Manfred Spitzer: Das kleine ABC der Neuronen - Hirnforschung für Anfänger

SWR2 Aula für Kinder
Manfred Spitzer: Das kleine ABC der Neuronen - Hirnforschung für Anfänger
Autor und Sprecher: Professor Manfred Spitzer *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch;
Sendung: Pfingstmontag, 5. Juni 2006, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
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ÜBERBLICK
Unser Gehirn funktioniert und funktioniert und funktioniert, doch die wenigsten von uns wissen Genaueres über das "Wie". Dabei könnten uns viele Ergebnisse der modernen Hirnforschung im Alltag weiterhelfen, etwa wenn es darum geht, komplizierte Matheformeln zu verstehen oder die Gedächtnisleistung zu steigern. Und selbst bei emotionalen Vorgängen und Gefühlen, bei Trauer oder Freude, lohnt ein Blick auf das Zusammenspiel der Neuronen in unserem Gehirn. Professor Manfred Spitzer, Deutschlands wohl bekanntester Hirnforscher, unternimmt eine Reise durch die bizarre Landschaft unseres Gehirns.
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Ansage:

Heute mit dem Thema: „Das kleine ABC der Neuronen – Hirnforschung für Anfänger.“

Es geht also in der Kinder-Aula um unser wichtigstes Organ, das Gehirn. Das funktioniert und funktioniert und funktioniert, und es hat eigentlich nie Pause, nie Urlaub, selbst im Schlaf arbeitet es unaufhörlich. Der Schlaf ist interessanterweise ganz wichtig für das Gehirn, nicht wegen der Träume, sondern weil während des Schlafes Dinge passieren, ohne die Ihr überhaupt nicht richtig lernen könnt, weil Euch zum Beispiel alle Vokabeln, die Ihr am Nachmittag paukt, am nächsten Tag nicht mehr einfallen würden. Das Gehirn aber rettet Euch vor dem Vergessen.

Wie das genau funktioniert, wie Ihr im Schlaf lernen könnt, das erklärt Euch jetzt ein ganz bekannter Hirnforscher, der in Ulm arbeitet und Leiter einer Klinik ist, in der Menschen behandelt werden, deren Gehirne nicht mehr so richtig funktionieren:


Manfred Spitzer:

Mein Name ist Manfred Spitzer, ich bin von Beruf Hirnforscher. Was macht so ein Hirnforscher eigentlich den ganzen Tag, wie erforscht er das Gehirn, wie verbringt er seine Zeit?

Ich bin auch Klinikchef. Morgens komme ich in die Klinik, dann ist meistens schon die Post da, die ich beantworten muss. Wenn ich das erledigt habe, treffe ich mich mit meinen Kollegen, den anderen Ärzten in unserer Klinik. Mit ihnen spreche ich über die Patienten, die in unserem Krankenhaus liegen. Das sind Menschen, die an seelischen Krankheiten leiden. Seelische Krankheiten sind ja eigentlich Krankheiten des Gehirns. Als Hirnforscher fragen wir uns, woher die Krankheiten des Gehirns eigentlich kommen. Wie kann es sein, dass ein Mensch Stimmen in seinem Kopf hört, die es eigentlich gar nicht gibt, oder ein anderer über lange Zeit sehr sehr traurig ist? Manche unserer Patienten denken z. B. stundenlang den gleichen Gedanken, sie befürchten vielleicht, ihre Kaffeemaschine angelassen zu haben. Solchen Menschen kann es passieren, dass sie zum Einkaufen gehen und nach 5 Minuten wieder nach Hause zurückkommen, um sich noch mal zu vergewissern, ob die Kaffeemaschine noch an ist, obwohl sie das schon 10 Mal vorher überprüft haben.

Ich möchte erfahren, warum Menschen so eigenartig reagieren können. Das ist für mich der Motor, warum ich Hirnforscher geworden bin. Ich möchte wissen, wie es kommt, dass das Gehirn bei manchen Menschen krank wird. Denn das Gehirn ist ja eigentlich ein Organ, das seit seiner Entstehung immer besser und besser funktioniert. Und trotzdem kann es passieren, dass es so krank wird, dass ein Mensch z. B. fest davon überzeugt ist, er sei Jesus oder vielleicht Napoleon. Kein Argument der Welt, kein gutes Wort, gar nichts kann ihn von dieser Idee abbringen. Man kann mit ihm reden und reden und reden, er glaubt es immer noch. Einmal hat man ein Experiment gewagt und drei Patienten, von denen jeder sich selbst für Jesus hielt, für zwei Jahre in eine Wohngemeinschaft gesperrt. Aber selbst nach diesen zwei Jahren dachte immer noch jeder von sich, er sei Jesus, und die anderen beiden erzählten einfach nur Blödsinn. Ich möchte herauskriegen, warum das passieren kann.

Wie mache ich das nun? Ich operiere nicht am Gehirn, um es zu untersuchen, und muss es nicht aufmachen. Denn glücklicherweise hat die Gehirnforschung seit einiger Zeit das sogenannte nicht-invasive Verfahren entwickelt. Das hört sich kompliziert an, ist aber ganz einfach. „Invadere“ – Invasion heißt irgendwo reingehen. Nicht-invasiv bedeutet also, wir brauchen nicht ins Gehirn reingehen, es öffnen, um es zu erforschen. Gott sei Dank. Denn lange Zeit war das anders. Da musste man den Kopf öffnen, um etwas über das Gehirn zu erfahren. Aber eine solche Operation war so kompliziert und schwierig, dass man sie nur bei Leuten mit schweren Kopfverletzungen durchführte oder bei Menschen, die z. B. einen Tumor im Gehirn hatten. Dann muss man rein und den Tumor rausholen. Aber ansonsten konnte man nicht viel ausrichten.

Das Gehirn ist auch deswegen so schwierig zu erforschen gewesen, weil es das wichtigste Organ eines Menschen ist. Stellt Euch mal vor: Bei einer Herztransplantation ist der Kranke natürlich froh, wenn er ein neues Herz eingesetzt bekommt. Das gleiche gilt z. B. für die Niere oder die Leber. Beim Gehirn ist das aber anders. Warum? Wenn Ihr ein neues Gehirn eingebaut bekommt, dann seid Ihr nicht mehr Ihr. Am nächsten Tag guckt Ihr in den Spiegel und Ihr seht noch genauso aus wie vorher, aber vielleicht habt Ihr fremde Gedanken, die ein fremdes Gehirn denkt. Es sind fremde Gedanken, Erinnerungen, die in Eurem Kopf sitzen, nicht mehr Eure. Das Gehirn ist nämlich das Organ, was einen Menschen ausmacht. Deswegen ist es auch so wichtig. Und deswegen ist es das Organ, das am allerbesten geschützt ist vor der Außenwelt und damit auch vor dem Eingriff der Forscher. Man kommt nicht einfach an das Gehirn dran. Ringsherum befinden sich Knochen. Beim Herz ist das leicht, das kann man hören und fühlen. Beim Bauchraum ist das auch leicht, Leber tasten, Milz tasten, man kommt überall ran. Nur nicht ans Hirn. Das war ein Problem für die Gehirnforschung.

Zum Glück hat sich das geändert. Wir haben heute andere Möglichkeiten, das Gehirn zu untersuchen. Wir können z. B. die Gehirnströme messen, die beim Denken entstehen. Wir können auch die Unterschiede im Blutfluss feststellen, die dann auftreten, wenn Nervenzellen arbeiten. Denn wenn Nervenzellen arbeiten, müssen sie ausreichend mit Blut versorgt werden. Und wenn mehr Blut dorthin strömt, ändert sich sozusagen etwas im Gehirngewebe. Gemessen wird das mit Magnetfeldern.

Das funktioniert so: Wir legen unsere Versuchsperson in eine Röhre, und darin muss man vollkommen bewegungslos liegen bleiben. Wir machen dann fortlaufend Bilder von dem Kopf der Person, die wir anschließend miteinander vergleichen. Es ist natürlich sehr schwierig für einen Menschen, so lange ganz ruhig liegen zu bleiben, zumal unsere Untersuchung ein bis zwei Stunden dauert. Aber das ist notwendig, denn sonst wären ja die Bilder, die wir schießen, alle verwackelt und damit unbrauchbar. Das Liegen in der Röhre selbst ist völlig ungefährlich. Das zeigt Euch folgende Geschichte, die mir vor ungefähr 10 Jahren passiert ist, als ich für Forschungsarbeiten in Amerika war: Eines Morgens kam ich ganz früh in das Labor, in dem ich arbeitete. Ich wollte eine Untersuchung machen und suchte den Techniker, der mir dabei helfen sollte. Ich konnte ihn aber nirgends finden und habe auf ihn gewartet und gewartet, bis ich schließlich in den Scanner-Raum gegangen bin. Das ist der Raum, in dem die Röhre steht. Und was habe ich gesehen? Da schauten zwei Füße aus der Röhre raus. Ich zupfte dran und tatsächlich war es der Techniker. Was war passiert? Er hatte in der Röhre übernachtet, denn er hat am Vorabend ganz lange gearbeitet und wollte so spät nicht mehr nach Hause fahren. Und da es sonst kein Bett in diesem Labor gab, hat er sich einfach in die Röhre reingelegt und die ganze Nacht da drin geschnarcht.

Wer nun glaubt, ein Hirnforscher schaut ständig in Gehirne und hält dort nach spannenden Dingen Ausschau, wird enttäuscht. Denn was ein Gehirnforscher vor allem macht, ist – Ihr werdet es nicht glauben – lesen. Es gehört zu den Aufgaben des Forschers, dass er sich darüber informiert, was seine Kollegen schon erforscht und herausgefunden haben. Deswegen liest er in speziellen Zeitschriften. Und jetzt stellt Euch mal vor, wenn sich die Gehirnforscher der Welt jedes Jahr in Amerika treffen, dann kommen dort 30.000 Leute zusammen. 30.000 Leute, die geforscht haben und, wie Ihr Euch denken könnt, auch aufschreiben, was sie so erforscht haben. Das wird dann in sogenannten Journals, also in Zeitschriften ähnlich wie PM oder der Stern oder Spiegel, veröffentlicht. Und jetzt ratet mal, wie viele Zeitschriften es allein über die Gehirnforschung gibt. Es sind über 300! Ihr habt richtig gehört. Wenn wir uns mal eine Bahnhofsbuchhandlung vorstellen, dann wären alle Zeitschriften, die man dort kaufen könnte, nur Zeitschriften der Gehirnforschung. Im Jahr erscheinen über 40.000 Artikel. Das ist eine ganze Menge. Nun kann ich die nicht alle lesen. Aber ich muss versuchen, so viele wie möglich zu lesen. Es stehen ja auch ganz spannende Sachen drin und es kann auch sein, dass ich beim Lesen eines Artikels auf neue Ideen stoße, wie ich meinen Patienten helfen kann oder auch, welche Experimente wir in Zukunft anstellen könnten, um einen Weg zu finden, unsere Patienten zu heilen.

Aber am besten erzähle ich Euch jetzt einige spannende Beispiele aus meiner Arbeit, die Euch, so hoffe ich, interessieren werden: Habt Ihr Euch schon mal überlegt, was im Gehirn passiert, wenn man lernt? Das Lernen hinterlässt Spuren im Gehirn. Nun können diese Spuren leicht wieder verwischt werden. Es ist deswegen wichtig, dass sie irgendwie fest werden, dass sie sich verfestigen. Wie kriegt man das hin? Unser Gehirn hat extra eingebaute Funktionen, die dafür sorgen, dass das, was man lernt, sich hinterher verfestigt.

Es wird nicht überall im Gehirn gleichmäßig und an der gleichen Stelle gelernt. Sondern wenn wir etwas lernen, vielleicht auch lernen müssen, Vokabeln z. B., speichern wir die Vokabeln in einem kleinen Stückchen Gehirn. Diesen kleinen Teil des Hirns nennt man auf deutsch „Seepferdchen“. Mit ganz ganz viel Fantasie sieht der Teil nämlich aus wie ein Seepferdchen. Auf lateinisch heißt es Hippocampus.

Es gibt verschiedene Methoden, wie wir Vokabeln lernen. Eine davon ist, wir können sie uns vorlesen und büffeln. Das funktioniert aber nicht so gut, denn büffeln ist etwas für Ochsen. Viel geschickter ist es, wenn wir über die Vokabeln nachdenken. Jetzt werdet Ihr Euch fragen, wie soll man denn über langweilige Vokabeln nachdenken? Das macht man, indem man sich z. B. eine Geschichte zu einer Vokabel ausdenkt, besser noch ein Bild. Das Bild muss man sich aber selber ausdenken, denn der Witz ist: Es geht eigentlich gar nicht um das Bild, sondern darum, dass man sich etwas zu der Vokabel denkt. Denn Ausdenken heißt für das Gehirn, dass da Impulse über Nervenverbindungen sausen und sich dadurch die Verbindungen ändern. Und wenn sich die Verbindungen ändern, ist das nichts anderes als Lernen. Lernen heißt, es ändern sich im Kopf die Verbindungen, dadurch entstehen eben die Spuren, über die ich vorhin gesprochen habe. Man nennt sie auch Gedächtnisspuren. Dass es so etwas gibt, wusste man schon vor hundert Jahren. Aber erst seit ein paar Jahren haben wir auch erkannt, wie das genau funktioniert: Impulse laufen über Synapsen - Synapsen sind die Verbindungen zwischen Nervenzellen -, die verändern sich, und das wiederum heißt, die Synapsen werden dicker und größer. Und wenn sie größer werden, bedeutet das, wir haben etwas gelernt.

Und erst seit kurzem wissen wir auch, dass sich selbst nach dem Lernen, wenn wir schon gar nicht mehr an Vokabeln denken, die Spuren des Gelernten im Gehirn verfestigen. Und das ist eigentlich ganz spannend. Man spricht von Konsolidierung. Ein seltsames Wort, das Ihr vielleicht schon mal im Radio gehört habt: Die Staatsfinanzen stehen schlecht, sie müssen konsolidiert werden. Das heißt, sie müssen wieder auf festen Boden gestellt werden. Konsolidieren heißt übersetzt eigentlich verfestigen. Und bei den Gedächtnisspuren ist es ganz klar, worum es geht. Wir wollen ja nicht, dass die gelegten Spuren wieder weggewischt werden können, sobald wir etwas Anderes, Neues denken. Nein, wir wollen uns etwas merken, es soll wirklich kleben bleiben im Kopf.

Und genau das passiert im Hippocampus, dem Seepferdchen. Dieser Bereich ist nämlich nach dem Lernen noch aktiv und sorgt dafür, dass das eben Gelernte auch tatsächlich hängen bleibt. Er sorgt für die Konsolidierung. Und das bedeutet auch, je aktiver der Hippocampus arbeitet, desto besser merken wir uns unsere Vokabeln.

Wir haben das bewiesen mit einem Experiment. Ein Kollege von mir hatte sich da etwas ausgedacht: Unsere Versuchspersonen mussten sich in die Röhre legen und da drin etwas lernen. Wir konnten dabei schon erkennen, dass der Hippocampus schwer am arbeiten war. Anschließend blieben unsere Versuchspersonen einfach noch eine zeitlang in der Röhre liegen, sie konnten dösen und brauchten gar nichts zu tun. Der Apparat hat weiter die Durchblutung im Gehirn gemessen und wir haben überprüft, wo denn am meisten passierte. Schließlich haben wir die Leute wieder herausgeholt aus der Röhre und wollten natürlich nun wissen, was sie sich denn gemerkt haben von dem, was sie lernen sollten. Und es hat sich herausgestellt, je besser im Hippocampus die Durchblutung nach dem Lernen war, desto besser konnten die Menschen das Gelernte behalten, desto besser hatte es sich also nach dem Lernen verfestigt.

Diese Verfestigungsstudien gibt es schon länger, nur hat man früher Experimente mit Tieren gemacht. Man kann ja auch Tieren etwas beibringen. Ratten z. B. kann man in ein Labyrinth setzen, also in einen Irrgarten, aus dem sie wieder herausfinden müssen. Das tun die Ratten auch gerne, denn wenn sie den Weg nach draußen gefunden haben, kriegen sie als Belohnung etwas zu essen. Man setzt sie dann wieder rein, und sobald sie hungrig genug sind, versuchen sie wieder, nach draußen zu finden. Wenn man Ratten so trainiert, lernen sie immer besser, sich in dem Labyrinth zurechtzufinden. Das lässt sich auch nachweisen, indem man immer die Zeit stoppt, die sie für ihren Weg nach draußen brauchen.

Nach dem Experiment hat man einige der Ratten wieder in ihren Käfig zurückgesetzt, wo sie sich ausruhen und vor sich hin dösen konnten. Ein paar anderen Tierchen dagegen hat man die Ruhe nicht gegönnt, sondern man hat ihnen kleine, aber schmerzhafte Elektroschocks versetzt. Danach setzte man sie wieder ins Labyrinth. Es zeigte sich, dass diese Ratten sich nicht mehr so gut an ihren Weg erinnern konnten. Durch die Elektroschocks wurde ihnen das Konsolidieren, das Verfestigen, sozusagen vermiest, man hat das Gehirn daran gehindert, sich beim Dösen zu vergegenwärtigen, was es gerade gelernt hat.

Ihr wisst, dass kleine Kinder viel und superschnell lernen. Sie lernen laufen und sprechen in nur ein paar Jahren, und das ohne zu büffeln, einfach nur so. Man sieht sie aber auch ganz oft einfach vor sich hin dösen. Sie sitzen im Sandkasten auf dem Spielplatz, sind beim Spielen und plötzlich schauen sie so und dösen für eine Weile. Aber ihr Gehirn ist keineswegs abgeschaltet. Nein, es arbeitet weiter. Es verarbeitet das, was es gerade eben gelernt hat.

Und noch etwas Spannendes haben wir herausgefunden. Wenn wir nämlich schlafen, ist es nicht so, dass wir einfach nichts tun und uns dabei erholen. Das Gehirn ist nämlich nach wie vor aktiv. Wir können das beobachten, indem wir Drähte an den Kopf anschließen und die Gehirnströme messen. Das nennt man EEG. Die Gehirnströme zeigen uns, ob das Gehirn aktiv ist. Man macht das z. B. auch bei Menschen, die einen schweren Unfall hatten, wenn man nicht weiß, ob sie noch leben. Am EEG kann man messen, ob der Verletzte noch Gehirnströme hat. Wenn ja, heißt das, dass er lebt. Wenn nicht, bedeutet das, selbst wenn das Herz noch schlägt, dass der Mensch tot ist. Mit anderen Worten: Ob ein Mensch tot ist oder nicht, hängt nicht davon ab, ob das Herz schlägt. Das sehen wir daran, ob sein Gehirn arbeitet. Das zeigt wiederum, wie ich eingangs schon sagte: Das Gehirn ist unser wichtigstes Organ. Nicht das Herz, nicht die Lunge, nicht die Niere oder die Leber.

Am Gehirnstrom kann man aber auch sehen, ob jemand z. B. gerade schläft. Man kann sogar erkennen, ob er gerade träumt oder nicht. Denn wenn ein Mensch träumt, sehen seine Gehirnströme so aus, als sei er wach. Das ist er natürlich nicht. Wenn man nämlich versucht, ihn während eines Traums zu wecken, ist das nur ganz schwer möglich. Denn in dem Moment, in dem er träumt, schläft er ganz tief. Und das bedeutet, er ist dann am allerschwierigsten zu wecken.

Ein Mensch im Tiefschlaf träumt nicht, deshalb ist er dann auch ein bisschen leichter aufzuwecken. Dem Gehirn sieht man den Tiefschlaf klar an, denn die Gehirnströme sehen ganz anders aus als im Wachzustand. Man weiß schon lange, dass das Gehirn nachts keineswegs nur einfach am Schlafen ist. Der Schlaf ist eigentlich ein ganz kompliziertes Zustandsgefüge. Der Mensch befindet sich erst im Tiefschlaf, dann verfällt er in einen Traum für etwa eine Viertelstunde, dann folgt wieder der Tiefschlaf, dann der Traum, und das geht vier, fünf, sechs Mal pro Nacht, dann wacht man auf und denkt, man hätte bloß geschlafen. Aber eigentlich hat das Gehirn etwas ganz Tolles gemacht, nämlich im Tiefschlaf hat es das, was es tagsüber gelernt hat, noch ein Mal neu gespeichert, umgespeichert, neu kodiert, komprimiert, assoziiert. Wir können das ja mal mit einem Computer vergleichen. Wenn Ihr Euren Computer herunterfahrt, dann geht er auch nicht plötzlich aus, sondern er arbeitet noch etwas, er sortiert z. B. seine Festplatte, damit beim nächsten Einschalten alles schön geordnet ist und er wieder einwandfrei funktionieren kann. Nun ist unser Gehirn ja auch so etwas wie ein Computer. Und wenn wir unser Gehirn in der Nacht sozusagen herunterfahren, also wenn wir schlafen gehen, ist es die ganze Nacht dabei, das Gelernte des Tages zu sortieren. Es tut also in etwa das, was ein Computer auch macht. Unser Gehirn sortiert noch einmal alles ordentlich, wir überlegen auch, was ist wichtig, was ist unwichtig, was hat uns besonders betroffen. Diese Dinge speichern wir ganz besonders gut ab. Die wandern ein paar Mal über die Synapsen, die Nervenverbindungen, hin und her und verändern sich dadurch. Bei diesem Vorgang lernen wir etwas und speichern es ab.

Das alles passiert im Tiefschlaf. Wenn wir aber träumen, dann speichern wir nicht ab, nein, wir überlegen noch ein Mal, wie kann man das Gelernte, das Erlebte noch anders sehen, kann man es vielleicht mit etwas Neuem verknüpfen, mit welchen Gefühlen hat es zu tun? Deswegen sind Träume manchmal so seltsam, denn wir probieren dabei die verschiedensten Verbindungen aus und lassen uns die verrücktesten Möglichkeiten einfallen– und das ist auch gut so! Denn genau dadurch wird das Gelernte mit dem, was wir schon wissen, neu verbunden und neu bewertet, und es setzt sich gerade deswegen besonders gut in unserem Kopf fest.

Schlafen ist also gar kein passiver Zustand, in dem wir einfach nichts tun. Schlafen ist im Gegenteil ein äußerst aktiver Vorgang. Dank unseres Schlafes lernen wir besser. Das heißt also, wenn Ihr Eure nächste Arbeit schreibt, lernt nicht die Nacht vorher durch. Das wäre eine ganz miserable Idee. Warum? Dann hindert Ihr Euer Gehirn daran, sich nachts noch ein Mal selber das beizubringen und zu wiederholen, was Ihr tagsüber schon gelernt habt. Denkt daran, das ist ganz wichtig! Ich sage das auch meinen Studenten, und die meisten ärgern sich, dass sie das erst jetzt erfahren haben und nicht schon in ihrer Schulzeit.

Wir wissen jetzt schon eine ganze Menge über unser Gehirn. Und all unser Wissen kommt direkt den Menschen zugute, die an Krankheiten des Gehirns leiden. Eine Krankheit ist z. B. die Schizophrenie. Schizophrene Menschen denken manchmal ganz seltsame Dinge und sie reden auch so. Ihre Gedanken scheinen zusammenhanglos und verworren zu sein, so als sei in ihrem Gehirn alles völlig in Unordnung geraten. Wir haben aber herausgefunden, dass das gar nicht so ist. Ich möchte mal ein kleines Experiment mit Euch machen. Ich sage Euch ein Wort und Ihr schaut mal, was Ihr dabei denkt.

Sonne – Ihr denkt jetzt wahrscheinlich Mond.
Mutter – wahrscheinlich Vater.
Groß – klein.
Schwarz – weiß.

Hattet Ihr auch diese Gedanken? Es ist doch schon erstaunlich, dass fast jeder von Euch das gleiche denkt, wenn ich ein Wort sage.

Es gibt aber Menschen, die ganz eigenartige Ideen haben.

Schwarz – U-Boot.
Sonne – Bruttosozialprodukt.

So etwas gibt es. Diese Menschen leiden daran, dass ihnen immer wieder seltsame Gedanken in den Kopf kommen, die sie eigentlich gar nicht denken wollen. Und wir haben herausgekriegt, warum das so ist und wie es dazu kommt.

Normalerweise unterliegt unser Denken einer superguten Kontrolle. Wir kontrollieren unsere Gedanken und das funktioniert in der Regel sehr gut. Es kann aber auch schief gehen und dann haben wir die Dinge nicht mehr richtig im Griff und unsere Kontrolle verloren. Wie kann das passieren? Früher hat man gedacht, da sitzt ein kleines Männchen in unserem Kopf, das alle Teile unseres Gehirns dirigiert. Aber das kann gar nicht sein, denn wer kontrolliert denn dann das kleine Männchen? Dann müsste in dem Männchen ja noch ein kleineres Männchen sitzen, das das Männchen kontrolliert und so weiter und so fort. Das kann also überhaupt nicht gehen.

Inzwischen wissen wir, dass es gar kein kleines Männchen gibt, sondern dass sich die einzelnen Teile unseres Gehirns gegenseitig kontrollieren. Und manchmal gewinnt ein Teil, manchmal wieder ein anderer. Das ist ein bisschen wie beim Fußball. Jeder Spieler weiß, worum es in dem Spiel geht, er kennt die Regeln, und alle gemeinsam haben ein bestimmtes Ziel, auf das jeder hinarbeitet, nämlich ein Tor zu schießen, eine gute Abwehr aufzubauen. Und so ähnlich ist das auch in unserem Gehirn. Jedes einzelne Gehirnteil arbeitet mit den anderen zusammen. Und genau deswegen funktioniert es ganz gut. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass es nur deshalb gut funktioniert, weil es sich gut eingespielt hat. Die Teile haben ein ganzes Leben Zeit gehabt, sich miteinander einzuspielen. Es gibt verschiedene Bereiche im Gehirn, wir können sie auch Module oder Spieler nennen, von denen jeder einzelne für eine bestimmte Aufgabe zuständig ist: Ein Spieler für das Sehen, ein anderer fürs Hören, ein dritter fürs Tasten, noch ein anderer fürs Riechen und dann gibt es noch einen fürs Schmecken.

Bei Babys befinden sich diese Module noch ganz nah beieinander und sie arbeiten auch ganz eng miteinander. Früher hat man sich gefragt, woher weiß eigentlich der Spieler fürs Sehen, was z. B. eine Kante ist. Die Antwort ist ganz einfach, das Sehen weiß es nicht. Es funktioniert nämlich eigentlich so, dass die Spieler ganz eng zusammensitzen, und der eine sagt, du, das ist gerade eine Kante gewesen, und der, der fürs Sehen zuständig ist, merkt sich, aha, so sieht also eine Kante aus. Ganz eng zusammen arbeiten die. Und je älter der Mensch wird, desto eher können die Spieler sich trauen, auch mal was alleine zu machen, weil sie ja schon viel Erfahrung haben.

Und dieses gut eingespielte Team habt Ihr alle im Kopf. Zuviel vor dem Fernseher sitzen ist schlecht für dieses Team, für den Teamgeist. Warum? Da können sich unsere Spieler nicht viel gegenseitig an Erfahrung beibringen, denn das Tasten, das Schmecken, das Riechen fehlen. Deswegen ist es viel besser, man ist draußen, besonders als kleines Kind, im Wald oder im Sandkasten. Denn da macht man super Erfahrungen und unser Team im Kopf wird so richtig gut eingespielt. Und nebenbei: Wenn das Team von Kind auf nicht so gut eingespielt war, dann hat es auch später Mühe. Deswegen ist es wichtig, dass man sein Gehirn benutzt, und zwar richtig und mit Spaß. Denn wenn Ihr mit Spaß spielt, funktioniert es auch besser.

Das alles erforscht der Hirnforscher. Ja, wir kriegen sogar raus, was Spaß macht und warum es Spaß macht. Und dass Lernen Spaß macht und Erfahrungen Spaß machen. Der Spaß ist nämlich ganz wichtig. Denn dann lebt man so richtig gut mit einem fitten Gehirn, einer super Mannschaft im Kopf, die miteinander so gut spielt, als wäre es eine Person.


Absage:

Das war die Kinder-Aula von Professor Manfred Spitzer, dem Hirnforscher aus Ulm.

Wenn Ihr einen eigenen Computer habt oder den der Eltern benutzen dürft, könnt Ihr das alles noch einmal nachhören, dazu müsst Ihr nur auf unsere Homepage gehen: www.swr2.de/wissen, unter dem Stichwort AULA findet Ihr alles Wichtige zu der heutigen und den anderen Sendungen. Ihr könnt Euch dort auch die Manuskripte zum Nachlesen herunterladen, und die Computerfreaks unter Euch können den Vortrag auch „podcasten“. Und noch eins: Ihr könnt einen CD-Mitschnitt bestellen, ruft einfach an ab Dienstag unter der Nummer:07221/929-6030. Allerdings gibt es ab Herbst 2006 auch eine CD-Box mit allen Sendungen der Kinder-AULA.

So, ich hoffe, es hat Euch gefallen, nächsten Sonntag geht es weiter, dann ist ein Schriftsteller an der Reihe, der erzählt, warum er so gerne Romane schreibt. Tschüss, bis zum nächsten Mal.


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* Zum Autor:
Manfred Spitzer, geb. 1958, Studium der Medizin, Psychologie und Philosophie, Weiterbildung zum Psychiater, 1989 Habilitation im Fach Psychiatrie; 1990 – 97 Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg, seit 1997 hat Spitzer den neu eingerichteten Lehrstuhl für Psychiatrie an der Universität Ulm inne, seit 1998 leitet er die dortige Psychiatrische Universitätsklinik; seit 2004 ist Spitzer des von ihm gegründeten Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm.

Bücher:
- Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft. Klett-Verlag.
- Selbstbestimmen. Gehirnforschung und die Frage: Was sollen wir tun. Spektrum-Verlag.
- Musik im Kopf. F. K.-Verlag.
- Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Spektrum-Verlag.
- Schokolade im Gehirn. F. K.-Verlag.
- Ketchup und das kollektive Unbewusste. F. K.-Verlag.
- Geist im Netz. Spektrum-Verlag.
- Nervensachen. Schattauer-Verlag