Wilhelm Vossenkuhl: Das Animal rationale I; Willensfreiheit ade II; Gemeinnutz geht vor Eigennutz III

SWR2 Wissen - Aula - Wilhelm Vossenkuhl: Das Animal rationale I; Willensfreiheit ade II; Gemeinnutz geht vor Eigennutz III
Aus der Reihe: Das Wesen des Menschen
Autor und Sprecher: Prof. Wilhelm Vossenkuhl *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 24. Dezember 2006, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichenGenehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

* Zum Autor:
Wilhelm Vossenkuhl, geboren 1945, studierte Philosophie, Neuere Geschichte und Politikwissenschaft in München. 1972 Promotion zum Dr. phil. an der Universität München;1980 Habilitation. Seit 1993 hat Vossenkuhl den Lehrstuhl für Philosophie 1 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München inne.
Schwerpunkte: Praktische Philosophie und Handlungstheorie, Grundlagen der
Ethik, Philosophie der Sozialwissenschaften.

Buchauswahl:
- Philosophie für die Westentasche. Piper-Verlag.
- Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21. Jahrhundert. Beck-Verlag.
- Ludwig Wittgenstein. Becksche Reihe Denker.
- Stammzellenforschung und therapeutisches Klonen (zusammen m. Oduncu u.a.). Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.

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SWR2 Wissen - Aula - Wilhelm Vossenkuhl: „Das animal rationale – was ist der Mensch“.
Aus der Reihe: Das Wesen des Menschen (1)
Sendung am Sonntag, 24.12.2006, 08.30 bis 9.00 Uhr


ÜBERBLICK 1

Philosophen und Theologen haben seit der Antike über das Wesen des Menschen nachgedacht. Als dessen Kern erkannte etwa Plato die unsterbliche Seele, Aristoteles die Sozialnatur, die sich vor allem durch und in der Sprache zeigt. Im Mittelalter wurden diese Konzepte durch die Lehre von der Vernunftnatur des Menschen und von der Person als einer Substanz vertieft. Selbst Immanuel Kant versucht noch, die Einheit der Person in seiner Ethik zu retten.

Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der Universität in München, beschreibt im ersten Teil seiner Reihe die Kernpunkte dieses traditionellen Menschenbildes, das heute noch unser Denken und Handeln zu bestimmen scheint.

INHALT I
Ansage:

Heute mit dem Thema: „Das animal rationale – was ist der Mensch“.

Wir beginnen heute in der SWR2 AULA eine dreiteilige Reihe über unser Menschenbild oder, wir sollten besser sagen, über die Menschenbilder. Denn es gibt allein schon in unserem Kulturbereich eine Vielzahl von Traditionen, Motiven, Hypothesen, die diese Definition maßgeblich bestimmen. In der Aufklärung etwa wurde der Mensch in erster Linie als ein vernünftiges freies und autonomes Wesen betrachtet, die emotionalen Aspekte wurden vernachlässigt. In der Romantik wurde der Mensch wiederum primär über seine poetische Schöpfungskraft definiert, die garantierte – so die These etwa von Friedrich Schlegel – seine Gottähnlichkeit. Und heute, also im Jahr 2006, hat sich die Hirnforschung in diesen philosophischen Bereich hineingedrängt, sie begreift den Menschen als einen neuronalen Bioautomaten, der den Impulsen seiner Nervenzellen folgt, von Freiheit im metaphysischen Sinne ist keine Spur mehr.

Wilhelm Vossenkuhl ist Professor für Philosophie an der LMU in München, und er ist der Fachmann für die Frage: Was ist eigentlich der Mensch, worin besteht sein Wesen? Im ersten Teil reist Vossenkuhl in die Antike, zu Sokrates und Platon, dann ins Mittelalter und schließlich in die Epoche der Aufklärung, zu Kant und zu seiner Theorie der menschlichen Autonomie.

Wilhelm Vossenkuhl:

Was ist der Mensch? Wer sind wir selbst? Sind wir als Personen Einheiten, oder sind wir quasi gesplittet, bestehen wir aus verschiedenen Teilen? Wie identifizieren wir uns selbst? All diese Fragen sind nicht neu. Sie werden seit der Antike zumindest in den Texten, die uns überliefert sind, gestellt und sie haben immer wieder andere Antworten.

Aber warum diese Fragen heute, warum jetzt? Wer sind wir selbst – heute? Was ist der Mensch – heute?

Es gibt viele Gründe, diese Frage nach der Identität, nach dem Wesen zu stellen, denn in jeder Epoche, in jeder Generation vielleicht sogar, musste die Frage gestellt werden, weil es Gefährdungen für die Einheit, für die Identität des Menschen gab.

Aber zunächst einmal: Warum ist das überhaupt eine philosophische und nicht eine naturwissenschaftliche Frage? Das ist natürlich auch ein naturwissenschaftliches Thema, und das ist ja gerade das Irritierende, dass nicht nur eine, sondern viele Naturwissenschaften und auch die Sozialwissenschaften, die Politikwissenschaft, also viele Wissenschaften dieser Frage nachgehen. Und es erstaunt überhaupt nicht, dass diese Wissenschaften allesamt verschiedene Antworten haben.

Die Philosophie kann mit den Wissenschaften nicht konkurrieren. Sie schafft keine eigenen, wissenschaftlich nachprüfbaren Ergebnisse, sondern sie versucht Vergewisserungen, Gedankengänge zu liefern, anhand derer man sehen kann, wie die Frage überhaupt zu verstehen ist: Welche Probleme gibt es, wie sind sie lösbar, wie können wir uns Lösungen denken. Das ist die philosophische Aufgabe. Aber sie geht noch weit darüber hinaus in Richtungen, die für die Wissenschaften so nicht erschließbar sind. Es gibt vor allem vier, fünf, sechs verschiedene Probleme, die uns heute auf den Nägeln brennen, wenn es um die Frage „Was ist der Mensch“ geht.

Das erste können wir das Freiheitsproblem nennen. Was bedeutet das? Die moderne Hirnforschung hat festgestellt, dass unsere Hirnteile oder auch das Gehirn insgesamt Leistungen erbringt, die etwas mit dem zu tun haben, was wir an körperlichen Bewegungen vollziehen. Und diese Leistungen finden statt, bevor wir überhaupt wollen, dass wir uns bewegen. Das Freiheitsproblem bei diesen Einsichten besteht nun darin, dass die Hirnforscher uns sagen, Freiheit sei eine Illusion, also etwas, was wir uns einbilden, was aber nicht tatsächlich existiert, wenn wir eine Handlung ausführen, wird die eben nicht vom bewussten Willen gesteuert.

Ein ganz anderes Problem ist mit der Frage verbunden, wie wird das menschliche Leben geschützt. Ist es schützenswert in allen seinen Phasen? Was passiert am Anfang des Lebens, wann beginnt es überhaupt? Und wann beginnt der Lebensschutz? Ganz analog dazu gibt es Fragen zum Ende des Lebens: Wie lange sollen wir eigentlich leben? Soll derjenige, der sterben will, nicht sterben dürfen? Wir haben also hier ein offenes Problem, auch verbunden mit der Frage, was der Mensch ist, wann sein Leben beginnt, wann es endet. Nennen wir es einfach das Problem des Lebensschutzes.

Eng mit dem Lebensschutz zusammen hängt die Frage: Was ist eigentlich Menschenwürde, was ist menschenwürdig? Wie können wir die Menschenwürde heute verstehen? Immerhin ist sie in Artikel 1 des Grundgesetzes verankert und steht vielleicht nicht nur zufällig ganz oben an erster Stelle, sondern ist vielleicht auch der wichtigste Anspruch in unserer Verfassung. Die Mütter und Väter der Verfassung wollten nach dem Zweiten Weltkrieg vermeiden, dass jemals in Deutschland wieder so etwas passiert wie zwischen 1933 und 1945. Sie meinten, dass der Anspruch auf Menschenwürde wichtiger als alles andere sei. Das gilt heute noch, nur wie verteidigen wir die Menschenwürde heute? Wenn wir schon Probleme mit dem Lebensschutz haben, und die haben wir offenbar, dann gibt es vielleicht auch Probleme, wie die Würde zu sichern ist.

Das ist ein ganzer Fragenkomplex, der wirklich „ans Eingemachte“ geht und den Kern der Frage trifft: Wer sind wir eigentlich.

Aber es gibt auch Probleme, die mit dem Anfang und dem Ende des Lebens gar nichts zu tun haben. Nehmen wir z. B. die Genetik, die Entschlüsselung des Humangenoms, die – zwar jetzt noch in der Fantasie, aber vielleicht schon bald in der Realität – Möglichkeiten bietet zur genetischen Selbstbestimmung des Menschen. Es geht nicht nur um die Heilung von schweren Krankheiten, Erbkrankheiten durch Eingriffe in die Keimbahn, sondern auch um die Idee, wie wir einen Menschen erschaffen könnten, den wir vielleicht gerne hätten. Also Fantasiemenschen, Menschen, die vielleicht groß, kräftig, intelligent, schön usw. sind. Auch hier haben wir es mit einem Würdeproblem zu tun. Und mit dem werden wir uns beschäftigen müssen.

Das führt uns wiederum zu der Frage: Was macht eigentlich den Menschen aus? Ist es seine Intelligenz, seine Körperlichkeit, das Bewusstsein, ist es die Freiheit? Wir scheinen die Wahl zu haben, aber letztlich müssen wir sehen, wie all diese wichtigen, interessanten Ansprüche miteinander zusammen hängen, wie sie verbunden sind.

Es ist erstaunlich und doch eine Tatsache: Wir wissen immer mehr über den Menschen und verstehen uns selbst dabei eigentlich immer weniger. Was ist z. B. mit unserem Gehirn? Agiert unser Hirn mit uns, sind wir determiniert durch das, was im Gehirn passiert? Sind wir überhaupt irgendwo noch frei genug, um zu handeln, zu entscheiden, was wir tun wollen? Wir wissen immer mehr und scheinen immer mehr Schwierigkeiten zu haben, mit unserem Wissen zurecht zu kommen, es mit uns selbst zu verbinden.

Schauen wir eimmal zurück in die Geschichte, in die Tradition, die uns überliefert ist. Es ist immer ratsam, das zu tun, weil man da etwas erfährt darüber, was andere dachten, Modelle, die uns vielleicht auch heute wichtig erscheinen.

Nach dem, was man wohl zu Recht das mythische Zeitalter in der europäischen Antike nannte, entwickelte sich im alten Griechenland die Philosophie, parallel zur Ablösung von den Mythen. Und in der Philosophie kam sehr bald der Gedanke auf, dass das Entscheidende am menschlichen Dasein die Vernunft ist. Man sprach zwar nicht im modernen Sinne von Vernunft, aber doch von dem vernünftigen Teil der Seele.

Unter Seele verstand man damals allgemein die Kraft, die uns bewegt, die aber nicht nur unsere Kraft ist, sondern die überall in der Natur anzutreffen ist. Auch wenn der Grashalm wächst, ist das Ausdruck einer Seele, einer vegetativen Seele. Und wenn wir Begierden haben, das haben nicht nur Menschen, sondern auch andere Lebewesen, Tiere, die uns ähnlich sind, dann ist das der mittlere Seelenteil, der da agiert. Manche nannten das den irrationalen Seelenteil, aber immerhin ist es auch bei uns der Seelenteil, den man formen kann. Das Allerbeste – und das haben nach Meinung der Antike nur wir Menschen – ist der vernünftige Seelenteil. Der ist, ohne dass wir darauf Einfluss hätten oder haben könnten, da oder nicht da. Das ist also so ungefähr die grobe Vorstellung von der Seele in der Antike. Die Seele, an der wir allesamt teilhaben, die gewissermaßen – wie es Jahrhunderte lang gesagt wurde – alles ist, was wir sind, diese Seele wurde von unterschiedlichen, bedeutenden Denkern auch unterschiedlich verstanden. An erster Stelle stehen Platon und sein Lehrer Sokrates.

Warum gerade diese beiden? Weil Platon im Andenken an seinen Lehrer Sokrates wohl auch das Meiste über die Seele gesagt hat. Einer der schönsten Dialoge, der „Phaidon“, erzählt die Geschichte vom Tode des Sokrates. Warum musste Sokrates sterben? Weil er in seiner Zeit etwas Ähnliches tat wie heute die Wissenschaft mit uns: Er verunsicherte die Menschen, er stellte Fragen, die die Menschen aus dem Konzept brachten: Warum tust du das? Wer bist du eigentlich? Wo gehörst du eigentlich hin? Was willst du denn wirklich? Das sind Fragen, die die Menschen irritierten, und diese Irritationen wurden ihm nicht verziehen. Er wurde zum Tode verurteilt. Der Tod des Sokrates, der übrigens nicht nur im „Phaidon“, sondern auch in der „Apologie“, einem anderen Text von Platon, geschildert und analysiert wird, ist eine Art Lackmus-Test für die antike Seelenauffassung. Denn nach der antiken Seelenauffassung bleibt die Seele nach dem Tod nicht einfach im Körper. Es gibt eine körperliche Seele, die mit dem Körper stirbt, und einen anderen Seelenteil, der unsterblich ist. Dieser Seelenteil tritt eine Reise an, so die Meinung der Pythagoräer, von denen Platon viel gelernt hat. D. h. es gab damals Philosophen, die an die Wiedergeburt glaubten, weil das durch die Ewigkeit der Seele auch denkbar war.

Sokrates musste also sterben. Am letzten Abend seines Lebens saß er mit seinen Schülern zusammen - es waren nicht alle da, Platon fehlte, er sei krank gewesen, wie er selbst später schrieb -, aber die anwesenden Schüler schilderten genau, was Sokrates mit ihnen besprach, dass er sich z. B. gefreut hat, nun endlich dahin zu kommen, wo all die Sorgen des hiesigen Lebens nicht mehr vorhanden sind: keinen Hunger, keinen Durst, keine Begierden, keine Schwächen. Er sprach von der Vorstellung, dass die eigene Seele fähig war, alle Tode zu überleben. Seine Schüler hörten ihm gespannt zu und glaubten das, was er sagte.

Der Tod des Sokrates ist nicht so zu verstehen, als hätte hier ein alt gewordener, etwas kränklicher und von seiner Frau immer wieder auch fürchterlich behandelter Mensch den Freitod gesucht. Nein, es ist kein Selbstmord, kein Freitod, sondern es ist der Übertritt in ein anderes Leben, in ein Leben, das eigentlich der menschlichen Seele gemäß ist. Wir haben also mit dieser Seelenlehre eine Botschaft, die uns, wenn wir das historisch nachvollziehen, in etwa Folgendes sagt:

Nicht das, was wir im Diesseits erleben, nicht die Wünsche, die wir hier haben, sind entscheidend für die Frage, was wir sind, wer wir sind, sondern das, was nach dem Leben kommt.

Jahrhunderte lang haben Menschen diese Botschaft ernst genommen. Sie ist nicht von allen Philosophen richtig übernommen worden, manche haben daraus ein Bekenntnis zur Selbsttötung abgeleitet, und es gab bis in die späte Antike hinein immer wieder Philosophen, die sich tatsächlich selbst getötet haben.

Aber wenn man von diesen Deviationen, diesen falschen Wegen der Interpretation des Todes von Sokrates absieht, dann lautet doch die Botschaft: Die Seele ist das Eigentliche, die Seele ist das, was uns ausmacht, sie formt die Einheit, die für uns maßgeblich ist. Wenn wir also wissen wollen, wer wir sind, müssen wir nur unsere Seele betrachten.

In der römischen Antike gab es ebenfalls ein tiefes Nachdenken über die Frage, wer wir eigentlich sind. Einer der interessantesten und wichtigsten Zeugen für diesen Prozess war Cicero. Cicero hat neben seinen politischen Ämtern, seiner Anwaltstätigkeit – er war einer der bedeutendsten Politiker seiner Zeit – über die Frage, wer wir selbst sind, nachgedacht. Sein Interesse galt in der Tradition der Stoa vor allem der Frage, wie kommen wir mit dem Leben zurecht, einem Leben, das irgendwann einmal zu Ende geht, das gekennzeichnet, man könnte sogar sagen „durchfurcht“ ist von Schmerzen und Entbehrungen. Wie kommen wir damit zurecht? Cicero bot uns die vielleicht erste philosophische Therapie an. Er sagte: Schmerzen, die Angst vor dem Tod oder die Angst vor Krankheiten resultieren aus dem Glauben an falsche Sätze. Wir müssen diese falschen Sätze aus unserem Denken entfernen. Wir müssen lernen, nur wahre, richtige Sätze zu denken. Dann werden wir die Schmerzen los.

Natürlich hat er nicht geglaubt, dass wir dann plötzlich schmerzfrei sind, als hätte man ein Schmerzmittel genommen. Nein, die Schmerzen verschwinden nicht sofort, aber man lernt, mit ihnen zu leben. Auch die Angst vor dem Tod wird man nicht wirklich ganz los, aber man hat doch ein anderes Verhältnis zum Tod. Also: Falsche Sätze aus dem Denken entfernen. Das ist ein sehr interessanter therapeutischer Vorschlag!

Ein weiterer Zeuge aus der klassischen Antike, aber schon im Übergang zum Mittelalter, ist Aurelius Augustinus. Kein anderer ist wie er durch die Wechselbäder des Denkens und der Glaubensrichtungen gegangen. Er hatte mindestens drei große Konversionen in seinem Leben, aber die müssen uns hier nicht interessieren.

Sein Beitrag zur Frage, wer wir sind, ist für das Mittelalter vielleicht einer der wichtigsten gewesen, einer der größten, in ihm zeigt sich deutlich das mittelalterliche Denken. Er hat die Botschaft, die wir vor allem im Neuen Testament finden, wieder aufgegriffen und philosophisch interpretiert. Die Botschaft besteht darin, dass wir Menschen Abbilder Gottes sind, Gott hat uns nach seinem Ebenbild geformt. Augustinus blieb bei diesem Gedanken nicht einfach stehen, sondern er meinte, wenn wir tatsächlich Abbilder von Gott sind, dann haben wir mit ihm etwas, und sei es noch so klein und gering, gemein. Etwas, was uns die Möglichkeit verschafft, die Wahrheit zu erkennen, die Wahrheit, die Er uns mitgeteilt hat, aber auch alle anderen Wahrheiten.

Sie sehen, Augustinus war sehr interessiert daran, die Frage zu klären, zu welcher Art von Erkenntnis wir eigentlich fähig sind. Er glaubte also, dass die Frage, wer wir selbst sind, etwas mit der Fähigkeit zu denken, zu wissen, aber natürlich auch zu glauben zu tun hat. Ohne die Glaubensgewissheit, das ist die vielleicht wichtigste Botschaft hierbei, ist auch sonst nichts erkennbar von uns, jedenfalls nichts Wichtiges. Wir können vielleicht fühlen, so wie die Tiere Begierden haben, aber nichts wirklich erkennen.

Augustinus’ Gedanken wurden später eifrig aufgegriffen. Augustinus sagte nämlich nicht nur, dass wir Menschen als Ebenbilder Gottes Teil an göttlicher Erkenntnis und an göttlicher Wahrheit haben, sondern dass wir uns auch als Personen so auffassen sollten wie die drei göttlichen Personen, die ja in einer einzigen Person vereint sind. Das ist ein sehr schwieriges, spekulatives Modell, das die Philosophen dazu zwang zu überlegen, was ist nun eigentlich der Kern dieser Person. Was ist der Kern der göttlichen Person?

In Bezug auf Gott war die Frage schon durch das Neue Testament beantwortet: Der Kern ist die Substanz, die das Göttliche ausmacht. Also haben wir Menschen wohl auch eine Substanz. Substanzen sind nun etwas Allgemeines, Umfassendes, Totales. Wir Menschen sind aber Individuen. Wie kann das zusammengehen? Ein großes Problem, das Thomas von Aquin wie Weiland Alexander den Gordischen Knoten löste, er sagte einfach: Wir sind individuelle Substanzen, wir sind individuelle vernünftige Substanzen, das ist unsere Natur. Es gibt allgemeine, aber es gibt eben uns auch als individuelle Subtanzen.

Was trägt die Einsicht von Substanzen oder der eigenen Substantialität zum Verständnis des menschlichen Wesens bei? Nicht alle Antworten auf die Frage, wer wir sind oder was uns im Kern ausmacht, sind heute ohne weiteres nachvollziehbar. Was verstehen wir heute unter einer Substanz? Wahrscheinlich denken wir an so etwas wie Salz und Zucker, das man in Wasser geben kann und das sich darin auflöst. Oder wir denken an Metalle, an lösliche oder nichtlösliche Dinge, wir haben heute eine eher chemische Vorstellung von Substanzen.

Das war früher überhaupt nicht der Fall. Wie genau die Menschen damals Substanz gedacht haben, können wir zwar nicht mehr so einfach verstehen, aber wir können die einzelnen Ansprüche, die mit dem Wort Substanz einhergehen, noch nachvollziehen: Substanzen sind einfach, unteilbar, unzerstörbar und sie sind uns in dieser Weise so wie die Seele zurechenbar. Genau das haben in der Moderne doch viele Philosophen bezweifelt. Trotzdem finden wir noch bei Immanuel Kant, also im 18. Jahrhundert, einen Begriff der Substanz, der - zumindest hinsichtlich der allgemeinen Bestimmungen - noch immer mit dem von Thomas von Aquin übereinstimmt. Und vor allem finden wir bei Kant die Frage beantwortet, die uns hier am meisten beschäftigt, nämlich: Was macht denn nun den Menschen aus? Was ist seine Substantialität, sein eigentlicher Kern?

Kants große und bis heute tragende Antwort lautet: Die Einheit der Person besteht nicht in seiner äußeren Natur, nicht in Leistungen, die einen gewissen Gewinn bringen können. Die Einheit der Person ist durch die Ethik, die Autonomie, die Selbstherstellung gegeben. Wir Menschen machen uns zu Einheiten. Wir kommen nicht einfach als Einheiten auf die Welt, sondern wir müssen uns selbst zu solchen formen. Autonomie ist hier der Kerngedanke, Selbstbestimmung, Selbstgesetzgebung. So lautet Kants Antwort. Die Einheit der Person ist also nur durch Ethik, durch die eigene Moralität möglich. Der Kern von Kants Antwort ist der, dass wir Menschen als Zwecke an sich selbst, als Selbstzwecke existieren. Wir sind, so sagt er, nicht bloß Mittel für beliebige Zwecke, für beliebigen Gebrauch, obwohl wir das natürlich auch sind: Wir sind ja oftmals Mittel für andere, wenn wir anderen helfen; wir sind Mittel für die Nachkommen, wenn wir überhaupt Nachkommen haben wollen. Trotzdem sind wir immer primär Zwecke an uns selbst.

Nach Kant sind die Selbstzwecke – ähnlich wie die Substanz im Mittelalter und der Antike – unauflöslich, unzerstörbar. Diesen Gedanken jedoch in unser heutiges Leben zu übertragen, ist für uns mit großen Schwierigkeiten verbunden. Das Prinzip der Autonomie können wir gut begreifen, wir wissen, was damit gemeint ist, wir können uns klar werden über unsere eigene moralische Natur. Aber mit einem Aspekt dieses Gedankens kommen wir nicht zurecht: Kant hat die Autonomie sehr stark an die Leistungen unserer Vernunft gebunden. Was macht aber jemand, der nicht vernünftig ist, also z. B. ein geistig behinderter Mensch? Hat der etwa keine Würde?

Man findet bei Kant nicht immer die richtigen Antworten auf diese Problematik. Wir wollen doch heute auch einem behinderten Menschen die Würde nicht absprechen. Das ist ja gerade der Grund, warum wir uns heute überlegen, wer wir Menschen eigentlich sind. Wir wollen doch nicht nur über die Gesunden nachdenken, sondern auch über die Kranken, über die Behinderten, über die Schwachen. Da beginnt das Problem mit dem Autonomiegedanken. Wenn die Würde des Menschen an seinen intellektuellen Leistungen hängt oder sogar an sie gebunden ist, dann sagen wir heute, das ist uns zu wenig.

Außerdem taucht noch ein weiteres Problem auf in Bezug auf die Einheiten: Kant versuchte, den Determinismus der Natur zu verbinden mit der Freiheit. Freiheit und Determinismus, sagte er, lassen sich verbinden. In Kants Denken gibt es zwei verschiedene Arten der Verursachung: die Verursachung durch die Freiheit, die für die Autonomie entscheidend ist, und die Naturursachen, die für uns genau wie für andere Lebewesen bestimmend sind. Wie können wir diese beiden Arten der Verursachung miteinander verbinden? Das bereitet uns heute im Gegensatz zu Kant große Schwierigkeiten.

Aber immerhin, wir haben gesehen, es gibt eine ganze Reihe von Fragen und Antworten von der Antike bis in die Neuzeit hinein, die uns interessante Modelle anbieten, an denen wir uns orientieren können, wenn wir wissen wollen, wer wir selbst sind. Wir möchten vielleicht nicht allen Modellen heute in gleicher Weise nachgehen. Aber wir kennen doch jetzt Wege, wie wir zu uns selbst kommen.

Angefangen habe ich mit den Problemen, die sich heute stellen. Einige Antworten haben wir uns - rasch und in großen Sprüngen - angeschaut. Aber wir haben noch keine Antwort auf die Fragen gefunden, die mit dem Freiheitsproblem zusammenhängen.

Auch der Lebensschutz ist z. B. durch die Antworten, die Kant gegeben hat, nicht so ohne weiteres garantiert. Und selbst das Würdeproblem, das durch Kant einen wesentlichen Grundimpuls erhalten hat, ist immer noch offen. Ganz abgesehen von der Frage, was das Bewusstsein ist und wie sehr es das ausmacht, was wir selbst sind.

Wir sind also mit Kant nicht ans Ende gekommen. Wir müssen weiterdenken, wenn uns die Fragen, die wir gestellt haben, wichtig sind.


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SWR2 Aula - Wilhelm Vossenkuhl: Willensfreiheit ade
Aus der Reihe: Das Wesen des Menschen (2)
Sendung am Montag, 25.12.2006, 08.30 bis 9.00 Uhr

ÜBERBLICK 2

Nicht nur Darwin und Freud trugen dazu bei, dass das Bild vom Menschen als einem vernünftigen Wesen, das mit einem geistigen metaphysischen Kern und einem freien Willen ausgestattet ist, obsolet geworden ist. In unserer Gegenwart sind es vor allem die Gefährdung der Willensfreiheit durch die Hirnforschung, der extreme Individualismus, der das Wirtschaftsleben beherrscht, sowie die modernen Biotechnologien, die den Eindruck erwecken, dass es kein einheitliches Menschenbild mehr gibt, dass die Fixierung auf Vernunft und Geist nicht mehr trägt.

INHALT 2
Ansage:

Heute mit dem Thema: „Willensfreiheit ade – das Wesen des Menschen Teil 2“.

Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der LMU in München, beschäftigt sich heute im zweiten Teil mit der Moderne, die das traditionelle Menschenbild der Aufklärung ins Wanken gebracht hat. Verantwortlich sind dafür einerseits Darwin und Freud, die Theorien dieser beiden haben den Menschen –salopp gesagt- vom Sockel geholt und ihm gezeigt, dass man das mit der Vernunft und der Gottähnlichkeit nicht mehr so stehen lassen kann. Andererseits hat die aktuelle Hirnforschung diese Kränkungen fortgesetzt. Sie behauptet, der Mensch sei kein freies Wesen, das mit einem transzendentalen Kern ausgestattet sei.

Vossenkuhl zeigt nun im zweiten Teil, wie man das Prinzip der Freiheit trotz dieser Konzepte in unsere Zeit hinüberretten kann.

Wilhelm Vossenkuhl:

Die Frage, wer wir sind, wurde in der Geschichte der Menschheit immer wieder anders gestellt und auch unterschiedlich beantwortet. Aber sie wurde auch aufgrund von großen Gefährdungen, von Irritationen, von denen wir uns heute gar kein klares Bild mehr machen können, immer wieder neu gestellt.

Über die Sokratische Verunsicherung habe ich schon im ersten Teil gesprochen. Sokrates musste sterben, weil er die Menschen verunsichert hat. Es gab große Brüche im Weltverständnis der Menschen. Denken Sie an Kopernikus und wie sich durch ihn das Selbstverständnis des Menschen geändert hat in einer Welt, die nun nicht mehr im Zentrum des Weltalls steht, sondern die sich einfach um eine der vielen Sonnen dreht. Heute können wir die Verunsicherung der Menschen von damals kaum nachvollziehen. Im 15. Jahrhundert gab es keine allgemeine Schulbildung und deshalb konnte diese Botschaft nicht gleich alle Menschen erreichen. Das dauerte sogar ziemlich lange. Eigentlich kam sie auch erst in den Köpfen an, als im 19. Jahrhundert die allgemeine Schulbildung verpflichtend geworden ist.

Erneut ins Wanken kam das Selbstbildnis des Menschen im 19. Jahrhundert mit den Entdeckungen Charles Darwins. Charles Darwin hatte festgestellt, dass die Entwicklung allen Lebens auf unserem Planeten nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten abläuft. Selektion und Mutation sind die Stichworte. Also das bestimmende Prinzip ist nicht etwa ein göttliches Design oder eine andere vernünftige Kraft, nein, es ist das Überleben der Besten, die Selektion der Gene, wie wir heute sagen, die den Entwicklungsprozess bestimmen. Man hat die Prinzipien, die Darwin entwickelt hat, begierig aufgenommen, und es entstand sofort ein Streit sondergleichen. Natürlich haben die christlichen Kirchen gleich gemerkt, woher der Wind weht, und sie haben versucht, Darwin und den Darwinismus zu bekämpfen. Dieser Kampf ist übrigens bis zur Gegenwart nicht ganz beendet, so merkwürdig das klingen mag. Aber die aufgeklärten Theologen heute wissen natürlich, dass der Darwinismus kein wirklicher Angriff auf theologische Grundwahrheiten ist. Das göttliche Schöpfertum lässt sich nach wie vor vereinigen mit dem Darwinismus.

Darwin war nicht der Einzige, der das Selbstbild des Menschen auf den Kopf gestellt hat, der die Menschen gezwungen hat, über die Frage nachzudenken, wer sind wir nun eigentlich? Sind wir nur eine Art von Hominiden mit wenig Unterschieden zu dem, was vielleicht die nächsten Verwandten auf der Evolutionsleiter, die Schimpansen, sind? Es gab darauf ärgerliche Antworten, in denen bestritten wurde, dass der Mensch auch nur eine Art von Affe ist oder gar vom Affen abstammt.

Kaum war das Jahrhundert Darwins zu Ende, hat Sigmund Freud die Seelenlehre revolutioniert und uns Menschen erklärt, dass unsere Seele von Prägungen in der frühen Kindheit gebildet wird und dass diese Prägungen allesamt etwas mit der Sexualität zu tun haben. Ist das so? Die Frage ist bis heute unbeantwortet. Sie ist für uns heute zwar nicht mehr so wichtig, aber damals bedeutete sie doch ebenfalls eine enorme Verunsicherung unter den denkenden Menschen.

All diese Beispiele können Zeugnis dafür sein, dass frühere Selbstbilder des Menschen diese Angriffe nicht überlebten, dass sie nicht gefeit waren gegen diese Attacken. Das wäre die negative Lesart.

Man kann aber auch als moderner Rationalist argumentieren: Durch die Entwicklung der Wissenschaften – bei Darwin war es die Biologie, bei Freud die Psychologie – wurden frühere Menschenbilder entzaubert, ihnen wurde das Unerklärliche, Rätselhafte genommen, das bis dahin immer noch einen Teil ihres Wertes ausmachte.

Schon in der Antike wusste man, dass der Übergang vom mythischen zum vernünftigen Weltbild oder zu einem Weltbild, in dem die Begriffe, die von uns selbst formuliert und expliziert werden, eine Art von Entzauberung ist. Und die modernen Wissenschaften bedeuten allesamt die Entzauberung von früheren Weltbildern und Begriffsmustern.

Nun könnte man anmerken, ja, ist das nicht ein unvermeidlicher Zerfallsprozess, eine irreversible Entzauberung? Bedeutet diese Entzauberung nicht den Totalverlust des Selbstbildes? Zerfallen wir oder sind wir nicht schon zerfallen in lauter wissenschaftlich explizierbare Teilstücke? In Psychologie, Biologie, Physik? Gibt es nicht ein psychologisches, ein biologisches, ein psychologisches Menschenbild?

Die heutige Neurowissenschaft untersucht die kleinsten Einheiten des Gehirns, die Neuronen, von denen es über 200 Milliarden in unserem Gehirn geben soll, in einem so kleinen Raum, einer so kleinen Kapsel - eine unvorstellbare Zahl! Aber das sind die kleinsten Einheiten. Hinzu kommt noch die Vorstellung, dass diese Neuronen nicht wie Neutronen im Weltall einfach dahinschweben, sondern sie sind mit den andern Neuronen verkoppelt und bilden große Netzwerke. Über diese Netzwerke wissen wir zwar noch wenig, trotzdem können wir uns die Frage stellen: Ist das nicht eigentlich der Kern dessen, was wir sind? Ist nicht unser Gehirn das Beste an uns? Müssen wir nicht alle Kraft darauf verwenden, das Hirn zu verstehen, um uns selbst verstehen zu können? Es braucht niemanden zu wundern, wenn ein Experte anmerkt: Ja, genauso ist es, das ist das eigentliche Problem. Wie können wir unser Hirn verstehen? Das ist der Schlüssel.

Wenn es wirklich so wäre, dann sollte ich am besten an dieser Stelle abbrechen und jemand anderer sollte weitersprechen, ein Hirnforscher. Aber ich überzeugt, das ist nicht die Botschaft, das ist nicht das letzte Wort. Wir sind diejenigen, die Hirnforschung betreiben. Nicht ich persönlich – zugegebenermaßen-, ich meine, wir als Menschen. Wir sind diejenigen, die mit dem Gehirn arbeiten, so wie wir mit unseren Händen und Füßen arbeiten können. Wir stellen und steuern auch die Fragen, die mit der Hirnforschung verbunden sind.

Begeben wir uns gleich in das Zentrum des Problems: Was hat das Freiheitsproblem mit Hirnforschung zu tun? Vor wenigen Jahrzehnten wurden Versuche durchgeführt in der Psychologie, die zeigten, dass menschliche Körperbewegungen selbst dann, wenn sie beabsichtigt waren, im Gehirn vorbereitet werden. Es findet im Hirn ein messbarer physiologischer Prozess statt – man spricht vom Bereitschaftspotential. Dieser Prozess beginnt, bevor der Mensch absichtlich z. B. mit den Fingern schnippen will. 300 bis 200 msec bevor ich will, dass meine Finger schnippen, ist da im Hirn schon ein Bereitschaftspotential aktiv, das die Handlung vorbereitet.

Die Versuche dazu wurden von dem amerikanischen Wissenschaftler Benjamin Libet durchgeführt – man nennt sie deshalb auch Libet-Experimente. Benjamin Libet wusste nicht so recht, was er mit seinen Ergebnissen anfangen sollte. Auf keinen Fall wollte er die menschliche Freiheit gefährden. Trotzdem gibt es auch heute noch viele Wissenschaftler, die diese Versuche machen und zu dem Schluss kommen, dass die Freiheit eine Illusion ist. Denn wenn unser Handeln frei wäre, würde das bedeuten, dass unser Handeln einzig und allein durch unsere Absichten verursacht würde, nicht etwa durch etwas, was vorher schon stattfindet. Wenn aber die Absicht nicht die unmittelbare Ursache unseres Tuns ist, ist sie demnach nicht entscheidend. Und wenn die Absicht nicht entscheidend ist, ist die Freiheit tatsächlich gefährdet. Ein großes Problem, das heute kontrovers diskutiert wird.

Damit zusammenhängend taucht auch das uralte Determinismus-Problem wieder auf. Philosophen der Neuzeit sagten: Wenn die Welt physikalisch zu verstehen ist, nach physikalischen Grundsätzen, so wie Newton sie formulierte, muss wohl auch alles Handeln des Menschen determiniert sein, d. h. wir folgen einem Plan, ohne ihn zu kennen.

Wir erinnern uns: Schon Immanuel Kant hatte das Problem behandelt. Er war der Ansicht, dass wir als vernünftige Wesen ja auch die Naturgesetze formulieren, d. h. wir bestimmen die deterministischen Gesetze, und wenn wir sie benennen und bestimmen, bedeutet das, wir sind nicht Teil dieser Gesetze, sondern wir haben sie ausgedacht. Natürlich nicht in dem Sinne, dass wir sie in jeder Hinsicht einfach nur machen, aber wir haben sie doch formuliert, wir haben das mitgebracht, was zur Einsicht in diese Gesetze unabdingbar notwendig ist. Wie können wir da Teil dieser Naturgesetze sein? Kant glaubte also nicht, dass unser Denken, das was im Hirn passiert, von den Gesetzen, die wir selbst bestimmt haben, bestimmt wird. Er nahm das Denken also quasi heraus aus der Natur, nicht das Empfinden, nicht die Begierden, nicht das Handeln, sondern nur das Denken. Für Kant war die Ursache der Freiheit nur im Denken zu finden. Übrigens meinte er, dass diese Ursache nicht nachgewiesen werden könne. Es gibt also keine natürliche Evidenz für diese Freiheit. Es gibt nur eine Evidenz in unserem Selbstverständnis.

Das klingt nun wieder sehr interessant. Damit kann man zumindest den empirischen Psychologen gegenüber treten und sagen: Überlegt Euch doch mal genau, was meint Ihr eigentlich mit Denken, mit Bewusstsein? Ist das, was Ihr beobachtet im menschlichen Gehirn, etwa das Denken?

Schon Gottfried Wilhelm Leibniz meinte fast ein Jahrhundert vor Kant: Wenn man in das Gehirn hineingucken könne, würde man alles mögliche sehen können, nur nicht einen Gedanken. Und ähnlich hat auch Kant gedacht.

Sind das Gedanken, die man da im Gehirn entdecken kann? Oder ist Denken doch etwas anderes?

Mancher Psychologe würde sagen: Wenn wir nicht so ganz genau wissen, was Denken ist, nehmen wir einfach an, Denken ist so eine Art von emergierendem Etwas im Hirn. Es steigt etwas aus dem Hirn herauf, so ähnlich wie der Nebel aus den Tälern in dieser Jahreszeit. Das würde uns zwar bildlich etwas weiterhelfen, aber inhaltlich nicht wirklich.

Was ist eigentlich Freiheit? Was hat das mit unserem Gehirn zu tun? Freiheit ist ein Können. Freiheit ist ein Vermögen, das wir uns mühselig aneignen müssen im Laufe unseres Lebens. Das ist das eine. Und dieses Können ist natürlich verbunden mit unserer Natur. Es ist überhaupt nicht überraschend, dass das Können auch mit unbewussten Funktionen und Leistungen, auch denen des Gehirns zu tun hat. Denken Sie z. B. an die Fingerübungen, die ein Klavierspieler am Anfang machen muss. Das hört sich erst sehr unbeholfen an. Man muss an den Fingersatz denken, man muss alle Bewegungen ganz bewusst vollziehen. Erst wenn sich das Gelernte so als Können konsolidiert hat, dass wir es unbewusst ausüben können, erst dann haben wir doch die Freiheit, gut zu spielen auf einem Klavier. Und so ist es eigentlich mit allem: mit dem Gehen, aber auch mit dem Denken. Auch das Denken will geübt sein. Am besten erkennt man das an dem Spracherwerb. Wir erlernen eine Sprache und beherrschen sie erst dann, wenn die Regeln und die Bedeutung der Wörter uns so in Fleisch und Blut übergegangen sind, dass wir sie unbewusst, wann immer wir wollen, selbst im Traum benutzen können.

Freiheit ist also ein Können. Freiheit hängt nicht an der Frage, soll ich das jetzt so tun oder so tun. Man darf Freiheit nicht auf Wahlfreiheit verkürzen. Das tun wir sehr gerne, weil wir uns das sehr gut vorstellen können. Die Wahl zwischen Alternativen: Gehe ich ins Kino, gehe ich ins Theater, trinke ich Wasser, trinke ich Bier? Mit Freiheit haben diese Wahlakte relativ wenig zu tun. Wirkliche Entscheidungen, die Freiheit voraussetzen, kommen sehr selten vor. Wir denken an Dinge, die wirklich wichtig sind: die Wahl des Berufs, die Wahl des Lebenspartners usw.

Freiheit hat natürlich in moralischer Hinsicht auch etwas mit der Wahl zu tun. Aber wir wären völlig auf dem Holzweg, wenn wir glauben würden, dass in moralischen Entscheidung die Wahl immer ad hoc, hier und jetzt zu treffen ist. Nein, wir bereiten uns in der moralischen Entwicklung unseres Lebens auf die Wahlentscheidungen vor. Sie kommen nicht einfach von jetzt auf nachher. Wenn jemand einen Menschen vorsätzlich tötet, dann ist die Wahl, die er vor diesem Tötungsdelikt hatte, nicht erst entschieden worden, als er diesen Akt, für den er hoffentlich verurteilt wird, vollzogen hat. Nein, die Entscheidung liegt weit davor. Derjenige, der zum Mörder wird, wird das nicht in einer Sekunde. Er hat eine lange Geschichte.

Und das gleiche gilt für alle Menschen, die unter einer Sucht leiden. Die Entwicklung dahin ist lang, und die Wahlentscheidung wird nicht singulär an einem bestimmten Gabelungspunkt getroffen, sondern viele Entscheidungen sind dazu nötig. Es ist ja nicht das eine Glas Bier, das man zu irgendeinem Zeitpunkt zuviel getrunken hat, das einen zum Alkoholiker werden lässt. Nein, es sind die vielen Gläser davor, die Entscheidungen, die wir davor nicht oder falsch getroffen haben.

Also was wir tun, wenn wir mit unserem Gehirn arbeiten, ist sehr stark davon abhängig, dass uns Bereitschaftspotentiale in großer Menge zur Verfügung stehen. Hinzu kommt, dass wir Menschen von unserer Zukunft - Gott sei Dank - nichts wissen, wir sind sozusagen nicht belastet. Man nennt das heute Libertarismus. Auch das ist ein wesentlicher Aspekt unserer Freiheit. Stellen Sie sich vor, Sie wüssten, was in der nächsten Stunde alles passieren wird. Natürlich ist unser Leben nicht so aufregend, dass das unbedingt etwas Gewaltiges sein muss. Aber es ist doch möglich, dass ab und zu, vielleicht in der nächsten Stunde, im nächsten Monat oder im nächsten Jahr, etwas sein wird, wovon wir bis dahin keine Ahnung hatten, wovon wir uns im Moment gar keine Vorstellung machen können. Es wäre doch viel zu beängstigend, wenn wir alles wüssten. Wir würden uns wahrscheinlich gar nicht mehr trauen, das Haus, die Wohnung oder gar das eigene Bett zu verlassen. Das Unwissen über unsere Zukunft ist ein wesentlicher Teil unserer Freiheit. Wir sind in dieser Hinsicht glücklicherweise unvollkommen.

Also löst sich bei der Überprüfung der Frage, was ist Freiheit oder was verstehen wir unter dem Denken, dieser Vorwurf einiger Hirnforscher, die Freiheit sei ein Hirngespinst – im wahrsten Sinn des Wortes – so langsam in Wohlgefallen auf. Wir müssen einsehen, Freiheit ist ein Können, das meistens einen langen Lernprozess voraussetzt. Und dieser Prozess kann auch wieder rückgängig gemacht werden. Wer nicht mehr Klavier spielt, verlernt es wieder. Nicht ganz natürlich, man kommt leichter rein, wenn man es mal konnte, aber je älter wir werden, desto weniger Leistungen können wir erbringen. Wir können uns nicht mehr soviel merken. Als Jugendlicher lernen wir leicht eine Sprache, als Älterer schon nicht mehr. Jede und Jeder, die/der versucht, sich als Seniorin oder Senior noch eine Fremdsprache anzueignen, wird das schmerzlich erfahren. Ich spreche aus eigener Erfahrung. Wir müssen Freiheit so verstehen, dass zwischen den Einsichten der Psychologie und dem, was wir in unserem eigenen Denken, vor unserem eigenen Gewissen unter Freiheit verstehen, kein Widerspruch herrscht.

Wir können deshalb getrost den vielleicht wichtigsten Gedanken von Kant wieder aufgreifen: die Grundidee der Selbstbestimmung, der Selbstgestaltung. Es ist doch eine Sache, die uns dankbar stimmt, dass Kant uns sagte, wir Menschen sind für uns selbst verantwortlich, wir sind Selbstgestalter, wir müssen versuchen, autonom zu sein. Wir müssen aber bedenken, die reine vernünftige Autonomie, die Kant im Auge hatte, lässt sich so nicht realisieren. Dennoch verfügen wir über eine beschränkte Autonomie, über einen Spielraum, und den müssen wir ausloten und versuchen, ihn zu erweitern. Wir müssen sehen, dass wir auch die unbewussten Fähigkeiten beeinflussen können, dass wir etwas, was wir jetzt wollen, wenn wir es nur gut und lang genug wollen, tatsächlich auch realisieren können.

Was hat das nun zu bedeuten im Hinblick auf die Frage des Lebensschutzes und der Menschenwürde? Wir sehen, dass wir frei sind zu bestimmen, welches Leben geschützt wird, unter welchen Bedingungen es geschützt wird und wie wir es schützen können. Der Beginn des Lebens ist keine wissenschaftliche, empirische Tatsache. Nein, wenn wir den Gedanken der Selbstgestaltung ernst nehmen, müssen wir die Verantwortung für den Zeitpunkt übernehmen. Ist es die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle? Ist es die Einnistung des Embryos in einen Uterus? Ist es die Geburt? All das sind Möglichkeiten. Bei uns in Deutschland gilt qua Gesetz die erste Variante. Überzeugte Juden sind der Meinung, der Lebensschutz beginnt erst mit der Einnistung. Andere Völker, andere Kulturen haben wieder andere Entscheidungen getroffen. Wir gestalten uns also in unterschiedlichen Kulturen auf unterschiedliche Weise. Das ist ein wichtiger Punkt. Wir haben je nach Kultur unterschiedliche religiöse weltanschauliche Voraussetzungen. Die können wir nicht einfach ignorieren. Das gleiche trifft natürlich für das Ende des Lebens zu. Auch in dieser Hinsicht sind wir Selbstgestalter, auch da sind wir aufgerufen, uns zu entscheiden, wer wir sein wollen. Wann und wie soll z. B. die Hilfe beim Sterben erfolgen? In Deutschland ist aktive Sterbehilfe mit guten Gründen verboten. Aber es gibt die Möglichkeit der passiven Sterbehilfe. Menschen dürfen – und das ist sogar durch das höchste Gericht entschieden – ein Testament machen, in dem festgehalten wird, was sie nicht mehr wollen, wenn sie nicht mehr gefragt werden können. Dazu gehört z. B. Abschalten der lebenserhaltenden Maschinen auf Intensivstationen. Auch das ist ein Menschenrecht. Es gehört zur menschlichen Würde, darüber eine Entscheidung treffen zu können.

Wie wir Freiheit vernünftig, im Rahmen unserer Möglichkeiten verstehen können, führt uns zu einem realistischen Bild von uns selbst. Wir begreifen besser, wie wir uns selbst gestalten können und worauf es ankommt. Es kommt auf solche Fragen an. Natürlich nicht nur. Wir haben im Leben noch viele andere Probleme, und nicht jedes davon hat etwas mit dem Menschenschutz oder der Würde zu tun. Gott sei Dank, kann man nur sagen. Aber was immer wir für Probleme haben, letztlich haben sie alle zu tun mit der Frage, wer wollen wir sein. Auch die Berufswahl gehört dazu. Oder die Wahl des Lebenspartners. Oder die Überlegung, welche Kultur ist eigentlich die unsrige.

Wir werden noch sehen, es gibt weitere Probleme, für die der Hinweis auf die Selbstgestaltung nicht ausreicht. Sie betreffen z. B. unsere Existenz in der Wirtschaftswelt. Darüber muss gesprochen werden.

Aber zunächst einmal erkennen wir: Wir können uns entscheiden für die richtigen Möglichkeiten. Wir können ethisch wählen, diese Freiheit haben wir. Und wir sollten diese Freiheit nutzen. Wenn wir das nicht tun, verurteilen wir uns selbst zur Passivität und machen uns selbst ohne Not zu unfreien Wesen. Das wäre das Letzte, was wir mit unserer Freiheit tun sollten.


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SWR2 Aula - Wilhelm Vossenkuhl: Gemeinnutz geht vor Eigennutz
Aus der Reihe: Das Wesen des Menschen (3)
Sendung am Dienstag, 26.12.2006, 08.30 bis 9.00 Uhr

ÜBERBLICK 3

Für das menschliche Selbstverständnis ist ein einheitliches Selbstbild unverzichtbar. Anders lassen sich die Probleme des extremen Individualismus und der Multioptionsgesellschaft nicht lösen. Wo es ständig darauf ankommt, sich selbst zu verwirklichen und - je nach Kontext - neue Identitäten auszubilden, mündet die Freiheit schnell in Einsamkeit und Leere. Demgegenüber käme es darauf an, ein neues Selbstbild zu gewinnen, das dem Gemeinwohl wieder Vorrang vor dem Individualismus einräumt.

INHALT 3
Ansage:
Heute mit dem Thema: „Gemeinnutz geht vor Eigennutz- Das Wesen des Menschen, Teil 3“.

Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der LMU in München, reflektiert heute im dritten Teil seiner Reihe über unsere Zeit und unsere Gesellschaft, in der das Menschenbild vor allem von zwei Bereichen stark beeinflusst wird: Zum einen von den modernen Biotechnologien, die suggerieren, der Mensch könne sein körperliches und geistiges Design in Zukunft zum Teil selbst bestimmen, zum anderen durch die Idee des Individualismus, der Selbstverwirklichung propagiert und damit alternative Lebenskonzepte des Gemeinsinns ins Abseits drängt.

Vossenkuhl macht auf diese Gefahren aufmerksam und plädiert gleichzeitig für ein neues Menschenbild, das dem Gemeinwohl wieder Vorrang vor dem Eigennutz einräumt.

Wilhelm Vossenkuhl:

Wir Menschen sind geschichtliche Wesen. Jeder von uns hat eine Geschichte, und wir leben alle zusammen in Geschichten. Dieser Gedanke ist natürlich nicht neu. Augustinus hat sich in seinen „Confessiones“, in seinen Bekenntnissen, als erster, jedenfalls soweit wir das aus Dokumenten wissen, Gedanken über die Frage gemacht, wie wir in der Zeit stehen, wie wir Zeit denken, was für ein Zeitbewusstsein wir haben. Vor ihm hat schon Aristoteles über die Zeit nachgedacht. Für ihn bestand die Zeit aus den zählbaren Vorhers und Nachhers.

Augustinus teilte diese Ansicht nicht. Er meinte - und er hatte wohl recht -, dass unser Zeitbewusstsein darin besteht, dass wir Menschen, und nur wir Menschen, von der Vergangenheit wissen, an die Zukunft denken können und eine Gegenwart haben. Doch Augustinus ging noch weiter: Er hat eingesehen, dass wir diese drei Zeiten, die wir nur individuell denken können, auch zusammenfassen können in einem ganzen Zeitbewusstsein. Also: die Retentio (das Denken an die Vergangenheit), die Attentio (die Wahrnehmung des Gegenwärtigen) und die Protentio (die Gedanken an die Zukunft) sind versammelt in der Intentio, das, was wir als Gegenwart denken und erleben. Gegenwart ist also nicht der Jetzt-Zeitpunkt. Augustinus hat erstmals eine Struktur vorgestellt, die eine interessante und tiefgehende Antwort auf die Frage nach dem Zeitbewusstsein gibt.

Ich sagte, wir Menschen sind geschichtliche Wesen. Das bedeutet, wir sind Wesen, die mit diesem Bewusstsein leben, wir müssen sogar sagen, wir können nur mit diesem Bewusstsein leben und vor allem gut leben - unter entsprechenden Bedingungen. Denn wir können uns nur als geschichtliche Wesen wahrnehmen. Wir können uns nur durch die eigene Geschichte als einzelne Person erkennbar machen, für uns selbst, aber auch für andere. Wenn ich also frage, wer bin ich, dann schaue ich auf meine eigene Geschichte.

Nun ist aber die Geschichte nicht einfach der Prozess, in dem wir stehen und in dem der heutige Tag morgen und gestern ist. Sondern die Geschichte beinhaltet auch die geschriebene Geschichte, die Erinnerung, die von Historikern zu Papier gebracht worden ist. Historiografie ist das Stichwort. Das ist quasi eine Geschichte für sich und nicht die, die wir gerade erleben. Deswegen hat man seit der Antike einen sinnvollen Unterschied gemacht zwischen der Historiografie, also dem Schreiben der Geschichte, und dem Erleben und Machen der Geschichte. Die Res Gestae ist das, was jetzt passiert, was die Regierung tut, was wir selbst machen, die Dinge, die jetzt zu tun sind, die wir jetzt anpacken. Und die Historia Rerum Gestarum ist das, was Experten nach entsprechendem Studium der Quellen und Dokumente aufschreiben.

Wir brauchen beides und sind als geschichtliche Wesen von beidem abhängig. Ohne die Geschichtsschreibung wissen wir herzlich wenig über uns selbst. Natürlich gibt es über die eigene Lebensgeschichte keine Historiografie, jedenfalls ist das bei den meisten von uns so. Es sei denn, man ist berühmt, dann erscheint eine Biografie, noch bevor man das Zeitliche gesegnet hat. Glücklicherweise trifft das auf die Mehrzahl von uns nicht zu. Sehr beruhigend! Dennoch: Wir wissen von uns selbst gar nichts, wenn wir keine Kenntnis darüber haben, in welche Kultur, in welches Land, in welche Gesellschaft wir eigentlich gehören. D. h. wir müssen, wenn man es ernst betrachtet, Geschichte lesen, Geschichte betreiben, um zu verstehen, wer wir sind.

Wenn ich sage, wir Menschen sind geschichtliche Wesen, beinhaltet das eine große Doppelbödigkeit. Dazu folgende Überlegung: Derjenige, der zum ersten Mal hört oder liest, dass er als Deutscher Teil einer Geschichte und einer Diktatur ist, die in den Jahren 1933 bis 1945 für die bisher größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte verantwortlich ist, der wird wohl ein anderes Bild von sich haben als z. B. ein Schweizer, der sich überlegt, wie steht eigentlich die Schweizer Geschichte zu mir oder wie stehe ich zu ihr. Wir erkennen daran, die Frage hat eine Doppelbödigkeit, der wir nicht ausweichen können. Die menschliche Identität ist wandelbar, je nach dem, welchen geschichtlichen Kontext man heranzieht.

Aber ich will noch eine weitere Doppelbödigkeit aufgreifen: Es gibt immer neue Antworten. Und das ist wirklich irritierend. Während meines eigenen Geschichtsstudiums las ich zuerst einmal die Geschichte des 19. Jahrhunderts von einem großen Historiker aus München namens Schnabel. Er ist längst tot. Diese Geschichte ist heute nicht falsch, aber 30 Jahre später kam ein anderer Historiker namens Nipperdey. Auch er hat ein Buch über die Geschichte des 19. Jahrhunderts geschrieben, aber er hat etwas getan, was für uns heute von erstaunlicher Aktualität ist. Er hat uns die Geschichte viel näher gebracht, als Schnabel das in den 50-er Jahren tun konnte. Also auch die Geschichtsschreibung muss immer wieder neu ansetzen, neue Aspekte herausgreifen.

Ich erzähle das deswegen, weil ich Ihnen verdeutlichen möchte, wie schwer es ist, irgendetwas zu finden an unserem eigenen geschichtlichen Wesen und an der Geschichtlichkeit unseres Lebens und Daseins, was absolut ist, statisch verankert werden kann und auf Ewigkeit Gültigkeit besitzt.

Das ist ein bisschen beängstigend, finde ich, denn man würde doch annehmen, was übrigens der eine oder andere Historiker auch getan hat, dass irgendwann einmal das letzte Wort gesprochen ist zu einer geschichtlichen Epoche. Offenbar stimmt das nicht. Geschichte muss anscheinend immer wieder neu geschrieben werden, auch die des Nationalsozialismus. Aber vor allem – und das ist wichtig für uns – wir können diese Geschichte nicht einfach ignorieren. Natürlich sind wir in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus heute nicht Täter, wir sind meistens nicht mal verwandt mit irgendwelchen Tätern. Aber das spielt keine Rolle. Wenn wir wissen wollen, aus welcher Geschichte wir stammen, aus welche Konstellationen unser jetziges Dasein resultiert, dann kommen wir nicht umhin, uns dieser Erinnerung und ihrer Problematik zu stellen. Wir dürfen nicht einfach unsere Augen vor der Vergangenheit schließen. Wer das tut, hat wirklich keine Zukunft.

Zurück zu Augustinus: Die Strukturierung des Zeitbewusstsein, die uns erstmals durch Augustinus angeboten wurde, eröffnet uns einen unverzichtbaren Zugang zu uns selbst. Wir können uns nicht vorstellen, dass es irgendeine Zeit geben könnte, in der Menschen sich ihrer Geschichte, aus der sie individuell oder als Volk und Gesellschaft stammen, nicht stellen wollen oder können. Geschichte ist wichtig für die Identität des Einzelnen und des Kollektivs.

Aber es gibt andere Fragen, die uns heute beschäftigen, die scheinbar nichts mit der Geschichte bzw. der menschlichen Fähigkeit zur Geschichte zu tun haben. Diese Fragen knüpfen an das an oder gefährden es sogar, was wir im letzten Vortrag unter dem Thema „Freiheit“ besprochen haben. Sie alle haben vermutlich von der Entschlüsselung des Humangenoms gehört. Eine unvorstellbare große Fülle von Kombinationen menschlicher Gene wurde analysiert und dokumentiert. Es gibt sogar Plakate zu kaufen, auf denen diese Auflistung des Genoms illustriert wird. Die meisten von uns haben zwar keinerlei Verständnis für das, was man darauf sieht. Aber man kann doch ungefähr erkennen, aha, das ist das Ergebnis der Analyse.

Wozu wurde diese Analyse überhaupt gemacht? Zum einen, weil man natürlich verstehen will, wie die Kombinationsmöglichkeiten der Gene aussehen, um z. B. zu untersuchen, welche Gene für welche Krankheiten verantwortlich sind, um diesen Krankheiten besser auf die Spur zu kommen, sie vielleicht sogar zu heilen.

Heißt das, wir sind auf dem Weg zur genetischen Selbstbestimmung? Viele Kranke, die keine Aussicht auf ein gutes Leben haben, die keine Freiheit haben, werden das hoffen. Umstritten ist die Genetik dennoch, denn die Forschung geht über viele Straßen, eine davon ist die Forschung mit Stammzellen, die aus menschlichen Embryonen gewonnen werden. Stammzellen lassen sich nur durch den Prozess der Entkernung gewinnen. Entkernte Eizellen können sich aber nicht weiterentwickeln, das heißt, die Embryonen sterben. In Deutschland ist diese Forschung, wie im zweiten Teil der Reihe schon gesagt, sehr umstritten. Das wäre nicht so, wenn für uns der Lebensschutz – wie das z. B. in Israel der Fall ist – erst mit der Nidation, mit der Einnistung der Eizelle in der Gebärmutter beginnen würde. Aber das ist eine Frage, die im Moment jedenfalls für uns müßig ist, denn unser Gesetzgeber hat nun mal anders entschieden.

Jedenfalls sehen wir, der Weg zur genetischen Selbstbestimmung bringt uns unweigerlich auch zum Thema, wie und ob man mit embryonalen Stammzellen arbeiten kann. Genetische Selbstbestimmung, Sieg über Erbkrankheiten, Entlastung von den Geiseln der Menschheit, den vielen Krebsarten – ist das nicht etwas, was wir uns zutiefst wünschen müssen? Wir hoffen im medizinischen Bereich auf hilfreiche und positive Lösungen, aber es wäre naiv, sich nicht auch die Kehrseite der Medaille zu vergegenwärtigen:

Genetische Selbstbestimmung beinhaltet ja nicht notwendigerweise nur den Sieg über Erbkrankheiten, sondern man könnte sich auch vorstellen, wie z. B. äußere Merkmale des Menschen veränderbar wären. Vielleicht wäre man selbst oder wären unsere Kinder dann besser dran? Wer wollte nicht, dass seine Kinder schön, intelligent, erfolgreich, gesund sind? Der eine oder andere möchte gar zu gerne mal ein blondes Kind haben. Oder einen Jungen. Oder ein Mädchen. Kann man solche Wünsche nicht auch inzwischen unter die Rubrik „genetische Selbstbestimmung“ einordnen?

Leider muss man sagen, hat sich diese Art der genetischen Selbstbestimmung in manchen Kulturen schon etabliert. Es gibt Länder, in denen in sogenannten Abtreibungskliniken nur weibliche Föten abgetrieben werden. Das ist ein schreckliches Vorgehen, das wirklich verboten sein sollte!

Aber wie verhält es sich mit dem Wunsch nach blonden Kindern? Ist das nicht ein einfacher, moralisch unumstrittener Wunsch? Ich glaube nicht. Diese Art von Versuch am Menschen ist für meine Begriffe nicht nur fragwürdig, sondern sogar verwerflich. Denn ein Schritt in diese Richtung öffnet Tür und Tor für ganz andere gefährliche Wege. Man könnte sich ja auch vorstellen, dass man Menschen braucht, die resistent und robust genug sind, um in strahlenverseuchten Umgebungen zu arbeiten. Wäre so ein Mensch nicht genetisch herstellbar?

Es gäbe also sicherlich einige Möglichkeiten, die wir besser nicht versuchen zu realisieren. Trotzdem müssen wir anerkennen, dass die Entschlüsselung des menschlichen Genoms diese Art von genetischer Selbstbestimmung zumindest denkbar gemacht hat. Und sie hat noch weitere Probleme aufgeworfen. Denken Sie nur an die Frage, was muss eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer in einer chemischen Fabrik an Voraussetzungen mitbringen, um dem Unternehmen möglichst wenig Kopfzerbrechen zu bereiten? Ist es nicht sinnvoll, in einer Chemiefabrik nur diejenigen Bewerber einzustellen, die nicht anfällig sind für bestimmte chemische Substanzen, die keine Allergien haben? Es wird bald vielleicht einen genetischen Test geben. Wäre es nicht sinnvoll, vielleicht sogar vernünftig, jeden potentiellen Kandidaten, der sich für eine Arbeitsstelle in gesundheitsgefährdenden Umgebung interessiert, erst entsprechend zu testen?

Nein. Ich glaube, dass das die Selbstbestimmung des Menschen, die ich im zweiten Teil ausgeführt habe, erheblich beschneiden würde. Die freie Berufswahl etwa, die zu dieser Selbstbestimmung gehört, wäre sicherlich nicht mehr möglich. Die Person, die Pilot oder Stewardess werden möchte, könnte aufgrund ihrer genetischen Disposition diesen Beruf nicht mehr ergreifen. Wollen wir das wirklich? Ich glaube das nicht. Wir sollten vielmehr daran festhalten, dass für uns die freie Selbstbestimmung Gültigkeit hat: Wir können uns frei entscheiden, welchen Beruf wir wollen.

Wir stellen also fest, die Gewinnmöglichkeiten, die durch die Entschlüsselung des Humangenoms entstanden sind, sind gekoppelt an potentielle Verluste unserer Freiheit. Und weil das so ist, sind wir mehr als zu irgendeiner Zeit vorher dazu aufgerufen, die Grenzen der Freiheit zu überprüfen. In welcher Gesellschaft, in welcher Welt wollen wir eigentlich leben? Wollen wir in einer Welt leben, in der die genetischen Dispositionen verfügbar sind, in der wir instrumentalisiert werden können? Wollen wir uns von genetisch veränderten Pflanzen ernähren? Es ist ja heute schon möglich, dass Pflanzen durch genetische Veränderung resistenter gegenüber Schädlingen gemacht werden. In manchen Ländern werden diese Pflanzen angebaut, ohne dass getestet wurde, ob sie eine Gesundheitsgefahr für den Menschen darstellen oder nicht. Es gibt interessante Experimente mit Mäusen und Ratten, die zeigten, dass gentechnisch veränderte Erbsen durchaus gesundheitsgefährdend sein können. Wollen wir in einer Welt leben, in der aus wirtschaftlichen Gründen gentechnisch veränderte Pflanzen im Supermarkt verkauft werden, ohne dass wir es wissen? Bedeutet das nicht auch eine Einschränkung unserer Freiheit? Wir sehen, der Weg von der Gentechnik zur Beschneidung unserer Freiheit ist ein gerader Weg, ebenso gerade wie der Weg von der Entschlüsselung des Humangenoms zur Beseitigung von Erbkrankheiten.

Wir sind noch nicht soweit, Erbkrankheiten heilen zu können. Wir hoffen noch darauf. Ähnlich wie die Menschen, die an Parkinson leiden, hoffen, dass die Forschung an embryonalen Stammzellen auch dieses Problem einmal lösen wird. Natürlich dürfen wir hoffen, und wir sollten das auch. Und die Forschung soll auch die Freiheit haben, neue Therapieformen zu entwickeln.

Als ich die Überlegungen zu unserer geschichtlichen Existenz, zu unserem geschichtlichen Selbstverständnis vorbereitete, sprach ich davon, dass wir Menschen keine Zukunft ohne Vergangenheit haben. Ein Gedanke übrigens, der u. a. von Heidegger geäußert wurde. Wir müssen uns durch die Geschichte selbst verstehen, und ich habe dazu Beispiele erläutert. Aber das geschichtliche Verständnis unserer selbst hat auch mit der Frage zu tun: Was ist unsere Gegenwart? Was ist die Zeit, in der wir leben, was ist unsere Zeit? Wir leben in einer Zeit, in der der Erfolg und die Gesundheit das A und O sind. Wir denken nicht so gerne an die Schwachen. Das belastet uns. Wir erleben eine Art zentrifugaler Bewegung, eine Art Beschleunigung der Zeit, in der die Schwachen an den Rand gedrängt werden. Natürlich ist das auch ein Effekt unserer Technologien. Aber wir sollten diese Auswirkung nicht einfach hinnehmen. Die Vergewisserung der eigenen Gegenwart hängt mit der Frage zusammen, welche Gesellschaft wir wollen, welches Leben wir führen wollen.

Die Beispiele aus der Gentechnik, über die ich vorhin sprach, sind nicht die einzigen. Wenn man den gesellschaftlichen Hintergrund betrachtet, der für uns Menschen heute so wichtig geworden ist, dann gibt es da ein leitendes Stichwort: den Individualismus. Der zeigt sich darin, dass wir uns, wenn wir krank werden, selbst bestimmen wollen, wir wollen etwa detailliert über die therapeutischen Möglichkeiten aufgeklärt werden. Aber der Individualismus geht sehr viel weiter. Wir wollen nämlich immer mehr. Es wird uns sogar in den Bildungsprozessen vermittelt, dass Leistung zählt, dass Leistung das Primäre ist, denn sie ist die Basis für das eigene Fortkommen. Ist das die Lösung der Probleme der Gegenwart? Ist es das, was wir anstreben sollten, geht es nur um Selbststeigerung, Selbstausbeutung?

Der moderne Individualismus drückt sich vor allem im Marktgebaren der Menschen aus. Es gilt als eine Art von Naturgesetz, dass wir Menschen immer mehr wollen. Ist das wahr?

Schon Karl Marx hat sich mit dieser Frage beschäftigt und ihr eine eindeutige und klare Absage erteilt. Ich glaube, wir sollten uns zumindest an dieser Einsicht von Marx heute wieder neu orientieren. Ist der Individualismus, ist der Einzelne das A und O? Oder ist es nicht die Gemeinschaft, das Ganze? Ist der Gewinn, den ich mache, wichtiger als das Gemeinwohl? Wohl kaum, wir können gar nicht Individualisten sein, ohne dass es eine Gesellschaft gibt, die uns das erlaubt. Also müssen wir uns doch jetzt, was die Vergewisserung über die eigene Gegenwart angeht, ernsthaft neu der Frage zuwenden, wie steht es um das Gemeinwohl? Es ist doch seit Aristoteles so, dass das Ganze in vieler Hinsicht einen Vorrang haben muss vor den einzelnen Teilen. Natürlich müssen auch die Teile, die Individuen, ihr Recht haben, ihren Freiraum – aber doch nicht zu jedem Preis.

Mein Thema war heute, wie wir uns selbst verstehen können, wer wir selbst sind. Wir sind geschichtliche Wesen, die nur in Gemeinschaft sinnvoll und gut leben können. Natürlich nicht in jeder Gemeinschaft, aber in der, die wir selbst wählen und vor allem auch gestalten können.

***Das Leben in der Gemeinschaft bietet uns allein nur eine Chance zur Selbstgestaltung. Nur da gibt es Freiheit. Sonst nirgendwo.***

Wilhelm Vossenkuhl : Kommt ins Offene - Die Freiheit des Menschen (1-2)

 

SWR2 Wissen - Aula - Wilhelm Vossenkuhl : Kommt ins Offene - Die Freiheit des Menschen (1-2)
I Sendung am Dienstag, 25.12.2007, 08.30 bis 9.00 Uhr
II Sendung am Mittwoch, 26.12.2007, 08.30 bis 9.00 Uhr
Autor und Sprecher: Professor Wilhelm Vossenkuhl *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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ÜBERBLICK
Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der LMU in München, analysiert und beschreibt in zwei Sendungen eines der schwierigsten Probleme der praktischen Vernunft und der praktischen Philosophie: die Freiheit. Für Vossenkuhl besteht die Freiheit des Menschen in der Fähigkeit der Selbstgestaltung, des Ausschöpfens seiner Kräfte und Potentiale, wobei diese Gestaltung Grenzen hat. Die eine Grenze bildet die Natur oder die genetische Basis jedes Individuums, die andere die Gemeinschaft, das Kollektiv, das andere Interessen hat als der Einzelne. Vossenkuhl zeigt, wie sich zwischen diesen Polen Freiheit entfalten kann.


AUTOR*
Wilhelm Vossenkuhl, geboren 1945, studierte Philosophie, Neuere Geschichte und Politikwissenschaft in München. 1972 Promotion zum Dr. phil. an der Universität München;1980 Habilitation. Seit 1993 hat Vossenkuhl den Lehrstuhl für Philosophie 1 an der LMU in München inne.
Schwerpunkte: Praktische Philosophie und Handlungstheorie, Grundlagen der Ethik, Philosophie der Sozialwissenschaften
Buchauswahl:
- Philosophie für die Westentasche. Piper
- Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21. Jahrhundert. Beck
- Ludwig Wittgenstein. Becksche Reihe Denker
- Stammzellenforschung und therapeutisches Klonen (zusammen m. Oduncu u. a.). Vanderhoek & Ruprecht

INHALT Teil I
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Ansage:
Heute mit dem Thema: „Kommt ins Offene – die Freiheit des Menschen, Teil 1“.

Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians- Universität in München beschreibt in zwei Sendungen eines der schwierigsten Probleme der praktischen Vernunft und der praktischen Philosophie: die Freiheit.

Natürlich: Überall huldigen wir der Freiheit, wir moderne Menschen verstehen uns ganz selbstverständlich als freie Individuen, die gerne viele Wörter mit dem „Selbst“ versehen: es geht uns um Selbstverwirklichung, um Selbstbestimmung, um Selbstvertrauen, um Selbsterleben. Aber geht es uns auch um Freiheit, also um eine Freiheit, die nicht nur das Selbst betrifft, die nicht nur um das Private kreist, sondern auch den Anderen, um eine soziale Art von Freiheit, die sich in der Gemeinschaft realisieren und zeigen könnte?

Um diese Problematik geht es Wilhelm Vossenkuhl im ersten Teil seines Vortrags: Er lotet die Grenzen der Freiheit aus, die oberen und die unteren, und er zeigt dann, warum die Prinzipien der Mitmenschlichkeit und der Liebe für ihn als primäre Freiheitsziele so wichtig sind.


Wilhelm Vossenkuhl:

Wo liegen die Grenzen der Freiheit? Eine vielleicht merkwürdige, aber doch sehr berechtigte Frage. Es gibt eine untere Grenze und eine obere Grenze. Sie werden sich fragen, was ist denn die untere Grenze. Nun, das ist etwas ganz Merkwürdiges. Die untere Grenze der Freiheit besteht nämlich einfach darin, dass wir überhaupt keine Wahl haben. Wir müssen wählen, frei zu sein oder unfrei. Wir haben gar keine Chance, etwas anderes zu wählen.

Nun werden Sie sich fragen, was hat es denn auf sich mit dieser Grundwahl. Die Grundwahl besteht einfach darin, dass ich mich entscheide, etwas zu tun, was ich kann; und wenn ich feststelle, ich kann es nicht, dann muss ich es eben trainieren, Das absolut andere Extrem, nicht frei sein zu wollen, heißt entweder, ich bringe mich in Abhängigkeit oder Unfreiheit, mache mich von irgendjemand oder irgendwas abhängig. Die allerletzte Chance, die ich habe, ist, ich will das alles überhaupt nicht und ich bringe mich um. Das klingt zwar komisch, aber das ist wirklich das untere Ende: der Suizid, der Freitod, wie man euphemistisch sagt.

Das ist merkwürdig. Wir haben also überhaupt keine Wahl, wir müssen frei sein und Verantwortung übernehmen, oder wir lassen es bleiben und dann ist das Leben eben irgendwie zu Ende. Freiheit ist also, was die untere Grenze angeht, eine ziemlich lästige Angelegenheit, ein Schmerz im Genick, könnte man sagen. Wir werden da hineingeworfen, ob wir wollen oder nicht, einfach dadurch, dass wir auf die Welt kommen.

Ist das denn etwas Besonderes bei der Freiheit oder hat das was mit unserem Leben zu tun? Ja, Letzteres ist der Fall und deshalb auch Ersteres. Wir sind einfach ins Leben hineingeschmissen, wir müssen denken, wir müssen empfinden, wir haben keine Wahl, wir können zum Beispiel nicht beschließen: „Heute denke ich mal gar nichts.“ Oder: „Heute fühle ich mal gar nichts.“ Jeder, der mal Zahnschmerzen hatte, würde das gerne mal gesagt haben! Aber das geht nicht. Das meine ich mit der unteren Grenze. Wir können sie nicht unterschreiten. Wir bewegen uns knapp über dieser Grenze auch dann, wenn wir zum Beispiel sagen: „Ich will heute mal wenig tun, ich will mich nirgends einmischen, mich nirgends zu Wort melden, nichts sagen.“ Wir haben also nicht die Wahl, wir müssen denken, wir müssen empfinden.

Was ist nun die obere Grenze? Die obere Grenze kennen wir nicht genau. Der Spielraum, den wir haben, ist uns nicht klar. Wir wissen keine exakten Antworten auf Fragen wie: Wie weit können wir eigentlich gehen? Wie weit werden wir es bringen? Was bringt die Zukunft? Wie weit kommen wir?

Die wissenschaftlich denkenden Philosophen nennen das Indeterminismus oder Libertarismus. Aber das ist eigentlich nicht so entscheidend. Wichtig ist nur, die Zukunft ist offen, wir kennen sie nicht. Das ist diese vage merkwürdige obere Grenze. Genau genommen ist es eine Grenze, die viel gemeinsam hat mit der unteren. Es geht nämlich bei der oberen letztendlich auch um den Tod als Grenze. Mehr dazu gleich. Also oben Tod, unten Tod, könnte man sagen, und dazwischen ist das Leben.

Was ist Indeterminismus? Übersetzt heißt das Unbestimmtheit. Und unbestimmt ist die Zukunft insofern, als wir mit dem, was wir gelernt haben, was wir aus uns machen können, nicht wissen, wie weit wir kommen werden, wo uns dieses Können hinführt. Wir wissen nicht einmal genau, ob das Können, um das wir uns so sehr bemühen, wenn es um Freiheit geht, ob dieses Können überhaupt irgendwie trägt. Ich spreche jetzt natürlich ganz individualistisch als einzelne Person, aber wir können das ganz gerne transponieren oder projizieren ins Kollektive hinein und von „Wir“ sprechen. Das geht uns allen irgendwie ähnlich. Wir wissen alle nicht genau, wo uns unser Können, unser Wollen, unser Handeln hinträgt. Vielleicht klingt das in dem einen oder anderen Ohr etwas defätistisch. Aber so ist es natürlich nicht gemeint, denn zwischen der unteren und der oberen Grenze liegt die Freiheit, die wir übersetzen können in das Bemühen darum, dass wir mehr können, mehr lernen, besser mit uns selbst umgehen, besser unsere Fähigkeiten entwickeln, aus uns herausgehen aus diesem engen Dasein, das wir, wenn wir klein sind, führen, wo wir ja merken, wir kommen da noch nicht so richtig raus. Jeder, der laufen lernt, spürt das ganz schmerzhaft, man kommt einfach nicht so richtig weiter. Und später träumen wir davon – nachts jedenfalls -, dass wir fliegen. Aber wir können es nicht wirklich irgendwann, höchstens mit dem Flugzeug.

Kommen wir zurück zu der oberen und der unteren Grenze. Der Raum zwischen diesen Extremen, zwischen den beiden Arten, nicht zu sein, das ist der Spielraum der Freiheit.

Diese Gedanken sind absolut nicht neu, und wenn ich jetzt zwei Philosophen erwähne, dann nicht, weil sie die einzigen sind, die darüber nachgedacht hätten, ganz und gar nicht. Seit Platon wird – zumindest auf nachlesbare Weise – über diese Frage nachgedacht, wo die Grenzen der Freiheit liegen oder was der Tod bedeutet für unser Dasein. Ich spreche nun aber von zwei modernen Philosophen, der eine ist der Däne Sören Kierkegaard aus dem 19. Jahrhundert, der andere der Deutsche Martin Heidegger.

Was hat Kierkegaard mit den Problemen der Grenzen der Freiheit zu tun? Indirekt sehr viel, aber ich erwähne Kierkegaard zunächst einmal deswegen, weil er das Leben selbst als eine Krankheit zum Tode bestimmt hat. Wie kommt ein vernünftiger Mensch auf so einen merkwürdigen Titel? Er ist nicht etwa suizidal veranlagt gewesen, nein, er war ein sehr kritischer und ernster Christ und er hat als Christenmensch das Leben als Krankheit zum Tode empfunden und gedacht. Aber was hat das jetzt mit dem Leben und der Freiheit zu tun? Kierkegaard meinte, das Letzte im Leben sei der Tod. Und der Tod sei nun wirklich das Letzte. Das klingt ein bisschen doppelt-gemoppelt und ist fast ein wörtliches Zitat aus einem Text, der auch die „Krankheit zum Tode“ heißt. Gemeint ist aber, nach dem Tod kommt nichts mehr, er ist das Letzte. Natürlich kommt für den Christenmenschen danach das Paradies oder die Verdammnis. Kierkegaard ging es jedoch um den Tod als eine Art Beleuchtung des Lebens vom Ende her. Und dieser Beleuchtung hat er ein Wort zugeordnet, das ähnlich merkwürdig klingt wie „die Krankheit zum Tod“, nämlich Verzweiflung. Er meinte, dass vom Tod her das Leben verzweifelt sein muss. Entweder wir suchen uns verzweifelt selbst – und finden uns nicht; oder wir wollen uns gar nicht so haben, wie wir gerade sind, und dann sind wir ebenso verzweifelt. Es kommt nun nicht darauf an, wie Kierkegaard das im einzelnen schildert, aber es ist interessant, dass er meint, dass diese Verzweiflung vom Leben gar nicht weg zu kriegen ist.

Wie kommt nun Verzweiflung mit der Freiheit zusammen? Es ist genau das, was ich vorhin mit der lästigen Obliegenheit gemeint habe. Wir sind in dem Sinne verzweifelt, dass wir gar nicht anders können, als frei sein zu müssen. Das ist doch eine Art von Verzweiflung, wir müssen diese Chance annehmen, wir können gar nicht anders.

Martin Heidegger passt insofern hervorragend zu Sören Kierkegaard, als er das Leben selbst als Dasein zum Tode deklarierte – nicht unwesentlich beeindruckt und beeinflusst durch Kierkegaard. Heideggers erste große Schrift hieß „Sein und Zeit“, und in diesem Buch, das in vielen Auflagen bis heute erschienen ist, gibt es das Kapitel über das Leben als Dasein zum Tode. Er spricht darin vom Tod und vom Licht, den der Tod auf das Leben wirft. Das ist nicht das Licht, das zeigt, dass das Dasein verzweifelt ist, aber so etwas Ähnliches: Er spricht von der Befindlichkeit der Angst, der Angst, nicht zu sein.

Eigentlich ist Heidegger für diejenigen, die versucht haben, ihn zu lesen, ein sehr klarer Kopf und Denker, und in diesem wichtigen Kapitel ist er wirklich glasklar. Er sagt, diese Art von Ende, die mit dem Tod verbunden ist, ist völlig anderer Art als wenn es zum Beispiel aufhört zu regnen oder wenn das Brot zu Ende geht. Wenn das zu Ende geht, können wir auch etwas anderes essen, oder wenn der Regen aufhört, kommt die Sonne. Aber beim Tod, da ist Schluss. Und das ist das, was Angst macht.

Sie sehen, es gibt viele wichtige Vorläufer dieser Überlegungen, die ich gerade eben anstelle. Diese beiden Philosophen und andere haben nicht von der unteren und oberen Grenze gesprochen, aber ich glaube, dass sie nichts dagegen gehabt hätten, ihre eigenen Gedanken in diesen Grenzen anzusiedeln. Jedenfalls viel gemein hat die untere und die obere Grenze mit den Gedanken Heideggers zum Dasein und zu dem ins Dasein gebrachte Problem des Todes: unten Tod, oben Tod.

Diese Überlegungen mögen für viele ein bisschen spekulativ scheinen und man mag sich fragen, welchen praktischen Nutzen diese Gedanken haben. Ich sprach eben schon davon, dass wir ein vitales Interesse daran haben müssen zu wissen, innerhalb welcher Grenzen wir uns bewegen. Wenn die Freiheit eine Unter- und Obergrenze hat, worin bestehen dann unsere Chancen, die wir innerhalb dieser Grenzen haben, was können wir ableiten aus diesen Grenzen? Wir können diese Grenzen erst einmal übersetzen in die Grenzen, die wir selbst aus der Mitte des Lebens heraus feststellen können, mit dem klaren Ziel, mit der Freiheit die Grenzen der Selbstgestaltung auszuloten. Auch da sind wir ja noch oben und unten beschränkt. Was meine ich damit? Was die Freiheit und die Bewegungsmöglichkeit angeht, haben wir sicherlich eine untere Grenze in den biologischen und sozialen Lebensbedingungen. Mit denen kommen wir auf die Welt, aber wir können einiges an unseren Lebensbedingungen verändern: Wir können zum Beispiel dafür sorgen, dass wir nicht krank werden (biologisch). Wir können dafür sorgen, dass wir in guter Gesellschaft leben (sozial). Es stehen uns einige Entscheidungsmöglichkeiten offen. Wir sind zwar auch da hineingeworfen in das Dasein, aber es lässt sich auch einiges tun. Natürlich werden Sie sagen, unsere biologischen Grenzen sind doch ziemlich fix. Oder unsere genetischen Anlagen. Das ist doch wirklich die untere Grenze. Ich bin kein Spezialist, aber ich bin davon überzeugt, dass es keine genauen genetischen Grenzen gibt. Wir werden gleich noch darauf zu sprechen kommen. Also auch da haben wir einen gewissen Spielraum. Das ist nicht so fix, wie wir vielleicht denken. Und man sieht ja, wir kommen auf die Welt und wir entwickeln uns. Es heißt ja, dass alle sieben Jahre unser gesamter Zellverband, den wir vor dem Spiegel in einigermaßen gestalteter Form zu Gesicht bekommen, sich ändert. Wir merken zwar nichts davon, aber so soll es wohl sein. Und wenn wir reden und denken, ändert sich ja auch biologisch ständig etwas. Und entsprechend wissen wir auch nicht so genau, was eigentlich diese biophysischen Untergrenzen sind.

Wie können wir von unseren oberen Grenzen reden? Ähnlich vage wie eben bei den unteren, aber wir können doch etwas Analoges zu dem Tod, von dem eben die Rede war, sagen: Wir kennen nämlich eine kollektive Obergrenze, die mit dem Suizid, dem Freitod insofern verwandt ist, als sie einfach darin besteht, dass wir die Obergrenze darin sehen sollten, dass wir uns kollektiv allesamt zerstören können durch die Art und Weise der Lebensführung, mit Umweltzerstörung und allen möglichen anderen Zerstörungen, deren Opfer wir am Schluss selbst sind.

Es gibt also Ober- und Untergrenzen unserer Selbstgestaltung. Und innerhalb derer befindet sich das, was wir Freiheit nennen. Freiheit, könnte man etwas pathetisch sagen, ist ein Dazwischen-Sein, also zwischen diesen beiden Grenzen der Voraussetzungen (biologisch und sozial) und der Zerstörungen. Das klingt vielleicht dramatischer als es gemeint ist. Die Zerstörungsgrenze kann auch einfach darin bestehen, dass die Welt schlicht unbewohnbar wird oder so ungesund, dass man nicht mehr darin leben sollte.

Kürzlich habe ich gelesen, dass in der Hauptstadt des Iran, in Teheran, die Luft so stark verschmutzt ist, dass das Einatmen dieser Luft für fünf Minuten gleichbedeutend ist mit dem Inhalieren von ungefähr 60 Zigaretten. Eine grauenhafte Vorstellung! Ich habe schon einen Hustenreiz, wenn ich nur daran denke, wie es in Teheran zugeht. Und ich nehme an, Teheran ist nicht die einzige Stadt. Gerade heute habe ich gelesen, dass die Luftverschmutzung in China inzwischen höher ist als in den Metropolen der USA.

Also die Möglichkeiten der Selbstzerstörung und der Selbstgestaltung sind, so kann man sagen, zwei Kehrseiten ein- und derselben Medaille. Und was ist mit Gentechnik? Da haben wir Selbstgestaltungsmöglichkeiten, von denen wir noch vor 50, 30 oder 20 Jahren nur geträumt haben. Weg mit den Erbkrankheiten, weg mit dem Krebs, all diese Geißeln der Menschheit können wir in Zukunft wahrscheinlich besiegen. Wer würde sich nicht wünschen, dass Aids durch Gentechnologie beseitigt wird. Oder warum nicht Klonen? Warum nicht eine Art Ersatzteillager für seine eigenen Organe anlegen, für den Fall, dass man krank wird? Die Lunge, das Herz, die Nieren aus dem eigenen geklonten Gewebe. Vielleicht denken Sie, das ist doch gesponnen. Aber viele Menschen glauben, dass das einmal möglich sein wird. Wir haben Hoffnungen erzeugt durch Wissenschaftsentwicklungen. Freiheit durch Wissenschaften hieße das Stichwort. Ist dadurch nicht eine Selbstgestaltungsmöglichkeit entstanden, die die ganzen Sorgen zwischen Ober- und Untergrenze hinwegschmelzen lässt? Wir schaffen endlich einen neuen Menschen ohne Krankheiten. Wenn wir aber alles gentechnologisch beherrschen, können wir die Krankheiten dann auch wieder beseitigen. Freiheit durch Wissenschaften.

Das stimmt ja irgendwie nicht so ganz überein mit dem, was ich gerade über den Indeterminismus gesagt habe, dem gemäß es grundsätzlich kein Wissen gibt, wie weit wir kommen werden; also auch kein Wissen, wie weit wir mit den jetzt so mit Hoffnungen beladenen Technologien kommen werden, mit dem Klonen, mit dem Beseitigen von Erbkrankheiten. Wir wissen es schlicht nicht. Und das ist übrigens ein ganz guter Einwand von den Menschen, die das nicht nur nicht glauben wollen, sondern die sehr wissenschaftskritisch der Meinung sind, die Wissenschaften führen uns genau dahin, wo wir die Selbstzerstörung erfahren werden. Die Wissenschaften, so meinen diese Menschen, seien Schuld an unseren Umweltproblemen. Dieses Urteil ist allerdings auch zu pauschal und lässt sich nicht tatsächlich begründen.

Wir wissen also weder im positiven noch negativen Sinn wirklich, was in Zukunft sein wird. Wir wissen auch nichts Konkretes über die Gefahren bzw. wo die Gefahren liegen. Und das ist das, was uns wirklich ärgern muss. Wir wissen nicht, wie weit wir kommen, und wir wissen auch nicht genau, wo die Gefahren liegen. Folgt daraus nun, dass wir keine Freiheit der Wahl haben? Doch. Wir dürfen nicht immer das Kind mit dem Bade ausschütten. Denn wir wissen trotzdem eine ganze Menge. Wir müssen also nicht über diese Ober- und Untergrenzen weiter spekulieren, sondern wir müssen schauen, was wir konkret machen können. Und das ist immer am besten zu erklären anhand von Beispielen.

Bleiben wir beim Thema Gentechnologie. Frauen, die ein Kind bekommen möchten, steht schon seit vielen Jahren die Möglichkeit zur Verfügung, wenn sie zum Beispiel aufgrund der Familiengeschichte den Befürchtung haben, ihr Kind könne möglicherweise an einem Erbschaden leiden und ist vielleicht später geschädigt, eine spezielle Diagnostik in Anspruch zu nehmen. Das eine ist die Präimplantationsdiagnostik. Die Präimplantationsdiagnostik ist bei künstlicher Befruchtung möglich, und zwar bereits vor der Schwangerschaft. Sie ist allerdings in Deutschland nicht erlaubt. Was bedeutet es, dass wir diese diagnostischen Möglichkeiten haben? Ist das denn nicht eine Form der Selbstgestaltung für Frauen bzw. für Paare, dass sie sagen können, wir lassen es nicht darauf ankommen, wir möchten wissen, ist das Kind, das da entsteht, gesund oder nicht, ist es belastet durch genetische Schäden oder nicht. Und wenn es belastet ist, dann ist eine Schwangerschaftsabbruch möglich.

Ich bin mir nicht sicher, ob jede Art von Schädigung eine Abtreibung wirklich rechtfertigt, und wahrscheinlich haben wir auch nicht das Recht, allgemein darüber zu befinden. Aber wir sehen hier erneut, dass die Freiheit zwei Seiten hat, eine negative und eine positive. Die Freiheit besteht zunächst einmal darin, dass wir mit Hilfe von wissenschaftlichen Mitteln, der Gentechnik, die Chancen des künftigen Lebens bestimmen können. Das Wissen um diese Chancen jedoch ist gleichzeitig eine Belastung, wir müssen uns dann nämlich entscheiden, soll dieser Fötus später als Mensch leben oder nicht. Eine merkwürdige Art von Freiheit, nicht wahr?

Also die Grenzen der Selbstgestaltung sind uns hinsichtlich der Pränataldiagnostik völlig klar, Unter- und Obergrenze sind uns völlig klar vor Augen getreten bei diesem Beispiel. Welche Folgerungen können wir daraus ziehen? Die Selbstgestaltung besteht natürlich nicht nur darin, dass wir moderne Wissenschaften und Technologien für das eigene Leben oder die Lebensgestaltung wahrnehmen. Ganz und gar nicht. Aber diese Entwicklungen, in der wir mittendrin stehen, diese Art von Beispielen drängen sich uns doch auf. Wir können auch zum Arzt gehen und den Arzt fragen, wie steht’s denn mit meiner Gesundheit, wie wird sie in zwei, drei oder zehn Jahren sein? - Wir werden später noch auf dieses Problem zurückkommen. – Vielleicht sind wir dann ganz im Banne dieser Möglichkeiten. Und vielleicht sind wir der Meinung, dass diese Art von Freiheitswahrnehmung das ist, was uns heute als Chance tatsächlich gegeben ist.

Ich glaube, dass wir angesichts dieser Chancen etwas ganz anderes im Auge behalten sollten, und da komme ich wieder zurück auf Kierkegaard und Heidegger. Beide hatten mit diesen Grenzbestimmungen, die ich vielleicht etwas vereinfacht habe, etwas im Auge, was uns selbst unmittelbar angeht, völlig unabhängig davon, welche Art von Technologie und Wissenschaftsentwicklung es gibt. Und diese Frage würde ich schlicht umformen in die Frage: Wo liegen eigentlich die Grenzen des Menschlichen? Wohin geht es mit uns, was machen wir aus uns, welche Ziele sollten wir eigentlich haben? Heidegger hat an einem anderen Punkt in dem schon eben erwähnten Buch „Sein und Zeit“ darauf hingewiesen, dass es ein uneigentliches Dasein und ein eigentliches Dasein gibt. Und wieder übersetzt in eine etwas verständlichere Sprache: Was sollten wir eigentlich für Ziele haben? Eine sicherlich nicht von der Hand zu weisende Antwort ist doch wohl die, dass es um das menschliche Leben, das menschliche Dasein, um das Humane in uns und mit uns und zwischen uns gehen sollte. Die Mitmenschlichkeit wäre so ein Ziel. Wir sollten vielleicht doch zuerst an die Mitmenschlichkeit, an das Leben mit den anderen denken und dann erst an die Technologien, mit denen man das eine oder das andere verändern kann. Und wenn es um Mitmenschlichkeit geht, schließt das ganz gewiss den etwas altmodischen Begriff Liebesfähigkeit ein. Liebe ist ein Wort mit vielen Bedeutungen, die Liebesfähigkeit ist das, was wir von unserer Mutter und von unseren Eltern erfahren. Später lernen wir auch noch eine andere Liebe kennen. Aber die Liebesfähigkeit ist doch etwas Zentrales, wenn es um die Mitmenschlichkeit geht. Und, nachdem ich eben über die Umweltzerstörung sprach, sicherlich auch die Achtung vor der Natur, der Respekt vor den Lebewesen. Die Achtung heißt, wir müssen in der Lage sein, die Natur zu respektieren. Kollektiv gesehen haben wir da große Probleme. Die Landschaft wird vollgepflastert mit Eigenheimen und mit Einkaufszentren. Wenn das so weitergeht, ist die Bundesrepublik bald zubetoniert. Und das ist nicht gut für das Wetter und entsprechend nicht gut für uns. Auch die Achtung vor dem Anderen, nicht nur vor dem Nachbarn oder unseren Familienmitgliedern, sondern auch die Achtung vor dem Menschen, den wir gar nicht kennen, der vielleicht ganz anders aussieht, ist ganz wichtig.

Was hat das mit Freiheit zu tun? Das sind die Freiheitsziele, über die wir uns klar sein müssen, wenn wir die Grenzziehung oben und unten machen wollen. Wenn wir den Raum dazwischen richtig füllen wollen mit Leben. Das sind die Freiheitsziele. Ich habe nur einige genannt: Menschlichkeit, Mitmenschlichkeit, Liebesfähigkeit, Achtung vor der Natur und vor dem Anderen. Ich bin sehr überzeugt davon, dass - wenn wir diese Ziele nicht aus dem Auge verlieren – wir die Grenzen der Freiheit richtig im Auge haben und sie nicht als Belastungen empfinden, sondern als Chance.

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INHALT Teil II_________________________________________________________________
Ansage:

Heute mit dem Thema: „Kommt ins Offene – die Freiheit des Menschen, Teil 2“.

Gestern zeigte Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie in München, welche Grenzen die Freiheit bestimmen. Im zweiten Teil geht es heute ebenfalls um diese Grenzen, und zwar im Hinblick auf die Möglichkeiten und Gefahren der modernen Genanalyse und Gentechnik. Die Biotechnologien werfen nämlich wichtige Fragen auf: Haben wir ein Recht auf Nichtwissen, haben wir die Freiheit, bestimmte Dinge über unsere genetischen Dispositionen etwa nicht zur Kenntnis zu nehmen, und: Besteht unsere Freiheit vielleicht gerade in dieser Form der Beschränkung?
Dazu nun der zweite Teil des Vortrags von Wilhelm Vossenkuhl.


Wilhelm Vossenkuhl:

Wenn wir über die Grenzen der Freiheit nachdenken, dann notgedrungen auch über die Grenzen des Wissens und die Grenzen des Handelns. Sie hängen alle zusammen, ähnlich wie die Grenzen von Frankreich und Deutschland oder Deutschland und der Schweiz usw.

Abstrakte Bilder von den Grenzen haben wir alle im Kopf, aber wie sehen sie konkret aus? Ich habe schon über Gentechnik und ähnliches gesprochen, und es liegt mir am Herzen, ein Thema aufzugreifen, das den einen oder anderen unter uns vielleicht schon seit langem bewegt: Wie geht es mit dem eigenen Leben gesundheitlich weiter? Sollten wir nicht einfach mal eine Genanalyse machen lassen? Genanalysen werden inzwischen sogar schon im Internet angeboten, eine sowohl im positiven als auch im negativen Sinn interessante Möglichkeit. Eine gute Beratung findet zum Beispiel nicht statt. Wir können eine Genanalyse in Auftrag geben, dann werden uns die Ergebnisse mitgeteilt, und wir sollen uns einen Reim darauf machen. Aber wer wüsste schon als Nicht-Naturwissenschaftler, was man mit einer Aussage über die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit einer Krankheit anfangen soll? Wir begegnen im Internet solchen Angeboten, und ich finde, das sollte eigentlich nicht sein. Nichts gegen Genanalyse, nichts gegen genetische Diagnostik, aber sie sollten doch von Profis, von Ärztinnen und Ärzten, durchgeführt werden, die das können. Davon gibt es übrigens noch gar nicht so viele. Zudem sollte eine gezielte Aufklärung davor und auch danach stattfinden: Was können die Tests zutage fördern und was ist mit den Ergebnissen anzufangen?

Hier offenbart sich ein Problem der Wissens- und Handelnsgrenzen, das wirklich dramatisch sein kann. Sie werden gleich sehen, was ich damit meine. Viele Menschen fragen sich, haben wir denn nicht ein Recht auf Nicht-Wissen? Müssen wir denn alles, was es zu wissen gibt, zutage fördern? Für den Alltag trifft das zweifellos zu, wir müssen ja auch nicht immer alles über andere Menschen wissen. Es kann zum Beispiel eine Belastung darstellen, wenn man jemanden kennt, mit ihm gut auskommt, vielleicht sogar mit ihm verheiratet ist und dann durch Neugier und Nachforschen etwas über diese Person herausfindet, von dem man später sagt: „Hätte ich das doch nie gewusst.“ Das Leben mit anderen ist auch nicht immer besser, wenn wir alles wissen wollen und unsere Neugier nicht stoppen können. Warum also sollen wir genetisch alles wissen über uns selbst?

So einfach kann man dieses Problem aber nicht erledigen. Denn es gibt für viele von uns das, was man ärztlich Anamnese, also die Erinnerung an unsere Vorfahren, nennen kann. Und diese Anamnese besteht darin, dass man weiß, in der Linie oder in der Verwandtschaft gab es die und die Krankheit. Ich nehme mal ein ganz dramatisches Beispiel: den sogenannten Veitstanz, Chorea Huntington, eine schreckliche, monogen erbliche Krankheit. Sie kann durch die Veränderung eines Gens entstehen und vererbt sich dann nach den Mendelschen Gesetzen. Also wenn ein Gen so degeneriert ist, dass dadurch eine Krankheit wie Chorea Huntington entsteht und man hat Anlass zu vermuten, dass man diese Veränderung in sich trägt, dann ist es nicht so leicht zu entscheiden, ob man ein Recht auf Nicht-Wissen hat oder nicht doch eine Pflicht zu wissen.

Ein verzwicktes Problem, Sie werden gleich sehen, was ich damit meine. Beginnen wir mit dem Punkt Nicht-Wissen. Wann können wir mit guten Gründen sagen, es ist besser ist nicht zu wissen als zu wissen? Philosophen haben die Unart, immer erst beim Gegenteil dessen anzufangen, was sie eigentlich zeigen wollen. Fangen wir also mal an, ex negativo zu argumentieren: Wann haben wir eine Pflicht zu wissen? Dann, wenn wir Anlass dazu haben anzunehmen, dass wir berechenbare Risiken für das Leben und die Gesundheit dritter durch unsere genetischen Anlagen mit uns tragen. Stellen Sie sich vor, Sie sind 18 oder 19, haben gerade das Abitur hinter sich gebracht und nun überlegen Sie, welchen Beruf Sie ergreifen. Sie hatten schon lange diesen Traum vom Fliegen, Sie möchten Pilot oder Pilotin werden. Aber durch Gespräche innerhalb der Familie und der Verwandtschaft hegen Sie den Verdacht, Sie könnten eine Erbkrankheit in sich tragen, die sich zum Beispiel in epileptischen Anfällen äußert oder in Schwindelanfällen. Das hieße, angenommen Sie steuern gerade ein Flugzeug und bekommen einen Schwindelanfall, dass dadurch Dritte in Gefahr gebracht werden. Das wäre doch ein Fall, wo Gefahr für Dritte im Verzug ist, wenn die betreffende Person nicht die Pflicht zu wissen wahrnimmt und sich sagt, das interessiert mich nicht, ich fliege einfach, so lange es gut geht. Das geht nicht. Wenn Dritte involviert sind, haben wir eine Pflicht zu wissen.

Und wann haben wir gute Gründe, nicht zu wissen? Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Einmal, wenn weder Leben noch Gesundheit noch Eigentum von anderen Personen berührt ist. Also nehmen wir mal an, ich hege den Verdacht, Chorea Huntington zu haben. Wenn ich nun eine Partnerin hätte, sollte ich es ihr nicht sagen? Das müsste ich, ich könnte das nicht einfach verschweigen. Vielleicht überlege ich mir, ich möchte keine Partnerin und ich möchte auch keine Kinder. Dann habe ich ein Recht auf Nicht-Wissen, und zwar einfach deswegen, weil ich derjenige bin, der das alleinige Risiko trägt. Also man hat Gründe für Nicht-Wissen, wenn die denkbaren Risiken von einem selbst getragen werden können und getragen werden. Das ist ein bisschen schwammig, aber man kann es leider nicht genauer sagen. Wenn die Risiken nicht übernehmbar wären, heißt das natürlich auch, irgendwie ist die Gemeinschaft betroffen, irgendwie kann ich das nicht alleine schultern, und das ist immer dann der Fall, wenn zum Beispiel Versicherungen dafür aufkommen müssen.

Diese Krankheit, von der ich gerade sprach, Chorea-Huntington, ist nicht heilbar. Und das ist ein weiterer Grund, vom Recht auf Nicht-Wissen zu sprechen, denn was bringt es denn, wenn ich weiß, ich habe diese schreckliche Krankheit. Es macht mein Leben jetzt schon zur Hölle. Man spricht übrigens merkwürdigerweise von den „Unkranken“, wenn Menschen die genetische Anlage zu Chorea Huntington haben, aber noch nicht wirklich erkrankt sind. Also ein Recht auf Nicht-Wissen, wenn ich die Risiken alleine zu tragen habe, und mehr noch, wenn es keine Heilungschancen gibt. Aber wenn eine Möglichkeit auf Heilung besteht, dann sollte wohl eine Pflicht sich selbst gegenüber greifen, um die Chancen auf Heilung wahrnehmen zu können. Manche ernsten Krebserkrankungen können geheilt werden, bei Männern zum Beispiel Prostatakrebs, eigentlich eine ziemlich schreckliche Krankheit, aber dennoch mit guten Chancen auf Gesundung. Wenn man also den Verdacht hat, an Prostatakrebs zu leiden, dann sollte man wirklich die Pflicht zu wissen wahrnehmen. Ähnliche Beispiele gibt es viele, ich möchte Sie aber nicht mit allzu vielen dieser doch zwiespältigen Beispielen traktieren. Also eine Pflicht zu wissen besteht dann, wenn Dritte betroffen sind und die Risiken, die man selbst trägt, zusätzlich von anderen mit übernommen werden müssen. Das Recht auf Nicht-Wissen greift dann, wenn man selbst allein die Risiken tragen kann und keine Heilungschancen gegeben sind.

Zwischen diesen beiden scheinbar klaren Positionen finden sich aber noch eine Menge an Schattierungen. Zum Beispiel ist das Recht auf Nicht-Wissen eigentlich nicht gut kalkulierbar, denn wenn man nichts Genaues weiß, lässt sich dieses Recht nicht richtig einschätzen. Nehmen wir einmal an, Sie nehmen das Internet-Angebot wahr, über das ich vorhin gesprochen haben, und Sie lassen sich genetisch diagnostizieren, und dann wird Ihnen mitgeteilt, mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit von 0,1 erkranken Sie an Krebs. Was werden Sie mit dieser Information tun? Was bedeutet diese Mitteilung für Ihr Leben? Sie denken vielleicht, auch wenn die Wahrscheinlichkeit nur gering ist, belastet es mich doch, was kann ich also tun? Es ist ja nicht so, dass alle Krebsarten leicht heilbar sind. Wie gehe ich mit den Wahrscheinlichkeiten um?

Wir Menschen verfügen über wenig Vernunft, wenn es darum geht, Risiken adäquat einzuordnen. Deswegen laufen wir, wenn wir keine Beratung erfahren haben, bei dieser Diagnostik Gefahr, die Risiken zu übertreiben, auch wenn sie noch so klein sind. Jemand, der uns gut beraten würde, würde uns nämlich aufklären, dass diese Risiken zunächst einmal noch rein gar nichts heißen. Denn bei den meisten Krankheiten, die heute genetisch diagnostizierbar sind, handelt es sich um sogenannte multifaktorielle Krankheiten. Das sind Krankheiten, bei denen sich eine ganze Menge weiterer Faktoren addieren muss, so dass überhaupt eine reale Möglichkeit zum Krankheitsausbruch besteht. Es müssen zum Beispiel ein in diesem Sinne ungesundes, schlechtes Leben, ein desaströser, von vielen Stressmomenten belasteter Beruf und vieles mehr dazukommen. So leicht bricht ja eine Krankheit nicht aus.

Man muss - so mein Fazit - darauf achten, dass die Zahlen eines genetischen Tests nicht so ganz wörtlich zu nehmen sind. Ich finde es im übrigen ethisch gesehen nicht gut begründet, dass man Menschen mit solchem Wissen konfrontiert, ohne ihnen die Möglichkeit anzubieten, dieses Wissen richtig einzuschätzen. Letztendlich ist der Hinweis auf den multifaktoriellen Charakter zwar auch nur abstrakt und man kann nicht so richtig wissen, was damit gemeint ist. Wichtig ist aber, dass wir, ob wir nun vom Recht auf Nicht-Wissen sprechen oder von der Pflicht zu wissen, uns in einem Feld bewegen, das voller Gefahren ist für die eigene Lebensführung.

Viele von uns werden auch die geringsten Risiken, die eine genetische Analyse aufzeigen, so interpretieren, dass sie den Rest der Tage nur noch daran denken. Es ist schrecklich, wenn man wie ein Kaninchen auf die Schlange ausschließlich auf diese Gefahr starrt. So ganz astrein ist die Wissenspflicht nicht. Auch wenn wir glauben, wir hätten eine Pflicht zu wissen, müssen wir uns darüber im klaren sein, dass dieses Wissen unangenehme Folgen für uns haben kann.

Sie sehen, auch hier hat die Freiheit, die wir wahrnehmen können und die darin besteht, dass wir immer mehr Wissen erwerben können und daraus Handlungskonsequenzen ziehen, zwei Seiten. Die eine besteht darin, dass wir tatsächlich mehr wissen, und dann wenn wir eine Chance haben, die Krankheiten, die wir diagnostiziert bekommen haben, auch einzudämmen und zu beseitigen, dann haben wir tatsächlich mehr Freiheit, ja vielleicht sogar mehr Lebenszeit gewonnen. Aber auf der anderen Seite steht eben das Wissen, das uns und die Qualität unseres jetzigen Lebens so sehr belasten kann, dass wir keinen frohen Tag mehr haben. Das ist die Kehrseite dieser Freiheit. Die prädiktive genetische Diagnostik ist folglich mit Vorsicht zu genießen. Eigentlich sollte nur dort, wo Heilmöglichkeiten bereits jetzt existieren, von diesen diagnostischen Mitteln Gebrauch gemacht werden, das heißt, die Beratung sollte sich nur auf diese Krankheiten beziehen oder auf die schon erwähnten monogen erblichen Krankheiten wie Chorea Huntington, um die Möglichkeit zu eröffnen, Maßnahmen zu ergreifen, solange es noch geht.

Ich möchte Ihnen einen weiteren Fall schildern: Der Vater einer jungen Lehrerin in einem deutschen Bundesland war an Chorea Huntington verstorben, sie hatte erlebt, wie schrecklich dieser Tod war und wusste nun, dass sie mit einer 0,5 Wahrscheinlichkeit selbst diese Krankheit in sich trägt. Das Land, in dem sie lebte, wollte diese junge Frau nicht verbeamten, weil es das Risiko scheute. Die Frau ging zum Anwalt, und sie hat Recht bekommen. Sie hat ein verbrieftes Recht auf Nicht-Wissen bestätigt bekommen. Niemand Drittes ist von dem Risiko belastet, sie selbst trägt es allein, das will sie auch. Sie wartet mit Geduld darauf, ob diese Krankheit ausbricht - das ist meistens zwischen dem dritten und vierten Lebensjahrzehnt der Fall -, sie möchte sie aber nicht bis zum Tod erleben. Das ist ihre freie Entscheidung.

Wir haben nun ein etwas dramatisch klingendes Thema behandelt, und nun möchte ich übergehen zu einem Wissen im besseren, positiven Sinn, das auch zu tun hat mit genetischer Diagnostik. Es gibt eine Menge von Stoffwechselkrankheiten, die man diagnostizieren kann im frühkindlichen Alter, also bei Neugeborenen. Und diese Krankheiten können, wenn sie frühzeitig erkannt werden, wirklich restlos beseitigt werden. Wenn sie nicht rechtzeitig entdeckt werden, können sie jedoch zu Hirnschäden führen. Und da, finde ich, hat man eine Pflicht zu wissen. Da sollten Eltern von dem Neugeborenen-Screening, wie man diese Diagnostik nennt, Gebrauch machen.

Was für Folgerungen können wir aus all diesen Überlegungen ziehen? Zunächst einmal ganz abstrakt die, dass wenn es um Freiheitsgrenzen geht, wir lernen müssen, diese selbst zu bestimmen, also: Selbstbestimmung durch Grenzziehung. Und Grenzziehung heißt, wir müssen nicht alles wissen, nicht alles haben, nicht alles können wollen, wir müssen auf bestimmtes Wissen verzichten lernen. Leider lassen sich für diese Probleme keine besonders schönen Beispiele finden. Ich möchte Ihnen eines aus den modernen Wissenschaften schildern. Vielleicht haben Sie schon davon gehört, dass in Laboren Mensch-Tier-Chimären gebildet werden können. Das funktioniert, indem zum Beispiel in eine tierische Zelle menschliche Erbinformationen hineingegeben werden, um einfach auszuprobieren, was daraus entsteht. Tierchimären gibt es schon, wo zum Beispiel eine Maus gezüchtet wurde mit einem menschlichen Ohr. Und von diesen Chimären, jedenfalls von den meisten, von denen ich bisher gehört habe, weiß man eigentlich nicht, wozu sie gebildet werden. Hat das irgendeinen wissenschaftlichen Sinn? Auch als Wissenschaftler sollten wir lernen, unsere Neugier zu zügeln. Wir müssen nicht alles herausbekommen oder mit allem herumspielen. Denn möglicherweise wird daraus Leben erzeugt, das sich nicht mehr richtig kontrollieren lässt, das vielleicht aus dem Labor herauskommt und in der freien Natur herumgeistert.

Aber der Verzicht auf Wissen gilt natürlich auch im sozialen Sinne. Ich habe eben vom Neugeborenen-Screening ganz positiv gesprochen. Die Grenzen des Wissens müssen aber auch eingehalten werden, wenn es um die Frage geht, wo finde ich Arbeit. Schon heute beinhalten bestimmte Versicherungen die Klausel, dass der potentielle Versicherungsnehmer einen Verdacht auf genetische Schäden mitteilen muss, und die Versicherung besitzt dann die Freiheit, den Interessenten abzulehnen oder ihn mit einem praktisch unbezahlbaren Beitrag zu belegen. In diesem Punkt hat die Politik eine klare Aussage getroffen, nämlich dass genetische Informationen nicht notwendigerweise bekannt gegeben werden müssen beim Abschluss einer Versicherung. Das gleiche gilt für Firmen, bei denen man sich bewirbt. Natürlich gibt es Unternehmen zum Beispiel im Chemie-Bereich, wo es auch im Interesse des Arbeitsnehmers liegen kann zu wissen, wie gefährlich die Arbeit dort für die eigene genetische Anlage, für die eigene Gesundheit ist. Wir können hier wohl von einer Grauzone sprechen, in der die Grenzen des Wissens zwar Gültigkeit besitzen, aber Ausnahmen trotzdem zulässig sind. Das Problem, das ich damit indirekt angesprochen habe, ist nicht nur das eines Verbots durch die Politik und die Gesetzgebung für die Weitergabe von Wissen, sondern auch der Datenschutz. Datenschutz, das kennen wir, ist immer ein schwieriges Gebiet, aber wir wissen noch nicht so recht, wie Daten genetischer Art geschützt werden können, wenn sie einmal erhoben wurden.

Also auch hier ist ein kollektiver Lernprozess, sich selbst Grenzen zu setzen, unbedingt erforderlich. Wir müssen kollektiv auf Wissen verzichten. Aber was uns viel näher liegt, ist ein Lernprozess, wo die Grenzen der Freiheit dadurch konkretisiert werden, wo wir unser Leben selbst gestalten lernen, indem wir lernen, die Unzulänglichkeiten, mit denen wir nun mal alle auf die Welt kommen, nicht nur schätzen zu lernen, sondern uns mit ihnen auch zufrieden zu geben. Nicht jeder ist gleich hübsch, intelligent, sportlich usw. Jeder mäkelt an sich selbst irgendwie herum. Es ist doch wirklich merkwürdig, wenn heute Abiturientinnen sich zum Abschluss des Abiturs eine Schönheitsoperation wünschen. Mir geht das nicht so richtig in den Kopf. Wie ist das denn möglich? Es gibt wahrscheinlich gute Gründe für eine Schönheitsoperation, wenn bestimmte körperliche „Gebrechen“ vorliegen, und das beginnt schon bei abstehenden Ohren. Welche Frau würde da nicht sagen, das muss irgendwie beseitigt werden. Aber ich nehme nun mal nicht an, dass diese zwei, drei jungen Damen, von denen ich in meinem Bekanntenkreis gehört habe, so ein Problem hatten. Ich denke, man muss lernen, mit Unzulänglichkeiten umzugehen und damit bei sich selbst anzufangen. Wenn man das nicht tut, kann man das bei anderen auch nicht. Es ist doch wichtig, andere zu akzeptieren und nicht jeden, der einem begegnet, abschätzig zu betrachten und zu sagen: „Der sieht aber komisch aus.“

Vielleicht klingt das in Bezug auf die Grenzen der Freiheit banal. Aber ich glaube, das ist es nicht. Das ist unser Leben. Wir sind ja ständig mit diesen Fragen konfrontiert. Wir sollen doch auch diese Selbsteinschätzung pflegen, und wenn wir das sollen, dann müssen wir wissen, zwischen welchen Grenzen das sinnvoll ist. Wir müssen mit unseren Unzulänglichkeiten umgehen lernen, und wir müssen mit denen der anderen irgendwie zurecht kommen. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass Unzulänglichkeiten vermeidbar wären. Also keine pauschale Verurteilung von Schönheitsoperationen, aber auch keine prinzipielle Würdigung ihres Sinns. Ich glaube, dass die meisten nicht wirklich sinnvoll sind, ein gutes Geschäft jedoch für diejenigen, die sie machen, oder auch sinnvoll für diejenigen, die sich dann freuen, dass die Wangen nicht mehr so hängen oder die Augen nicht mehr so trüb aussehen usw. Allerdings werden sie das in ein paar Jahren wieder, und dann muss das Ganze eben wiederholt werden. Aber besser ist es doch, man lebt mit seinen Falten und mit seinen Unzulänglichkeiten, und ein kleiner Bauch im fortgeschrittenen Alter ist ja nun auch keine Hässlichkeit.

Wir gehen weg von diesen alltäglichen Dingen. Denn das Umgehen mit Unzulänglichkeiten beinhaltet meines Erachtens noch einen sehr viel tieferen Sinn. Wir könnten auf dem Weg zur allgemeinen Akzeptanz von Schönheitsoperationen und dergleichen der Gefahr verfallen zu glauben, dass vermeidbare Leiden, vermeidbare Unzulänglichkeiten sinnlos sind. Daraus folgte sofort, dass jeder, der ein vermeidbares Leiden hat oder unter etwas Vermeidbarem leidet, selber Schuld hat und kein Mitgefühl verdient, weil vermeidbare Leiden ignorierbar sind. Denken Sie doch einmal kurz darüber nach, was das bedeuten würde für Menschen, die mit echten Behinderungen auf die Welt gekommen sind oder die aufgrund ihrer Lebensführung solche Behinderungen plötzlich erleiden müssen. Viele Behinderungen sind ja schon allein dadurch zu verhindern, dass behinderte Babys abgetrieben werden können. Sie werden es nicht glauben, aber es gibt heute ganz wenige Geburten von behinderten Kindern. Das gibt doch eigentlich zu denken. Hier sind wir wieder beim Ende des Themas der letzten Sendung angelangt, nämlich den Zielen der Menschlichkeit. Die Grenzen des Menschlichen sind zu hundert Prozent überschritten, wenn wir glauben, dass vermeidbares Leiden ignorierbar ist oder dass wir kein Mitleid haben müssen mit Menschen, die unter etwas Vermeidbarem leiden. Selbst jemand, der aus Angst vor dem Zahnarzt sein Zahnweh nicht beseitigt, verdient doch unser Mitgefühl, denn immerhin hat er doch Angst vor dem Zahnarzt. Auch wenn Zahnschmerzen ein vermeidbares Leiden sind.

Sie sehen, es gibt ganz banale Beispiele, an denen wir erkennen, wir sollten die Grenzen des Menschlichen respektieren. Wir sollten lernen, mit dem Leiden der anderen und auch der eigenen Unzulänglichkeit und dem eigenen Leiden zurecht zu kommen. Da ist es nun gerade umgekehrt: Wenn wir gelernt haben, mit dem Leiden der anderen klar zu kommen, wenn wir dieses Leiden respektieren und darauf eingehen, dann können wir doch auch erwarten, dass die anderen mit dem eigenen Leiden umgehen können.

Die Frage nach den Grenzen der Freiheit führt letztendlich zu der Überlegung, wer wollen wir eigentlich sein und wer sind die anderen. Beides zusammen lässt sich nur als ein Gedanke denken, nämlich dass wir die Grenzen des Menschlichen gemeinsam ziehen müssten. Und wir sollten auch hier immer mit den negativen Fragen anfangen: Wer wollen oder sollen wir auf gar keinen Fall sein? Nämlich die Art Mensch, die den anderen nicht respektiert.

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