieser Wälder werden auch
 Flächen abgebrannt, um neuen Pflanzenwuchs zu verhindern und letztlich
 Weideland für magere Rinder zu schaffen. Seit den 1990er Jahren wird Jahr für Jahr
 eine Fläche in der Gesamtgröße Australiens abgebrannt. Dadurch wird völlig
 ungenutzte Energie freigesetzt in einer Größenordnung, die den Energieumsatz ganz
 Deutschlands übersteigt. In Zahlen: 500.000.000 Tonnen Steinkohle-Einheiten sind
 es, die alljährlich, vornehmlich auf der Südhemisphäre, in Flammen aufgehen,
 420.000.000 Tonnen Steinkohle-Einheiten verbrauchte Deutschland als drittgrößte
 Energienation in den letzten Jahren.
 Allein dieses Missverhältnis sollte alarmierend genug sein. Offensichtlich ist es das
 aber nicht, denn wir sind seit Jahrzehnten dazu übergegangen, Probleme beim
 Umgang mit der Natur in unserem Land in andere Regionen zu exportieren, und
 zwar in einer Art und Weise, die man nur neokolonialistisch nennen kann. Die
 Ausbeutung der Tropen hat ein Tempo und eine Größenordnung angenommen, die
 wirklich mehr als beängstigend sind. Denn die Tropenwaldzerstörung betrifft auch
 den Fortbestand der Artenvielfalt der Erde. Und zwar in doppelter Weise: Einmal
 werden mit der Vernichtung der tropischen Regenwälder eben die Gebiete zerstört,
 in denen eine immense, noch weithin unbekannte Artenvielfalt lebt, deren Nutzen
 und Nutzbarkeit wir nicht kennen, weil wir die meisten Arten selbst noch nicht kennen
 gelernt haben. Bekanntlich fällt die Vernichtung von Unbekanntem besonders leicht,
 denn wenn man nicht weiß, wozu etwas hätte wertvoll sein können oder tatsächlich
 wert ist, dann wird auch gar nicht darüber nachgedacht, ob es gut ist oder nicht so
 gut, diesen Artenschatz aufzugeben.
 Das zweite ist, dass durch den Import der Futtermittel aus den Tropen nach
 Mitteleuropa und speziell nach Deutschland ein Vielfaches an Gülle anfällt, als wir
 über Ernten den Böden wieder entziehen können. Wir haben daher, auch wiederum
 schon seit Jahrzehnten, unsere Natur überdüngt, was dazu führt, dass nur einige
 wenige Pflanzenarten hier üppig gedeihen können, die Vielfalt aber verdrängt wird
 und in den Roten Listen landet, was ihnen nichts außer dem Status des
 bevorstehenden Verschwindens einbringt. Das ist die größte Gefahr für den
 Fortbestand unserer heimischen Artenvielfalt, weil diese Effekte flächendeckend
 wirksam werden, flächendeckend, das ist nicht nachdrücklich genug zu betonen.
 Sogar Naturschutzgebiete sind davon betroffen. Denn ein wesentlicher Teil der
 Düngerstoffe aus der Gülle geht in gasförmigem Zustand in Luft, ein weiterer Teilgeht
 ins Grundwasser oder zerrinnt in Bäche und Flüsse und landet so auch in unseren
 Naturschutzgebieten, wo sich durch ähnlich magere Verhältnisse wie in den Tropen
 eine hohe Artenvielfalt entwickelt hatte.
 Wir sind es daher, die in hohem Maße für die Gefährdung der Tropenwälder
 verantwortlich sind. Infolgedessen liegt es an uns, wie die Zukunft aussehen wird.
 Noch haben wir die Wahl. Wir können uns entscheiden zu Gunsten einer sinnvollen
 Nahrungsmittelproduktion in unserem Land in Form von Weizen für die Welt auf
 Böden, die dafür geeignet sind. Oder wir können uns dazu entscheiden, die Tropen
 weiterhin mit Energiepflanzen „zuzubauen“, sie auszubeuten und weiter zu zerstören.
 Wegsehen, wie wir das bisher getan haben, geht in einer globalisierten Welt nicht
 mehr. Wir müssen uns mit der unerfreulichen Tatsache vertraut machen, dass die
 Weiterexistenz der Tropen und ihrer Wälder auch uns sehr viel angehen.
 Eine Möglichkeit der Rettung der Tropenwälder besteht darin, dass wir über
 Schuldenerlass für die armen Länder in den Tropen versuchen, Natur gegen
 Schulden einzutauschen. Das setzt aber voraus, dass wir in der Lage sind, im
 Zusammenwirken mit den betreffenden Tropenländern die Einhaltung der
 Schutzbestimmungen zu überwachen. Sie kämen, und das wäre der entscheidende
 Punkt, der örtlichen Bevölkerung zugute. Denn die weiß, wie man diese Wälder
 nutzen kann, was in ihnen steckt, an Wertvollem, das nachwächst und sich von
 selbst regeneriert, ohne dass man dazu Wälder vernichten muss. Es wäre also auch
 ein Gebot der Menschlichkeit, den bedrohten Völkern in den Tropen gegenüber alles
 zu tun, ihren Lebensraum durch die Erhaltung dieser Wälder auf Dauer zu sichern