SWR2 Wissen Aula 10-8- Claus Biegert: Strahlende Sprache . Die Begriffe und die Atomkraft

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Autor und Sprecher: Claus Biegert *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 15. August 2010, 8.30 Uhr, SWR 2
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ÜBERBLICK
Am Anfang war das Wort. Bevor in der Wüste White Sands in New Mexico die erste Atombombe gezündet wurde, bekam sie einen Namen: "Trinity" - Dreifaltigkeit. Nach "Trinity" konnte es nur noch banaler werden. Die Hiroshima-Bombe nannte man "Little Boy", die für Nagasaki "Fat Man" - kleiner Junge und dicker Mann, es folgten "Climax", "Hornet" und "Mike". Begriffe kaschieren bis heute die zerstörerische Kraft und die Folgen der Kernspaltung. Der Kulturjournalist Claus Biegert geht der fatalen und oftmals zynischen Namensgebung auf den Grund.

* Zum Autor:
Claus Biegert, Jahrgang 1947, Ausbildung zum Redakteur bei der Münchner Abendzeitung. Seit 1973 freier Journalist und Buchautor. Zahlreiche Recherchen bei Indianern in Kanada und den USA; dabei enge Zusammenarbeit mit den Haudenosaunee (Irokesen). Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks, der Süddeutschen Zeitung und der Zeitschrift "natur & kosmos". Dozent an der Deutschen Journalistenschule. Beiratsmitglied der Gesellschaft für bedrohte Völker. Initiator des World Uranium Hearing ,1992 in Salzburg, und Gründer des internationalen Nuclear-Free Future Award, der seit 1998 jährlich an verschiedenen Orten der welt vergeben wird. Bücher und Filme zu den Themen: Indianer, Ökologie und Atomtechnologie; derzeit entsteht ein Film über die Onondaga Nation, eine der sechs Völker der Konföderation der Haudenosaunee. Biegert lebt in München und am Staffelsee.
Audio-CD / Bücher (Auswahl):
- Native America Calling (Audio-CD). Verlag Trikont. 2010.
- Vom Wesen des Wassers (zus. mit Georg Gaupp-Berghausen). Verlag Frederking & Thaler. 2006.

INHALT________________________________________________________________
Ansage:
Mit dem Thema: „Strahlende Sprache – Die Begriffe und die Atomspaltung“.
Deutschland diskutiert über Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke, auch über die Frage, ob wir überhaupt noch auf Kernenergie setzen sollen, weil die damit verbundenen Gefahren einfach viel zu groß sind. Um genau diese Gefahren geht es auch in der SWR2 Aula. Der Kulturjournalist Claus Biegert sagt: Am Anfang war das Wort, und das Wort diente und dient dazu, die Gefahr der Atomspaltung, das Zerstörungspotential der Atombomben und Kernkraftwerke zu kaschieren. Deshalb wimmelt es im Reich des Urans und Plutoniums von schönfärberischen Begriffen und
Namen: die Hiroshima-Bombe hieß Little Boy, die von Nagasaki Fat Man, es folgten Climax, Hornet und Mike. Sprache steht somit im Dienst einer gefährlichen Verharmlosungstaktik. Wie die genau aussieht, sagt Claus Biegert.
Claus Biegert:
Verschlüsselt, verdeckt, verharmlosend, irreführend, übertreibend – kaum war die Kernspaltung gelungen, nahm sie von der Sprache Gebrauch und stellte sie von nun an in ihren Dienst. Mit Enrico Fermi ging es los: Der Physiker aus Rom hatte 1938 den Nobelpreis erhalten und war danach mit seiner Familie in die USA emigiriert; Fermis Frau war Jüdin, und im faschistischen Italien hatte Benito Mussolini den Anti-Semitismus in Gesetzen verankert. Im Dezember 1942 baute Fermi unter den Rängen des Stagg Field Stadiums der University of Chicago seinen „pile“ auf – Haufen –, so nannte er den kleinen Uran-Graphit-Reaktor. Vorher war bereits der Wortwechsel festgelegt worden, mit dem das Gelingen – oder Misslingen – der ersten Kettenreaktion in den exklusiven Zirkeln der Wissenschaft kommuniziert werden sollte.
Nach dem Versuch ließ Fermi seinen Kollegen Arthur Compton, ebenfalls Nobelpreisträger in Physik, den Präsidenten der Harvard University, James Conant, anrufen. Als die Verbindung zustande kam, sagte Compton: „The Italian navigator has landed in the New World – Der italienische Seefahrer ist in der Neuen Welt gelandet.“ – „How did he find the natives? – Wie begegneten ihm die Ureinwohner?“ fragte Conant. – „Very friendly – Sehr freundlich“, lautete die Antwort aus Chicago. „Very friendly“ bedeutete: Die Kettenreaktion war gelungen.
Freundlich reagierten auch die Tewa-Indianer der Pueblo-Dörfer Santa Clara und San Ildefonso im bergigen Norden des Staates New Mexico, als bald darauf die Wissenschaftler des „Manhattan Project“ auf ihrem Land die Los Alamos National Laboratories errichteten. „Manhattan“ bezog sich auf den New Yorker Stadtteil, in dem der Plan, eine Atombombe zu bauen, in Angriff genommen worden war. Präsident Roosevelt hatte die Order gegeben, nachdem Albert Einstein ihn auf die Gefahr einer Atombombe der Nazis hingewiesen hatte. Los Alamos existierte auf keiner Landkarte, die Anschrift war das Postfach 1663 in der Kleinstadt Santa Fe. Der Status der Elite, der mit der geheimen Mission einherging, entschädigte die Ingenieure und Wissenschaftler mit ihren Familien für das Leben in der Isolation. Kinder, die während dieser Zeit in Los Alamos zur Welt kamen, erhielten in ihrer Geburtsurkunde als Geburtsort den Eintrag: Postfach 1663.
Im Sommer 1945 war es dann soweit: In der Wüste White Sands, drei Autostunden südlich von Los Alamos, wurde die erste Atombombe gezündet; sie trug den Namen „Trinity“ – Dreifaltigkeit. Was ließ den Atomphysiker und Kopf des „Manhattan Project“, Robert Oppenheimer, aus dem Wortschatz des Göttlichen schöpfen? Spürte er bei der Gewaltigkeit des Unterfangens die Nähe zu den höheren Mächten?
Als dann am 16. Juli 1945 der erste Atompilz im Morgengrauen zum Himmel wuchs, musste er, so bekannte Oppenheimer später, an das Hindu-Epos „Bhagavad Gita“ denken, an den Gott Vishnu, der da sagt: „Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten.“
Die Assoziation lässt sich gut verstehen, wenn man in Betracht zieht, dass die Verantwortlichen des „Manhattan Project“ mangels Erfahrung fürchteten, die Explosion könnte die Erdatmosphäre in Brand setzen. Sie waren sich nicht sicher und taten es trotzdem. Auch Enrico Fermi wusste nicht, ob seine Berechnungen einen Unfall ausschlossen; eine Verseuchung von Chicago gehörte durchaus in den Bereich des Möglichen.
Es ist, als hätten die Wissenschaftler damals den moralischen Code geliefert für die künftige Arbeitsmethode in den Laboren weltweit: erst erproben, dann prüfen.
Erprobt wurde mit der neuen Waffe auch das Modell, das uns heute als „embedded journalism“ bekannt ist: Eine handverlesene Gruppe von Meinungsmachern, die sich selbst „Wisemen“ nannte, wurde vom Pentagon ins Vertrauen gezogen und um Rat gebeten, wie die Entwicklung der Atombombe der Öffentlichkeit nahe gebracht werden könne. Man traf sich im University Club in Manhattan und kam überein, einen einzigen, so genannten „Pool Reporter“ zuzulassen, dessen Berichte dann die Grundlage für alle anderen Korrespondenten liefern sollte. Die Wahl fiel auf den New York Times-Mann Bill Lawrence; er war auch für die Berichterstattung der Bombenabwürfe im August über Japan verantwortlich.
Nach Trinity konnten die Namen nur noch banal ausfallen: die Bombe für Hiroshima nannte man Little Boy, die für Nagasaki Fat Man. Kleiner Junge und Dicker Mann. Die Skala der amerikanischen Testbomben in den folgenden Jahrzehnten klingt wie das Stakkato einer Hitliste aus dem Radio. Tödliche Strahlung, von Sprache ummantelt: Bravo, King, Sugar, Priscilla, Zucchini, Sunset, Climax, Hornet, Smoky, Easy, X-Ray, Starfish Prime, Cactus, Mike; sogar an die indianischen Bewohner des Kontinents wurde erinnert: Huron, Seminole, Sequoia, Mohawk, Zuni, Aztec, Cherokee, Apache.
Das Arsenal der Zerstörung wuchs und mit ihm wuchsen Wohlstand, Hybris und Frivolität. Bereits wenige Tage nach der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki kündigten diverse Nachtclubs in Los Angeles ihre Stripper-Girls als „Atomic Bomb Dancers“ an, die Barkeeper mixten „Atomic Cocktails“, und es dauerte nur zwei Wochen, bis ein Juwelierladen in New York City Anstecknadeln und Ohrringe als „atomic inspired“ anbot; sie zu tragen, so war im Schaufenster zu lesen, sei „so wagemutig wie der Abwurf der ersten Atombombe“. Hollywood gab im September 1945 seinem Starlet Linda Christians den Beinamen „Anatomic Bomb“ und Life-Magazin nahm die Unbekannte mit einem Busenbild auf den Titel. Die Sex-Bombe war geboren. In den fünfziger Jahren ging es so weiter: Die Hotels von Las Vegas veranstalteten jedes Jahr Schönheitswettbewerbe zur „Miss Atomic Bomb“. Der schwedischen Schauspielerin Anita Ekberg attestieren die Illustrierten einen „Atombusen“. Und als Elvis Presley sein Debut in Las Vegas gab, wurde er als „The Atomic Powered Singer“ angekündigt. Jeder nahm sich, was er brauchte; selbst die Gottesfürchtigen bedienten sich und aktualisierten das Jüngste Gericht; ein gängiger Gospel der 50er Jahre hieß „Jesus hits like an Atomic Bomb“. Und das erste Atom-U-Boot der US-Marine hieß „Corpus Christi“.
Die Atomindustrie fand ihren Fürsprecher in Präsident Dwight Eisenhower, der 1953 in einer legendären Rede vor den Vereinten Nationen den Slogan Atoms for Peace in die Welt setzte – bis heute sprechen wir von der friedlichen Nutzung der Atomkraft, die schon bald als Kernkraft präsentiert wurde, um sie von der Bombe zu distanzieren. Walt Disney übernahm in den USA den Job der Volksbildung und kreierte in seinen Trickfilmstudios The Friendly Atom, ein magisches Teilchen, das dem Menschen dienstbar war. In den siebziger Jahren steuerte die Industrie ihre eigenen Comics bei: „Atom, die Elektrizität und du“ von der Commonwealth Edison Company, „Nur für reife Leser“ von Westinghouse, „Micky Maus und Goofy lernen alles über Energie“ von Exxon, „Der Kampf ums Überleben – Der Kampf gegen die Umweltverschmutzung“ von Virginia Electric and Power. Kamen ablehnende Stimmen aus der Bevölkerung, wurden Ärzte zu Rate gezogen; sie bescheinigten den Atom-Kritikern dann Symptome einer neuen Krankheit: Radiophobia – Radiophobie, eine Strahlungspsychose.
Während in Nordamerika der Uran-Boom einem Rausch glich und im Alltag seine Spur hinterließ (das Uranium Cafe in Grants, New Mexico, ist immer noch in Betrieb), war man in der Sowjetunion vorsichtig: Uran für Moskau wurde verschleiert; die größte Mine, auf DDR-Boden gelegen, trug im Namen, was man offiziell vorgab abzubauen: das Schwermetall Wismut. In ihren Prognosen für ein Leben mit dem Atom waren die Sowjets den Amerikanern ebenbürtig: „Wir machen Berge dem Erdboden gleich, bringen Wasser in die Wüste und schlagen Schneisen durch den Dschungel. Wir bringen Leben, Glück und Wohlstand an Orte, auf die noch kein Mensch seinen Fuß gesetzt hat.“ So schwärmte damals Wladimir Wischinski, der Verantwortliche des sowjetischen Atomprogramms.
Die BRD hatte in dieser Zeit ihren ersten Minister für Atomfragen, Franz-Josef Strauß, der es als seine Mission betrachtete, die „lichte Seite der Atomkraft“ den Menschen näher zu bringen und sich dafür einsetzte, das „bessere Atombild“ in die Schulen zu bringen. Die 50er Jahre sind die Jahre der frühen Verheißungen; die Begeisterung geht durch alle politischen Lager.
• Der Philosoph Karl Jaspers, 1958: „Die Chance ist ungeheuer: Während die Atombombe verschwindet, würde die Atomenergie ein neues Zeitalter der Arbeit und Wirtschaft herbeiführen … wenn das Atom nicht die Vernichtung bringt, stellt es das gesamte Dasein auf neuen Grund.“
• Der Philosoph Ernst Bloch, 1959, in „Prinzip Hoffnung“: „Wie die Kettenreaktionen auf der Sonne uns Wärme, Licht und Leben bringen, so schafft die Atomenergie, in anderer Maschinerie als der Bombe, in der blauen Atmosphäre des Friedens, aus Wüste Fruchtland, aus Eis Frühling zu schaffen. Einige hundert Pfund Uranium und Thorium reichen aus, die Sahara und die Wüste Gobi verschwinden zu lassen, Sibirien und Nordkanada, Grönland und die Antarktis zur Riviera zu verwandeln.“
• Das Godesberger Grundsatzprogramm der SPD, 1959, in seiner Präambel: „… die Hoffnung dieser Zeit, dass der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann, wenn er seine täglich wachsende Macht über die Naturkräfte nur für friedliche Zwecke einsetzt."
Gleichzeitig war Kalter Krieg. Als die US-Air Force ein Gerät entwickelte, mit dem sich Atomtests der Sowjets atmosphärisch feststellen ließen, setzte sie zum Test der neuen Technologie im Staat Washington selbst radioaktive Substanzen frei. Das
heimliche Manöver im Dezember 1949 trug den Decknamen Green Run – Grüner Lauf. Heute ist die Farbe Grün eine politische, und es wundert nicht, dass die Stromerzeuger der Vereinigten Staaten seit Beginn des 21. Jahrhunderts beim Atomstrom vereint von der Green Energy sprechen. Verschleierung gehörte schon immer zum Metier. Von dem ehemaligen US-Innenminister Stewart Udall ist folgendes Zitat überliefert: „Die Täuschungen und Lügen, mit denen unsere Regierung die Atomindustrie geschützt hat, sind einmalig in der Geschichte der USA. Unsere Regierung hat eine Industrie geschützt, die sich von nichts und niemandem aufhalten ließ, und die bereit war, unsere eigenen Leute zu opfern."
Erstaunlich ehrlich ist dagegen die Information auf dem Heldenfriedhof von Arlington; an einem Grabstein aus dem Jahr 1957 hängt eine Plakette mit der Inschrift: „Opfer eines Atomunfalls. Der Leichnam ist mit langlebigen radioaktiven Isotopen kontaminiert und darf unter keinen Umständen ohne Erlaubnis der Atomic Energy Commission von dieser Stätte entfernt werden.“ In dem Grab liegt ein Techniker aus dem Versuchsreaktor SL-1 im Bundesstaat Idaho.
In der Bundesrepublik Deutschland hatte die Atomindustrie Ende der 50er Jahre mit Gründung des gemeinnützigen Deutschen Atomforums e.V. ihre eigene PR-Agentur etabliert. Als das Atomforum am 1. Juli 2009, im Beisein von Bundeskanzlerin Angela Merkel, sein 50. Jubiläum feierte, bescheinigte Umweltminister Sigmar Gabriel dem Branchenverband eine „sinnlose Existenz“ und ein „halbes Jahrhundert Lug und Trug". Das Forum, so der SPD-Politiker wörtlich, habe „keinen Propagandatrick und erst recht keine Kosten gescheut, den Deutschen die Atomkraft schmackhaft zu machen.“ Claudia Roth, Parteivorsitzende der Grünen, stufte den Verein gar unter die „gemeingefährlichen Lobbyverbände Deutschlands“ ein. Im Atomforum selbst schüttelte man die „schrille und überzogene“ Kritik ab. Zufrieden ist man dafür mit der letzten flächendeckenden Kampagne „Deutschlands ungeliebte Klimaschützer“. In Anzeigen und in einem kostenlosen Büchlein wurden die AKWs ins rechte Licht gesetzt, mit Schafen, Schrebergärtnern, Rübenbauern und Freibadenden im Vordergrund. Inzwischen wird das Argument „Kernkraft als Klimaschutz“ international gehandelt, obgleich es keiner seriösen Prüfung standhält. Ist ein Zusammenhang erst einmal in der Sprache verankert, verblasst die Lüge, die ihm innewohnt.
Wie eng das Verhältnis von Stromversorgern und PR-Agenturen ist, zeigt ein über 100 Seiten starkes Strategiepapier, mit dem sich die Unternehmensberatung PRGS bei E.on bewerben wollte; die Berliner Firma hat Büros in München, Brüssel, London und Washington. Das Dokument kam 2009 durch eine undichte Stelle an die Öffentlichkeit. Man rät darin den Atomstromversorgern, sich ein Öko-Image zuzulegen. Erfolgreich sei eine Pro-Atom-Strategie dann, wenn "beharrlich mit dem Argument Klimaschutz und Versorgungssicherheit" der Schulterschluss zwischen Kernkraft und erneuerbaren Energien betont werde. Die Agentur PRGS schlägt auch eine eigene Atomkraftstudie vor, die man dann gezielt im Fernsehen platzieren werde. Empfohlen werden die Sendungen „Abenteuer Wissen“ (im ZDF) und „Galileo“ (bei ProSieben). Zitat von Seite 93: “Politiker bevorzugen wie Journalisten quellenbasiertes Informationsmaterial, das die Neutralität der Information suggeriert.”
Geht es um radioaktiven Abfall, dessen Halbwertzeiten menschliches Zeitgefühl sprengen, dann ist von Entsorgung die Rede. Aus dem Weg geräumt wird mit derartiger Wortwahl vor allem die Sorge. Deshalb nannte der Schriftsteller Nicolas
Born die „Entsorgung“ einmal eine „Halluzination“, also eine Sinnestäuschung. Längst wissen wir, dass die Entsorgung radioaktiven Mülls bis heute nicht stattfindet. Für den Journalisten Jürgen Schreiber ist das Wort selbst ein Paradebeispiel für raschen Bedeutungswandel. Zitat:“ Stand Entsorgung vor dem Atomzeitalter für etwas Harmloses, steht es künftig für etwas absolut Tödliches. Semiotisch gesprochen, deckt die frühere Bedeutung dieses sprachlichen Zeichens die Wirklichkeit schon heute nicht mehr ab.“
Nach einer Betriebsstörung – aus einer solchen kann der größte anzunehmende Unfall GAU werden – wird als erstes der Werbeetat erhöht. Nachdem im März 1979 die Kontrollsysteme des Reaktors Three Mile Island im US-Staat Pennsylvania versagten und die Nachrichten nur in Portionen nach draußen drangen, kam es zu einer Massenflucht der Bevölkerung. Dem verlorenen Vertrauen in die Atomkraft versuchte die Industrie danach mit einem Dollareinsatz in Millionenhöhe zu begegnen. Anzeigen wurden in Frauenzeitschriften geschaltet und kostenlose Videos mit Experten-Interviews an die Fernsehsender verteilt. Am 18. Oktober 1979, dem offiziellen Aufklärungstag der Atomenergie, gab es quer durch die Vereinigten Staaten über 1000 Veranstaltungen, darunter auch einen Brunch in Washington. D.C. für die Ehefrauen der Kongressabgeordneten. Als die Schauspielerin Jane Fonda und ihr Mann Tom Hayden auf eine Anti-Atom-Tour gingen, schickte ihnen die Atomindustrie – als, wie sie es ausdrückten, „Wahrheitskommando“ – zwei Nuklearingenieure hinterher, die die Argumente der Aktivisten zerpflücken sollten.
Kritik gilt in dieser Branche immer als Angriff. Die ersten Jahrzehnte wurde die Industrie von ihren Mitarbeitern vor Protesten und prüfenden Blicken von außen geschützt. Doch auch innerhalb gab es keine prüfenden Blicke, von Protesten gegen Arbeitsbedingungen ganz zu schweigen. Es war die Angst, den eigenen Arbeitsplatz zu verlieren, die die Arbeiter stumm machte.
Der belgische Dokumentarfilmer Alain de Halleux, der für den deutsch-französischen Fernsehsender ARTE von 2007 bis 2008 die Arbeitsbedingungen in französischen, englischen und schwedischen Kernkraftwerken untersuchte, konnte plötzlich eine ungewohnte Gesprächsbereitschaft feststellen. Die Angst vor einem Unfall war inzwischen größer, als die Angst, den Job zu verlieren. Die Angestellten hatten realisiert, dass kollektives Schweigen die Sicherheit gefährdet. Regisseur Alain de Halleux in einem Interview: „Die Atomindustrie hegt seit vielen Jahren ein großes Geheimnis, und niemand spricht darüber. In Frankreich fangen die Arbeiter jetzt an zu reden, weil sie fürchten, dass es zu einer Riesenkatastrophe führen wird, so wie die Atomindustrie gemanagt wird. Darum haben sie die Verantwortung übernommen, vor meiner Kamera zu sprechen.“ Die Arbeiter sprechen über Frankreichs 54 Reaktoren, aber vor allem über einen, der an der deutschen Grenze steht: der Reaktor Fessenheim. Seine Zeit des Abschaltens steht nahe, seine Laufzeitverlängerung wird diskutiert. Laufzeitverlängerung ist auch ein Begriff, den es vor kurzem noch nicht gab. Inzwischen verbergen sich hinter dem blassen, zusammengesetzten Substantiv Szenarien des Schreckens. Das Kernkraftwerk Fessenheim heißt bei den Arbeitern bereits jetzt schon „Todes-AKW“.
Alles beginnt mit dem Schwermetall Uran. Namenspatron ist der Planet Uranus; ursprünglich ist Uranus der griechische Gott der Himmelskräfte und Sohn der Erdgöttin Gaja. Uran, das in den Handel kommt, ist bereits Uranoxid und heißt ob
seiner gelben Farbe weltweit Yellow Cake. Kein Signal der Vorsicht geht hiervon aus. Keine Assoziationen zu den Menschenrechtsverletzungen und der Naturzerstörung bei der Gewinnung des Rohstoffs kommen hier auf. Das Uran, das bei der Anreicherung, also der Aufbereitung für die Reaktortauglichkeit, abfällt, heißt abgereichertes Uran. Es gilt nicht als Atommüll, sondern wird als Wertstoff eingestuft, da mit ihm panzerbrechende Munition produziert wird. Obgleich es die Kriegsschauplätze der Erde radioaktiv verseucht, fällt es nicht unter die Aufsicht der Schaltzentrale unserer nuklearen Gesellschaft: der International Atomic Energy Agency, kurz IAEA. Sie wurde 1957 in Wien ins Leben gerufen, mit dem Mandat, radioaktive Spaltprodukte auf der Erde zu kontrollieren und die Verbreitung von Atomenergie voranzutreiben; nicht umsonst die überraschend ehrliche Bezeichnung „Agentur“. Im Deutschen wurde daraus die IAEO: Internationale Atomenergieorganisation. Die IAEA kontrolliert sämtliche Veröffentlichungen der Weltgesundheitsorganisation WHO, die mit radioaktiver Strahlung zu tun haben: wenn die Fakten der Agentur nicht gefallen, werden sie korrigiert. Widerspruch kann die WHO nicht einlegen; ein Vertrag von 1959 bindet sie an die Zensur. Mediziner wissen, dass sich Berichte der WHO, wenn es um radioaktive Strahlung geht, nicht als zuverlässig einstufen lassen.
Deutschland hat, wie eine Anfrage der Grünen beim Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 2009 offenbarte, bis dato 664,6 Millionen Euro an die IAEA gezahlt. In Anbetracht der bedrohlichen Lage im deutschen Zwischenlager Asse II vermutlich nicht für die Überwachung von strahlenden Substanzen, sondern für die Verbreitung deutscher Nukleartechnologie.
Bei Asse II endet die Macht der Sprache. Hier liegen Fässer mit Plutonium vergraben; in einem Salzstock, der inzwischen von eindringendem Wasser in seiner Standfestigkeit erschüttert wird. Wir lesen dann vom „Erstickungstod für die Kernenergie“ – wenn die Atomindustrie über strengere Endlagergesetze klagt. Asse II ist eine Parabel. Der Mythos der friedlichen Nutzung strahlt aus dem Erdinneren, wo noch vor wenigen Jahren unterirdische Gottesdienste abgehalten wurden. Das bereits vorgestellte Atomforum e.V. soll von 1997 bis 2002, so recherchierte das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, fast 700.000 Euro an die Betreiberfirma gezahlt haben. Einziger Verwendungszweck: Öffentlichkeitsarbeit.
„Das Erz der Apokalypse“ verfolgt uns. Diese Sprachschöpfung stammt von dem amerikanischen Autor Tom Zoeller, der in seinem 2009 in den USA erschienen Buch „Uranium“ auf allen fünf Kontinenten dem tödlichen Schwermetall aus der Erdkruste nachspürt. Auch der gemeinnützige Verein „Atomforum e. V.“ hat dafür in den Buchstabentopf gegriffen und heraus kam: „Uran – ein quasi heimischer Energieträger.“ Begründung: Weil er noch „mindestens 200 Jahre zur Verfügung steht“ und: „… aufgrund seiner hohen Energiedichte leicht zu transportieren und mit Blick auf Umfang und Dauer praktisch beliebig zu bevorraten“ ist. Das Wörtchen quasi macht die falsche Aussage nicht weniger falsch: Geologen schätzen die Abbaudauer auf höchstens 80 Jahre; und Atomkraft ist bezüglich der Brennstoffversorgung fast nirgendwo auf der Welt eine „heimische“ Energiequelle; Kanada und Südafrika sind die einzigen Atomstaaten, die nicht auf Uranimporte angewiesen sind.
Ein unbeirrbarer Warner war der 2009 verstorbene, amerikanische Ingenieur und Sprachkünstler Ed Grothus. Er hatte während des Vietnam-Kriegs seinen Job als Bombenbauer in Los Alamos gekündigt und sich vor den Toren der Waffenschmiede breit gemacht. Ein alter Supermarkt und eine offen gelassene Kirche dienten ihm als Bühne. Er erstand Alteisen und Laborgeräte und technische Utensilien, die das Atomlabor in Versteigerungen feilbot und füllte damit beständig sein Areal, das er „The Black Hole“ nannte – einem Schwarzen Loch im Universum gleich, das ständig Materie ansaugt und nichts mehr preis gibt. Manchmal gab der Besitzer sein Inventar preis: wenn es zum Beispiel darum ging, für Filme wie „Silkwood“ Laborwelten mit überholter Technologie zu rekonstruieren.
Ed Grothus sah sich als ein Till Eulenspiegel, der seine Umgebung gern zum Narren hielt und so den Spiegel vor Augen. Regelmäßig schickte er Episteln, wie er sie nannte, an die Lokalpresse und attackiert die Atomwissenschaftler mit Briefen, in denen er an ihre Verantwortung appellierte. Einmal kaufte er einen Lagerbestand mit Mais-Konserven auf, die er neu beklebte. Jetzt stand auf der Banderole jeder Dose: ORGANIC PLUTONIUM – cholesterinfrei, fettfrei, ohne künstliche Zusatzstoffe.
Unzufrieden mit der Atompolitik in den 90er Jahren schickte er an Präsident Bill Clinton und Vizepräsident Al Gore je eine Dose mit dem Bio-Plutonium. Nach dem Genuss, so versicherte er in seinem Begleitbrief, würden beide mit einem Heiligenschein durchs Weiße Haus wandeln, und Socks, der Kater, könne in den gleichen Genuss kommen. Eine Woche später erschienen zwei Agenten des FBI im Black Hole. Ohne Zögern gestand Ed Grothus seine Tat. Darauf wollten die Agenten von ihm wissen, ob es in seiner Familie eine erbliche Belastung von Geisteskrankheit gäbe.
Plutonium ist Menschenwerk, in der Natur kommt es nur in Spuren vor; seine Halbwertzeit beträgt 24.000 Jahre. Wie lässt sich die Gefahr der radioaktiven Strahlung eigentlich nachfolgenden Generationen vermitteln? Hier verstummen die Agenturen, die Kunst des Kaschierens stößt an ihre Grenzen. Wahrscheinlich werden die Angehörigen einer fernen Zukunft nicht mehr unsere Sprache sprechen, die Signale für Gefahren können andere geworden sein. Der in Kanada lebende Photograph Robert Del Tredici gründete 1987 die internationale Atomic Photographers Guild und versucht seitdem, das Unvermögen zu visualisieren. Zu seinem umfangreichen Werk gehört ein Foto aus dem US-Staat Idaho: Durch die Maschen eines Drahtzauns blickt man auf eine Handvoll Menschen, die auf der Prärie zusammenstehen und Ratlosigkeit vermitteln. Es sind Wissenschaftler und Bürokraten, die in den 90er Jahren nicht mehr wissen, wo die radioaktiven Materialien in den 60er Jahren vergraben wurden, von denen jetzt Gefahr ausgeht.
Sprachlosigkeit entspräche unserem Unvermögen, dem Element Uranium angemessen zu begegnen. Wir müssten uns dazu bekennen, dass uns die Worte fehlen. Stattdessen sprechen wir trotz ausufernder Probleme in der Endlagerung weiterhin von einer Brückentechnologie. Brückentechnologie ist die neueste Wortschöpfung der deutschen Sprache im Lager von Wirtschaft, Energie und Politik. Brücken suggerieren Sicherheit, Brücken führen an ein anderes Ufer. Der Begriff täuscht die Anbindung von einer zur anderen Seite vor. Zwischen Atomenergie und nachhaltigen Energiequellen aber gibt es keine Verbindung. Erst wenn das alte Paradigma weicht, kann das neue Platz greifen. Der „breite Energiemix“, von dem die gelernte Physikerin Angela Merkel spricht, ist keine Lösung, sondern die Bestandsaufnahme einer Orientierungs- und Konzeptlosigkeit. Je stärker die sogenannte Brückentechnologie ausgebaut wird, umso mehr entfernt sich das Ufer der Nachhaltigkeit, zu dem sie führen soll. Täuschende Titel gehören zu unserer Kultur des Verdrängens.
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