Christian Pfeiffer: Viel fernsehen, wenig lernen - Wie sich Medienkonsum auf die Schulleistungen auswirkt

SWR2 Wissen (Aula)  Sendung am Sonntag, 11.02.2007, 08.30 bis 9.00 Uhr
Ein Gespräch von Ralf Caspary mit Professor Christian Pfeiffer
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

ÜBERBLICK

Es ist ein bekannter Mechanismus: Wenn Schüler gewalttätig werden, wenn sie wie im Falle Erfurt und Emsdetten Amok laufen, wenn sie gleichzeitig mit dem Computer Killerspiele konsumiert haben, wird kontrovers über die Frage diskutiert: Wie wirkt sich mediale Gewalt aus, macht sie den Rezipienten tatsächlich aggressiver, gewaltbereiter?

Die Fragen beschäftigen auch seit langem den Kriminologen Christian Pfeiffer, der zusammen mit Neurobiologen eine große Studie durchgeführt hat, die zeigt, wie sich starker Medienkonsum auf die kognitiven Leistungen von Schülern und Schülerinnen auswirkt. Dabei geht es auch um aggressive, gewalthaltige Computerspiele. Professor Christian Pfeiffer erklärt, warum Kinder, die oft mit dem Computer spielen, schlecht in der Schule sind und warum gerade Jungen gefährdet sind.



INHALT

Ansage:

Heute mit dem Thema: „Viel fernsehen, wenig lernen – Wie sich Medienkonsum auf die Schulleistungen auswirkt“.

Immer dann, wenn Jugendliche zu Gewalttätern geworden sind, und immer dann , wenn im Zuge der Ermittlungen herausgekommen ist, dass sie aggressive Computerspiele gespielt haben, dann wird für kurze Zeit in der Öffentlichkeit heftig über das Für und Wider des Medienkonsums gestritten. Wie wirkt intensiver Medienkonsum auf Kinder und Jugendliche, macht er sie gewaltbereiter, wie wirken sich brutale Spiele auf die Nutzer aus, werden sie aggressiver?

Die gute alte Medienpädagogik hat auf diese Fragen niemals eindeutig geantwortet, zu viele Faktoren schienen eine Rolle gespielt zu haben, wenn es um die Psychologie von gewalttätigen Jugendlichen ging. Mittlerweile hat sich das geändert, denn die Medienforscher, die Psychologen können nun auf Ergebnisse einer harten naturwissenschaftlichen Disziplin zurückgreifen, auf Ergebnisse der Hirnforschung. Und die zeigt: Der Konsum aggressiver Filme wirkt sich ganz eindeutig negativ auf bestimmte Gedächtnisleistungen aus.

Genau dieser Aspekt steht auch im Mittelpunkt einer Studie, die Professor Christian Pfeiffer mit 23.000 Schulkindern durchgeführt hat. Pfeiffer ist Chef des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen und er wollte mit der Studie herausfinden, wie sich intensiver Medienkonsum auf die Schulleistungen auswirkt, wie er sich auf das Gehirn auswirkt.

Interview:

Herr Pfeiffer, wie hoch ist der Medienkonsum eines 14jährigen Hauptschülers pro Tag?

Wir müssen zwischen Jungen und Mädchen unterscheiden. Männliche Hauptschüler kommen auf 5 Stunden Medienkonsum, das beinhaltet sowohl Computerspiele als auch das Fernsehen. Bei Mädchen sind es zwei Stunden weniger.

Das ist ja ein ganz wichtiges Ergebnis im Rahmen Ihrer Studie, dass es bei Jungen quantitativ mehr Medienkonsum gibt als bei Mädchen.

Ja, eindeutig. Das fängt schon bei den 10-Jährigen an: Da beträgt der Unterschied eine Stunde, er wird allmählich größer bis zu den erwähnten zwei Stunden bei den 14-Jährigen, an den Wochenenden sind es gar drei Stunden.

Kann man dieses Ergebnis spezifizieren im Hinblick auf die Schulformen? Kann man sagen, dass der Medienkonsum z. B. bei Gymnasiasten geringer ist als bei gleichaltrigen Hauptschülern?

Das ist tatsächlich so. Am ausgeprägtesten ist extensiver Medienkonsum bei den Haupt- und Sonderschülern. Bei den Realschülern geht es einigermaßen, bei den Gymnasiasten verzeichnen wir halb so viel Medienkonsum wie bei den Hauptschülern.

Woran liegt das? Und warum gucken Jungen mehr fern als Mädchen?

Zunächst möchte ich einen ganz banalen Punkt erwähnen: Es haben deutlich mehr Jungen als Mädchen ein Fernsehgerät bzw. einen Computer im Zimmer. Das verführt natürlich zu mehr Konsum. Generell stellen wir fest, wer über eine eigene Spielkonsole verfügt, spielt doppelt bis drei Mal so viel wie jemand, der dazu erst ins Wohnzimmer gehen muss. Gleiches gilt für den Fernsehkonsum. Das heißt also, die Verfügbarkeit der Geräte ist ein entscheidender Grund. Die Mädchen sind in dieser Hinsicht generell weniger versorgt, vermutlich auch, weil sie die Eltern weniger bedrängen. Außerdem fällt uns auf, dass diese Unterschiede in den ausländischen Familien noch ausgeprägter sind. Da scheint eine gewisse Verwöhnung der Jungen eine Rolle zu spielen, sie werden großzügiger behandelt. Im Ergebnis wirkt sich das zu Gunsten der Mädchen aus.

Kommen wir zum springenden Punkt Ihrer Studie: Dieser Medienkonsum korreliert mit den Schulleistungen.

Zuerst einmal ist es spannend, dass wir riesige regionale Unterschiede haben, ähnlich wie in der PISA-Studie. Das deckt sich durchaus mit dem Thema, das Sie gerade ansprechen. Ich will das an einem Beispiel mit den Städten Dortmund und München verdeutlichen. 56 Prozent der 10-jährigen Dortmunder Schüler haben ein Fernsehgerät im Zimmer, in München sind es dagegen nur 22 Prozent. 42 Prozent der 10-Jährigen in Dortmund verfügen über eine Playstation in ihren Zimmern, in München 19 Prozent. Generell stellen wir ein Nord-Süd-Gefälle fest. Im Norden der Bundesrepublik besitzen viel häufiger schon Kinder in sehr jungen Jahren Fernsehgeräte bzw. Computer, in Ostdeutschland im übrigen auch. Zweiter Punkt: Ausländische Kinder haben wesentlich häufiger die Geräte in ihren Zimmer als deutsche Kinder (Fernsehen: 53 zu 31 bei den 10-Jährigen; Playstation: 44 zu 22). Interessanterweise finden sich diese Schnittlinien in der PISA-Studie wieder. Da zeigte sich doch, im Vergleich schneiden die Mädchen deutlich besser ab als die Jungen, die Süddeutschen besser als die Norddeutschen, die Deutschen besser als die Ausländer. Wir glauben, die bisherige Überlegung, woran das liegen mag, muss ergänzt werden. Vielleicht ist es ja gar nicht so sehr die Schulpolitik, die hier benannt wurde als die Quelle der süddeutschen Überlegenheit, sondern vielmehr die schlichte Tatsache, dass im Süden die Familien intakter sind, dass dort das Vereinsleben mehr blüht, dass die Kinder mehr Freizeitalternativen haben, dass es mehr beispielsweise Musikschulen gibt, die die Kinder wunderbar an sinnvolle Aktivitäten heranführen. Es gibt weniger Scheidungen in den Familien, weniger Stress durch Arbeitslosigkeit oder durch Armut, Sozialhilfe- bzw. Hartz IV-Empfang. Das alles könnten Ursachen sein, warum im Süden die Kinder soviel weniger Geräte in den Zimmern haben und deswegen nicht so leicht verführt werden.

Sie würden also prinzipiell sagen, dieses Gefälle: norddeutsche Schüler sind schlechter als Schüler aus Süddeutschland, hat mit dem Medienkonsum zu tun?

Eindeutig.

Mit dem unterschiedlichen Medienkonsum sind die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen bei der PISA-Studie auch erklärbar.

Ganz klar. Bei den 10-jährigen Schülern findet ja ein ganz spannender Leistungsnachweis statt, dann geht es nämlich um die Empfehlung, welche Schule ein Kind in der Zukunft besuchen soll. Unsere Untersuchungen belegen, dass die 10-jährigen Kinder, die einen eigenen Fernseher und eine Playstation auf dem Zimmer haben, nur halb so oft eine Empfehlung für das Gymnasium bekommen. Umgekehrt sind Gymnasiasten die Schüler, die ohne Gerät aufwachsen, von Ausnahmen abgesehen. Insgesamt decken sich diese Untersuchungsergebnisse mit dem, was Professor Robert Hancox aus Neuseeland in seiner faszinierenden, 23 Jahre dauernden Studie gezeigt hat. In seiner Studie ging es um die Frage, wie sich Fernsehkonsum auf die berufliche Karriere auswirkt.

Ich glaube, dass ist die einzige Studie, die über einen so langen Zeitraum lief?

Ja, in Amerika hat es auch eine gegeben, aber die von Robert Hancox ist besser gemacht. Jedenfalls hat er herausgefunden, dass erstens bei Hochbegabten - und das ist nicht weiter überraschend - Medienkonsum keine Auswirkungen hat. Sie besuchen ohnehin eine Universität, spezialisieren sich auf ein Fach und werden darin Spitzenkönner.

Egal, wie viel sie fernsehen in der Woche?

Ja. Die sind so schnell im Begreifen, dass ihnen das nichts ausmacht. Vielleicht mögen sie sozial ein bisschen verkümmern, wenn sie zuviel fernsehen und zu wenig mit anderen Kindern spielen. Darauf sollten Eltern sicherlich achten. Aber die schulischen Leistungen sind sicherlich nicht das Problem bei den Hochbegabten. Die zweite Gruppe, deren berufliches Fortkommen vom Medienkonsum wenig oder gar nicht beeinflusst wird, sind die Minderbegabten, also Menschen mit einem geringen IQ. Durch ihre Benachteiligung würden sie auch ohne Fernsehen nicht zur Universität kommen. Aber für die große Gruppe in der Mitte, sagt Hancox, für diese zwei Drittel der normal Begabten ist ganz entscheidend, dass sie wenig Zeit mit Fernsehen und Computerspielen verbringen. Hancox zeigt auf, dass diejenigen, die im Alter von 26 Jahren in ihrem Beruf attraktive aussichtsreiche Positionen bekleiden, in ihrer Kindheit wenig vor dem Fernseher gesessen sind. Umgekehrt, die Personen, die viel fern gesehen haben, müssen meist Vorlieb nehmen mit mittleren bis schlechteren Positionen.

Aber, Herr Pfeiffer, man könnte sagen, die Korrelation zwischen hohem Fernsehkonsum und schlechteren Schulleistungen ist völlig klar, denn je mehr man Fernsehen schaut, desto weniger setzt man sich hin und lernt.

Natürlich, erst mal haben Sie recht. Wenn die 14-jährigen Jungen zwei Stunden mehr mit ihren „Kisten“ verbringen als die Mädchen, dann haben die Mädchen einen Startvorteil, weil sie mehr Zeit zum Lernen haben. Natürlich nutzen sie sie auch zum Telefonieren mit der Freundin, zum Email-Verschicken usw. Trotzdem, es bleibt mehr Zeit für die Schule und dadurch lernen die Mädchen auch. Ich möchte noch eine kleine Randbemerkung anfügen: In München sind die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen in Bezug auf die Geräteausstattung am wenigsten ausgeprägt. Und tatsächlich ist München auch die einzige Stadt, in der sich keine signifikanten Leistungsunterschiede von Jungen und Mädchen in der Schule erkennen lassen. Die Schulempfehlungen für Hauptschule und Gymnasium waren fast identisch. Ganz im Gegensatz zu Dortmund: Da waren große Divergenzen: Mädchen hatten sehr viel weniger Fernsehapparate im Zimmer als die Jungen, und sie waren deutlich besser in der Schule. Aber ich komme wieder zurück auf den Zeitfaktor. Der alleine ist nicht nur entscheidend. In unserem Team arbeiten auch Neurobiologen, und sie sagen, die Qualität, also das, was man guckt, spielt auch eine Rolle. Mädchen bevorzugen Soaps. Die sind im Prinzip harmlos, sie kosten nur Zeit. Jungen mögen, je älter sie werden umso mehr, Bilder des Schreckens in ihren Computerspielen, Actionfilme, die extreme Brutalität beinhalten. Zwei Drittel der 12- bis 15-jährigen Jungen spielten am Tag unserer Befragung ein Computerspiel, das erst ab 18 Jahren freigegeben ist. Bei Mädchen waren es 14 Prozent. Die Jungen sahen im vergangenen halben Jahr sechs Filme, die ab 18 erlaubt waren, die Mädchen nur 2,8. Das sind große Unterschiede in der Qualität. Und das scheint der zweite Benachteiligungsfaktor zu sein.

Die Neurowissenschaften mausern sich so langsam zu einer Leitwissenschaft. Und in der Tat, gerade in Bezug auf den Medienkonsum oder auf psychologische Entwicklungen bei Kindern liefert diese Wissenschaftsrichtig ja viele neue Ergebnisse. Was ist für Sie das Interessante bei der Arbeit mit Neurobiologen?

Sie stoßen neue Fragen an, z. B. wie entsteht das Gedächtnis. Und sie sagen uns, durch Gefühle. Die Emotionen bestimmen, was wir uns bestens merken und was wir schnellstens vergessen. Entsetzliche Dinge behalten wir in Erinnerung. Zum Beispiel die Flugzeuge, die in die Twin Towers in New York geflogen sind am 11. September 2001. Das werden wir nie vergessen. Alle anderen Nachrichten an diesem Tag wissen wir nicht mehr, weil die Wucht der Bilder aus New York alles andere gewissermaßen verdrängt haben. Ich will gerne einen Test schildern, wie man das erforscht: Man setzt Menschen in ein Kino. Eine Gruppe schaut sich einen brutalen Actionfilm an, eine andere, identisch zusammengesetzte Gruppe einen netten Unterhaltungsfilm. Vor Beginn und während des Films werden Werbeeinblendungen gezeigt. Am Ende der Vorführung bekommt jede Testperson einen Fragebogen, in dem sie ankreuzen soll, welche Werbeeinblendung sie noch im Kopf hat. Es zeigt sich ganz klar: Die Menschen, die den Unterhaltungsfilm gesehen haben, konnten die Werbeausschnitte wesentlich besser erinnern. Woher kommt das? Die Kraft des Schreckens in einem Actionfilm, Brutalität, die unter die Haut geht, atemberaubende Kampfszenen packen den Zuschauer dermaßen, dass auch das, was vorher flüchtig im Kurzzeitgedächtnis gespeichert war, also z. B. die Werbung, schneller verdrängt wird. Ein Unterhaltungsfilm kann natürlich auch mal spannend sein und berühren, aber er erzeugt nicht so starke Gefühle. Das kann man messen am Körper. Und das machen die Neurobiologen. Was passiert im Hirn, wenn ein Gewaltfilm auf einen einströmt und man das aushalten muss? Frauen und Männer reagieren unterschiedlich. Bei Frauen wird ein Fluchtreiz ausgelöst, Männer zeigen geweitete Pupillen, sie sind gierig nach noch mehr Gewalt. Natürlich trifft das nicht auf alle zu, aber doch auf viele. Offenbar sind die unterschiedlichen Prägungen in der Reaktion auf Gewalt zwischen Frauen und Männern auch stark genetisch bedingt. Das Ergebnis der Neurobiologen ist, die Jungen sind viel gefährdeter, das im Kurzzeitgedächtnis vorläufig noch flüchtig gespeicherte Wissen wieder einzubüßen – es dauert ja etwa 12 bis 14 Stunden, bis sich Wissen in unserem Langzeitgedächtnis festgesetzt hat. In dieser Zeit kann viel passieren. Man hat vielleicht brav gelernt am Nachmittag, und dann geht die Mutter zum Einkaufen, der große Bruder ist nicht da, man holt sich heimlich dessen Videofilm und guckt ihn mit einem Freund an. Das, sagen die Neurobiologen, ist keine so gute Idee, besser hätte man Fußball gespielt, das ist nicht so gefährlich für das im Kurzzeitgedächtnis gespeicherte Wissen.

Spielen auch kognitive Elemente ein Rolle? Wir sprechen ja darüber, wie Wissen aufgenommen wird, wie es im Gedächtnis gespeichert wird, vor allen Dingen auch, wie es verknüpft wird mit anderen Wissensbestandteilen. Ist die Neurowissenschaft auch schon so weit, dass sie sagt, dass durch Rezeption von Gewaltfilmen auch dieses Andocken des neuen Wissens an alte Wissensstrukturen verhindert wird?

Das untersuchen unsere Kollegen um Herrn Professor Heinze und Herrn Professor Scheich (Universität Magdeburg) im Rahmen des von der Volkswagenstiftung geförderten Projektes. Ich bin selber gespannt, was sie uns erzählen. Aber das, was wir bisher hören von Herrn Heinze und Herrn Scheich, geht in die Richtung. Wir werden gemeinsam klüger werden im Laufe des Projekts und dann besser die Gründe dafür begreifen, was sich bei uns jetzt schon zeigt bei unserer Querschnittsanalyse, zu der wir mit Unterstützung der Lehrer 23.000 Schüler in Deutschland befragt haben, nämlich je mehr die Kinder fernsehen, umso höher das Risiko, dass sie schlechtere Noten bekommen. Analog gilt das auch für extensives Computerspielen.

Nehmen wir z. B. einen 10-Jährigen, der schon zwei Stunden am Tag Gewaltfilme anguckt. Aber er hat ein intaktes Elternhaus, und er hat, um ein viel diskutiertes Wort zu verwenden, Medienkompetenz. Also er weiß, dass die Filmszenen nicht real sind und dass das Blut aus Ketchup besteht. Was macht denn so eine stabile Persönlichkeit mit dem Medienkonsum?

Die kann das besser verkraften, gar keine Frage. Wir stellen ja fest, dass Kinder, die in einem Elternhaus aufwachsen, in dem es drunter und drüber geht, in dem die Eltern viel streiten und keine Sicherheit und Geborgenheit entsteht, viel eher Gefahr laufen, den Fernsehapparat als Tröster zu verwenden. Gleiches gilt übrigens für Kinder, die isoliert in ihrer Gruppe sind, die unglücklich sind, weil sie sich nicht integriert fühlen, auch sie flüchten sich gerne in die Fernsehwelt. Nur leider verstärken sich dadurch Isolationseffekte und das Kind wird noch unglücklicher. Man könnte also sagen: Vielseher neigen eher zum Unglücklichsein. Außerdem zeigt sich, Kinder, die mit ihren Eltern kommunizieren über das im Fernsehen Gesehene, verkraften die Bilder besser als die Kinder, die in ihrem Zimmer sitzen und da die Bilder allein aushalten müssen. Die Idee einer seelischen Hornhaut bewahrheitet sich nicht, man bleibt empfindlich, und es bleibt ein Vorgang, der die Kinder psychisch überlastet.

Sind Sie dennoch der Meinung, das alte Konzept der Medienkompetenz, also z. B. Reflektieren über die Bildsprache des Fernsehens, hat noch seine Gültigkeit?

Es hat seine Gültigkeit, das ist schon richtig. Aber es darf uns nicht dazu verführen zu glauben, dass der normale Jugendliche, wenn er so richtig „kompetent“ ist, wenn er einschätzen kann, wie Filme entstehen und was ihre Botschaften sind, dann ruhig drei Stunden gucken kann. Das ist nicht so. Der Zeitfaktor wird trotzdem zu Buche schlagen.

Haben Sie ihm Rahmen Ihrer Studie auch untersucht, wie Gewaltfilme auf das Verhalten von Jugendlichen wirken? Werden sie gewaltbereiter?

Wir haben den Jugendlichen „Macho“-Statements vorgelegt, z. B.: „Ein richtiger Kerl setzt sich bei Ungehorsam in der Familie auch mit Gewalt durch.“ Oder: „Ein richtiger Kerl kann seine Frau verprügeln, wenn sie fremdgeht.“ Oder: „Ein richtiger Kerl nimmt keine Beleidigung hin, sondern schlägt sofort zu.“ Usw. Die Jugendlichen konnten nachdrücklich zustimmen oder gar nicht. Danach haben wir untersucht, was bedingt eine Zustimmung zu solchen gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen. Wir haben herausgefunden, dass Actionfilme und Kampfspiele eine ganz große Rolle spielen. Jugendliche, die sich sehr stark auf diese Art von Medienkonsum einlassen und die gleichzeitig in ihrer Familie Probleme erlebt haben – das muss noch dazu kommen, also die Kopplung von innerfamiliärer Gewalt bzw. innerfamiliärem Stress -, die sind gefährdet. Zusammenfassend kann man also sagen: Am ehesten zu gewalttätigem Verhalten neigen männliche Jugendliche, die in hohem Maße gewalttätige Verhaltensnormen verinnerlicht haben, die darin auch nochmal durch gleichaltrige Freunde bestärkt werden, die ähnlich denken - die sogenannte Peer-Group, die Gruppe der Gleichaltrigen, spielt also eine Verstärkerrolle. Wenn diese Faktoren zusammenkommen, dann ist die Wahrscheinlichkeit von Gewalt erheblich höher. Jugendliche, die nie solche gewaltlegitimierenden Normen akzeptieren, sind nur zu 2,3 Prozent im Jahr vor der Befragung Mehrfachtäter der Gewalt gewesen. Jugendliche, die auf solche „Macho“-Aussagen stehen, haben zu 27 Prozent mindestens fünf Gewaltdelikte begangen. Das ist das 20-Fache! Gewalttätiges Verhalten resultiert aus einem anderen Wertesystem, das man aus entsprechenden Filmen übernimmt. Aber das gilt nur für die ohnehin bereits Gefährdeten.

Interessant ist auch, was die Neurowissenschaftler dazu sagen: Es gibt im Gehirn sogenannte Spiegelneuronen, die werden immer dann aktiv, wenn es um Handlung und Imitation von Handlungen geht. Bei der Rezeption von Gewaltfilmen bilden sich bestimmte neuronale Muster, die diese Gewalttaten beinhalten und die diese im Gehirn abbilden. Und in Konfliktsituationen besteht bei labilen Jugendlichen immer die Gefahr, dass diese Muster abgerufen werden. Das ist ja genau das, was Sie herausgefunden haben.

Richtig, und wenn man das alles so hört, muss man natürlich nach Gegenstrategien fragen. Aus meiner Sicht gibt es eine Antwort an den Staat und eine an die Familie. Ich beginne mit dem Staat: Unsere Kinder unterstehen größtenteils, zu 95 Prozent, einem Halbtagsschulsystem, d. h. um zwei Uhr nachmittags sitzen manche schon vor dem Fernseher oder der Spielkonsole. Die Gesamtzeit pro Jahr, die sie vor den Kisten verbringen, ist deutlich höher als die Gesamtzeit des Schulunterrichts. Wie absurd! Fernsehen und Computerspiele als Haupterzieher unserer Kinder? Das können wir nicht so stehen lassen. Besonders betroffen sind die sozial Benachteiligten, weil sie außerdem noch weniger mit guten Freizeitangeboten versorgt ist. Die Antwort muss deshalb lauten: Flächendeckend Ganztagsschule für alle, aber bitte nicht als Kinderverwahranstalt mit Suppenküche zwischendrin, sondern vormittags Unterricht und nachmittags nach einem guten Mittagessen, einer Pause und Erledigung der Schularbeiten, dann Lust auf Leben wecken. Sport, Musik in Partnerschaft mit Musikschulen, Kultur, Theater spielen usw.

Das gehört aber zum Teil noch in das Gebiet des Visionären.

Nein. Das gibt es überall in Europa, nur bei uns nicht.

In Baden-Württemberg findet, zumindest im Rahmen von G8, auch nachmittags Unterricht statt, aber es wird nicht das Leben gelehrt, sondern gepaukt.

Ja, und das ist schlecht. Nachmittags muss die Überschrift „Lust auf Leben“ lauten. Sicher kann man ausnahmsweise mal den Unterricht in den Nachmittag verschieben, aber die Regel darf das nicht sein. Die Kinder müssen nachmittags lustvoll in die Schule gehen. Und dann überträgt sich das auch auf ihr Wochenende. Sie sind dann so in eine Sportart reingewachsen, dass sie am Wochenende über den Verein, der in der Schule für sich Werbung machen darf, an Wettkampfspielen teilnehmen. Dieses Kind leidet nicht unter der Medienverwahrlosung. Darüber können wir uns dann einfach freuen. Eine Kooperation von Schulen und Vereinen ist für den Nachmittag angesagt, die muss sein. Zukunftsinvestition Jugend muss die zentrale Botschaft für die staatlichen Instanzen werden. Meine Antwort an die Eltern lautet: Ich kann Eltern nur davor warnen, ihrem Kind einen Fernsehapparat oder einen Computer ins Zimmer zu stellen. Es gibt zu wenige, die gut damit klar kommen. Ausnahmen finden wir natürlich auch. Das sind z. B. die Hochbegabten. Oder auch die Kinder, die schon wunderbar von ihren Eltern in das Leben integriert wurden, die z. B. leidenschaftlich ein Musikinstrument spielen oder Fußball spielen, die gute Freunde haben. Für sie ist die Versuchung nicht so groß, ihre Freizeit vor den Kisten zu verbringen. Aber die Mehrheit der Kinder ist gefährdet. Und deshalb lautet mein Ratschlag: Vor 12 keinen Fernsehapparat oder Computer ins Zimmer. Und den Konsum begrenzen. Bei den unter 12-Jährigen maximal eine Stunde pro Tag, maximal eine halbe Stunde Computerspielen. Und das ist schon großzügig. Bei den Älteren wird es ein bisschen mehr werden, aber die sind in der Regel dann auch schon souveräner und selbstbestimmter und kommen damit einigermaßen klar. Also: Verhindern, dass die Kinder stundenlang vor den Kisten hängen bleiben.

Ich höre jetzt schon die offenen liberalen Medienwissenschaftler in meinem Ohr, die sagen, also, Herr Pfeiffer, das ist doch viel zu rigoros. Kinder müssen doch lernen, mit Medien umzugehen. Warum sollen sie dann nicht einen eigenen Fernseher im Zimmer haben, wenn sie dazu angeleitet werden, kontrolliert damit umzugehen?

Das ist ein Märchen. Wir fragen ja die Kinder, ob ihre Eltern kontrollieren, was sie tun. 80 Prozent der Eltern kümmern sich nicht darum. Der sichere Weg, den Eltern ja begehen können, ist, dass sie Fernsehen und Computer in einem allgemein zugänglichen Raum des Hauses haben, wo sie selbst auch ständig rein- und rausgehen, ohne anzuklopfen, und wo das Kind immer damit rechnen muss, dass die Eltern mitbekommen, was es gerade am Computer macht. Das ist der Vorteil des Wohnzimmers. Natürlich sollen Kinder Medienkompetenz erwerben. Sie sollen ja nicht als Studenten zum ersten Mal einen eigenen Fernseher besitzen. Das ist richtig. Aber Kinder unter 10 oder 12 sind einfach noch überfordert, und es ist für mich völlig absurd, dass jedes vierte 6-jährige Kind in Deutschland einen eigenen Fernseher hat. In meinen Augen ist das Körperverletzung, wenn man die Auswirkungen betrachtet: Bewegungsarmut. Unsere Studien in Berlin, die wir nun seit 4 Jahren mit denselben Kindern betreiben und die noch weitere 4 Jahre andauern soll, belegen folgenden Zusammenhang: „Zuviel Fernsehen und Computerspielen macht dick, krank, dumm und traurig“. Für jeden dieser vier Punkte führen wir Messungen durch. Jedes Jahr messen wir das Körpergewicht, die Körpergröße, den psychischen Gesamtzustand, die Begabung, die Schulnoten usw. Wir werden sehen, wo wir landen.

Kann man sagen, dass wir im Rahmen der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse auch über das kindliche Gehirn und die Entwicklung des kindlichen Gehirns schon eine neue Radikalität und Rigorosität in die Debatte gekommen ist. Ich denke an Manfred Spitzer, Hirnforscher aus Ulm, der ähnliche Dinge wie Sie sagt. Gegenüber der Medienpädagogik der 70er- und 80er-Jahre, die immer so ein bisschen lieb und nett und unentschieden war, ist die Diskussion heute doch entschieden oder?

Es gibt Befunde, die uns, wenn wir unserer Verantwortung als Wissenschaftler gerecht werden wollen, schon veranlassen, klare Aussagen zu machen. Und die heißen ja durchaus, Ihr Eltern habt weiterhin die Verantwortung. Man muss nicht rigide nein sagen, es gibt ja Kinder, die kommen damit klar. Wenn man so eines hat, wunderbar. Das Hineinwachsen in den selbstständigen Umgang mit Fernseher und Computer kommt aber nicht von alleine, auch wenn beides im Wohnzimmer steht.

Kann man soweit gehen zu sagen, intensiver Fernsehkonsum von aggressiven Filmen, darüber sprechen wir ja, ist sogar gehirnschädigend?

Da warte ich ab, was unsere Neurobiologen am Ende des Forschungsprozesses sagen. Aber es ist zumindest schulleistungsmindernd. Das können wir jetzt schon belegen, wenn wir uns diese krassen Unterschiede anschauen zwischen den Kindern, die keinen eigenen Fernseher haben, und denen, die ein eigenes Gerät besitzen und dann zum Teil in einen extensiven Medienkonsum reinrutschen.


Die Fragen stellte Ralf Caspary.


*****

* Zum Autor:
Professor Christian Pfeiffer, geboren 1944, studierte Rechtswissenschaften und Sozialpsychologie in München und London. Er war nach dem Studium kurze Zeit als Rechtsreferendar an einem OLG und gleichzeitlich ehrenamtlich als Bewährungshelfer tätig. 1984 Promotion, 1985 Berufung auf eine C3-Professur und gleichzeitig Berufung zum stellvertretenden Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen; seit 1988 alleiniger Direktor. 2002 – 2003 war Pfeiffer Justizminister des Landes Niedersachsen. Er zählt zu den engagiertesten Kriminologen Deutschlands.
Forschungsschwerpunkte: Einfluss von Medienkonsum auf Kinder, Jugendkriminalität, Gewalt in Familien, Umgang der Medien mit Gewaltverbrechern

Matthias Eckoldt: Fernsehen unter der Lupe - McLuhans Medientheorie

SWR2 Wissen: Aula - 
Autor: Dr. Matthias Eckoldt *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 17. Juli 2011, 8.30 Uhr, SWR 2
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Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

ÜBERBLICK
Das Medium ist die Botschaft - so lautet eine zentrale Maxime des bis heute aktuell gebliebenen Medienwissenschaftlers Marshall McLuhan, dessen 100. Geburtstag im Juli gefeiert wird. Ohne ihn gäbe es keine moderne gesellschaftskritische Medientheorie, ohne ihn gäbe es keine tiefergehende Einsicht in Wirkung, Struktur und Funktion moderner Massenmedien. Dr. Matthias Eckoldt, Journalist, Medientheoretiker und Kommunikationswissenschaftler, stellt die wichtigsten Aspekte der Theorie von McLuhan vor.

* Zum Autor:
Dr. phil. Matthias Eckoldt, Jahrgang 1964, lehrt an der Berliner Freien Universität im Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaft. Er veröffentlichte zahlreiche Features, Essays und Hörspiele.
Arbeitsgebiete: Systemtheorie der Massenmedien, Machtanalytik moderner Gesellschaften, Konstruktivistische Paradigmen, Moralphilosophie
Buchauswahl:
- „Systemtheorie in den Fachwissenschaften: Zugänge, Methoden, Probleme“ (V & R Unipress GmbH 2011)
- „Wozu Tugend?“, zus. mit René Weiland (Aquinarte 2010)
- „Letzte Tage – Ein Boxerroman“ (Dittrich Verlag 2010)
– „TopIdioten – Erzählungen aus dem Reich der Verführung“ (Kulturverlag Kadmos 2008)
– „Medien der Macht – Macht der Medien“ (Kulturverlag Kadmos 2007)


INHALT
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Ansage:
Mit dem Thema: „Fernsehen unter der Lupe – McLuhans Medientheorie“.
Das Medium ist die Botschaft – dieser Satz hat Geschichte geschrieben, er wurde
zum Zauberspruch aller kritischen aufgeklärten Medientheoretiker – das Medium ist
die Botschaft, was soviel heißt wie: Medien bilden die Wirklichkeit nicht ab, Medien
informieren nicht über reale Sachverhalte, Medien bringen sich selbst an den Mann
oder die Frau, Medien bilden Medien ab.

Der Satz stammt vom Medientheorie-Guru Marshall McLuhan, ohne ihn gäbe es wohl
keine tiefergehenden Einsichten über Wirkung und Struktur moderner
Massenmedien. McLuhan wäre im Juli 2011 100 Jahre alt geworden, aus diesem
Anlass zeigt Matthias Eckoldt, selbst Medientheoretiker und Journalist, was das
genau heißt: „The Medium is the message“.
Matthias Eckoldt:
Ein junges Mädchen springt vom Küchentisch auf und konfrontiert die Eltern mit
ihrem Wunsch, unbedingt zu einem Musikfestival zu fahren. Doch die Eltern erlauben
es mit dem Verweis darauf, dass sie erst fünfzehn ist, nicht. Da beginnt das Mädchen
zu bitten und zu betteln. Als auch das keinen Erfolg zeitigt, fängt sie an zu
randalieren. Das heißt, sie versucht es, denn weder die Schubladen noch die
Schranktüren in der Küche lassen sich zuknallen. Ganz sanft werden sie
eingezogen, egal wie sehr das Mädchen auch ihre Wut an ihnen auszulassen sucht.
Für wie dumm halten die uns eigentlich, könnte man fragen, wenn man so einen Spot
sieht? Glauben die Werbefachleute tatsächlich, dass man eine Küche von dem
betreffenden Einrichtungshaus kauft, weil uns gezeigt wird, dass hier ein
pubertierender Teeny die Schubladen nicht mehr geräuschvoll zuwerfen kann? Die
Frage ist falsch gestellt, so hätte Marshall McLuhan, der kanadische Medienguru der
sechziger und siebziger Jahre, geantwortet. Für wie dumm, so hätte er vielleicht
formuliert, für wie dumm darf man Firmen halten, die Millionen für Werbespots
ausgeben, die für dumm gehalten werden?
Zwei Positionen. Die eine sucht die Dummheit beim Produzenten, endet nach kurzer
Empörung mit einem Kopfschütteln und setzt vielleicht noch trotzig hinzu: „Ich lasse
mich nicht von Werbung beeinflussen!“ Die andere, welche die Naivität eher auf der
Rezipientenseite vermutet, kommt nicht so rasch zu einem Ende. Hier beginnt mit der
Umformulierung der Frage eine ganze Theorie: die moderne Medientheorie, für die
der am 21. Juli 1911 im kanadischen Edmonton geborene Herbert Marshall McLuhan
bis heute eine Art Lichtgestalt ist.
Wie am Beispiel des Küchen-Werbespots deutlich wird, muss sich die Theoriebildung
von der inhaltliche Analyse eines Medienprodukts, die in der Regel nur
geschmäcklerische Reaktionen hervorruft, frei machen und eine andere,
überraschende Perspektive finden. Dafür brauchte es jemanden wie McLuhan, in
dessen Person ein gewaltiger Wissenshorizont mit einem intuitiven Gespür für das
Erfassen von Strukturen zusammentraf und der darüber hinaus einen Hang zur
Paranoia hatte. Seine Paranoia trug keine krankhaften Züge, sondern nahm lediglich
eine spezielle Art des Denkens vorweg, das Jahre später in der sogenannten
Postmoderne kultiviert wurde: Dabei ging es darum, alle möglichen und unmöglichen
Verbindungen zu sehen. Je ausgefallener und unwahrscheinlicher desto besser.
Erinnert sei hier an den französischen Machtanalytiker Michel Foucault, der die
Verfasstheit der modernen bürgerlichen Gesellschaft aus dem Umgang mit der Pest
im Mittelalter herleitete. Bei McLuhan findet sich bereits diese Denkfigur, sich mit
dem Offensichtlichen nicht nur nicht zufrieden zu geben, sondern es als
Täuschungsmanöver zu entlarven. So schüttelt man mit McLuhan rasch die Inhalte
ab und dringt in die Struktur der Medien ein.

Zurück zur Küche: Der Rezipient des Werbespots weiß sich selbst bei klarem
Verstand und wähnt sich immun gegen die Dummheit, die vom Schirm in sein
Wohnzimmer flimmert. Jeder weitere als dumm, absurd oder überzogen
wahrgenommene Spot steigert das Gefühl der eigenen Immunität. Allerdings gerät
dabei völlig aus dem Blick, dass Werbung hochselektiv funktioniert. Alle
Kaufanimationen sind auf genau definierte Kundenprofile zugeschnitten. Man kann
und soll so gut wie alle Werbespots als dumm abqualifizieren, damit man von jenen
wenigen, die für einen berechnet sind, umso sicherer erreicht wird. Denn niemand ist
anfälliger für einen Virus als der, der sich sowieso immun dagegen wähnt.
Die Werbung gibt unserer modernen Gesellschaft Selektionsunterricht und ersetzt
damit das, was in früheren Epochen „guter Geschmack“ hieß. Der ging zusammen
mit der Oberschicht verloren. Heute gibt es nur noch die Gleichwahrscheinlichkeit
verschiedenster Lebensentwürfe, die sich mit je spezifischen Accessoires ausstatten.
Zahllose Mischformen, Samplings, Cross-Overs, Patch-Works. Aber nirgendwo das
stilsichere Auge. Indem Werbung, bei dem, der sie sieht, Selektionen herausfordert,
versorgt sie, um es mit dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann zu sagen, Leute
ohne Geschmack mit Geschmack.
Der Inhalt eines Werbespots täuscht, wie für McLuhan der Inhalt eines jeden
Mediums, über die eigentliche Botschaft des Mediums hinweg. Und diese Botschaft
bezieht sich erstaunlicherweise auf sich selbst. Die Botschaft eines Mediums ist das
Medium. McLuhan formulierte das Skandalon, das der Medienwissenschaft seither
als Leit- und Zauberformel dient, erstmals in seinem 1964 erschienenen Buch
„Understanding media. The extension of man“: „The medium is the message!“,
schrieb er da: Das Medium ist die Botschaft.
Was soll das heißen? Erst einmal soviel: Wer nach dem Inhalt eines Mediums fragt,
um es zu analysieren, den hat das Medium bereits kassiert, der ist der perfiden
Taktik des Mediums schon auf den Leim gegangen wie die Trojaner einst dem
angeblichen Weihegeschenk des Odysseus. Der Inhalt eines Mediums ist tatsächlich
gut mit einem Trojanischen Pferd zu vergleichen, das die Aufmerksamkeit des
Betrachters auf sich zieht, während die Botschaft in seinem Bauch ins Innere des
Menschen vordringt – so wie die griechischen Krieger ins Innere Trojas. Und, um das
Bild auszureizen, geschieht das mit demselben Ziel: nämlich dem der Herrschaft.
Medien beherrschen den Menschen. Dieser vielleicht auf den ersten Blick noch
nachvollziehbare Gedanke wird von McLuhan überboten, wenn er demonstriert, dass
Medien genau das, was der Mensch zu sein glaubt, überhaupt erst hervorbringen.
McLuhan skizziert dieses aus humanistischer Sicht negative Menschenbild in seinem
Buch „Die Gutenberg Galaxis“ am Beispiel des Buchdrucks, in dem er den ersten
großen Mechanisierungsprozess sah. An die Stelle des Einzelexemplars der
Handschrift trat die gedruckte Vielzahl der Auflage. Die Überlegenheit des
Verfahrens überzeugte sofort. Während ein Schreiber im mittelalterlichen Skriptorium
etwa drei Jahre benötigte, um eine Bibel vollständig abzuschreiben, druckte
Gutenberg dank seiner Erfindung der beweglichen Lettern von 1451 bis 1454
einhundertachtzig identische Exemplare.

Nun heißt es im Sinne McLuhans sich nicht von den Inhalten ins Bockshorn jagen zu
lassen, mit denen sich seit Johannes Gutenberg Seite um Seite füllt, sondern das
Erscheinungsbild eben dieser Inhalte zu erfassen. Was sieht man, wenn man eine
Buchseite vor sich hat und sich nicht auf die Inhalte konzentriert? Ins Auge fallen
eine Fülle gleichförmiger typografischer Einheiten in Standardgröße, die
Standardseiten bilden, die sich ihrerseits zu Standardkapiteln ordnen und in
Standardbüchern zusammengefasst sind. Dieses typografische Prinzip dringt über
die Inhalte, die ihm als Trojanisches Pferd dienen, ins Auge des Lesers ein. Und der
Mensch beginnt im Zuge der Karriere des Buchdrucks seine Welt so zu sehen und zu
gestalten, wie es ihm das Medium des Buchdrucks vorschreibt: Die Welt wird in
kleinste Einheiten zerlegt, sie wird klassifiziert, analysiert, mit Zahlen versehen, mit
Indizes, mit Standardüberschriften und Titeln. Die Welt wird mit dem Heraufkommen
des Buchdrucks immer mehr zum Buch, weil die mediale Erfolgstechnologie den
Menschen die Welt nach dem Schema des Buchstabens geradezu zerhackstückeln
lässt und ihm in Form des Buches demonstriert, wie sie wieder zusammengesetzt
werden kann. Wahrnehmung geschieht im Gutenberg-Zeitalter nach Maßgabe der
Zerlegung der Welt gemäß des typografischen Prinzips. Das Medium selbst ist die
Botschaft.
Sucht man nach historischen Belegen für diese Sichtweise auf die Medien, wird man
schnell fündig. Bereits im ersten Jahrhundert nach Gutenberg beginnt mit Galilei das
Projekt der Mathematisierung der Natur. Die fallenden Steine bekommen Indizes, die
Kanonenkugeln fliegen durch den Buchstabenraum der gleichmäßigen Einheiten,
und Prinzipien werden Überschriften wie die des Fallgesetzes angeheftet.
„Ohne eine Technik, die danach strebt, Erfahrungen einem homogenisierenden
Prozess zu unterwerfen, kann es eine Gesellschaft kaum je zu einer Herrschaft über
die Naturkräfte bringen“, schreibt McLuhan. Diese Worte machen verständlich,
warum in McLuhans Logik die Alten Griechen – bei all ihrem für das gesamte
Abendland taktgebenden Gedankenreichtum – niemals auf die Idee gekommen sind,
Steine von einem Turm fallen zu lassen und ihre dabei gemachten Erfahrungen zu
einem entsprechenden Gesetz gerinnen zu lassen: Die Griechen hatten keinen
Buchdruck, sondern nur das phonetische Alphabet, in dem das einzelne Zeichen
bedeutungslos war. Und dementsprechend ging es in der antiken Weltwahrnehmung
weniger um die Physik des Einzelnen, als vielmehr um das Ganze, das sie hinter den
konkreten Erscheinungen vermuteten – die Metaphysik nämlich.
Von der Akropolis aus den Blick über Athen schweifen lassen und über das Gute,
das All-Eine meditieren, das kann sich nur jemand erlauben, dessen Hirn nicht nach
der präzisen Wiederholbarkeit der Zeichen getaktet ist. Nach Gutenberg bleibt keine
Zeit mehr für Kontemplation, jetzt muss die Welt vermessen werden, um sie
schließlich neu zusammen zu setzen – nach dem typographischen Maß. Das Maß
aller Dinge ist in der beginnenden Neuzeit nicht mehr der Mensch, sondern die
Typographie, die auch noch die entscheidende Technologie vorgibt, mit der die
Resultate des großen Vermessungsvorgangs der Welt in Wohlstand verwandelt
wurden: das Fließband.
Auch der auf den ersten Blick merkwürdige Umstand, dass es in der die Botschaft
des Mediums Buch realisierenden Industriegesellschaft einerseits Massenproduktion,
andererseits aber Individualismus gibt, lässt sich aus dem Buchdruck ableiten. Denn
Gutenberg schuf – so schreibt McLuhan – „das tragbare Buch, das die Menschen
privat und unter Ausschluss der anderen lesen konnten. Der Mensch konnte nun
inspirieren und konspirieren. Das gedruckte Buch trug viel zum neuen Kult des
Individualismus bei. Der persönliche, starre Standpunkt wurde möglich.“ So
sensibilisiert McLuhan noch für jene komplizierte Seelenlage unserer Tage, die der
von der Medientheorie inspirierte Philosoph Norbert Bolz auf den Begriff
„Konformismus des Andersseins“ gebracht hat. Kult ums Individuum bei gleichzeitig
massenhafter Verfügbarkeit der Individualisierungsmuster. Exklusive Möbel im
Kaufhaus, den Designeranzug von der Stange, Spezialisierungskurse vom
Arbeitsamt. Das Muster ist immer dasselbe. Und dahinter steht das große mediale
Paradigma: das Buch für die private Nutzung, das zugleich aber jeder lesen kann.
Nachdem der Buchdruck die Bedingungen der Möglichkeit menschlicher
Wahrnehmung festgelegt hatte, blieb dem Philosophen Immanuel Kant nichts
anderes übrig, als die Erkennbarkeit der Objektivität abzuwehren. Das Ding an sich
sei nicht wahrnehmbar, sondern wir erführen von der Realität immer nur zu den
Bedingungen von Raum und Zeit. Und das war der Raum, den Gutenberg mit seinen
beweglichen Lettern geschaffen hatte, der Raum, der durch die Fülle standardisierter
Zeichen entstand, und das war die Zeit, die durch die Wiederholbarkeit des
maschinellen Ablaufs, durch den Takt des Fließbandes vorgegeben wurde, ebenso
wie die Linearität des geregelten Nacheinanders der Zeichen. Und natürlich die
Denkstruktur der Kausalität: Wer „a“ druckt, muss „b“ drucken. Es war also wohl nicht
die reine und auch nicht die praktische Vernunft, die Kant analysierte, sondern die
typographische, die sich von seinem Projekt der Aufklärung bis in ihre Pervertierung
in den Registraturen der SS in den Konzentrationslagern fortsetzte.
Doch im zwanzigsten Jahrhundert klingen nach McLuhan all diese Phänomene nach
und nach ab. Sie werden zu Relikten einer versinkenden Epoche, da sich die
Zivilisation am Ende der Gutenberg-Galaxis befindet. Das soll nicht heißen, dass es
keine Bücher mehr gibt. Zu keiner Zeit wurden so viele Bücher gedruckt wie in der,
die das Ende des Buches proklamiert. Einhundertfünfzigtausend neue Bücher zur
Frankfurter Buchmesse. Tendenz steigend. An einem einzigen Tag wird derzeit mehr
gedruckt als in der gesamten Zeit zwischen Gutenberg und dem Ersten Weltkrieg.
Aber das Buch als Leitmedium unserer westlichen Kultur hat ausgedient. Es wird
beerbt von den elektronischen Medien, die McLuhan die elektrischen Medien nannte.
Und das heißt: Die menschlichen Wahrnehmungsstrukturen verändern sich erneut
dramatisch. „Wir sind nicht mehr fähig, Stück für Stück, Schritt um Schritt lineare
Abfolgen zu entwickeln, weil die augenblickliche Kommunikation dafür sorgt, dass
sich gleichzeitig alle Umwelt- und Erfahrungsfaktoren im Zustand aktiver
Wechselwirkung befinden.“, schreibt McLuhan.
Die typographische Vernunft wird durch die elektronischen Medien abgeschafft. Zeit
und Linearität kollabieren im elektrischen Signal, das mit der, wie Einstein wusste,
zeitüberbrückenden Lichtgeschwindigkeit übertragen wird, und so überall zugleich
sein kann. Und der Raum hat in eben jenem „überall“, um es zugespitzt zu sagen,
keinen Platz mehr. Was ist mir meine unmittelbare Umgebung, wenn ich medial
zugleich in allen nur denkbaren anderen Welten sein kann? Eine Simulation,
antwortet der französische Medientheoretiker Jean Baudrillard. Alles, was der Fall ist,
wird durch den elektrischen Impuls zur Simulation, zum Nichtgegenständlichen.
Ohne Gegenstände aber gibt es auch keinen Raum.

Den Raum kann es nach McLuhan im Post-Gutenberg-Zeitalter schon aus dem
Grund nicht mehr geben, weil der Mensch ohnehin nur noch sich selbst wahrnimmt.
Denn die elektrische Schaltungstechnik erweitert unser Zentralnervensystem, so
seine These. Dieser Gedanke wird eingängig, wenn man sich vor Augen führt, dass
es die evolutionäre Idee eben jenes Zentralnervensystems war, im Körper eine
Instanz zu schaffen, die diesen Körper als Außenwelt erfährt. Das
Zentralnervensystem des Menschen bildet nämlich den gesamten Körper auf der
Großhirnrinde ab und schafft so eine Simulation des Körpers im Inneren seiner
selbst: von den Augen über die Ohren bis zum großen Zeh. Das ist unmittelbar
einleuchtend, denn anderenfalls könnten wir unseren Körper nicht als Außenwelt
erfahren, hätten vielleicht nicht einmal den Begriff des Auges oder des Ohres in
unserer Sprache.
„The inside is out and the outside is in”, wie die Beatles, selbst bekennende
McLuhanisten, sangen. Im Inneren des Körpers, im Zentralnervensystem, ist das
Äußere dieses Körpers vorhanden. Und natürlich vice versa: Das
Zentralnervensystem ist zugleich außen, um den Körper, den es reflektiert,
abzutasten. Das ergibt eine in der Eigenfrequenz schwingende Resonanz-Struktur,
die von Fernsehen, Radio und Internet nicht einfach nur angeregt, sondern erweitert
wird. Das Zentralnervensystem des Menschen überzieht aufgrund seiner Erweiterung
letztlich die gesamte moderne, elektrisch medialisierte Welt.
Anders als beim Buchdruck, wo nur der Augensinn beansprucht wurde, klinken sich
die elektrischen Medien nicht nur in einen der Sinne ein, sondern erfassen die
Grundstruktur menschlicher Wahrnehmung selbst: das Zentralnervensystem.
Elektrische Medien wirken nach McLuhan taktil, worunter er nicht eine Reduktion auf
den Tastsinn verstanden wissen wollte, sondern die dynamische Einheit aller
Empfindungen verstand. Der ganze Mensch wird beteiligt am elektrischen
Mediensystem. Das – und nicht der Inhalt – ist die Botschaft von Medien wie dem
Fernsehen.
Das Fernsehen vermag es zugleich, Balsam auf die Wunden der narzisstischen
Kränkungen zu träufeln, die das Buchzeitalter dem Menschen zugefügt hat. Es fing ja
schon eine Generation nach Gutenberg an, als Kopernikus den Menschen aus dem
Mittelpunkt der Welt verdrängte. Kaum hatte man sich davon erholt, wurde der
Mensch ein zweites Mal aus dem Zentrum gerückt, als Kant ihm durch die
Formulierung der Bedingtheit allen Erkennens die sicher geglaubte Objektivität
nahm. Darwin machte den einstigen Göttersohn schließlich zum Tier, und Freud
markierte durch seine Erfindung des Unbewussten das Ende aller Träume vom
selbstbestimmten Individuum, denn, so hieß es nun, das Ich sei gar nicht Herr im
eigenen Hause. Und nach dem großen Epochenbruch 1989 kam Hegels These vom
Ende der Geschichte zu ihrem Recht, und die Hoffnungen des Menschen, wenn
schon nicht sein Ich, so zumindest die Gesellschaft durchgreifend gestalten zu
können, mussten begraben werden.
Doch das Fernsehen versteht es, die wunde Seele des entmündigten Menschen zu
heilen. Denn hier kann sich nach McLuhan das Auge beim Sehen zusehen. Es kann
sehen, wie es selber sieht. Das Auge begegnet im Fernsehen seiner eigenen
objektivierten Gestalt. Und an diesem Sehen des Sehens vergnügt sich das Auge.

Hier empfindet der Sehsinn Lust. Dasselbe geschieht dem Ohr. Es hört sich selbst
beim Hören zu und ist davon höchst entzückt. Auge und Ohr erfahren in den neuen
Medien eine narzisstische Selbsterregung, die es im von den Mediennutzern oft
beklagten Effekt so schwer macht auszuschalten. Der finale Druck auf die rote Taste
der Fernbedienung wird nicht aus inhaltlichen Gründen hinausgeschoben. Wäre dem
so, müsste man angesichts der täglichen Quotensieger einem ganzen Volk komplette
geistige Verwahrlosung unterstellen.
Die Sinne werden nicht von den Inhalten erfasst, sondern sie erregen sich an ihrem
eigenen Gebrauch. Hier schlägt McLuhan eine zwar pur spekulative, dennoch sehr
erhellende Verbindung zur griechischen Mythologie: Dem Nutzer der elektronischen
Medien ergeht es wie dem Narziss im Mythos, der von Aphrodite bestraft, sich in sein
eigenes Spiegelbild verliebt. Narziss leitet sich mit gutem Grund von „narkosis“ ab. Er
wird durch die Ausweitung seiner selbst narkotisiert, so wie wir durch die Ausweitung
unserer Sinne betäubt werden, der wir im Fern-sehen zu-sehen. Wir lassen uns
fesseln wie Narziss von seinem Spiegelbild und wie dieser in der Quelle sein Antlitz
haben wir Mühe, unsere eigenen Sinne auf dem Bildschirm wiederzuerkennen. Wir
müssen, wie auch Narziss, immer wieder hinschauen, wir werden süchtig nach uns
selbst.
Körperausweitungen durch Medien bezeichnet McLuhan auch als Amputationen.
Und so sehen wir unserem Zentralnervensystem, verstanden als Integration aller
Sinne, beim Funktionieren zu, aber wir erkennen es nicht, denn, so McLuhan:
„Selbstamputation schließt Selbsterkenntnis aus!“ Ohne zu wissen, wer wir sind und
wem wir zuschauen, können wir uns nur an die Inhalte halten, die auch den
elektronischen Medien als Trojanisches Pferd dienen. In seinem Bauch ist die
Botschaft des Mediums verborgen. Und die heißt: gnadenlose Beteiligung der
Gesamtpersönlichkeit am Mediensystem durch die Selbsterregung der Sinne.
Der Weimarer Medientheoretiker Bernhard Siegert hat darauf aufmerksam gemacht,
dass es für diese autoerotische Konstellation eine sehr treffende Illustration gibt. Sie
findet sich in dem 1967 unter dem Titel “The medium is the Massage” verlegten
Verkaufsschlager von McLuhan. Dort sind zwei übereinandergeschlagene, in
Netzstrümpfe gehüllte Frauenbeine zu sehen. Daneben steht der Satz: „Wenn
Information mit Information in Berührung kommt.“
Der Netzstrumpf, so die Interpretation, macht das Bein überhaupt erst zum
Frauenbein. Durch den Netzstrumpf wird das Frauenbein zur Verführung für das
Auge, das nicht das Frauenbein selbst sehen möchte, sondern den Netzstrumpf, der
das Bein hervorbringt. Und Medien sind wie jene Netzstrümpfe. Sie haben denselben
fetischistischen Charakter. Ein Fetisch schafft Ersatz für etwas, das gar nicht
existiert. Ersatz für einen Mangel. Der Schuhfetischist erregt sich an high heels, die
ihm die Sexualpartnerin ersetzen. Eine Sexualpartnerin, die es gar nicht geben kann.
Denn wäre sie anwesend, wäre die Erotik der high heels fort.
Die Informationen aus den Medien wirken auf uns wie die high heels, wie die
Netzstrümpfe auf den Fetischisten. Sie erotisieren uns, weil sie den Ersatz darstellen
für eine Welt, die nicht existiert. Diese Welt werden wir so wenig sehen, wie der
Fetischist die Angebetete, da die Medien unseren Sinnen immer schon das von
ihnen geschaffene Bild von dieser Welt und nicht die Welt selbst zu sehen erlauben.

Die Medien setzen die Bedingungen fest, zu denen Weltwahrnehmung stattfindet.
Sie füttern uns mit Informationen wie der Trieb den Fetischisten mit erotisierenden
Objekten. Wiederum macht sich das Medium selbst zur Botschaft. The medium is the
message. Elektronische Medien haben einen so rasanten Siegeszug angetreten, weil
die Lust ihrer Benutzung der Lust des Fetischisten gleichkommt, der sich an high
heels, Netzstrümpfen oder anderem delektiert. In diesem Sinn ist die Aussage zu
verstehen, dass Medien Institutionen der Verführung sind.
Die Coda im ideensprühenden Gedankengebäude des erzkatholischen McLuhan
stammt aus apokalyptischen Denkfiguren. Apokalypse heißt eigentlich Enthüllung.
Und in der Bibel ist immer an die Offenbarung einer wunderbaren Zukunft gedacht,
wenn von Apokalypse geredet wird. Dass dem die Zerstörung des irdischen
Jammertals vorausgeht, wird nicht nur als undramatisch, sondern als befreiend
empfunden. Indem nun die elektronischen Medien die Gutenberg-Galaxis kollabieren
lassen, enthüllen sie etwas Neues: Das Global Village. Die moderne
Mediengesellschaft schließt nach McLuhan nicht an die hochzivilisierte
Industriegesellschaft an, sondern findet Verwandtschaft in der vor-alphabetischen
Stammeskultur. Die moderne Welt wird mit dem Leitmedium Fernsehen zum
globalen Dorf.
Die Welt, die wir gestern noch zu kennen glaubten, gibt es schon nicht mehr. Alles ist
in Veränderung begriffen, seit wir uns in den elektronischen Medien selbst erregen.
Die Welt schrumpft zum Dorf, die Zeit wird bedeutungslos, weil alles gleichzeitig
geschieht. Keine Linearität mehr, keine Kausalität, keine Serialität. Alles, was wir
kannten aus der Gutenberg-Galaxis, löst sich auf. Aber fürchtet Euch nicht, so ruft
uns McLuhan als Orakel des elektronischen Zeitalters zu, nach dem Jüngsten
Gericht geht es weiter. Und zwar auf Erden. Freundlicher und fröhlicher – in unserem
Global Village.
Als Marshall McLuhan Silvester 1980 an den Folgen eines Hirntumors starb, war es
noch nicht offensichtlich, dass das Internet seine Prophezeiungen bald in sehr
realem Lichte erscheinen lassen würde. Zehn Jahre später begann durch die
Möglichkeit der Übermittlung von Multimedia-Dateien der Siegeszug des Internets als
Medium. Innerhalb von fünf Jahren entwickelte sich das world wide web von einer
Insider-Technologie zum Standard-Accessoire vieler Haushaltes in der westlichen
Welt, die zum Global Village wurde. Wohl nicht zufällig hat der Begriff der Community
mit dem Aufstieg des Internets eine gewaltige Konjunktur erlebt. Täglich entstehen
neue Stammesgemeinschaften in den Chat-Räumen des world wide web.
Das Internet bricht radikaler als Fernsehen und Radio, die zumindest noch an die
Welt des Buchdrucks erinnern, weil sie wiederholbare Programmschienen kennen,
mit jeder Zeitstruktur. Hier gibt es nur noch Gleichzeitigkeit verschiedenster Text-,
Bild-, und Ton-Informationen. Und auch der Raum schmilzt mit den digitalen
Simulationen ein. Die Bewegungsart im Internet ist das Surfen. Und Surfen ist eine
Bewegung, der es um die Bewegung selbst, nicht um den Raumgewinn geht. Die
Botschaft des Mediums Internet heißt einfach: oben auf der Welle sein.
Sucht man nach einer sozialen Organisationsform des elektronisch medialisierten,
sich via Medien selbst erregenden Menschenschlages, so wird man am Phänomen
des Single-Dasein nicht vorbeikommen. Ein lebenslanges Provisorium. Keine
Verbindlichkeit, dafür aber eine enorme Breite der Wahlmöglichkeiten, an denen man
entlangsurft. Beweg Dich! Sei verbunden! Kommuniziere! Geschwindigkeit um ihrer
selbst willen, die im zeitfreien Unraum der Gegenwart explodiert. Vorne ist dort, wo
sich keiner auskennt. Die Zukunft ist ungewiss. Sicher ist nur: Wer verweilt, stürzt
von der Welle ab. Die von der neuen Weltwahrnehmung im Zeichen der Autoerotik
und radikalen Gleichzeitigkeit erzeugte soziale Unruhe lässt die traditionellen
Familienstrukturen aufbrechen. Die herkömmliche Monogamie wird abgelöst von der
seriellen Polygamie. Im Lebensverlauf wechselnde Partner gehören heutzutage zum
Schicksal einer Biografie. Sie sind das Tribut an den sich in Zeiten der elektronischen
Medien gewaltig aufgeblähten Möglichkeitshorizont. Insofern ist die eingangs
beschriebene Familie mit beiden Elternteilen und Kind am Küchentisch im Werbespot
des weltweit operierenden Einrichtungshauses eher ein Auslaufmodell.
Über Marshall McLuhan reden die, die ihn kannten, nur in Superlativen: Er war der
geistige Komet Kanadas, das Orakel des elektronischen Zeitalters, ein Geistesriese,
er war ein Scharlatan, ein Spinner, er war der Medienguru, von dem John Lennon
ebenso fasziniert war wie Bob Dylan. Verehrung und Hass für die Person Marshall
McLuhan hatten denselben Ursprung. Denn er beschäftigte sich zu einer Zeit mit den
modernen Medien, als es noch eine strikte Trennung zwischen Hoch- und
Niederkultur, zwischen Wissenschaft und Pop, zwischen Ernstem und
Unterhaltendem wie zwischen Kunst und Trash gab. Grenzen, die schließlich durch
die Protestbewegung Ende der Sechziger Jahre niedergerissen wurden. Und jene,
die sich von diesen Grenzen bereits Jahre vorher beengt fühlten, waren begeistert
von der Radikalität McLuhans, mit der er sich dem Studium der elektronischen
Massenmedien verschrieb. Die anderen aber sahen in ihm einen Nestbeschmutzer,
weil er die Trivialität des Fernsehens in den Elfenbeinturm universitärer Forschung
holte. Doch auch über diesen Umstand hinaus gibt es unter streng
wissenschaftlichen Kriterien sicherlich einige berechtigte Einwände gegen McLuhan.
Beispielsweise benutzt er einen zu weiten Medienbegriff, da er Medium mit Technik
gleichsetzt. Dieser Begriff wird in seinen eher essayistischen Schriften zunehmend
unscharf, da McLuhan mit der ihm eigenen Chuzpe das Rad wie auch das Alphabet
und die Schrift und den Buchdruck unter diesem einen Begriff zusammenfasst.
Bei aller Kritik ist aber unbestreitbar, dass Herbert Marshall McLuhan mit seinen
radikalen Thesen die moderne Medientheorie wenn nicht begründet, so zumindest
entscheidend beflügelt hat. Bis heute ist sein Diktum „The medium is the message“
und der damit einhergehende Perspektivwechsel für die theoretische Untersuchung
von Medienvorgängen unhintergehbar. In der Hoffnung, dass sich im Hörfunk neben
dem Medium hin und wieder auch Inhalte zur Botschaft machen können, wünsche
ich Ihnen, liebe Hörer, einen gehaltvollen Sonntag.
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