Professor Stefan Sell: Arbeitsloser trifft auf Manager . Das Elend der Jobcenter

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SWR2 AULA – 
Autor und Sprecher: Professor Stefan Sell *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 10. Oktober 2010, 8.30 Uhr,SWR 2
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ÜBERBLICK
In Jobcentern sitzen sogenannte Fallmanager und Vermittler, die Arbeitslosen dabei helfen sollen, einen neuen Job zu finden. Die meisten Beschäftigten dieser Center kommen aus der Agentur für Arbeit, viele stammen im Rahmen der Amtshilfe aus der Post, der Bahn oder der Telekom, also aus ehemaligen Staatsbetrieben. Und das deutet schon auf ein gravierendes Problem hin: Viele Fallmanager haben wenig Ahnung von den Fällen, die sie da bearbeiten müssen. Doch das ist nur eine Fehlkonstruktion. Weitere listet Stefan Sell auf, Professor für Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik an der FH Koblenz/Remagen.

* Zum Autor:
Stefan Sell ist seit März 1999 Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der FH Koblenz, Standort Remagen, und Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik der FH Koblenz.
Sell absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Krankenpfleger, ab 1983 besuchte er dann die gymnasiale Oberstufe der Städtischen Gesamtschule in Essen; nach dem Abitur und dem Zivildienst studierte er Sozialwissenschaft in Bochum; Abschluss: Dipl.-Sozialwissenschaftler. 1994 war Sell Leiter des Arbeitsamtes Tübingen, 1995 Promotion zum Dr. rer. soc., 1996 bis 1999 war Sell Professor für Wirtschaftswissenschaft und Arbeitsmarktpolitik an der FH des Bundes für Öffentliche Verwaltung in Mannheim.
Veröffentlichungen des Autors zum Thema (Auswahl):
(2010): Jobcenter: Dauerbaustelle wird legal, in: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Heft 6/2010, S. 352-353
(2010): Die Verfahrensflut durch „Hartz IV“ als Menetekel für die Sozialgerichtsbarkeit oder: Von dem Dilemma eines nicht-einlösbaren Lösungsversprechens durch das Sozialrecht und dem Anspruch des Einzelnen auf Rechtsprechung, Remagener Beiträge zur aktuellen Sozialpolitik 07-2010, Remagen, Juni 2010

INHALT
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Ansage:
Sie haben keinen Job und beziehen Arbeitslosengeld II? Dann sind Sie im Jobcenter richtig, beziehungsweise Sie müssen dorthin, um wieder Arbeit zu bekommen, so ganz richtig sind Sie da nicht, denn es geht dort irgendwie drunter und drüber. Zwar gibt es für alle möglichen Tätigkeiten und Funktionen schöne neue Wörter wie Fallmanager, Bedarfsgemeinschaft oder ARGE, die täuschen aber nicht darüber hinweg, dass es viele Probleme gibt. Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik an der FH Koblenz/Remagen. In der SWR2 Aula beschreibt er das Elend der Jobcenter.

Stefan Sell: Das heutige Thema kreist um eine überaus eigenartige Behörde, bei der es sich – um mit den Worten einer Teamleiterin im Jobcenter von Berlin-Neukölln zu sprechen – um einen Außenposten am sozialstaatlichen Rand des Landes zu handeln scheint: Zitat: „Wir sind hier die letzte Verteidigungslinie des Sozialstaates“, sagt sie. „Nach uns kommt nichts mehr.“ Bei den leidenschaftlichen Cineasten unter den Hörern mag eine solche Formulierung sofort bildliche Assoziationen hervorrufen wie die Szenerie in dem epochalen Antikriegsfilm Apocalypse Now von Francis Ford Coppola, in dem die Hauptfigur Captain Willard die letzten Außenposten der US-Army an der Do-Lung-Brücke passiert, wo nur noch Chaos und Verzweiflung vorherrschen und der letzte Rest an militärischer Disziplin in Auflösung begriffen ist. Für die Hörer, die es weniger allegorisch, sondern lieber ganz praktisch mögen, sei hier aus einem interessanten Artikel von Cornelia Schmergal über die Jobcenter als gegängelte Institution zitiert: „Murat hat ein Problem. Und dieses Problem heißt Mama. Mama macht die Tür nicht auf, seit Wochen schon. Sie hat das Schloss ausgetauscht, weil sie von Murat nichts mehr wissen will. Hinter der Tür aber steht Murats Computer. Und auf dessen Festplatte schlummern all die Bewerbungsbriefe, die Murat so gern abgeschickt hätte, wenn er nur könnte. Sagt Murat. Und vermutlich liegen irgendwo in Mamas Wohnung auch die Einladungen zu den letzten beiden Terminen im Jobcenter, die er verpasst hat. Sagt Murat. … Ein ganz normaler Tag in einem Büro im Jobcenter Berlin-Neukölln. Außer Murat erscheinen an diesem Tag: ein Teenager mit Playboy-Käppi, der nicht zugeben will, dass er die Hauptschule geschmissen hat, und behauptet, er habe sämtliche Zeugnisse verloren; ein Mann aus Südeuropa, der unbedingt im Callcenter arbeiten möchte, aber so wenig Deutsch spricht, dass er auch das Wort Warteschleife nicht kennt; … und eine Exprostituierte, die erst gar keinen Job sucht, weil keine Tagesmutter ihr Baby betreuen will“. Wenn wir über Jobcenter sprechen, dann hilft der Blick auf einige wenige Zahlen, die verdeutlichen können, dass wir hier mit Existenzfragen von mehr als 6,8 Millionen Menschen konfrontiert sind, die sich derzeit als hilfebedürftige Personen in der Grundsicherung – landläufig immer noch als „Hartz IV“ bezeichnet – befinden. Diese 6,8 Millionen Menschen leben in 3,6 Millionen so genannten „Bedarfsgemeinschaften“ – auch so ein Begriff aus der neuen „Hartz IV-Sprache“. Bezieht man die 6,8 Millionen Hilfeempfänger auf die Bevölkerung, dann sind derzeit 10,5 % aller Menschen unter 65 Jahre im Hartz IV-Bezug. Würde man nur die Gruppe der Kinder in einem Alter unter 15 Jahren betrachten, dann hat man es hier mit einer Quote von gut 16 % zu tun. Derzeit leben mehr als 2 Millionen Kinder unter 15 Jahren in Hartz IV-Haushalten und von den Leistungen, die hier gewährt werden. Wobei das alles Durchschnittswerte sind, die zuweilen mehr zu- als aufdecken. Schaut man beispielsweise in die Bundeshauptstadt Berlin, dann wird man dort mit einer ganz anderen Hartz IV-Realität konfrontiert, denn hier befinden sich gegenwärtig 150.000 Kinder unter 15 Jahren im Hartz IV-Bezug – das sind 40 % aller in Berlin lebenden Kinder in diesem Alter.
Bereits diese wenigen Daten können zeigen, dass wir uns hier im Zentrum dessen befinden, was den Sozialstaat in Deutschland – oder sagen wir besser: die über Jahrzehnte gewachsene Vorstellung der meisten Menschen davon – seit 2005 so schwer erschüttert hat. „Hartz IV“ ist neben der alltäglichen Realität für Millionen Menschen auch zu einem angstbesetzten Symbol, zu einem Bild geworden, was mit einem passieren kann, wenn man aus den Sicherheiten einer ausreichend vergüteten Erwerbstätigkeit herausfällt oder gar nicht erst in einer solchen Fuß fassen kann. Allein vor diesem Hintergrund ist alles, was mit Hartz IV verbunden ist, höchst umstritten und die ganze Debatte ist stark. Insofern kann es nicht wirklich überraschen, dass auch die Behörden, die sich um die Hartz IV-Empfänger kümmern sollen, immer wieder in das Zentrum einer kritischen Wahrnehmung und Berichterstattung rücken. Aber um die Jobcenter mit dem, was sie leisten und was nicht, verstehen zu können, müssen wir einen kurzen Blick zurück in das Jahr 2002 werfen. Am Anfang des Jahres 2002 wurden Politik und Medien von dem so genannten „Vermittlungsskandal“ der damaligen Bundesanstalt für Arbeit aufgewühlt. Dabei ging es um die der Öffentlichkeit zugängig gemachten Erkenntnisse, dass ein Teil der von den Arbeitsämtern ausgewiesenen Vermittlungen von Arbeitslosen in Arbeit wohl nur auf dem Papier stattgefunden hatten. Die einen warfen der Bundesanstalt für Arbeit eine bewusste Manipulation der Zahlen vor, andere Stimmen verwiesen darauf, dass das „kreative Buchen“ von Vermittlungen in der Logik eines gerade von der Politik vorgegebenen Systems der großen Zahlen, an denen man seine Erfolge festmacht, wurzelt. Der Apparat habe halt die Zahlen geliefert, die das System braucht. Unabhängig von dem konkreten Tatbestand des richtigen oder falschen Zählens wurde im Umfeld der aufgeregten Debatte über die Bundesanstalt für Arbeit für eine breitere Öffentlichkeit erstmals erfahrbar, dass innerhalb der Arbeitsverwaltung nur eine kleine Minderheit des Personals mit der Arbeitsvermittlung im engeren Sinne beschäftigt war. Die Politik reagierte dem damaligen Zeitgeist entsprechend, indem der Bundeskanzler Schröder eine Kommission beauftragte, Vorschläge zu entwickeln, die zu einer Reform der staatlichen Arbeitsvermittlung führen sollten. Das war die Geburtsstunde der nach ihrem Vorsitzenden Peter Hartz, dem damaligen Personalvorstand des Volkswagenkonzerns, benannten „Hartz-Kommission“, die eigentlich korrekt Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ hieß. Die im August des Jahres 2002 veröffentlichten Vorschläge der Kommission, die von ihrem Vorsitzenden Peter Hartz ganz unbescheiden als eine Art „Bibel“ für eine neue Arbeitsmarktpolitik eingeordnet wurden, blieben der breiteren Öffentlichkeit vor allem durch die ebenfalls von Hartz in Aussicht gestellte „Halbierung der Arbeitslosigkeit“ innerhalb von drei Jahren in Erinnerung. Viele der im Bericht dieser Kommission in einer typischen Unternehmensberatersprache mit zahlreichen blumigen Begriffstoupets wie z. B. – besonders pikant – familienfreundliche „Quick-Vermittlung“ oder andere terminologische Kuriositäten haben entweder nie das Licht des wahren Lebens erblickt oder sind mittlerweile wieder eingestampft worden. Auf der anderen Seite wurde mit der Forderung, die damals getrennten Leistungen
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu einer Leistung – dem „Arbeitslosengeld II“ – zusammenzulegen, ein Beitrag geleistet zu einer der größten Sozialreformen, die die Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen erlebt hat und die dann am 1. Januar 2005 auch in Kraft getreten ist und seitdem die politische Diskussion nicht mehr loslässt. Aber nicht nur die Einführung von Arbeitslosengeld II als neue Grundsicherungsleistung gehört zu den tatsächlich realisierten Vorschlägen der Kommission, sondern auch der Umbau der damaligen Arbeitsämter zu Jobcentern. Zumindest teilweise. In ihrem Abschlussbericht hatte die Kommission noch scheinbar einfach zu Protokoll gegeben: Die bisherigen Arbeitsämter werden flächendeckend zu Jobcentern umgebaut, in denen alle arbeitsmarkt-relevanten Dienstleistungen – einschließlich kommunaler Leistungen wie der Schuldner- oder Suchtberatung – integriert werden sollen. „Dienstleistungen aus einer Hand“ und das „unter einem Dach“ – so kann man am besten die Philosophie dieses grundlegenden Umbauvorschlags zusammenfassen. Damit sprach die Kommission durchaus zu Recht ein damals als Problem identifiziertes Nebeneinander von Arbeits- und Sozialämtern an, das mit den neuen Jobcentern beseitigt werden sollte. Alle erwerbsfähigen Menschen sollten sich nur noch mit einer Anlaufstelle auseinandersetzen, von der man sich zugleich aufgrund des Vorhaltens aller wichtigen arbeitsmarktbezogenen Dienstleistungen eine weitaus schnellere Vermittlung in eine Erwerbstätigkeit als bisher erhoffte. Um es an dieser Stelle deutlich hervorzuheben: Die Hartz-Kommission hatte eine einfache Vorstellung von einem einheitlichen Jobcenter für alle. Letztendlich sollte das unter der Verantwortung und Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit, wie die Arbeitsverwaltung nun genannt wurde, laufen. Soweit die Theorie – die allerdings nicht mit der Wirkkraft zum einen des politischen Parteienstreits wie auch des deutschen Föderalismus gerechnet hatte. Denn der an und für sich plausible Ansatz der Dienstleistungen aus einer Hand und das am besten unter einem Dach wurde im Zuge der gesetzgeberischen Umsetzung in mehrfacher Hinsicht geschreddert: Während die damalige rot-grüne Bundesregierung die Empfehlungen der Hartz-Kommission tatsächlich dergestalt umsetzen wollte, dass die Bundesagentur für Arbeit für die Jobcenter zuständig werden sollte, opponierten dagegen vor allem die Bundesländer sowie die Union und die FDP, damals in der Opposition, die statt dessen auf das Kommunalisierungsmodell setzten. Nach ihrer Auffassung sollten die Kommunen die Grundsicherungsempfänger betreuen und für sie zuständig sein und nicht die Arbeitsämter. Bekanntlich gibt es im deutschen föderalen Blockadegeflecht zwischen Bundestag und Bundesrat die Institution des Vermittlungsausschusses, in dem nicht selten zu den merkwürdigsten Uhrzeiten Kompromisslösungen formuliert werden, die wohl dem Hunger und der Müdigkeit der Verhandlungspartner geschuldet sind. So war es auch damals, als im Vermittlungsausschuss angesichts des Grundsatzstreits zwischen Zentralisierung versus Dezentralisierung aus dem Entweder-Oder ein Sowohl-als-auch wurde. Man einigte sich darauf, dass es beide zusammen machen sollten in einer eigenen Nicht-Behörde, den Arbeitsgemeinschaften oder auch
ARGEn genannt. Nicht-Behörde deshalb, weil die dort arbeitenden Personen entweder von der Bundesagentur oder von der Kommune gleichsam ausgeliehen wurden für eine Tätigkeit in den Jobcentern, aber weiterhin bei ihren Herkunftsbehörden beschäftigt blieben. Dieses Mischmodell wurde dann fortgeführt bis in die Leitungen der Jobcenter, die keine echte Dienstherreneigenschaften bekamen und die sich aus Vertretern der Bundesagentur und der Kommunen zusammensetzen. Je nach Herkunft der Beschäftigten wurden diese für die gleiche Tätigkeit ganz unterschiedlich vergütet und mit dem Anstieg der Hartz IV-Empfängerzahlen 2005 und 2006 wurden immer mehr befristete Beschäftigte aus teilweise völlig sachfremden Bereichen rekrutiert, so z. B. überzählige Beschäftigte der Post und der Telekom. Der Vermittlungsausschuss kam den Kommunalisierungsbefürwortern entgegen und auf besonderen Druck des damaligen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch wurde als Abweichung zum Modell der Arbeitsgemeinschaften von Bundesagentur und Kommunen die Möglichkeit für eine alleinige kommunale Aufgabenwahrnehmung bei der Betreuung der Grundsicherungsempfänger in so genannten Optionskommunen eröffnet. Im Gesetz wurde diese abweichende Regelung in Form einer Experimentierklausel verankert. Das heißt, die als Ausnahme möglich gewordenen Optionskommunen sollten in einen Systemwettbewerb um die bessere Eingliederung der Arbeitslosen mit den Arbeitsgemeinschaften eintreten und nach einiger Zeit sollte dann – so die hehre Absicht – wissenschaftlich untersucht werden, wer es denn besser kann. Interessant und kurios zugleich ist die Genese der zulässigen Zahl an Abweichungen vom Regelmodell der ARGEn. Auch das musste festgelegt werden. Herausgekommen sind dann 69 Landkreise bzw. kreisfreie Städte, die von dieser Möglichkeit der alleinigen Aufgabenwahrnehmung Gebrauch machen konnten. Und wie ist am auf diese Anzahl gekommen? Man hat schlichtweg in der entscheidenden Sitzung des Vermittlungsausschusses die Anzahl der Stimmen im Bundesrat, die alle Bundesländer zusammen auf die Waage bringen, herangezogen. Das sind eben genau 69. Schon etwas skurril. Als wenn das nicht schon kompliziert genug war, kam nun noch eine dritte Variante der Aufgabenwahrnehmung im Hartz IV-Bereich hinzu, die im Gesetz gar nicht vorgesehen war und ist die getrennte Aufgabenwahrnehmung. In 23 Gebietskörperschaften konnte oder wollte man sich nicht auf einen Kooperationsvertrag mit der Bundesagentur verständigen und dann hat man einfach weitergemacht wie bisher, die Kommunen mit ihren Sozialämtern und die Bundesagentur mit ihren Arbeitsagenturen. Der aufmerksame Hörer wird sich spätestens an dieser Stelle daran erinnern, dass das eigentliche Ziel der Hartz-Kommission doch eine Vereinfachung und Zusammenlegung bislang getrennter Bereiche in Form von Jobcentern gewesen war, wir nun aber am Ende des Gesetzgebungsprozesses die erheiternd-erschreckende Situation bekommen haben, dass die Zuständigkeit für die betroffenen Menschen nunmehr noch komplizierter wurde als vorher und noch mehr Schnittstellen
entstanden, an die vorher gar keiner gedacht hat. Aber irgendwie scheint es hier eine strukturelle Ähnlichkeit zu geben zu dem vergleichbaren Widerspruch von angekündigten Vereinfachungen im deutschen Steuerrecht und gleichzeitiger weiterer Zunahme der Regelungs- und Ausnahmekomplexität des tatsächlichen Steuerrechts. Diese irritierende Parallelität von Bierdeckelillusion im Reden und mehrtausendteiliges Puzzlespiel im Handeln, wie wir es im Steuerrecht kennen, kann man auch in der Arbeitsmarktpolitik beobachten, in der eigentlich so wenig wie möglich standardisiert vorgegeben werden soll, um die Menschen individuell behandeln zu können, gleichzeitig aber zahlreiche und immer ausdifferenziertere Programme und Anweisungen ausgegeben werden, um die Vielfalt der unterschiedlichen Leistungen abbilden zu können. Der vielleicht wichtigste Unterschied zu den einfach-gestrickten Vorstellungen der Hartz-Kommission über die Jobcenter war die von der Kommission gar nicht beabsichtigte Trennung in – bitte ausdrücklich mit Anführungszeichen zu verstehen – „gute“ und „schlechte“ Arbeitslose. Die „guten“ Arbeitslosen sind die Arbeitslosen, die Anspruch auf die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I haben. Sie sind meist erst kurz arbeitslos und werden weiterhin von den Arbeitsagenturen betreut, die tatsächlich in den Jahren bis zum Durchschlagen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf Deutschland in der zweiten Jahreshälfte 2008 deutliche Erfolge beim Abbau der Arbeitslosigkeit in diesem Bereich erzielen konnten. Die „schlechten“ Arbeitslosen mit Blick auf die Eingliederungserfolge hingegen waren im Hartz- IV-System mit der bedürftigkeitsabhängigen Grundsicherungsleistung Arbeitslosengeld II konzentriert und wurden und werden dort von Behörden betreut und verwaltet, die gerade in den ersten Jahren nach 2005 massive Anlaufschwierigkeiten hatten, weil sie nämlich – das wird heute häufig vergessen – gleichsam über Nacht aus dem Boden gestampft werden mussten und ohne eine Übungssequenz ab dem 1. Januar 2005 Millionen von Menschen in einem Grundsicherungssystem zu betreuen hatten, das zugleich auf einer neuen völlig neuen gesetzlichen Grundlage – dem Sozialgesetzbuch II – aufbaute, die man sich auch noch zu eigen machen musste. Während die Bundesagentur für Arbeit also durchaus Erfolge erzielte bei den „normalen“ Arbeitslosen im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit, hatten die Jobcenter für die Hartz IV-Empfänger auch noch mit vielen Fällen zu tun, bei denen sich die zerstörerischen Wirkungen lang andauernder Arbeitslosigkeit zeigen. Diese auch institutionelle Trennung in Versicherungs- und Fürsorge-Arbeitslose hat dann am Anfang schnell zu gleichsam perversen Folgen für die betroffenen Menschen geführt. Wenn beispielsweise die Arbeitsagentur einen Arbeitslosen aufgrund seiner individuellen Merkmale zu einem „Betreuungskunden“ typisiert hat, der eigentlich aufgrund seiner schlechten Wiedereingliederungsprognose einer besonderen Förderung und Unterstützung bedarf, dann hat man nicht selten aus einer institutionenegoistischen Sicht sogar nachvollziehbar gerade nichts mehr getan, da die betroffene Person mit hoher Wahrscheinlichkeit in das Hartz IV-System überwechselt und z. B. eine längere Qualifizierungsmaßnahme, die sehr teuer wäre, nicht mehr zu einer Integration in Arbeit vor dem Ende der Bezugszeit des
Arbeitslosengeldes I geführt hätte. So ließ man viele dieser Menschen einfach in der Warteschleife des Versicherungssystems hängen und im Hartz IV-System musste dann nicht nur wieder von vorne angefangen werden, sondern man hatte auch wertvolle Zeit vergeudet, statt frühzeitig mit gezielten Hilfen die Perspektiven zu verbessern. Unter sehr widrigen Bedingungen haben also die Jobcenter ihre Arbeit 2005 aufgenommen. Bereits im Dezember 2007 kam dann der Paukenschlag: Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Jobcenter in der Form der Arbeitsgemeinschaften von Bundesagentur und Kommunen für verfassungswidrig, auch wenn dieses Urteil keineswegs einstimmig gefällt wurde. Die Entscheidung des Gerichts beinhaltete die Aufforderung an den Gesetzgeber, bis Ende 2010 eine Neuregelung herbeizuführen. Die Richtermehrheit des Gerichts störte sich an der Vermischung der Bundesagentur und der Kommunen in einer Mischeinrichtung, die nach dem Grundgesetz nicht vorgesehen ist. Sie führten aus, dass eine anzustrebende Dienstleistung aus einer Hand auch dadurch erreicht werden könne, dass man entweder den Weg einer bundeseigenen Verwaltung geht (das wäre also das ursprüngliche Arbeitsamtsmodell) oder aber den Bundesländern diese Aufgabe überträgt, die das dann wiederum an ihre Kommunen delegieren können (was also das alte Kommunalisierungsmodell gewesen wäre). Sehr schnell waren sich allerdings viele Akteure in Praxis und Politik darüber einig, dass man die Aufgabenwahrnehmung in gemeinschaftlicher Form beibehalten wollte, und man verständigte sich auf eine Grundgesetzänderung, um das Urteil auf diesem Wege zu entkräften. Nachdem man sich nach langen Verhandlungen in der großen Koalition und mit den Bundesländern dann auf eine Nachfolgeeinrichtung für die ARGEn einigen konnte, die sinnigerweise ZAG – Zentren für Arbeit und Grundsicherung – heißen und parallel die 69 vorhandenen Optionskommunen dauerhaft entfristet werden sollten, blockierte auf einmal die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die dafür notwendige Grundgesetzänderung und behielt auch nach der Bundestagswahl 2009 diese ablehnende Haltung bei. Das bedeutete aber, dass aufgrund der fehlenden Verfassungsänderung zum Jahresende 2010 die ARGEn aufgelöst werden müssten. Können Sie sich vorstellen, unter welchem enormen Druck die in den Jobcentern beschäftigten Menschen seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gestanden haben? Erst seit dem Frühjahr 2010 ist für sie klar, dass es im Prinzip weitergehen kann, denn nach einem Proteststurm aus der Praxis angesichts der bevorstehenden Auflösung der Jobcenter hat sich die Politik dann doch noch auf eine Grundgesetzänderung verständigen können – sozusagen eine Abbremsung mit quietschenden Reifen vor dem endgültigen Aus. Zwei Jahre lang hatten sie nicht gewusst, wie es nun weitergeht und viele haben angesichts der andauernden Unsicherheit das Weite gesucht und die Jobcenter verlassen. Dass das häufig besonders die guten Kräfte waren, kann man sich wohl vorstellen. Im vergangenen Jahr berichteten Geschäftsführer von Jobcentern über Fluktuationsraten von bis zu 30 % in ihrem Personalkörper und gleichzeitig hatten viele Beschäftigte lediglich mehrfach verlängerte befristete Arbeitsverträge. In manchen Abteilungen – die sich z. B. mit der hoch komplexen Berechnung des
Hilfebedarfs beschäftigen – arbeitet mehr als die Hälfte der Belegschaft seit weniger als einem Jahr in diesem Bereich. Aber nicht nur die Beschäftigten der Jobcenter mussten leiden – auch und gerade die, denen der ganze Aufwand gilt, also die betroffenen Hartz IV-Empfänger, hatten die Folgen auszubaden, beispielsweise durch ständig wechselnde Ansprechpartner oder durch das Durchschlagen der schlechten Stimmung auf den unmittelbaren Kundenkontakt. Es muss an dieser Stelle besonders darauf hingewiesen werden, dass die Kunden – so nennt man heute die Hilfeempfänger in den Jobcentern – in der schwierigsten und schlechtesten Position sind, denn sie haben schlichtweg keine Wahl. Zugleich müssen sie aber zahlreiche und zuweilen auch fragwürdige Auflagen erledigen, um Eigenaktivitäten nachzuweisen oder zu simulieren, oder sie werden in mehr oder weniger sinnvolle Maßnahmen gesteckt und sie können sich dagegen nicht wehren, weil sie ansonsten Sanktionen bis hin zur Einstellung der Grundsicherungsleistungen erfahren. Wir haben es mit einer ausgesprochen asymmetrischen Beziehung zwischen dem Hartz IV-Empfänger und seinem Fallmanager und/oder Vermittler zu tun. Schauen wir an dieser Stelle auf das, was man als eine „Klageflut“ im Hartz IV-Bereich bezeichnen muss: Waren es 2005 erst 39.000 Klagen vor den Sozialgerichten, so belief sich diese Zahl im Jahr 2009 schon auf fast 143.000 – das ist ein Anstieg um 370 %. Interessant ist dabei auch die Entwicklung der „Erfolgsquote“ aus Sicht der klagenden Menschen: Die Erfolgsquote der Kläger stieg von 32 % im Jahr 2005 auf fast 50 % im vergangenen Jahr. Jede zweite Klage ist also erfolgreich gewesen zugunsten der Kläger. Aus der hohen Anzahl an (dann auch noch erfolgreichen) Klagen schlussfolgern viele, dass in den Grundsicherungsstellen erheblich fehlerhaft gearbeitet wird. Allerdings sind die tatsächlich „beeindruckend“ hohen Werte fairerweise wieder zu relativieren, wenn man sie auf die für sie relevante Grundgesamtheit bezieht, denn im Jahr 2009 wurden rund 25 Millionen Bescheide im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende erstellt und verschickt.
Die Kölner Juristin Helga Spindler kommt in diesem Zusammenhang zu der folgenden Einschätzung: „Noch existieren Sozialgerichte, die sich bemühen, individuellen Rechtsschutz zu garantieren. Aber ihre Inanspruchnahme übersteigt schon lange das normale Maß, das bei einer Rechtsänderung zur Klärung von Zweifelsfragen notwendig ist. Schlecht ausgebildete und gewollt unerreichbare Sachbearbeiter, unleserliche und rechtswidrige Bescheide, fehlerhafte Software, überlange Verfahrensdauer und zögerliche Beachtung der Rechtsprechung bestimmen die Verwaltungspraxis in einem solchen Ausmaß, dass sowohl Betroffene als auch Sozialberater und Gerichte aufgerieben werden. Der Plan, Gerichtsgebühren einzuführen, zeigt bereits, wie das Problem behoben werden soll.“
Aber vielleicht wird ja nun alles besser, weil doch die Dienstleistung aus einer Hand durch die Grundgesetzänderung stabilisiert worden ist und man nunmehr keine ständige Infragestellung der eigenen Existenz mehr befürchten muss. Wie immer gilt es in solchen Kontexten dringend, vor Euphorie zu warnen. Die gefundene Lösung ist weiter unbefriedigend, denn man schreibt nun auf Dauer die mehrfach gespaltene Struktur der Arbeitslosenbetreuung in Deutschland fort. Neben den ARGEn kann es in Zukunft nicht nur die bereits vorhandenen 69 Optionskommunen weiter und auf Dauer geben, sondern als ein Ergebnis der wie auf einem türkischen Basar ausgehandelten Grundgesetzänderung wurde die Anzahl der Optionskommunen nochmals kräftig ausgeweitet und nunmehr auf 110 festgelegt. Damit wird fast ein Viertel aller Einrichtungen zukünftig alleine von den Kommunen betrieben und im Ergebnis wird – neben der Spaltung in „gute“ und „schlechte“ Arbeitslose, also zwischen dem Versicherungssystem und dem bedürftigkeitsabhängigen Grundsicherungssystem – nun innerhalb des Hartz-IV-System – auch noch eine dauerhafte Spaltung zwischen dem ARGE-Modell und dem Optionsmodell geben. Das ist nicht wirklich überzeugend.
Was wäre zu tun – und zwar mit Blick auf eine Verbesserung der gegenwärtigen Lage, sowohl für die betroffenen Hilfeempfänger wie auch für die oftmals völlig überforderten Mitarbeiter in den Jobcentern? Der eigentliche Interventionspunkt ist die Qualifikation und die Professionalität des Personals in den Grundsicherungsstellen. Aber hier hat sich bislang leider am wenigstens getan, obgleich alle die Notwendigkeit und den enormen Bedarf zugestehen.
Dies ist ein klassischer Fall von Politikversagen und die Sozialgerichte werden die Folgen einer flächendeckend fehlenden systematischen Personalentwicklung weiter ausbaden müssen. Es kann doch nicht wirklich wahr sein, dass in den meisten anderen Bereichen der personenbezogenen sozialen Dienstleistungen seit Jahren zu Recht über eine Anhebung des Qualifikationsniveaus diskutiert und gestritten wird – man nehme nur als aktuellstes Beispiel die Teilakademisierung der frühpädagogischen Fachkräfte für die Arbeit in Kindertageseinrichtungen – und dass in den meisten Feldern der sozialen Arbeit selbstverständlich eine einschlägige Qualifikation auf Hochschulniveau vorausgesetzt wird – aber die Fallmanager in den Grundsicherungsstellen, die teilweise als völlig fachfremde Seiteneinsteiger rekrutiert wurden und werden, können nach einer selbstgestrickten Schulung im Umfang einiger Tage dann existenzielle Entscheidungen über Menschen treffen, die ihnen ausgeliefert sind.
An dieser Stelle wäre übrigens der Hinweis angebracht, dass die Gewährung eines einmaligen Abwahlrechts für die Hilfeempfänger ungemein viel Druck aus dem Kessel nehmen würde, denn es gibt Menschen, mit denen man einfach nicht auskommt und allein die Möglichkeit, den Fallmanager zu wechseln, würde als große Entlastung wirken können.
Sowohl mit Blick auf die Beschäftigten wie auch hinsichtlich einer wirksamen Arbeit für die Hartz-IV-Empfänger müssen die Arbeitsinhalte vom Kopf auf die Füße gestellt werden.
Was ist damit gemeint? Gegenwärtig dominiert immer noch eine primär negative Herangehensweise an die Aufgabe, die Hilfeempfänger in Arbeit zu bringen. Man analysiert ihre Defizite und man versucht, angeblich arbeitsunwillige oder nicht kooperationswillige Personen aus dem Leistungsbezug zu drängen.
Wenn beispielsweise jüngere Hilfeempfänger sofort nach der Antragstellung in eine möglichst wenig attraktive Maßnahme gesteckt werden und sich dann 20 oder 30 % von ihnen aus dem Leistungsbezug verabschieden, dann wird das als ein großer Erfolg gefeiert. Das mag aus einer kurzsichtigen und betriebswirtschaftlichen Perspektive auch so sein. Aber kaum einer stellt die Frage, wo diese Menschen bleiben, wie sie sich das Geld für ihr Leben besorgen und ob sie dann nicht doch wieder sogleich an anderen Anlegestellen des Sozialsystems aufschlagen. Hierzu gibt es so gut wie keine Forschung.
Stattdessen sollten sich die Vermittler und Fallmanager ganz bewusst auf die vielen konzentrieren, die dringend Hilfe suchen und die auch bereit sind, sich auf dem Arbeitsmarkt zu engagieren. Hier müssen die knappen Ressourcen gezielt eingesetzt werden, denn die Vermittlung dieser Menschen würde unter dem Strich der Gesellschaft weitaus mehr bringen als das Aufspüren und Verfolgen einzelner missbräuchlicher Inanspruchnahmen, die es immer schon gegeben hat und die es immer geben wird.
Letztendlich haben wir mit Blick auf die Jobcenter eine ähnliche Problematik, wie wir sie auch aus der bildungspolitischen Debatte kennen: Auch dort diskutiert man mit Herz und zuweilen ohne Verstand Strukturfragen die Schulen betreffend und die Bundesländer fummeln munter an ihren Systemen herum. Aber aus der Bildungsforschung – und wenn wir ehrlich sind auch aus dem gesunden Menschenverstand heraus – wissen wir, dass die entscheidende Größe für Qualitätsverbesserungen die Unterrichtsqualität in der konkreten Lehr-Lern-Beziehung zwischen den Lehrern und den Schülern ist. Und die hängt maßgeblich von den dort agierenden Menschen ab. Genauso verhält es sich in und um die Jobcenter auch.
In die Menschen investieren bekommt hier eine doppelte Bedeutung.