Dr. Reinhard K. Sprenger: Der larmoyante Opfer-Club –Ist Deutschland noch zu retten?

 

 

SWR2 Aula; 

www.sprenger.com

  Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch; Sendung: Sonntag, 8. August 2004, 8.30 Uhr. Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen. Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

 

Jammerzirkel wohin das Auge reicht. Jeder manövriert sich in die Unschuldsecke, redet sich auf besondere Umstände, auf „Sachzwänge“ hinaus und will dafür Rabatt. Schuld sind immer die anderen: Die Globalisierung, der Wettbewerb, der Chef, die harte Jugend und heute haben wir Fön. In Deutschland gibt es mehr psychosomatische Klinikbetten als im Rest der Welt zusammengenommen. Nach 1989 hat die Gewitterfront der Larmoyanz ein zusätzliches Epizentrum im Osten herbeikolonisiert. Einige verklären hier eine Vergangenheit, ohne fürchten zu müssen, dass sie wiederkehrt.

Unsere Demokratie verfällt zusehends durch den Versuch immer kleinerer Gruppen, im Namen irgendeiner Benachteiligung Wiedergutmachung, Sonderbehandlung und Schutz durch die „Gemeinschaft“ einzuklagen. Man hat heute gewissermaßen ein Handicap, wenn man kein Handicap hat. Das ist das größte Hindernis auf dem Weg zu einer Kultur der Selbstverantwortung, die unser Land so dringend braucht: Das Bild vom Bürger als zu förderndes Mängelwesen, als Opfer, das von einem fürsorglichen Staat vor den Fährnissen des Lebens geschützt werden muss. Leistung ohne Gegenleistung? Kein Problem in Deutschland! Schicksal? Pech? Versagen? Abgeschafft! Es gibt nur noch Risiko, gegen das uns „oben“ schützen soll.

Kein anderes Land in Europa ist so staatsfixiert wie Deutschland. Das Ethos des Staatsdieners, Reformen von oben, die Regelung der Welt durch Gesetze, Anspruchsdenken, Schlechtwettergeld, im Zweifelsfall auf Nummer Sicher (eine Redensart, die aus dem Strafvollzug stammt). Viele wollen zwar die Wohltaten der Freiheit genießen, aber den Preis dafür nicht bezahlen. Sie sind bis zum äußersten auf ihre Unabhängigkeit bedacht, beanspruchen aber zugleich Hilfe und Bevorzugung. Dabei erhalten gerade die Pseudo-Verzweifelten jedwede mediale Aufmerksamkeit und fürsorgliche Belagerung.

Es ist daher zum allgemeinen Reflex geworden, skrupulös Sozialsysteme auszubeuten, wann und wie immer es geht. Genau das aber erstickt die Stimme der wirklich Benachteiligten. Seit langem ist zu beobachten, dass die Ausweitung des Kündigungsschutzes bei Behinderten, älteren Arbeitnehmern und Schwangeren gerade bei diesen Gruppen die Arbeitslosigkeit erhöht. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass die wohlfahrtstaatliche Umverteilung sich zu mehr als 90 Prozent auf ein machtpolitisch motiviertes Hin- und Hergeschiebe innerhalb nicht bedürftiger Mittelschichten konzentriert. Würde man die gesamten deutschen Sozialausgaben den wirklich bedürftigen fünf Prozent der Bevölkerung direkt auszahlen, bekäme jeder einzelne rund 150 000 Euro pro Jahr. Doch dem steht die tatsächliche, überaus kostspielige Verteilung zugunsten der Verteiler entgegen. Die allerdings lässt jenen, die sich wirklich nicht selbst helfen können, wenig übrig.

Diese Opferhaltung und die Risikoscheu der Menschen ist das größte Risiko unserer Gesellschaft – und reduziert über die Erosion der Markteffizienz letztlich die Sicherheit für alle Beteiligten. Wenn wir es verändern wollen, müssen wir konsequent die Kräfte der Selbststeuerung wiederbeleben – und das heißt: Freiheit ernst nehmen. Die Qualität des Bewusstseins ist entscheidend dafür, ob ein Leben gelingt. Gemeint sind Ihre inneren Einstellungen, Anschauungen, Meinungen und Grundüberzeugungen, mit der Sie Ihr Leben leben, Ihre Lebensziele verfolgen, Ihre Freizeit gestalten, Kinder erziehen und Ihren Beruf ausüben.

Diese inneren Einstellungen lassen sich praktischerweise durch gegensätzliche Pole beschreiben und unterscheiden. „Freiheit und Notwendigkeit“ ist ein solches Gegensatzpaar, das für ein gelingendes Leben von grundlegender Bedeutung ist.

Freiheit ist ein Erfahrungsrahmen, in dem Sie Ihre Handlungen und Lebensumstände als wählbar erleben. Ihnen ist dann bewusst, dass Sie immer Alternativen haben, neue Entscheidungen treffen und neue Wege wählen können.

Im Gegensatz dazu ist Notwendigkeit ein Erfahrungsrahmen, in dem Sie Ihre Handlungen und Lebensumstände als vorgegeben und unveränderlich erleben. Sie fühlen sich dann Sachzwängen ausgesetzt und sehen keine Möglichkeit, diese zu verändern

Um es gleich geradeheraus zu sagen: Wenn Sie sich grundsätzlich als Opfer der Umstände erleben, wenn Sie Ihre Lebenssituation, so wie sie jetzt ist, als notwendig, gottgegeben und unveränderbar betrachten, - wenn Sie z. B. vergessen haben, dass Sie freiwillig arbeiten -, dann werden Sie auch niemals wirklich Verantwortung für Ihr Leben - für Ihr gelingendes Leben - übernehmen. Statt dessen werden Sie leise jammern oder die anderen laut beschuldigen: Ihren Chef, den Vorstand, die Kollegen, den Markt, das Wetter, die Politiker, das Schicksal, die unglückliche Kindheit, Ihre Eltern, - ja sogar die Verantwortung, die Sie für Ihre Familie übernommen haben. Sie werden die Umstände, den Staat, Ihre Familie, den Arbeitgeber verdeckt oder offen ausbeuten, die Sie ja alle scheinbar zwingen, ein Leben zu leben, das Sie eigentlich nicht wollen. Oder das mindestens schöner, spannender, gerechter sein könnte. Sie werden die Sachzwänge beklagen und dabei unterschlagen, dass Sie Entscheidungen getroffen haben. Die Sie anders hätten treffen können. Aus guten Gründen aber so und nicht anders getroffen haben. Sie haben sich gegen alternative Möglichkeiten entschieden. Weil Ihnen das eine wichtiger war als das andere. Oder weil Ihnen die Konsequenzen der anderen Alternativen nicht gefielen. Aber dafür ist jetzt ein Preis fällig, der immer und in jeder Situation zu zahlen ist. Kurz: Weil Sie vergessen haben, dass Sie die Umstände selbst schufen, als deren Opfer Sie sich jetzt vielleicht erleben.

Wenden wir es positiv und konzentrieren es auf den Arbeitsbereich: Sie haben Ihre Lebens- und Arbeitsumstände, so wie sie jetzt sind, frei gewählt. Diese Lebensform, diese Stadt, diese Freunde, diesen Job, diese Kollegen, dieses Gehalt, den morgendlichen Stau auf der Fahrt ins Büro, die Möglichkeit, von Ihrem Chef gefeuert, versetzt, befördert zu werden - all dies und alle anderen Umstände und Begleitumstände Ihres Lebens: Sie haben sich für sie entschieden. Dafür sind Sie verantwortlich. Und nur Sie. Egal, welche Motive Sie hatten, einerlei, was Sie bewog: Sie haben es sich ausgesucht. Sie haben alles, was jetzt ist, durch Ihre Entscheidung mitgewählt - und Sie können all dies auch wieder abwählen. Dafür wäre dann wieder ein Preis zu zahlen. Wie hoch der ist, entscheidet jeder anders.

Bei einem Vortrag wurde mir einmal entgegen gehalten: „Das ist ja richtig, was Sie sagen. Aber das darf man doch nicht laut sagen.“ Auf meine Nachfrage, was er denn damit meine, antwortete er: „Mit diesen Gedanken zerstören Sie doch unsere Gemeinschaft.“

So oder ähnlich mögen viele denken, die überall den egoistischen Pferdefuß herauslugen sehen. Kulturverfall, Egoismus, Bindungslosigkeit – massiv ist die Kritik am Individualismus. Die Befürchtung: Jeder ist sich selbst nur noch der Nächste. Der Wunsch nach Selbstverwirklichung ist verantwortlich für die Auflösung der Werte und die Fröste der Freiheit. Vor allem aber beklagt eine plappernde, rückwärtsgewandte Politik mit miesepetriger Geste die „Ellbogenmentalität“ oder die „soziale Kälte“. Aufs neue wird einer bevormundenden sozialen Kontrolle der sinnstiftenden „Gemeinschaft“ das Wort geredet.

Gemeinschaftswerte sind aber nicht per se gut. Der Ku-Klux-Klan ist ebenso eine Gemeinschaft wie die Arbeiterwohlfahrt, die Scientology Church ebenso wie die Freiwillige Feuerwehr.  Es gibt Bürgerinitiativen für die Sicherheit von Kindern im Straßenverkehr und Interessengemeinschaften gegen den Bau einer Schule für geistig Behinderte im eigenen Wohnviertel. In der Familie gibt es ebensoviel Heimat und Mitgefühl wie Ausbeutung und Unterdrückung. In den Kirchen gibt es ebensoviel Willkür und Intoleranz, wie es Fürsorge und Hilfe gibt.

Anstatt den einzelnen zu ermutigen, seine Interessen klar zu artikulieren und seine Entscheidungen über die für ihn richtige Lebensführung selbst zu verantworten, verspricht die Gemeinschaftsideologie die trügerische Sicherheit ewig festgefügter Werte, denen man sich unterzuordnen habe. Schon vor gut 150 Jahren warnten liberale Denker wie Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill vor der „Tyrannei der vielen“ in der Demokratie, der sich der Einzelne kaum noch entziehen kann. Die Selbstregierung des Volkes, schrieb Mill, bedeute ja keineswegs „die Regierung jedes einzelnen über sich selbst, sondern jedes einzelnen durch alle übrigen.“

Sozialer Druck hat nicht nur eine gleichschaltende Kraft, es entwöhnt uns auch des Gebrauchs der Selbstbestimmung. Wir entwickeln Angst vor der Freiheit. Der Bürger merkt es kaum noch: Wir lernen, die Preisgabe unserer Selbstbestimmung als Beitrag für das Gemeinwohl zu verstehen. Aber damit wird das genaue Gegenteil dessen erreicht, was angeblich gewünscht wird. Eine Ideologie, die wo immer es geht, Wahlfreiheit beschneidet, fördert Passivität, Jammern und organisierte Unverantwortlichkeit: die umgreifende Tendenz, die Verantwortung für das eigene Leben allen anderen aufzubürden.

Aber schon seit jeher werden Ich-Stärke und Eigeninteresse in Deutschland als unsozial und egoistisch bewertet. Dass sie auch mit Freiheit, Kreativität und Selbstverpflichtung einhergehen können, dass einsichtsvoller Individualismus nicht identisch ist mit Rücksichtslosigkeit – alles das ist eher eine anglo-amerikanische Denktradition. Wie es der Nationalökonom Adam Smith auf den Punkt brachte: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers erwarten wir, was wir zur Nahrung brauchen, sondern dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschlichkeit, sondern an ihre Eigenliebe.“

Ob ein einzelner sich moralisch „gut“ verhält, hat nichts mit Gemeinschaft zu tun, sondern mit der Qualität des Inhalts. Und die hat jeder selbst zu verantworten. Der Verweis auf die Gemeinschaft fördert keineswegs die Moral, sondern oft nur die Heuchelei und Gruppeninteressen. Vielfach werden schiere Machtambitionen so moralisierend ummäntelt.

Egoismus hingegen fördert vielmehr in vielerlei Hinsicht das Gemeinwohl. Jeder Einzelne kann  egoistisch - im Sinne seiner Ziele aber vernünftig - handeln und gerade dadurch zugleich allen anderen dienen. Weil wir auf Märkten nur erfolgreich sein können, wenn wir die Bedürfnisse anderer Menschen kennen und befriedigen. So ergibt sich z. B. aus der Streben nach einem hohen persönlichen Einkommen das Wohl Vieler. Selbstbehauptung und Sorge für andere schließen sich zudem keineswegs aus, sondern ein. Der amerikanische Soziologe Robert Wuthnow hat nachgewiesen, dass 80 Millionen Amerikaner, also 45 Prozent der über 18Jährigen, sich Woche für Woche fünf Stunden und mehr für freiwillige Hilfsleistungen und wohltätige Zwecke engagieren. In Geld ausgedrückt: ein Gegenwert von etwa 170 Milliarden Dollar.

Erst der Individualismus hat das Bewusstsein geschaffen, dass jeder Mensch einen Wert an sich darstellt und in seinem Streben nach Glück zu respektieren ist. Und es ist klar, dass die Interessen der Einzelnen sich viel besser in die Gemeinschaft integrieren lassen, wenn sie offen angesprochen und zugelassen werden.

Verantwortungsbewusstsein und friedliche Umgangsformen können nur aus der selbstverantwortlichen Ausübung individueller Freiheit entstehen. Erst das Bewusstsein, ein Individuum in meiner individuellen Besonderheit zu sein, macht es möglich, auch den anderen in seiner Individualität anzuerkennen. Global gesehen geschehen die meisten Verbrechen nicht, um sich „egoistische“ Vorteile zu verschaffen, sondern im Namen einer Ideologie, einer Flagge, eines Führers, einer Gemeinschaft, einer Moral, etwas, „das größer ist als ich“. Das ist die Unschuld des Henkers. Und war nicht auch der 11. September 2001 konsequenter Moralismus?

Im Namen der Kollektivmoral ist unendlich viel Blut geflossen. In den berühmten Milgram-Experimenten haben ganz normale Menschen unsichtbaren, aber hörbaren Versuchspersonen schier unerträgliche Schmerzen zugefügt. Ihnen war gesagt worden, das Zufügen von Elektroschocks sei ein wissenschaftliches Experiment. Die Neigung, sich einer Autorität (in diesem Fall der Wissenschaft) zu unterwerfen, war viel höher ausgeprägt als das Mitgefühl für den leidenden Menschen. Man litt zwar unter den (simulierten) Schmerzensschreien der Opfer, äußerte auch Zweifel und Bedauern, drückte dann aber doch die nächsthöhere Voltstufe. Die häufigst geäußerte Rechtfertigung war: „Ich würde ja jetzt aufhören, wenn es nach mir ginge.“ Dabei ging es ja nach ihnen, aber das wollten die meisten nachher nicht wahrhaben. Es ist nicht das „Ich“, das die Tür zum Bösen öffnet. Es ist die Abdankung des Ichs.

Wenn wir die Verantwortung an die Entscheidung des einzelnen zurückbinden, dann bejahen wir logischerweise auch eine moralische Leitlinie. Verantwortung für unser Leben, unser Glück und unser Wohlbefinden übernehmen, heißt: Andere sind nicht dafür da, unsere Diener zu sein und unsere Erwartungen zu erfüllen. Niemand hat das Recht, auf Kosten eines anderen Menschen zu leben. Niemand hat das Recht. Wir betrachten dann nicht den anderen als Mittel zu unserem Zweck, so wie wir nicht Mittel zu seinem Zweck sind. Wir respektieren das Eigeninteresse eines jeden Individuums. Damit ist keine Rücksichtslosigkeit gerechtfertigt. Damit ist keine Asozialität entschuldigt. Und es wäre ein Trugschluss zu glauben, eine solche Haltung sei kalt und gefühllos. Das gerade Gegenteil ist der Fall. All unsere Bosheit gründet in unserer Sucht, andere zu beherrschen, z. B. durch erpresserische Wohltaten, die ihnen Dank abnötigen und sie von uns abhängig machen.

Mit dem „Ich“ ist vielmehr der Punkt beschrieben, den die Ethikforscher schon lange kennen: Ethik hat nur dann eine Chance, wenn sie auf Eigennutz setzt. Alles Leben ist eigennützlich, hat den Willen zur Macht, wie Nietzsche sagt. Wir haben immer nur unsere eigenen Empfindungen und Gefühle, die die Welt ausmachen, unsere Welt. Wir spüren ganz einfach keine anderen Gefühle. Es ist also nicht moralische Verderbtheit, sondern unsere Natur, die uns zu Egoisten macht. Wir sind so geschaffen. Wir können aus unserem eigenen Erleben nicht heraus. Wir können gar nicht anders, als unseren eigenen Vorteil zu verfolgen - wie immer der aussieht.

Der aufgeklärte Egoist aber weiß, dass er sich selbst etwas Gutes tut, wenn er anderen etwas Gutes tut. Er weiß auch, dass, wenn er anderen schadet, er sich selbst früher oder später schadet. Glück auf Kosten anderer währt in der Regel nur kurz. Er will daher seinen Mitmenschen aus Eigennutz nicht schaden. Nur eine solche Klugheitsmoral überfordert den Menschen nicht.

Das selbstbestimmte Leben bejaht, was öffentlich angeklagt wird. Es stellt fest: Ohne Ich gibt es kein Wir. Ein “Wir“ kann dann heute nicht mehr als Vorgabe von oben gedacht werden. Es bedarf der Zustimmung der Einzelnen. Es ist ein selbstbestimmtes „Wir“. In einer Welt der Widersprüche muss der Einzelne ein hohes Maß an Autonomie entwickeln. Autonomie bedeutet nicht Bindungslosigkeit oder Ellbogengesellschaft. Und eine bewusste Freiwilligkeit entwickelt immer mehr Überzeugungskraft und Bindungsenergie als gesetzte Vorgabe.

Das eigene Leben ist deshalb immer auch ein moralisches Leben auf der Suche nach dem Dasein mit anderen und auch für andere. Das darf nicht mit historischen Ladenhütern verwechselt werden: Klasse, Familie, Tradition. Dieser Neu-Entwurf muss getragen werden vom Vertrauen in die Ich-Kultur. Nur so sind Selbstbestimmung und Selbstverpflichtung in Gemeinschaften denkbar. Wir müssen auf das moralische Potential des Einzelnen setzen. Es kommt darauf an, den Denkrahmen in unserer Gesellschaft so zu verändern, dass Selbstverantwortung ermutigt wird.

Dieser reflektierte Egoismus im Sinne der Rückbindung allen Handelns an das Individuum und der Wahrnehmung legitimer Eigeninteressen darf nicht mit „sozialer Kälte“ oder blinder, bornierter Ich-Sucht verwechselt werden. Ersteres ist das Resultat eines werteorientierten Denkprozesses; letzteres ist unreflektiert und resultiert aus Gelüsten und Launen. Er ist das gerade Gegenteil: Erst, wenn ich die Wahl habe, erst wenn ich die soziale Bindung des Menschen nicht mehr als von außen kommende Pflicht erlebe, sondern als von innen kommende Selbst-Verpflichtung, hat meine Entscheidung Kraft. Nur Freiheit macht verantwortlich.

All das gilt besonders für Deutschland in diesen Tagen. Die alte Weltordnung ist zusammengebrochen und mit ihr die Sicherheit alter Grenzen, Kulturen, Wertordnungen. Daraus resultiert ein Zuwachs an Wahlmöglichkeiten in allen Lebensbereichen, ein Übermaß des Möglichen. Freiheit ist das, was uns „droht“. Von ihr haben wir angesichts ihrer realen Unmöglichkeit in der Zeit des Kalten Krieges immer nur gerne geredet. Nun fürchten Einige, dass sie Alltag wird. Sie reden dann vom „Werteverfall“. Aber das ist nur vorgeschoben. Tatsächlich regiert die Angst vor der Freiheit.  

Globalisierung und Enttraditionalisierung stellen das Nationale in Frage, öffnen die Märkte, fordern unser Zusammenleben heraus und befreien den Einzelnen aus den kulturellen Vorgaben von Herkunft und Üblichkeit. Diese Freiheit bringt aber auch Widersprüche und Unsicherheit mit sich. In Deutschland reagieren wir darauf vor allem mit Zögern und Mutlosigkeit. Wir erstarren in pessimistischem Festhalten-Wollen. Wir übersetzen die Herausforderung in Bedrohung.

Aber Spiele werden im Kopf gewonnen. Durch unsere innere Einstellung. Lebe ich oder werde ich gelebt? Bin ich Beifahrer oder steuere ich mein Lebensauto selbst? Bin ich Opfer der Umstände oder Herr meiner Möglichkeiten? Bin ich mächtig oder erlebe ich mich als ohn-mächtig? Passiv oder aktiv? Solange Erziehung in unseren Familien um den Zentralwert „Sicherheit“ herum gebaut wird, werden wir von jenem „Land der Ideen“ nur träumen, von dem unser neuer Bundespräsident sprach und der unser Land wieder nach vorne bringen könnte. Wenn nach jedem Mehr an Sicherheit durch staatliche Fürsorge gierig gegriffen wird, der damit untrennbar verbundene Verlust an Freiheit aber übersehen und achselzuckend in Kauf genommen wird, dann sind wir chancenlos. Und wer vom Staat alles haben will, darf nicht überrascht sein, wenn der Staat ihm alles nimmt.

Viele fordern Mut und Eigeninitiative und basteln gleichzeitig eifrig an ihrem Sicherheits-Container, wohlmöbliert, voller Wohlfahrtsopiate. Auch jene, die von der politischen Bühne herunter „Mehr Selbstverantwortung!“ rufen, fordern in einem Atemzug „Neue Vorbilder!“ Sie sind blind dafür, dass das niemals zusammen gehen kann. Ebenso unredlich sind Jene, die sich für Autonomie und Selbständigkeit aussprechen und dann Menschen dafür belohnen wollen, dass sie autonom und selbständig handeln. Sie alle sehen nicht, dass sie mit der einen Hand umstoßen, was sie mit der anderen so ambitioniert aufbauen wollen.

Wenn wir aus dem Sicherheits-Container herauswollen, wenn wir den Luxus-Schlafwagen Deutschland verlassen wollen, wenn wir die alltägliche Unzufriedenheit hinter uns lassen wollen, wenn wir bereit sind, Neues zu wagen und eingefahrene Wege zu verlassen, dann müssen wir aus der lähmenden Zögerlichkeit, der dümpelnden Unentschiedenheit heraus. Dann sind Entscheidungen fällig - und die Entschiedenheit der Umsetzung. Dazu wiederum ist der Gedanke unserer unhintergehbaren Wahl-Freiheit hilfreich:

Wir haben keine Wahl, außer zu wählen.

Wir können uns nicht nicht entscheiden. Wir müssen alle mit der paradoxen Situation umgehen lernen, dass wir in unserem Leben zunehmend Wahlmöglichkeiten vorfinden, zwischen denen uns nicht zu entscheiden uns nicht freisteht. Wir müssen wählen. Das hat der Philosoph Sartre den „Zwang zur Freiheit“ genannt.

In unserer modernen Welt stehen in einem ganz normalen Leben viele Optionen zur Entscheidung an, die früher weitgehend von der Tradition, der Herkunft und der

Gewohnheit eingeschränkt wurden. Wir können unser Leben heute nicht mehr entlang alter Gewohnheiten und vorgegebener Muster leben.

Das gilt zunächst für unsere privaten Lebensumstände. Schon heute basteln sich die meisten Menschen ihr Leben permanent neu zusammen. Unser ganzes Leben wird mehr und mehr ein ständiges Anfangen und Herstellen, jeder Einzelne zum Selbstschöpfer und eigenen Lebensbildner. Schauen wir uns die real existierende Vielfalt der Lebens- und Partnerschaftsformen an, dann kann man von einem einigermaßen genormten Lebensmuster immer weniger sprechen

Bedeutete Lebensglück vor einigen Jahrzehnten vor allen Dingen ein glückliches Familienleben, ein kleines Häuschen, das neue Auto und eine gute Ausbildung für die Kinder, so ist man sich heute nicht mehr sicher, ob man das, was man sucht, auch wirklich gefunden hat. Täglich nagt die Frage: „Bin ich wirklich glücklich? Ist es das, was ich wirklich will?“ In einer hochkomplexen Welt ist ein geglücktes Leben aber nur durch bewusste biografische Entschiedenheit und den gleichzeitigen innerlich akzeptierenden Verzicht auf die nicht-gelebte Alternative erreichbar. Im Labyrinth der Selbst-Befragung und Selbst-Verunsicherung schafft nur eines Klarheit und Konsequenz: die Bereitschaft zur selbstverantworteten Wahl und dem entschiedenen „Da geht es jetzt lang!“ Die Krankheit der Moderne ist der Mangel an biografischer Entschiedenheit. Das, was Menschen krank macht ist, dass sie vergessen, „Ja“ zu sagen zu dem, wozu sie sich entschieden haben

Dieses entschiedene „Da geht’s jetzt lang!“ gilt vor allem auch für unser Arbeitsleben. So geht uns natürlich nicht die Arbeit aus, aber für viele Menschen hat die traditionelle Sicherheit eines einmal gewählten und dann von der Wiege bis zum Grab ausgeübten Berufs ein Ende. Wir müssen mit dieser Unsicherheit leben lernen

Die Beschäftigten von morgen werden zu Unternehmern in eigener Sache. Wir stehen vor einer Situation, in der die wechselseitigen Wahl-Möglichkeiten für Arbeitgeber und Arbeitnehmer förmlich explodieren. Das feste Kooperationsverhältnis zwischen einem Chef und einem Mitarbeiter wird sich auflösen. Ebenso wird der feste äußere Rahmen der Arbeitsstruktur, die „Firma“ als Ort, als ein Gebäude verschwinden. Auch die Karriere als hierarchischer Kaminaufstieg wird an Bedeutung deutlich verlieren

Wer in dieser Lage darauf wartet, vom Chef oder von einem Belohungssystem „motiviert“ zu werden, „bei Laune gehalten“ zu werden, der wird lange warten. Die Motivation speist sich auch nicht mehr aus der Karriereerwartung, sondern die Menschen werden auf sich selbst zurückgeworfen: Der Spaß an der Arbeit selbst muss energetisierend wirken. Die Leistungs-Bereitschaft wird in die Verantwortung des einzelnen gestellt. Die Notwendigkeit der Eigeninitiative und der Selbst-Motivierung wird in bisher nicht erlebtem Maße wachsen.

Je mehr aber der Beruf zum Job wird, desto häufiger wird auch die Notwendigkeit (und die Chance!) zum Jobwechsel bestehen. Dementsprechend wird der einzelne auch für die Entwicklung und Erhaltung seiner Leistungs-Fähigkeit, für sein Wissen und seine

Fertigkeiten selbst sorgen müssen. Lernen als selbstgesteuerter Prozess, die Bereitschaft und Fähigkeit zum lebensbegleitenden Lernen wird die Aufgabe permanenter Selbstaktualisierung. Jene Kinder, die nicht gelernt haben, auch Verantwortung für ihre Leistungs-Fähigkeit selbst zu übernehmen, werden zum Strandgut des Lebens gehören. Die gegenwärtig dominierende Eltern-Generation ist meinem Erleben nach geradezu dramatisch überfürsorglich in der Welt

Der Einzelne wird buchstäblich zum Entscheidenden. Also Sie! Sie entscheiden für sich selbst, wie Ihr Leben aussehen soll. Ob wir wollen oder nicht: Jeder Einzelne muss selbst wählen, welche Bindungen er neu eingeht. Selbstverantwortlich entscheidet er, mit wem er zusammengeht und für was er eintritt. Manchem mag das beschwerlich erscheinen. Aber ist das nicht auch eine wunderbar beflügelnde Idee? Geradezu begeisternd? Sie ermöglicht den Neuanfang, die Neuerschaffung durch das Individuum, unabhängiger und freier gegenüber kollektiven Zwängen. Und alles Kollektive ist unglaubwürdig.

Durch die Ausweitung dieser Wahlmöglichkeiten bekommt das Entscheidungsverhalten eines Menschen eine neue Dringlichkeit. Wir brauchen heute eine aktivere, selbstverantwortlichere Einstellung bei allen Fragen der Lebensführung und des Selbstbildes. In dieser Gesellschaft von morgen wird ein erheblich höheres Maß an Eigeninitiative nötig sein. Gewinnen wird nur, wer gelernt hat, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, wer gelernt hat, das Leben für sich zu entscheiden. Nur Mut!

-------------- * Zum Autor:

Reinhard K. Sprenger, geboren 1953, Studium der Philosophie, Psychologie, Betriebswirtschaft und Geschichte in Bochum. 1985 Promotion zum Doktor der Philosophie. Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten. Wissenschaftlicher Referent beim Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen. Trainer und Berater für Personalentwicklung.

Bücher:

- Mythos Motivation.

- Das Prinzip Selbstverantwortung.

- Die Entscheidung liegt bei Dir!

- Aufstand des Individuums.

- Vertrauen führt.

Alle Bücher sind beim Campus-Verlag erschienen

Dr. Reinhard K. Sprenger: Der dressierte Bürger – Warum weniger Staat mehr ist

 

SWR2 AULA -

Schwerpunkt: Standort Deutschland Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch; Sendung: Sonntag, 13. März 2005, 8.30 Uhr, SWR 2. Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichenGenehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Überblick

Überall wird eifrig an den Reformschrauben gedreht, hier Hartz IV, dort die Ich-AG, doch das hilft den Deutschen wenig, wenn sie den Stillstand überwinden wollen. Solange der Staat nicht zu einem völlig neuen Selbstverständnis findet und seine Bürger in eine neue Selbstverantwortung entlässt, wird sich nichts ändern. Alles von oben regeln zu wollen, ist ein veraltetes Modell. Reinhard K. Sprenger, Philosoph und Unternehmensberater, zeigt den Weg aus der Krise.

Ein privater Radiosender installierte vor einigen Jahren eine Ampel auf einer völlig geraden und freien Landstrasse. Es gab an dieser Stelle weder Kreuzung noch Abzweigung, weder Kurve noch Fußgängerüberweg – nur Wiesen und Felder ringsum. Die Ampel zeigte Rot. Dauerrot. Nach einer halben Stunde hatte sich vor der Ampel eine lange Autoschlange gebildet. Die Reporter interviewten die Wartenden. Wütend waren sie, aufgebracht, verwünschten die Ampel, die Polizei, das Straßenbauamt, den Regierungspräsidenten. Aber es passierte nichts. Alle saßen, warteten, fluchten und hofften mit ergebenem Kälberblick, dass die Ampel umsprang. Viele spielten mit der Idee, einfach loszufahren – aber niemand tat es.

Was hat das mit Deutschland zu tun? Nun, in Deutschland gibt es viele rote Ampeln. Aufgestellt von sogenannten „Staats-Dienern“, die in Wirklichkeit die Herrschaft übernommen haben. Sie tun nicht mehr, was die Bürger wollen; sie bestimmen, was die Bürger sollen. Ihr Motto: „Wir wissen, was für euch gut ist“. Sie wollen eine bessere Gesellschaft schaffen. Deshalb drängt sich der Staat in das Leben der Bürger hinein, will sie lenken, leiten, an einem staatlich entworfenen Ideal ausrichten. Und er hat aus den Deutschen – die ein geniales Volk sind, jedenfalls der Anlage nach – ein larmoyantes Volk gemacht, ein Volk, das sich nur noch bewegt, wenn obrigkeitsstaatliche Ampeln auf grün springen.

Dass der Staat sein Tun vor allem als Erziehungs-Aufgabe begreift, das wird vor allem in der Sprache sichtbar, Da soll die Sparneigung der Deutschen „gebrochen“ werden, die Kauflust „stimuliert“. Der Bürger, das ungezogene Kind! Es tut einfach nicht, was gut für ihn ist. Beliebt ist auch das „Aktivieren“ oder das „Gestalten“, natürlich „sozialverträglich“. Oder aber die „Reform“, die ja – wie das Wort schon sagt – „formen“ will. Beliebte Schmuckvokabeln sind „Wohlstand sichern“ oder „Kulturauftrag wahrnehmen“. Andere Wieselworte sind „Generationenvertrag“ oder „Kollektivgüter“.

Beihilfen werden begründet mit einem „öffentlichen Interesse“ oder „horizontalen Zwecken“, die wohl irgendwie die gesamte Gesellschaft angehen. „Sozialer Frieden“ heißt die Formel für Besitzstandswahrung, „Konsens“ das Vetorecht gegen Entschiedenheit; „Berechenbarkeit“ die rote Karte für Veränderungswillen. Immer wieder gerne genommen wird auch das „Gemeinwohl“ als Herrschaftskonsens der Politik, die die eigenen Interessen schlicht zum allgemeinen Interesse erhebt. Besonders leicht fließt den Politikern auch die „Gerechtigkeit“ von den Lippen, vor allem in der wunderbaren Ergänzung mit „sozial“ – eben als „soziale Gerechtigkeit“. Das macht sofort unangreifbar, das Gehirn schaltet ab.

Die Spitze der Sprachzerstörung aber bildet der „Solidaritätszuschlag“ - jene beschönigende Formel für die Zwangssteuer, die dem deutschen Osten auf die Beine helfen soll. Dies in Zusammenhang mit dem sprachlichen Kreuz-Ass des Lenkungswillens: dem „Fördern“. Wenn man Deutschland schlaglichtartig kennzeichnen wollte, dann als „Land der Förderprogramme“. Es wird gefördert, dass sich die Balken biegen. Die Innenstädte, die Außenbezirke, die angehenden Azubis, die abgehenden Azubis, die Hochbegabten, die Minderbegabten, die jungen Wissenschaftler, die älteren Arbeitslosen, die Literatur, die Wirtschaft, die Kunst, der Sport, der Osten, der Westen .... wer wollte sich dem Zauberwort „fördern“ verweigern?

Die staatliche Lenkungsseligkeit ist hingegen am seligsten, wenn sie sich über etwas Schutzartigesverbreiten darf. Wo man „Schutz“ im Sinn hat, wird man zum edlen Retter, hat man das Gute auf seiner Seite hat. Kaum fällt z.B. das Wort „Umweltschutz“, sofort schlagen alle die Hacken zusammen. Auch der „Jugendschutz“ – das klingt schon so unwidersprechlich, dass man sich gewissermaßen aus der Solidargemeinschaft der Sittsamen verabschiedet, hebt man dagegen die Stimme. Egal, ob Alte, Junge, Frauen, Kinder, Tiere, Behinderte, Kranke, die deutsche Popmusik, Minderheiten aller Art,  - wir Deutschen haben eine tiefe Zuneigung zu allem und jedem, dem es gelingt, sich als schützenswert oder benachteiligt auszuweisen.

Auch deutsche Arbeitsplätze müsse man schützen, das sei ein moralisches Gebot. Ist ein Arbeitsplatz in Deutschland moralischer als einer in Tschechien? Im Gesetz gegen Alkohol- und Tabakwerbung bis hin zum öffentlichen Rauchverbot, in der Anschnall- und Helmtragepflicht – überall erscheint der Bürger als ein Kind, das vor allem vor sich selbst geschützt werden muss. Überall wird der Bürger fürsorglich belagert, überall wird er gewarnt, aufgeklärt, werden Millionen-Programme für „Prävention“ aufgesetzt, werden Kampagnen gestartet für Eltern-Kurse und gegen Fettleibigkeit, wird mir im Frühherbst ministeriell zur Grippeimpfung geraten und im Frühsommer zur Sonnencreme. Noch fehlt der staatlich verordnete Aufdruck des Bundes-Arbeitsministers auf die Lohntüte: „Arbeit gefährdet Ihre Gesundheit!“?

Um seinen Lenkungswillen durchzusetzen, hat der Staat im Kern zwei Strategien: Zwang oder Verführung.

Zunächst der Zwang: Es gibt nichts in Deutschland, was nicht geregelt ist. Dürfte sich ein Politiker ein Volk wählen - er nähme die Deutschen. Denn der Staat ist hier ganz in seinem Element: In einem fort erlässt er Gesetze und Regeln, verfeinert die Rechts- und Verwaltungsordnung und zementiert seine zwangsstaatlichen Versorgungswerke, die alle nur einen Refrain kennen: „Pass dich an!“ Kinderkriegen ist kein Problem, aber über die Altersvorsorge können wir nicht selbst entscheiden. Der Arbeitsmarkt ist schon lange kein „Markt“ mehr, sondern ein dirigistischer Exzess. Die Fahrschulen oder die Schornsteinfeger mit ihren staatlich geschützten Monopolen - wir werden gezwungen, ihre Dienstleistungen zu kaufen. Der Student zahlt Zwangsbeiträge für oktroyierte „Vertreter“. Unternehmen werden in die IHK gezwungen oder in die Handwerkskammer oder in den Flächentarif.

Im Straßenverkehr erlässt ein anonymer Behörden-Absolutismus unsinnige Ge- und Verbote in Permanenz: Deutschland, das Land der Radarfallen; da kann die Zahl der Verkehrstoten noch so sehr auf einem historischen Tiefstand sein und die Zahl der Haushaltsunfälle mehrfach höher. Arbeitgeber werden gezwungen, rauchfreie Arbeitsplätze zu stellen. Machen die zwar auch freiwillig, aber „zwingen“ lässt den edelmütig kämpfenden Staat beherzter erscheinen. Arbeitnehmer werden gezwungen, einen Teil ihrer Einkünfte nicht in Form von Geld zu empfangen, sondern in Form von Sozialversicherungen – und man gaukelt ihnen vor, der sogenannte „Arbeitgeber-Beitrag“ sei ein Bonus zusätzlich zum Lohn. Wir zwingen Kinder in Schulen und Betreuungseinrichtungen. Wir zwingen Menschen, zu einem bestimmten Zeitpunkt in Rente zu gehen, obwohl einige von ihnen noch gerne viel länger arbeiten würden. Sicherheitsvorschriften gibt es für nahezu alle Lebenslagen und juristische Formatierung auch noch der persönlichsten Bereiche. Sogar Sterben dürfen wir in Deutschland nicht nach eigenem Willen, auch da mischen sich die Ideologen des guten Lebens ein. Zwang, wohin man blickt.

Wer hier zu Lande durchstarten will, kommt deshalb erst mal kaum aus den Startlöchern. Versuchen Sie mal, in Deutschland eine Firma aufzumachen! Es dauert 45 Tage. In Frankreich 8, in Dänemark 4, in Australien sogar nur 2. Vor kurzem wurden zwei Gründer von Kindergärten für ihre unternehmerische Initiative ausgezeichnet. Es stellte sich heraus, dass ihr Hauptproblem weder die Kinder noch die Kosten waren, sondern die staatliche Regelungsdichte.

Aber der Zwang ist nur eine, die grobe Steuerungsmöglichkeit, die ultima ratio. Die Verführung des Bürgers ist die mildere Forme der Volkspädagogik. Sie verspricht dem Bürger Geld, wenn er sich nach den Idealen der Staatslenker richtet.

Politische Dressur beginnt daher in der Regel mit Geschenken – zumeist Subventionen genannt. Eine Form ist die konkrete Geldleistung – vom Exportzuschuss für Airbus-Flugzeuge bis zu Vorzugsdarlehen für die Kutterfischerei. Die andere ist der Verzicht auf Steuereinnahmen – von der Steuerfreiheit für Flugbenzin bis zur verringerten Umsatzsteuer für Zahntechniker. Kaum ein Unternehmen, das auf der Suche nach einem neuen Standort nicht zig Vergünstigungen aushandelt – von Infrastrukturmaßnahmen bis hin zu kostenlosen Grundstücken und Steuerbefreiungen.

In den Genuss von Subventionen kommt jedoch nicht nur die ehemals „freie“ Wirtschaft, ein endlos fließender Geldregen mitsamt seinen Bewilligungsbürokratien ergießt sich auch über Kultur und Bildung: Deutschland ist das Land der beheizten Schwimmbäder, der Seniorenfreizeitstätten, der Volkshochschulen, der Beratungsstellen für Schuldner, Käufer von Waschmaschinen und Ehekriselnde. Für jede Misslichkeit, mit der sich ein Mensch im Laufe seines Lebens konfrontiert sehen könnte, findet sich eine Unzahl öffentlicher sozialer Dienste. Es gibt kaum ein Problem, das noch als ein rein privates begriffen wird und der öffentlichen Betreuung entgeht und kaum einen Wunsch, der nicht an den Staat adressiert auf seine Erfüllung pocht.

Nun sind Subventionen seit Jahren in die Kritik geraten, von vielen Seiten wird ihr Abbau gefordert. Warum das nicht gelingt? Es gibt ein klammheimliches Einverständnis der Politik, sich ihre Lenkungsinstrumente nicht aus der Hand nehmen zu lassen. Das hieße nämlich Macht abgeben. Es könnte nicht mehr so gut verteilt und umverteilt werden. Zehntausende von Bürokraten wären arbeitslos. Das will die Politik nicht. Deshalb gibt sie weiter ihre Machtansprüche als „Gemeinwohl“ aus. Zudem traut sie sich nicht, die Wähler zu vergraulen. Denn das sind Subventionen eigentlich: Kauf von Wählerstimmen. Subventions-Politik ist Bestechung mit dem Geld anderer Leute.

Und – so mag mancher fragen – was ist denn mit „Hilfe“, was ist mit „Solidarität“? Nehmen wir als aktuelles Beispiel die Spenden anlässlich der Flutkatastrophe in Südostasien. Ja, private Spenden sind ein Zeichen von Mitgefühl und Großzügigkeit. Aber staatliche Hilfe ist immer verlogen. Auch wenn es politisch inkorrekt erscheint: Öffentliche Gelder sind Enteignung. Was Politiker so üppig aus dem staatlichen Füllhorn strömen lassen, ist das mit Zwangsabgaben (sprich: Steuern) ungefragt eingesammelte Geld anderer Leute. Weder hat man mich gefragt, noch meine Kinder, die die Spätwirkungen dieser staatlich-karitativen Geste ausbaden dürfen. Nur Individuen können großzügig sein, Kollektive nicht.

Solidarität ist unverzichtbar, wenn sie freiwillig ist. Aber sie wird zerstörerisch, wenn sie erzwungen wird, wenn sie als kollektiver moralischer Imperativ, gar als politisches Programm zur Erziehung eingesetzt wird. Für mich persönlich ist die Verhunzung der „Solidarität“ eines der größten Verbrechen, das der Staat in den letzten Jahren begangen hat.

Wenn der Staat also normative Ansprüche beim Bürger durchsetzen will – dann ist es aus Sicht des Staates auch nicht in Ordnung, wenn der Bürger sein Geld selbst ausgeben will, statt es vom Staat ausgeben zu lassen. Dann fragt er danach, wie viel er dem Bürger abnehmen muss, um seinen Lehrplan umzusetzen. Das Lieblingsinstrument des Staates ist daher die Steuer – wie der Name schon sagt. Durch sie wird der Bürger in seiner Entscheidung, wie er sein Einkommen verwendet, 1. teilweise enthoben und 2. beeinflusst.

An der Staatsquote kann man das Maß des Beeinflussungswunsches ablesen. In ihr drückt sich aus, welchen Anteil des Bruttoinlandproduktes der Staat kontrolliert, für seine Zwecke beansprucht und zentral verteilt. Wenn er z. B. eine Staatsquote von 50 Prozent verordnet, dann sagt er dem Bürger: „Zur Hälfte muss ich dir die Entscheidung abnehmen, wie du dein Einkommen verwenden willst.“

Doch selbst eine Staatsquote von 50 Prozent lässt den vormundschaftssüchtigen Staat nicht ruhen. Er sagt: „Auch bei dem verbleibenden Rest deines Einkommens sollst du nicht frei entscheiden. Weil es dir an der richtigen Gesinnung mangelt, gebe ich dir gute Gründe, dich so zu verhalten, wie ich es für richtig halte.“ So nimmt der Staat die Steuerpolitik beim Wort und steuert, was das Zeug hält. Überall sucht er nach „Stellschrauben“, mit denen er das naturhaft eigensinnige Verhalten der Bürger nachjustieren kann. Er belohnt dies und bestraft das, er begünstigt dieses Verhalten und erschwert jenes. Er kettet Ehepaare über den finanziellen Vorteil formal zusammen, bestraft aber das ungestempelte Zusammenleben. Er belohnt das Kinderkriegen, bestraft die Kinderlosigkeit - selbst wenn sie ungewollt ist. Er unterwirft Erträge aus Festverzinslichem einer hohen Abgabelast, lässt aber Lebensversicherungen zur Hälfte ungeschoren. Autofahrern schenkt er Geld, wenn sie Diesel fahren, den Bauern Geld, wenn sie die Milchwirtschaft aufgeben, Wohlhabenden schenkt er Geld, wenn sie in den asiatischen Schiffsbau investieren. Oder in Flugzeuge. Oder in Hollywood-Filme. Auch die Spende an eine politische Partei ist steuerlich voll abzugsfähig. Ein Realist, der Böses dabei denkt.

Steuerrecht als moralische Anstalt: Das Kosten-Nutzen-Kalkül des Bürgers wird so verändert, dass sich das „umgeleitete“ Handeln wieder lohnt. Denn wer sein Verhalten an staatlichen Interessen ausrichtet, hat Steuervorteile. Wer das nicht tut, Nachteile. Das Motto: „Tue dies, dann bekommst du das.“ Nach diesem Muster funktioniert das System der Fremdsteuerung, das unser gesamtes gesellschaftliches Zusammenleben überwuchert. Diese Gleichung ist das Denk- und Lenkmodell unserer Gesellschaft überhaupt. Das ist auch genau jene Formel, mit der der Staat die Allmacht über alle Lebenszusammenhänge an sich gerissen hat. Das Ziel: Diffamierung des Eigensinns, Gesinnungsnötigung, „Im Gleichschritt, marsch!“ Und es hat Konsequenzen.

Die wichtigste Konsequenz ist der sogenannte Verdrängungs-Effekt. Ein Begriff aus der Verhaltensbiologie. Diese Forschungsrichtung erklärt menschliches Handeln durch die beiden Einflussgrößen „Trieb“ und „Reiz“. Der „Trieb“ ist die innere Selbst-Steuerung des Menschen. Er antwortet auf die Frage „Warum handelt jemand?“ Hingegen wird der „Reiz“ als äußere Fremd-Steuerung beschrieben. Er antwortet auf die Frage: „Wie kann man jemanden zum Handeln bewegen?“ Der „Reiz“ umfasst daher Lenkungen durch Macht, Geld, Kontrolle, Belohnung und Bestrafung jeder Art.

Beide Einflussgrößen sind nicht unabhängig voneinander, sondern wechselwirksam. Geht man von einer Normalverteilung beider Einflussgrößen aus, dann gilt: Wird der Außenreiz erhöht, dann sinkt der Eigenantrieb. Der Eigenantrieb wird verdrängt und durch den Außenreiz ersetzt. Schnell gewöhnt sich der Mensch an das Reizniveau, entwickelt immer neue Ansprüche, bis er bald ohne „Zusatz“-Reiz in der Tat eine geringere Leistungsbereitschaft zeigt. Er hat sich daran gewöhnt, verwöhnt zu werden. Er ist nur noch unter Stimulation durch ständig höhere Botenstoffe beeinflussbar. Er bewegt sich nicht mehr; er wartet darauf, bewegt zu werden.

Das kennen viele Eltern, die ihre Kinder mit Geld zu Schulaufgaben motivieren wollen. Kurzfristig funktioniert das. Langfristig aber wollen die Kinder nur noch gegen Geld Schulaufgaben machen. Und man hat ihnen beigebracht, dass Schulaufgaben etwas sehr Sinnloses sind.

Der staatliche Eingriff läuft genau in diese Falle. Steuerpolitisch wird ein ökonomisches Interesse begründet, das dazu verführt, den Weg selbstverantwortlicher Lebensgestaltung zu verlassen. Bald hängt der Bürger am Staat wie der Junkie an der Nadel. Denn staatliche Lenkung nährt die Illusion, man brauche für vieles nicht mehr selbst zu sorgen, man brauche nicht mehr selbst zu entscheiden, ja man brauche nicht einmal mehr selbst nachzudenken. Langfristig führt das dazu, dass sich die Menschen nicht mehr auf sich selbst verlassen, sondern auf den Staat verlassen. Entsprechend laden Belohnungen wie Subventionen, Steuervorteile oder andere Beihilfen den Menschen nicht dazu ein, an sich selbst zu glauben, sondern an den Staat zu glauben. Die Menschen verlernen die Fähigkeiten, unabhängig vom Staat zu handeln. Sie gewöhnen sich an öffentliche Leistungen, werden abhängig von der täglichen Infusion therapeutischer Anreger. Die Gängelung zerstört systematisch das Vertrauen der Menschen in die eigene Kraft; sie höhlt ihre Überzeugung aus, selbst wirksam sein zu können. In einem Wort: Das staatliche Lenkungsverhalten ist die planvolle Herbeiführung von Antriebslosigkeit.

Was aber bei Fremdsteuerung zuerst stirbt, ist das Gefühl, in gewisser Hinsicht sein eigener Herr zu sein. Jeder Form von Fremdsteuerung schwächt das Gefühl der Menschen, ihr Leben im Griff zu haben. Deshalb die verbreitete parasitäre Lebenseinstellung. Denn es liegt in der Logik der Fremdsteuerung, dass unser natürliches Gefühl für Selbstverantwortung als Motor unseres Handelns abstirbt. Wir erleben dadurch die uns drängenden Probleme nicht mehr primär als von uns selbst zu lösende, sondern als von anderen zu bereinigende. Es gilt als selbstverständlich oder sogar „gerecht“, die Folgen des eigenen Tuns und Lassens „solidarisch“ auf das Kollektiv abzuwälzen, die Verantwortung für das eigene Leben allen anderen aufzubürden. Aus dem Staat als Ausgleichsstelle für schwere Schicksalsschläge ist der große Versorger breiter Bevölkerungsteile geworden. Der Ruf nach dem Staat erfolgt dabei reflexhaft - noch bevor der Einzelne sich überlegt, wie er sich selbst helfen kann.

Das also ist meine zentrale These: Das grassierende Opfer-Bewusstsein in Deutschland ist staatlich verursacht. Es lässt sich aus einer Überbetonung staatlicher Fremdsteuerung herleiten. Unsere Gesellschaft wird durch die Symbiose von Steuer-Planwirtschaft und Ingenieurspädagogik nach und nach zur Drogenszene, in der der Staat der Dealer und die Bürger die Junkies sind. Oder seriöser: Wir sind nur noch Nehmer, keine Geber mehr. Und wenn dann jemand sagt, etwas sei nicht finanzierbar, sprechen wir von „sozialer Kälte“. Das Leben wird bestimmt von „Oben“, den Umständen, der Konjunktur, den Verhältnissen, Systemen und Strukturen. Der Bürger lässt sich steuern, macht sich zum Reiz-Reaktions-Apparat besserwissender Bürokraten, zur Marionette eines misstrauischen Steuerstaates. Das ist die Wurzelsünde. Die mentale Konsequenz: Gehirnverseuchung. Der staatliche Eingriff kommt oft als Vorteil, Wohltat oder Ordnung daher und jeder freut sich. Doch der Dolch im Gewande heißt Entmündigung und Gängelung. Das Selbstvertrauen stirbt, das Opfer-Bewusstsein wächst, dasWarten auf den großen Beweger. Und irgendwann weigern wir uns, unser Leben selbst zu führen. Selbstwirksamkeit gedeiht nicht, wo der Staat wirkt.

Was können wir dagegen tun?

Die Reformen der letzten Zeit bringen keinen grundlegenden Wandel zum Besseren, weil ihr Tenor nur lautet: Änderungen innerhalb der bestehenden Strukturen. Aber staatliche Willkürakte funktionieren nicht bei Mentalitäten: nicht bei Ehrgeiz, nicht bei Beweglichkeit, nicht bei Selbstvertrauen. Gerade auf den Feldern, die Deutschland wieder nach vorne bringen können, kann der Staat nichts erzwingen, nichts herbei-motivieren oder herbei-belohnen. Es kann es nur ermöglichen.

Es steht also ein tief greifender Umbau des deutschen Systems an. Wenn wir uns an der Grundbedeutung von Freiheit orientieren,

1. die Abwesenheit von Zwang und

2. die Ermutigung zur Eigentätigkeit,

dann brauchen wir einen reduzierten Staat. Reduziert auf das Erlassen allgemeiner Regeln, des äußeren Schutzes und des Rechts. Wir brauchen, und das mag manchen überraschen, die Autorität des Staates nicht als Hilfe, sondern als Macht. Als Gewaltmonopolist, nicht als Fürsorger; als Macht, die die Entwicklung freiwilliger und geordneter Formen des Zusammenlebens ermöglicht. Der insofern „gleich-gültig“ ist gegenüber den verschiedenen Wegen zum gelungenen Leben, so es nicht die Rechte eines anderen verletzt. Er muss gegenüber der frei gewählten Lebensführung seiner Bürger peinlich neutral sein.

Dieser Staat ist Methode, nicht Inhalt. Er darf verwalten, nicht regieren. Er lehnt „politische Führung“ ab. Er hat kein eigenes „Interesse“. Er will weder erziehen, noch geistig lenken. Er will den Bürger nicht anreizen, nicht manipulieren, nicht verführen. Das Gemeinwohl wird nicht durch staatliche Lenkung hergestellt, sondern durch das lebenspraktische Wirken der Bürger selbst. Wir Bürger sind in ihm Individuen, die von niemandem als Mittel zum Zweck benutzt werden dürfen. Dieser Staat behandelt uns mit Gelassenheit, er hält Distanz, ist zurückhaltend, mischt sich nicht ein. Er orientiert sich an dem Kriterium: Respekt! Er lässt uns unser Leben selbst entscheiden, wie und mit wem wir auf welche Weise zusammen leben wollen, welche Idee vom guten Leben wir dabei verfolgen und welche Menschen uns dabei freiwillig helfen wollen. Er vertraut unseren Fähigkeiten zur Problemlösung. Es geht ihm vor allem darum, möglichst jeden Menschen so leben zu lassen, wie es ihm oder ihr gefällt. Dieser Staat hat im Privatleben der Bürger nichts verloren. Manchmal schaffen es ja Politiker, dass die Bürger ihnen vertrauen; weise Politiker schaffen es, dass die Bürger sich selbst vertrauen.

Was heißt das konkret?

Natürlich müssen wir den Staat zurück drängen, die Bürokratie abbauen, die Lenkungsnormen aus dem Steuerrecht entfernen und die Subventionen abschaffen. Wir müssen die kleinen Einheiten wieder beleben, das Lokale, die Nachbarschaft. Wir müssen die Selbständigkeit, die Unternehmertätigkeit erleichtern und ermutigen. Wir müssen den Abschluss von Arbeitsverträgen frei geben. Aber alle diese Reform-Vorschläge sagen im Grunde: andere sollen etwas tun, andere sollen aktiv werden.

Was aber vor allem ansteht: Erst einmal selbst wach und wachsam werden! Die Sensoren schärfen! Wir müssen wieder empfindsam werden für die versteckten Entmündigungen und Zwangsbeglückungen. In den Nachrichten, in den Talkshows, in den vielfältigen Angeboten zur Selbst-Verkindlichung. Wir müssen wieder ein Gefühl für die Respektlosigkeit entwickeln, die in dem staatlichen Zurichtungswillen steckt. Wir müssen uns gegen das „Sei anders!“ empören, das sich verbirgt hinter wohlanständig klingenden „Förderprogrammen“ und „Schutzmaßnahmen“. Provozierbar müssen wir sein! Was geht es den Staat an, ob ich rauche, dick bin, wofür ich mein Geld ausgebe oder auch nicht ausgebe?

Wir Bürger müssen mit geschärften Sinnen durch die Welt der „großen Verführung“ wandern, einer staatlich dominierten Welt, die mit der Freiheit, der Würde, der Autonomie des Einzelnen kaum noch etwas anzufangen weiß. Wir müssen wachsam sein gegenüber jeder Form von Distanzlosigkeit, Bevormundung und Infantilisierung. Bevor wir das Erstgeburtsrecht unserer Bürgerwürde gegen das Linsengericht des Anpassung verkaufen, sollten wir erkennen, dass damit unser Stolz, unser Wohlstand und unsere Lebensqualität ihr Ende fände. Kein finsterer Leviathan wäre daran schuld. Nur wir selbst – weil wir unaufmerksam waren.

Und wir müssen selbst handeln. Wir müssen uns die Gesellschaft wieder aneignen. Das heißt: dem Staat entreißen. Wir müssen gesellschaftliche Verantwortung übernehmen, uns einmischen. Wir müssen uns bürgerschaftlich engagieren, das Prinzip der Gegenseitigkeit wiederentdecken, die Verantwortung für den Nahbereich. Denn das Recht auf ein individuelles Leben bedingt die Pflicht zur Beteiligung am Allgemeinen. Eine geschenkte Freiheit ist nichts wert; wir müssen sie täglich neu erobern.

Und wehren können wir uns. Mit zwei einfachen Mitteln. Das eine besteht darin, all jene zu unterstützen, die sich gegen die Volksmoralisten stemmen. Es gibt sie, allerdings muss man manchmal nach ihnen suchen. Dort kann man sich beteiligen. Jeder Bürger muss seinem lokalen Politiker permanent auf die Zehen treten. Wir müssen für mehr „Nichtbeamte“ im Parlament sorgen – unabhängig von der politischen Farbe.

Das andere Mittel steht wirklich jedem zur Verfügung. Es besteht darin, der Pädagogisierung der Politik nicht mehr zuzuschauen und dem staatlichen Oberlehrer keinen Beifall mehr zu zollen. Wer schlechte Witze erzählt und keine Lacher mehr erntet, wird irgendwann damit aufhören. Wir können die Einladung des Staates zur Selbst-Entmündigung ausschlagen: auf „Förderung“ verzichten, Zuschüsse ablehnen - auch wenn uns der höhnische Alltagsverstand „Masochismus!“ zuruft. In der Tat, kostenlos ist das nicht zu haben. Aber niemand kann uns zwingen, in die Möhre hineinzubeißen, die uns vor der Nase baumelt. Wir müssen uns nicht lenken lassen. Wir müssen unser Leben nicht nach dem Prinzip des größtmöglichen Steuervorteils ausrichten. Wir müssen uns nicht vom Staat vorschreiben lassen, wie wir unsere Lebenszeit verbringen. Mehr noch: Wir können Einfluss nehmen. Wir können Produkte meiden, an denen Subventionen kleben. Wir können subventionierten Unternehmen die eigene Kaufkraft zeigen: einfach dort nicht einkaufen. Wir können quasselige Politsendungen durch niedrige Einschaltquoten abstrafen. Wir können das Kleine dem Großen vorziehen, das Lokale begünstigen, das Besondere, den Laden an der Ecke. Wir müssen uns nicht von Rabatten, Meilen oder Bonus-Punkten zu Pudeln abrichten lassen, die nach Leckereien japsen. Wir müssen uns auch nicht verbeamten lassen. Wir können uns sogar selbstständig machen. Das alles können wir tun. Wenn wir wollen. Wenn jeder an seinem Ort ein kleines Stück mehr Selbstverantwortung und Eigensinn lebt, dann werden sich die Effekte addieren. Was das heißt, weiß jeder in dem Moment, in dem er gefordert ist.

* Zum Autor:

Reinhard K. Sprenger, geboren 1953, Studium der Philosophie, Psychologie, Betriebswirtschaft und Geschichte in Bochum. 1985 Promotion zum Doktor der Philosophie. Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten. Wissenschaftlicher Referent beim Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen. Trainer und Berater für Personalentwicklung.

Bücher:

- Der dressierte Bürger. Warum wir weniger Staat und mehr Selbstvertrauen brauchen.

- Mythos Motivation.

- Das Prinzip Selbstverantwortung.

- Die Entscheidung liegt bei Dir!

- Aufstand des Individuums

- Vertrauen führt.

Alle erschienen bei Campus.