SWR2 Wissen: Aula - Martina Sauer : Ein Bild ist ein Bild . Wie funktioniert unsere Wahrnehmung

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<<SWR2 Wissen: Aula - Martina Sauer : Ein Bild ist ein Bild . Wie funktioniert unsere Wahrnehmung >>
Autorin und Sprecherin: Martin Sauer *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 27. Mai 2012, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

* Zur Autorin:
Dr. Martina Sauer M. A. Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Klassischen Archäologie in Heidelberg, München, Paris und Basel. Dozentin für Kunst und Theorie, Hochschule für Gestaltung und Kunst, Basel. Forschungsschwerpunkte liegen in Fragen zum Bild- und Kunstbegriff, zur Ästhetik und Kulturtheorie, u.a. auf der Grundlage von Ernst Cassirer: Ausdruckswahrnehmung und Symbolbegriff.
Internet: Veröffentlichungen/Forschungsaktivitäten, URL: http://www.clio-online.de/forscherinnen=1736
Literaturauswahl:
– Faszination - Schrecken. Zur Handlungsrelevanz ästhetischer Erfahrung anhand Anselm Kiefers Deutschlandbilder, Heidelberg 2012, Buch zum Download und als Print-on-Demand in: ART-Dok, Publikationsplattform Kunstgeschichte:
 http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/ 2012/1851/ (05.03.2012)    
– Entwicklungspsychologie/Neurowissenschaft und Kunstgeschichte - Ein Beitrag zur Diskussion von Form als Grundlage von Wahrnehmungs- und Gestaltungsprinzipien, in: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal,
http://www.kunstgeschichte-ejournal.net/ 134/ (07.06.2011)


ÜBERBLICK
Installation "Your compound space" von Olafur Eliasson"Ein Bild sagt mehr als tausend Worte" - dieses Sprichwort wird neuerdings unterstützt durch die Neurowissenschaften und durch aktuelle entwicklungspsychologische Theorien. Die besagen: Menschliche Wahrnehmung im Allgemeinen und Bildwahrnehmung im Besonderen basieren immer auf vorsprachlichen affektiven Mustern, auf Gefühlen und Symbolen. Und dieser Ansatz hat Konsequenzen für die Kunstgeschichte, die ja immer auch fragt, wie man Bilder verstehen kann und soll. Dr. Martina Sauer, Kunstwissenschaftlerin, Dozentin für Kunstphilosophie und Ästhetik, erläutert diesen Ansatz.


INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: „Ein Bild ist ein Bild ist ein Bild – Wie funktioniert unsere
Wahrnehmung“.
„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“, dieses Sprichwort wird unterstützt durch die
Neurowissenschaften und durch entwicklungspsychologische Theorien und Studien. Die
besagen: Menschliche Wahrnehmung im Allgemeinen und Bildwahrnehmung im
Besonderen basieren in erster Linie auf vorsprachlichen Mustern, auf bestimmten
Gefühlen und Symbolen. Und genau dieser Ansatz hat viele Konsequenzen für die
Kunstgeschichte, die ja immer auch fragen muss, wie wirkt ein Bild, was löst es im
Betrachter aus, wie kann man Bilder verstehen.
Dr. Martina Sauer ist Kunstwissenschaftlerin, Dozentin für Kunstphilosophie und
Ästhetik; und sie beschreibt aufgrund eigener Forschungen in der SWR2 Aula diesen
neuen Weg der Bildbetrachtung und Bildanalyse.
Martina Sauer:
Wenn Sie meinen Gedankengängen folgen wollen, müssen Sie sich zunächst von
einem Vorurteil verabschieden. Dieses Vorurteil besagt: Wenn ich ein Bild anschaue,
das zum Beispiel einen Wald zeigt oder einen Kirchturm, dann sehe ich zunächst diese
konkreten Objekte. Das aber ist genau genommen falsch, auch wenn das schwer
einzusehen ist. Das, was Sie in einem Bild primär sehen bzw. wiedererkennen, und das,
was Sie parallel auch in Ihrem Alltag meinen zu erkennen, ist nicht das, was Sie wirklich
sehen. Um es in einem Satz vorweg zu sagen: Sie sehen eigentlich keine Dinge,
sondern abstrakte Muster und diese noch nicht einmal neutral, sondern mit Gefühlen
aufgeladen. Und drittens sehen Sie nicht nur mit den Augen, sondern zugleich mit allen
Sinnen. Das heißt, die Wahrnehmung funktioniert abstrakt, affektiv und amodal!
So, wie wir denken, wir würden beim Betrachten eines Bildes konkrete Gegenstände
sehen, so glauben wir, wir könnten Werke der bildenden Kunst interpretieren, indem wir
uns auf erworbenes Wissen, auf erprobte wissenschaftliche Methoden und begrifflichsprachliche
Fertigkeiten stützen. Es geht uns um kunst- und kulturgeschichtliche
Zusammenhänge, die für die Auslegung als wesentlich angesehen werden. Kann man
das Bild dem Barock zuordnen, welcher Maler aus einer anderen Epoche hat die
Bildsprache mit beeinflusst, was bedeutet die komplizierte Tiersymbolik, wer waren die
Auftraggeber? Solche und andere Fragen stehen bei der Interpretation meistens im
Mittelpunkt der Analyse. Es ist jedoch meiner Meinung nach genau diese
Zugangsweise, die uns den adäquaten Weg zur Kunst versperren kann. Sie entspricht
zugleich unserer selbstverständlich gewordenen Gewohnheit, alles, was wir sehen,
mittels Sprache als Dinge, als Objekte zu erfassen und zu kategorisieren. Doch genau
diese Gewohnheit blendet eine wichtige Seite aus, auf die uns vor allem die Kunst
aufmerksam machen kann. Denn gerade Werke der bildenden Kunst, vor allem seit der
klassischen Moderne, gewinnen ihre Wirkkraft auf einer ganz anderen Ebene, auf der
Ebene einer dezidiert abstrakten und vor allem vorsprachlichen Wahrnehmungsweise.
Zwei Bildbeispiele aus der Moderne sollen das verständlich machen.
Stellen Sie sich vor, Sie stehen ganz nah vor einem späten Landschaftsbild Cézannes,
Titel: „Montagne Sainte-Victoire“, oder vor einer großformatigen Arbeit Anselm Kiefers,
die "Böhmen liegt am Meer" heißt. Dann erkennen Sie kaum etwas Konkretes, im
Gegenteil. Es sind kleine quadratische Farbflecken in blau, orange und grün,
harmonisch aufeinander abgestimmt, die den Bildaufbau Cézannes bestimmen. Und es
sind dick aufgetragene, schrundige, ölige und in Schwarz, Braun und Grau sowie
vereinzelt in Rot schimmernde Spuren von Ölpaste, Acryl, Emulsion und Lack, die die
Komposition Kiefers ausmachen.
Es sind genau diese abstrakten Formen, die wir primär wahrnehmen und eben nicht
konkrete Gegenstände. Und das gilt für jede Wahrnehmung in diesem Bereich. Bilder
bestehen grundsätzlich nicht aus wiedererkennbaren Gegenständen, sondern zunächst
aus einer aus abstrakten Formen bestehenden Bildkomposition. Und wie gesagt:
Innerhalb der Geschichte der Kunst sind es dann vor allen die Werke seit der
Klassischen Moderne, in denen dieser Zusammenhang sehr deutlich wird. So ist es die
Form, wie es in der Fachsprache heißt, die den Bildaufbau und letztlich damit auch den
Inhalt bestimmt. Daraus leitet sich dann auch der Stilbegriff ab, den wir
selbstverständlich im Umgang mit Kunst benutzen. Wenn wir von der Epoche der
Renaissance oder des Barock sprechen, meinen wir deren jeweils sehr unterschiedliche
formale Erscheinungsbilder bzw. Stilauffassungen und damit in erster Linie abstrakte
Formen des Bildaufbaus.
Dieser formale Aufbau kann paradoxerweise auch für die lebhafte emotionale Wirkung
verantwortlich gemacht werden, die Werke der Kunst auf den Betrachter ausüben.
Damit spreche ich den zweiten Aspekt an, der unsere Wahrnehmung ausmacht: Sie
konzentriert sich nicht nur aufs Abstrakte, sondern sie ist auch noch affektiv, das heißt
die Wahrnehmung ist immer auch mit Gefühlen verbunden. So vermitteln sich mit dem
Bergmotiv Cézannes dem Betrachter Gefühle der Erhabenheit, der Würde, der
Einsamkeit und der Weite. Die Bilder von Kiefer werden dahingegen häufig als schwer,
düster und mystisch beschrieben. Wie entstehen diese Wirkungen, wie und warum
verknüpfen wir unsere Wahrnehmung abstrakter Formen mit solchen Gefühlen
beziehungsweise mit solchen emotional geprägter Wertungen? Wie entstehen diese
Wertungen?
Wahrnehmung ist nicht passiv, sondern sie ist immer mit einem Tun, einem Handeln
verbunden. Bei der Betrachtung des Bildes von Cézanne springen wir mit den Augen
zum Beispiel von einem Farbfleck zum anderen. Jeder nachfolgende Fleck gleicht dem
anderen in Größe und Form. Sie sind über die ganze Leinwand verteilt. So durchstreifen
wir mit den Augen die Leinwand, wobei das gleichförmige Springen und Abtasten eines
quadratischen Flecks nach dem anderen im Einklang mit dem harmonischen Spiel der
Farben den Rhythmus bestimmt. Wir vollziehen damit die dynamische Struktur des
Bildes nach, die sich eben als eine sehr ruhige und gleichförmige erweist. Wir tun hier
etwas. Sehen ist auch immer Erleben. Wobei unser Tun beziehungsweise Wahrnehmen
von der abstrakten Struktur der Farbflecken geleitet wird. Deren Logik bestimmt unser
Empfinden. Und dieses Empfinden verbindet sich dann mit dem, wenn auch nur
verschwommen, Wiedererkannten: dem Berg. Wenn dann von der Würde und dem
Erhabenen des Berges die Rede ist, wird deutlich: Dieses Empfinden wurde weniger
von dem Berg veranlasst, der ja bereits in unserer gewohnten Wahrnehmungsweise nur
verschwommen erkennbar ist, sondern durch unser eigenes Tun.
Ähnlich verhält es sich beim Bild von Kiefer. Durch das überlebensgroße Format stehen
wir automatisch noch näher vor dem Bild. So ist es zunächst die ausgesprochene
Materialität der in die ölige dunkle Paste eingearbeiteten Farne, die schrundige wüste
Oberfläche, die den Blick fesselt. Schließlich sind es die sehr grob aufgetragenen
richtungsbetonten Spuren, die lang gezogenen Spurrillen und aufgeworfenen
Farbwulste bei Kiefer, die den Betrachter dazu anregen, ihnen zu folgen. Wüste, Leere
und Ödnis verbinden sich hier mit der Ferne und Weite der Landschaft. Durch diesen
unmittelbaren Nachvollzug entstehen dann im Betrachter Gefühle der Sehnsucht und
ein Fernweh, um diesem Ort zu entkommen. Wir betrachten also nicht ein Bild, sehen
dort eine Landschaft mit konkreten Bäumen oder sonstigen Objekten dargestellt, die in
uns dann die dazugehörigen Gefühle auslösen, sondern wir betrachten ein Bild und
vollziehen die dynamische Struktur der Komposition, und genau dadurch werden bei uns
bestimmte Gefühle ausgelöst.
Zusammenfassend möchte ich betonen: Unabhängig von jeglichem kulturellen Wissen,
unabhängig von sprachlichen Beschreibungen und wissenschaftlichen Analysen
erschließt sich dem Betrachter aus einer abstrakt angelegten Bildanlage das Kunstwerk.
Diese vermittelt ihm darüber hinaus spezifische Stimmungen. Sie bilden die Grundlage
für entsprechende Werturteile: Wir sprechen in Bezug auf Cézanne von der würdevollen
Erscheinung eines Berges oder mit Blick auf Kiefer von der geheimnisvollen düsteren
Stimmung. In beiden Fällen sind es nur wenige Hinweise, die dem Betrachter
Anhaltspunkte für die motivische Auslegung geben: Bei Cézanne sind es einzelne
charakteristische Umrisse, die als je spezifische Formen eines Berges und eines
Baumes oder zur Unterscheidung von Land und Himmel wiedererkannt werden; bei
Kiefer sind es Farbspuren, die als Weg- bzw. Wagenspuren und als Gräser oder als
ferne Horizontlinie gedeutet werden.
In bemerkenswerter Weise finden die Aspekte, die ich eben ausgeführt habe,
Bestätigung durch entwicklungspsychologische und neurowissenschaftliche Studien. Sie
zeigen sehr deutlich, warum erstens Wahrnehmung mit Gefühlen zusammenhängt und
warum sie zweitens amodal strukturiert ist, das heißt über alle Sinne erfolgt. Diese
entwicklungspsychologischen Studien beruhen etwa auf Experimenten mit Säuglingen,
die der amerikanische Mediziner und Psychoanalytiker Daniel N. Stern mit Kollegen
durchführte und dokumentierte. Die Ergebnisse seiner Forschungen beschrieb er in
seinem Buch "Die Lebenserfahrung des Säuglings" aus dem Jahr 1986.
Auch Stern geht davon aus, dass der Wahrnehmungsprozess zunächst nur abstrakte
Formen und dynamische Bewegungsmomente als solche erfasst. Bemerkenswert ist
dabei, dass dasjenige, was von einem Säugling etwa mit den Augen gesehen wird: die
Heftigkeit einer Bewegung, die Gestalt eines Musters oder der Rhythmus von
Bewegungen, über je andere Sinne, sei es über gestische oder lautliche, beantwortet
werden kann. Das heißt, die Wahrnehmung beschränkt sich nicht auf das visuelle Feld,
sondern vermag jederzeit von den anderen Sinnen ebenso verstanden, weiterverarbeitet
und beantwortet werden. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass dieses
multisensorische Verfahren gerade das Erfassen von abstrakten Mustern erlaubt.
Wahrnehmung ist insofern nicht nur amodal, sondern auch transmodal, also nicht an
einen spezifischen Sinn gebunden und zugleich mit allen Sinnen verständlich. Das
Kommunikationsverhalten zwischen Mutter und Kind zeigt das auf sehr treffende und
anschauliche Weise. Hier ergänzen sich permanent gestische, mimische, stimmliche,
visuelle Aspekte, es geht bei dieser Kommunikation um nichtverbale Aspekte, um die
Musikalität der Stimme ebenso wie um die Performance der großen und kleinen Gesten.
In einem Experiment aus dem Jahr 1979, auf das sich Stern bezieht, wurden drei
Wochen alten Babys die Augen verbunden. Dann steckte man ihnen jeweils einen
Schnuller in den Mund, mit einer sehr unterschiedlichen Oberflächenstruktur. Der eine
war glatt und kugelförmig, der andere mit Noppen besetzt. Nachdem die Säuglinge eine
Zeitlang am Schnuller gelutscht und ihn dabei nur mit Mund und Zunge berührt hatten,
nahm man ihnen den Schnuller weg und platzierte ihn neben den anderen auf einem
Regal. Dann entfernte man die Augenbinden. Nach kurzem visuellen Vergleich
betrachteten die Säuglinge jeweils sehr intensiv und treffsicher genau den Schnuller,
den sie eben gelutscht hatten. Sie erkannten also das Objekt auf visuelle Weise wieder,
was sie zuvor mit einem ganz anderen Sinn wahrgenommen hatten.
Weiterführende Experimente bestätigten diesen ersten Befund: Dasjenige, was mit
einem Sinn wahrgenommen wird, kann jeweils auch mit anderen Sinnen erfasst werden.
So zeigte sich, dass Säuglinge sehr wohl auch Helligkeiten und Lichtstärken miteinander
vergleichen konnten. Das Messen der jeweiligen Herzfrequenz bot dafür die Grundlage.
Weiterführend konnten auch Entsprechungen zwischen auditiven und visuell
dargebotenen Zeitmustern erkannt werden. Wenn die Lippenbewegungen von
sprechenden Personen nicht mit den hörbaren Lauten übereinstimmten, reagierten
sechs Wochen alte Babys sehr viel aufmerksamer, sie waren irritiert von dieser
Nichtübereinstimmung. Stern schloss bereits aus diesen zahlreichen älteren
Experimenten, dass hier ein Vermögen vorliegen müsse, das angeboren ist, so dass
eine Wahrnehmung von einem Bereich in den anderen übersetzt werden kann.
Stern machte ebenfalls darauf aufmerksam, dass dieses Vermögen auch bei der
Betrachtung von Kunstwerken von Bedeutung ist. Wie das Beispiel des Schnullers
bereits zeigt, erfassen wir die jeweiligen abstrakten bzw. formalen Repräsentationen der
Kunstwerke, und das unabhängig davon, in welchem Material und in welcher Technik
etwas geschaffen wurde. Zwischen den Gestaltungsprinzipien des Künstlers und den
Wahrnehmungsweisen des Betrachters gibt es eine Analogie. Sie sind beide abstrakt
verfasst und beruhen auf der Unterscheidung von Formen, Intensitätsgraden und
Zeitmustern. So wird eine Form nicht nur dahingehend unterschieden, ob sie rund oder
eckig, offen oder geschlossen, hell oder dunkel ist, sondern auch im Hinblick darauf, ob
diese besonders groß, besonders hell und leuchtend ist. Zudem spielt auch die jeweilige
Ausrichtung eine wichtige Rolle. Ob es sich um eine ausgedehnte Form handelt oder um
viele kleine aneinandergereihte ist dabei wichtig. Ihr Verhältnis zueinander wird dabei
als Rhythmus erfasst. Eine weite ausgedehnte Fläche wirkt eben anders als eine von
kleinen Elementen geprägte. Diese Unterschiede und Verhältnisse werden von uns
verstanden, unabhängig aus welcher Kultur wir stammen, welches Vorwissen wir über
Kunstwerke aus den verschiedenen Epochen haben. Dieses vorsprachliche Prinzip
kennt somit keine kulturellen oder sprachlich vermittelten Grenzen und Schranken. Denn
beide, sowohl die Wahrnehmungsweise des Betrachters als auch die des Künstlers,
beruhen auf den gleichen angeborenen Wahrnehmungsprinzipien. So können wir ohne
Weiteres von einer Wahrnehmungsebene auf die andere wechseln, vom Visuellen ins
Taktile, dann ins Lautliche und so fort. Hier zeigt sich ein wichtiger grundlegender Punkt:
Nur weil Wahrnehmung auf abstrakten Prinzipien beruht und nicht bereits auf einer
bestimmten gegenständlichen Auslegung, kann diese als Grundlage für Kommunikation
funktionieren.
Entscheidend ist dabei, dass wir diese Möglichkeit der Mustererkennung auch in
Gestaltungsprozessen wiederfinden können, in denen formale Muster den
Ausgangspunkt bilden. Und es sind solche Muster, die letztlich im Hirn abgespeichert
und wieder aufgerufen werden und insofern die Grundlage für Erinnerung und
schließlich gedanklicher Leistungen werden. So hat die neuere Hirnforschung
herausgefunden, dass unser Gehirn die Außenwelt nicht eins zu eins abbildet. Wir
sehen nicht einfach nur einen Tisch vor uns oder die Farbe Rot an irgendeinem Objekt,
unser Gehirn baut vielmehr aus bestimmten abstrakten Signalen, die es mittels der
Sinne aus der Umwelt aufnimmt, konkrete Gegenstände und Farberlebnisse quasi
„zusammen“. Das Gehirn konstruiert Gegenstände. Es bilden sich neuronale Muster, die
einen Tisch repräsentieren oder eine bestimmte Farbe. Dabei verfährt unser Gehirn
immer transmodal, es verknüpft verschiedene sinnliche Ebenen: der Tisch hat eine
bestimmte Farbe, einen bestimmten Geruch, er fühlt sich so und so an.
Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist, dass mit der Wahrnehmung von abstrakten
Mustern zugleich immer das Gefühl angesprochen wird. So betont Stern, dass jedes
Element, das wir wahrnehmen, zugleich in spezifisch affektiver und damit die Gefühle
ansprechender Weise aufgefasst wird. Die Wahrnehmung oder das Erfassen dieser
abstrakten Muster ist also nicht neutral und damit rein formal, sondern sie wird von den
spezifischen Formen, den unterschiedlichen Intensitätsgraden und dem zeitlichen
Muster stimuliert. Die Beobachtung, dass Wahrnehmungsqualitäten immer in
Gefühlsqualitäten übersetzt werden, bezeichnet Stern schließlich als "Vitalitätsaffekte".
Darunter sind keine konkreten Emotionen wie etwa Trauer, Wut oder Angst zu
verstehen. Es handelt sich bei ihnen "nur" um einen je spezifischen Richtungsimpuls,
den jedes Element eines Musters hat. Sei es, dass eine Bewegung heftig, ein Lichtstrahl
hell oder ein Fleck gleichförmig ist. Stern spricht entsprechend von dynamischen,
kinetischen Begriffen, mit denen sich die Vitalitätsaffekte beschreiben lassen, wie etwa
"aufwallend", "verblassend", "explosionsartig", abklingend", "berstend". So hat
grundsätzlich jedes gesehene Element, jede Form und Bewegung einen eigenen
affektiven Impulswert. Er gehört quasi zu ihm. Der Strich auf einem Bild ist nicht nur ein
Strich, der Fleck nicht nur ein Fleck, er ist auch eine Empfindung. Zusammen im
Verbund ergeben auch sie ein Muster. Sie vermitteln dann eine dazugehörige
spezifische Stimmung. Der Betrachter erkennt die Motive auf einem Bild nicht nur, er
erlebt sie. Die Stimmungen, die sie ihm vermitteln, sind letztlich seine eigenen.
Bildende Kunst erschließt uns einen neuen vorsprachlichen affektiven Erfahrungsraum.
Sie befreit aus den sprachlichen Klischees, die meistens unsere Empfindungen
überlagern und all das ausblenden, was sich nicht in Begriffen ordnen und analysieren
lässt.
Das meint auch Stern. Er weist uns darauf hin, dass wir durch das Wahrnehmen von
Kunst einen ursprünglichen Erlebnishorizont wieder erobern können, der auf natürliche
Weise bereits mit dem Spracherwerb ab 18 Monaten zunehmend verloren gegangen ist.
Und gerade unsere moderne, vor allem auf Rationalität bedachte Gesellschaft fördert
diese Tendenz noch. So geht es zum Beispiel um das faszinierende Erlebnis des
Sonnenlichts, um das Wahrnehmen der ursprünglichen Intensität, um Wärme, Form,
Helligkeit, Annehmlichkeit, um die ganze Palette sinnlicher Wahrnehmungsformen, die
uns ursprünglich das globale Erleben und in neuer Weise die bildende Kunst bereit hält.
Diese von Stern herausgestellten Zusammenhänge treffen sich in bemerkenswerter
Weise mit den aktuellen Forschungen zu den mittlerweile berühmten Spiegelneuronen,
wobei diese Richtung in Bezug auf die Analyse der Bildwahrnehmung und Bildwirkung
noch ganz am Anfang steht.
Die Spiegelneuronenforschung hat das Einfühlungsvermögen des Menschen im Blick.
Sie begann mit einer zufälligen Entdeckung einer italienischen Forschergruppe in Parma
1996 an Affen. Die Wissenschaftler beobachteten, dass, wenn ein Affe sieht, wie ein
anderer nach einer Banane greift, im Hirn des Beobachters dieselben neuronalen
Regionen aktiviert werden, so als würde er selbst nach der Banane greifen. Im Gehirn
des Beobachters wird die Handlung, das Greifen nach der Banane, quasi im virtuellen
neuronalen Raum nachgeahmt und durchgespielt. Der beobachtende Affe kann sich
mittels dieses Prozesses in den anderen Affen hineinfühlen. Empathie wird möglich,
indem er dessen Handlung imitiert: So spiegelt er im Kopf die Impulse der Bewegung,
die Richtungen und die unterschiedlichen Intensitäten bzw. Reizstärken sowie letztlich
das, was mit der Handlung bezweckt wird: Essen. Über die Wiederholung der abstrakten
Muster und deren affektiven Potentiale durchlebt der Affe das, was der andere erlebt.
Derart stimuliert wird auch er wahrscheinlich Hunger bekommen und sich nach einer
Banane sehnen und eine ähnliche Handlung ausführen. Spiegelneuronen sind für
Empathie zuständig, sie evozieren im Beobachter nicht nur bestimmte
Handlungsmuster, sondern auch die dazugehörigen Erregungsmuster. Sie ermöglichen
die Übertragung der Information von einem Sinn in den anderen. Sie erlauben den
transmodalen Transfer und bestätigen damit indirekt die Annahmen von Stern.
Handlungen, die mit den Händen ausgeführt wurden, werden visuell beobachtet und
dann vom Beobachter wieder in eine konkrete Handlung umgesetzt. Parallel dazu wird
das Motorische und Visuelle ins Emotionale übersetzt, die Handlungen sind mit
bestimmten Erregungszuständen verbunden.
Vittorio Gallese war ein Mitglied der italienischen Forschergruppe und zugleich der
erste, der versuchte, die Funktion der Spiegelneuronen auf die Wahrnehmung von
Bildern zu übertragen. In einem Forschungsbeitrag von 2007, den er gemeinsam mit
dem amerikanischen Kunsthistoriker David Freedberg abstimmte, fasste Gallese seine
neuen Thesen zusammen. Er sagt, bei jeder Bildbetrachtung werden die
Spiegelneuronen im Gehirn des Betrachters aktiviert, sie sind nachahmend tätig, sie
ahmen die wahrnehmbaren Muster nach und evozieren im Gemüt des Betrachters
gleichzeitig bestimmte Empfindungen und Assoziationen. Dieser aktive Nachvollzug
findet auch dann statt, wenn wir ungegenständliche abstrakte Bilder vor uns haben, die
nichts Konkretes zeigen.
Die Arbeiten des amerikanischen abstrakten Expressionisten Jackson Pollock lösen
beispielsweise im Betrachter häufig konkrete körperliche Empfindungen aus. Es sind die
Pinselstriche bzw. die Spuren, die die aus den Farbdosen laufenden Farben
hinterlassen haben, die von den Spiegelneuronen des Betrachters simuliert und dann
körperlich so empfunden werden, als ob der Betrachter diese selbst ausgeführt hätte.
Dasselbe passiert beim Betrachten eines Bildes des italienischen Künstlers Lucio
Fontana, der in seine Leinwände hineinschneidet und sie mit diesen groben
Einschnitten regelrecht verletzt. Fetzen der leeren und etwa nur mit Rot bemalten
Leinwände wölben sich nach der Tat nach innen. Die Spiegelneuronen des Betrachters
scheinen die Geste, mit der die Schnitte vom wohl wichtigsten Vertreter der italienischen
Arte Povera gemacht wurden, nachzuahmen: Die Empfindungen, die dabei ausgelöst
werden, sind so stark, dass der Betrachter sich regelrecht körperlich betroffen fühlt, so
als ob er selbst die Tat ausgeführt hätte. Die Reduzierung des Kunstwerks auf den
Schnitt und damit die Reduzierung der Tat im Kopf auf diesen Schnitt, die hier ohne
Bezug zu einer konkreten Situation nachgeahmt werden kann, trägt hier zur Steigerung
des Gefühls bei. Für das Wahrnehmen und Fühlen ist es daher wesentlich, wie viele
Schnitte auf der Leinwand sind, wie lang und wie tief sie sind und welche Farbe und
Struktur die Leinwand hat. Erneut ist es die Reduzierung auf wenige abstrakte, formale
Eigenschaften, die wir unterscheiden können, die uns in besonderer Weise anregt und
unsere Empfindungen stimuliert. Gefühlsmäßige Assoziationen im Hinblick auf ein
Verletztsein und Ausgeliefertsein können sich daraufhin einstellen.
Das Verstehen von Gesehenem und ein Austausch darüber mit anderen hängt demnach
im Wesentlichen von einer Wahrnehmungsstruktur ab, die abstrakt organisiert ist, wie
etwa ein Computerprogramm. Die Unterscheidung der einzelnen Elemente erfolgt
jedoch nicht über 0- und 1-Sequenzen, sondern durch die Unterscheidung
verschiedener Formen nach Größe, Längen- und Breitenausdehnung, nach Helligkeiten,
nach Farben, und mit Bezug auf Rhythmen und Geschwindigkeiten. Diese
unterschiedenen Merkmale werden zudem nicht neutral erfasst, sondern zugleich vom
Betrachter körperlich nachempfunden. Sie sprechen das Gefühl an. Es sind letztlich
diese abstrakten und zugleich affektiv wahrgenommenen Momente, die vermittelt über
die Hirntätigkeit von allen Sinnen: dem Auge, dem Ohr, der Hand aber auch
lautsprachlich und letztlich gedanklich verstanden und entsprechend auch beantwortet
werden können.
Wenn also Wahrnehmung auf einer Ebene verstanden werden kann, die vor jeder
sprachlichen und gedanklichen Leistungsfähigkeit schon greift und zugleich unser
gestisches und affektives, von Gefühlen geleitetes Vermögen anspricht, so haben
Bilder, wie wir intuitiv immer schon ahnten, einen erheblichen Einfluss auf unsere
Empfindungen als Betrachter. Sie prägen dann, wie die Beispiele Cézanne und Kiefer
zeigen, nicht nur die Auslegung des Gesehenen, sondern auch unsere Stimmungen.
Wahrnehmen heißt handeln und erleben. Deshalb beeinflussen die in uns wach
gerufenen Erlebnisse und Stimmungen dann wiederum unsere „echten“ Handlungen
und Entscheidungen. Sie können als Antworten auf die inneren Erlebnisse verstanden
werden.
Bildmächtige Werbung und Propaganda nutzen diese Zusammenhänge schon lange für
sich. Als Fazit lässt sich hier festhalten: Wahrnehmung bildet nicht nur die Grundlage für
Kommunikation, sondern sie kann auf Grund ihrer abstrakten formalen, amodalen und
affektiven Prinzipien als ihr Ur-Medium angesehen werden. Und gerade die bildenden
Künste vermögen zur Aufdeckung dieser Zusammenhänge und den Konsequenzen, die
sich daraus ziehen lassen, einen wesentlichen Beitrag zu leisten.
So könnte man im Bereich der Medienpädagogik bereits Schülerinnen und Schüln für
die Zusammenhänge, die ich eben skizziert habe, sensibilisieren, um ihnen so früh wie
möglich nicht nur einen bewussten, sondern wenn möglich spielerischen Umgang damit
zu ermöglichen, so dass das, was zu uns gehört, statt als Schwäche als eine Stärke
behandelt werden kann, auf deren Grundlage wir lernen können, verantwortlich mit
unseren Entscheidungen und Handlungen, die auf unserer Wahrnehmung aufbauen,
umzugehen.
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