Prof. Wolf D. Oswald: “Fitness für den Kopf - Beugt Hirntraining der Altersdemenz vor?”


Prof. Wolf D. Oswald: “Fitness für den Kopf - Beugt Hirntraining der Altersdemenz vor?”
SWR2 AULA  Redaktion: Ralf Caspary. Sendung: Samstag, 25. Dezember 2004, 8.30 Uhr
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 Wenn man überlegt, ob Präventionsmaßnahmen für Alzheimer einen Sinn machen, dann muss man sich als erstes die Frage stellen, ob die bisherigen Versorgungssysteme im Altenbereich in Zukunft überhaupt noch funktionieren werden. Und an dieser Stelle zeigt ein Blick in die demografische Entwicklung, dass wir uns in Zukunft nicht mehr leisten können. Hilfe zur Selbsthilfe wird in Zukunft deshalb das Motto sein müssen, und deswegen bekommt auch ein Hirntraining so einen hohen Stellenwert.

 Im Jahre 1880, also vor jetzt 120 Jahren, kamen auf einen über 75Jährigen in Deutschland 79 jüngere, d. h. 79 potenzielle Pflegekräfte, im Jahr 2001 waren das nur noch 12,4 und im Jahr 2040 werden es nur noch 6,2 sein; und das sagt eigentlich alles, das mit den 6,2 wird nicht mehr funktionieren. Denn wir brauchen ja noch einen Teil der Bevölkerung zum, sagen wir, Brötchen backen, zum Straßenbahn fahren oder für sonstige andere Dienstleistungen und es wird nicht mehr möglich sein, für die vielen Alten die entsprechende geforderte Anzahl an Pflegekräften überhaupt bereit zu stellen. Es ist also nicht in erster Linie eine Frage des Geldes, sondern es ist in erster Linie in Zukunft eine Frage des Personals.

 Verstärkt wird das ganze Problem noch dadurch, dass die Ein-Personen-Haushalte dramatisch zunehmen werden und die sog. Sandwich-Töchter dramatisch abnehmen. Unter Sandwich-Töchter verstehen wir jene Töchter im Alter zwischen 40 und 60 Jahren, die in der Regel die eigenen Enkelkinder versorgen sollen und gleichzeitig ihre Eltern, und wenn sie Pech haben, auch noch die Eltern der Eltern. In allen Industrienationen nimmt die Zahl dieser „Töchter“ dramatisch ab. Also auch hier wird eine große Lücke entstehen. Parallel dazu wird die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland ebenfalls drastisch abnehmen. Unsere Schätzungen gehen im Augenblick dahin, dass wir bis zum Jahre 2050 von derzeit 83 Millionen auf ungefähr 68 sinken werden. Das ist zunächst einmal weiter nicht dramatisch, denn es hat sicherlich auch diverse Vorteile: Man wird vielleicht auf der Autobahn mehr Platz haben, oder im Wald kann man allein ruhige Wanderungen unternehmen. Aber damit verbunden ist natürlich auch eine dramatische Unterversorgung mit Pflegepersonal. Und deswegen: Hilfe zur Selbsthilfe wird das Motto der Zukunft sein.

 Nun lesen wir immer wieder in der Zeitung, dass an all diesen Problemen die gestiegene Lebenserwartung Schuld sei. Ich möchte auch hierzu einige Anmerkungen machen, die das vielleicht ein bisschen relativieren.
 Natürlich ist in den letzten 120 Jahren die Lebenserwartung um knapp 40 Jahre insgesamt gestiegen. Man muss sich aber im Klaren sein, von welcher Lebenserwartung man hier eigentlich spricht. Gemeint ist die Lebenserwartung eines neugeborenen Kindes. Nun fließt natürlich in diese Zahl mit ein, dass wir im Jahre 1880 eine massiv hohe Säuglingssterblichkeit und auch Müttersterblichkeit hatten. Und allein die Maßnahme, dass Herr Semmelweis - einer der bedeutendsten Medizinforscher in Deutschland - den Ärzten vorgeschlagen hat, sie möchten sich vor der Geburt die Hände in einer Kalkbrühe waschen, hat dazu geführt, dass zwischen den Jahren 1889 und 1901 die Lebenserwartung um 20 Jahre gestiegen ist. Das ist der eine Aspekt.
 Wenn man solche Faktoren aber weglässt und sich jene Kennwerte anschaut, die die Statistiker eigentlich interessieren, nämlich die sog. fernere Lebenserwartung, dann stellt man zu seiner großen Überraschung fest, dass die in den letzten 100 Jahren eigentlich kaum gestiegen ist.

 Ich will auch hier ein paar Zahlen nennen. Zwischen 1901 und 1998 ist die fernere Lebenserwartung eines 70Jährigen, d. h. die Lebenserwartung, die ein 70Jähriger noch hat, bei den Männern um gerade mal 3,9 Jahre gestiegen; also in 100 Jahren. Und jetzt zu folgern, dass die gestiegene Lebenserwartung uns die ganzen Probleme beschert hat, das ist sicherlich falsch. Denn das heißt ja nichts anderes: Wenn jemand vor 100 Jahren aus dem Gröbsten heraus war, dann hat er im Endeffekt eine Lebenserwartung gehabt wie wir heute. Und auch die ganzen Annahmen, die man immer wieder in der Zeitung liest, dass wir jedes Jahr um so und so viel Jahre älter werden, die werden eigentlich von den Wissenschaftlern so nicht geteilt. Im Gegenteil: In einigen Bereichen, z. B. bei den tödlich verlaufenden Lungenentzündungen, haben wir bereits eine Zunahme jährlich von 5 %. Also die Lebenserwartung wird jetzt eher stagnieren.

 Warum ich das alles am Anfang erzähle? Ich erzähle das deswegen, weil das natürlich mit Alzheimer etwas zu tun hat. Denn Alzheimer ist eindeutig mit dem Alter korreliert. Und wenn unsere Gesellschaft insgesamt relativ gesehen mehr Ältere als Jüngere hat, dann werden natürlich auch in diesem Bereich dramatische Zustände eintreten. Aber bevor wir jetzt uns mit den Details in Sachen Alzheimer beschäftigen, wäre zunächst einmal zu klären, was verstehen wir überhaupt unter einer Demenz und was verstehen wir unter Alzheimer. Der Begriff Demenz wird als Oberbegriff für unterschiedliche Krankheiten benutzt, wie z. B. Alzheimer. Was sind die wichtigen Symptome, die unter diesen Begriff fallen? Also, man spricht von einer Demenz, wenn z. B. eine erhöhte Vergesslichkeit vorliegt die zu, und nun kommt das Entscheidende, deutlichen Störungen im Alltagsleben führt. Also es geht nicht darum, dass jemand über sein schlechtes Gedächtnis klagt, denn auch viele Jugendliche haben ein schlechtes Gedächtnis, auch viele Ältere natürlich, es kommt auf die starken Veränderungen an, die wir beobachten. Diese zunehmende Vergesslichkeit, die sich im Alltag auswirkt, muss seit mindestens sechs Monaten vorliegen und andere organische Ursachen sollten ausgeschlossen sein. Dann spricht man von einer Demenz.

 Nun gibt es natürlich unterschiedliche Demenzen. Wir unterscheiden zwei große Gruppen: die reversiblen und die irreversiblen. Reversibel heißt, die heilbaren Demenzen, und irreversibel heißt, die nicht heilbaren Demenzen. Auf die irreversiblen komme ich gleich noch zu sprechen. Mir liegen aber gerade diese reversiblen Demenzformen sehr am Herzen, weil wir als Konsequenz davon, wann immer solche Symptome, wie ich sie eben beschrieben habe, auftreten, eigentlich nicht in eine Art Nihilismus verfallen sollten, der sich hier und da breit macht, dergestalt, dass man sagt, da kann man sowieso nichts tun; bis zu 30% der Bevölkerung leiden an dieser reversiblen Form, Betroffene sollten sich informieren bei Spezialisten, die man etwa im Telefonbuch unter dem Schlagwort „Memory-Klinik“ oder „Gedächtnisambulanz“ oder „Gedächtniszentrum“ findet. Oder man schaut ins Telefonbuch unter der Adresse der Alzheimer-Gesellschaft nach und lässt sich dort die richtige Anlaufstelle geben.

 Was verstehen wir nun genau unter reversiblen oder heilbaren Demenzen, gegen die man etwas tun kann, was haben die für Ursachen? Da steht an aller erster Stelle die Arzneimittel-Vergiftung. Das ist so eine Geschichte, die man eigentlich nicht für möglich hält, aber die leider sehr häufig vorkommt. Viele ältere Menschen lassen sich von verschiedenen Ärzten behandeln und bekommen auch verschiedene Medikamente verschrieben. Und niemand prüft, ob die nun gut zueinander passen. Und dann kommt ja häufig auch noch so etwas dazu wie eine Selbstmedikation hinzu, und dann kann man sich vorstellen, dass das irgendwann zu einer sehr giftigen Mixtur führen kann. Hier kann man natürlich nicht selber etwas tun, man sollte seine Ärzte fragen. Der Entzug aller nicht unbedingt lebensnotwendigen Arzneimittel hilft hier häufig und wirkt fast wie ein Wunder. Als zweite häufig vorkommende Ursache gilt die Exikose. Unter Exikose verstehen wir die Austrocknung. Mit zunehmendem Lebensalter wird immer weniger getrunken, und wenn wir weniger trinken, dann führt dies dazu, dass unser Blut sozusagen eindickt, die Blutplättchen nicht mehr den Sauerstoff richtig transportieren können und so kommt es auch zu demenz-ähnlichen Zuständen. Ich könnte die Liste jetzt noch eine ganze Weile so weiterführen, aber das waren die zwei wesentlichsten Ursachen für solche reversiblen Demenzen und ich kann es nur noch mal wiederholen, das kann bis zu 30 % betreffen und man sollte hier einen Spezialisten aufsuchen.

 Nun kommen wir zu den eigentlichen Demenzen - den irreversiblen -, die bis heute nicht heilbar sind. Natürlich gibt es da unterschiedlichste Ursachen, aber in der Wissenschaft hat sich in den letzten Jahren, ja, man kann sogar sagen, in den letzten Monaten, deutlich die Meinung durchgesetzt, dass hinter allem, eigentlich hinter jeder Demenzform, was immer wir beobachten, Alzheimer steht. Und Alzheimer wird nur manchmal überlagert z. B. durch vaskuläre Veränderungen, die früher einen viel, viel höheren Stellenwert hatten. Früher hat man häufig davon gesprochen, dass ältere Menschen deswegen dement werden, weil sie verkalken. Wir wissen heute, dass dies zusätzlich zu Alzheimer bei maximal 30 % der Fall sein kann.
 Lassen sie mich einige Aspekte über Alzheimer und die Alzheimersche Krankheit hier darlegen, damit uns auch klar wird, wo wir eigentlich ansetzen müssen, wenn wir Prävention betreiben wollen. Alois Alzheimer kommt aus dem Fränkischen, ist geboren in Marktbreit in der Nähe von Würzburg und hat in Würzburg und in Frankfurt gearbeitet und gelehrt. Und erstmalig hat er an einer knapp 50jährigen Patientin, der Auguste D., diese Krankheit, die wir heute als Alzheimer bezeichnen, beschrieben. Wir wissen durch die Forschungen in den letzten Jahren, dass eigentlich der Beginn von Alzheimer in der Jugendzeit liegt. Vor zwei Jahren noch ging man davon aus, dass der Beginn so etwa um das 30. Lebensjahr liegt, heute sagen wir, wahrscheinlich hat er mit dem Ausgang der Pubertät zu tun. Das Modell, dem die Wissenschaft dabei nachgeht, ist ein Kontinuitätsmodell. Zwischen „gesund“ und „krank“ gibt es ein großes Kontinuum, d. h. die ersten kleinen Hinweise in Richtung Alzheimer treten bei jedem von uns und ohne Ausnahme schon in der Pubertät auf. Aber zum Ausbruch der Krankheit kommt es erst dann, wenn alle anderen Kompensationsmechanismen zusammenbrechen, und bis dorthin ist es ein sehr sehr weiter Weg.

 Was passiert nun eigentlich ab der Pubertät oder ab dem 30. Lebensjahr? Es ist keineswegs so, dass bei Alzheimer das gesamte Gehirn betroffen ist. Sondern es ist eher so, dass zwei Areale besonders in Mitleidenschaft gezogen werden, und zwar die Frontal- und Schläfenlappen und gleichzeitig der Hippocampus, das ist ein Areal, das sich in der Mitte unseres Gehirns in tieferen Schichten befindet. Und was passiert nun dort? Dort degenerieren Hirnzellen. Wir gehen heutzutage davon aus, pro Sekunde ist jeweils eine Hirnzelle betroffen. Warum degeneriert diese Hirnzelle? Was macht sie? Sie degeneriert deswegen, weil sie keinen Brennstoff mehr bekommt. Und der Brennstoff der Hirnzelle ist die Glukose. Und nun macht die Hirnzelle das, was wir auch machen würden, wenn wir in unserem Wohnzimmer sitzen und die Heizung fällt auf Dauer aus. Wir würden nun langsam beginnen uns einen Ofen zuzulegen und die Einrichtung zu verheizen.

 Im Frontallappen wird die Einrichtung der Hirnzelle komplett „verheizt“. Es bleiben nur die äußeren „Mauern“ übrig. Im zentralen Bereich ist es ein bisschen anders, dort wird die Einrichtung nicht komplett verheizt. Wie bei einem großen Brand bleibt bei diesem neuronalen Prozess eine Menge Müll übrig. Und weil die Hirnzelle sich ähnlich verhält wie eine gute Hausfrau, will sie ab und zu Großreinemachen und die Nachbarzelle auch, und beide schaffen den Müll vor die Tür. Und dann bilden sich diese sog. Beta-4-Amyloide oder diese „Spaghettis“ aus, die man auch in den neuen bildgebenden Verfahren sichtbar machen kann.
 Warum erzähle ich Ihnen das? Ich erzähle diese Vorgänge deswegen, weil ich vorhin sagte, dass der normale Verlauf so aussieht, dass pro Sekunde eine Hirnzelle degeneriert. Nun gibt es aber auch Personen, bei denen beträgt die Progression nicht eine Sekunde, sondern 1,1 Sekunden. Und dies führt dazu, dass man mindestens 100 Jahre alt werden muss oder noch älter, um Alzheimer zu bekommen. Die Unglücklichen dagegen, die eine Progression von 0,9 Sekunden haben werden wie Auguste D. von Herrn Alzheimer schon mit 50 oder 60 Jahren die Krankheit bekommen. Und hier liegt genau der Schlüssel für alle Präventionsmaßnahmen. Gelingt es uns, Einfluss zu nehmen auf diese Progression, gelingt es uns das Verbrennen der einzelnen Hirnzelle zu verlangsamen, dann können wir den Ausbruch der Krankheit verzögern, und wir sterben womöglich vor dem Ausbruch der vollen Symptomatik an einer Lungenentzündung oder an einer anderen Krankheit.

 An dieser Stelle auch noch ein paar Zahlen, damit uns deutlich wird, was das gesellschaftspolitisch bedeutet: Wir wissen, an Ex-Postuntersuchungen Gestorbener, dass bei den über 85jährigen Frauen 51 % Alzheimer hatte. D. h. jede zweite Frau wird zwischen dem 80. und dem 90. Lebensjahr, wenn sie das erlebt, Alzheimer bekommen, bei den Männern ist es etwas günstiger, dort sind es nur 48 %. So und auf diesem Hintergrund sind nun viele Studien gemacht worden, die zeigen wollen, wie wir Einfluss nehmen können auf diese Progression. Dabei hat sich herausgestellt, dass der wichtigste Faktor die Bildung darstellt. Derjenige, der ein Leben lang eine anspruchsvolle Tätigkeit hatte und gleichzeitig auch eine hohe Schulbildung hatte, hat generell ein erheblich geringeres Risiko oder wird wesentlich später Alzheimer bekommen. An dieser Stelle setzt nun eine ganze Reihe großer epidemiologischer Studien ein. Epidemiologische Studien sind Studien an 20, 30.000 Personen, die man über viele Jahre weiterverfolgt. Und in all diesen Studien wurden die Teilnehmer immer befragt, was sie eigentlich in ihrer Freizeit so treiben und dann hat man 10 oder 15 Jahre gewartet, hat ausgezählt wie viele in der Zwischenzeit eine Demenz bekommen haben. Und dann hat man nun im Nachhinein geprüft, wie hängt das zusammen mit der Aktivität oder Nichtaktivität des vorangegangenen Lebens. Da zeigte sich: Diejenigen, die einen anspruchsvollen  Beruf hatten, also die jeden Tag irgend was neues tun mussten und nicht in Routine erstickten, waren eindeutig im Vorteil. Auch diejenigen, die viele selbst organisierte Reisen durchgeführt haben. Und ich zähle nun noch ein paar andere Dinge auf: Auch diejenigen hatten Vorteile, die schwierige Strickarbeiten durchgeführt haben, nicht die Routine-Strickarbeiten, also Routine wäre zwei links, zwei rechts, eine fallen lassen. Auch anspruchsvolle Gartenarbeiten sind wichtig, also geplante Aktivitäten, nicht nur, dass man mit der Schere einfach mal da drüber geht. Oder Vereinsarbeit. Auch Vereinsarbeit war wichtig, aber nur dann, wenn man im Vorstand ist und nicht ein einfaches Mitglied ist. Auch bestimmte Spiele haben so einen hohen produktiven Wert, wie Schach, Backgammon, Bridge und ähnliches mehr. Und auch das permanente Üben neuer Stücke für ein Musikinstrument im hohen Lebensalter ist wichtig. Nicht produktiv dagegen waren Routinetätigkeiten, TV-Konsum, Lesen, die üblichen Gesellschaftsspiele. Und eine Frage, die immer und immer wieder kommt, muss hier verneint werden, nein das Lösen von Kreuzworträtseln ist nicht sinnvoll.

 An dieser Stelle setzt auch ein großes Forschungsprojekt an, das wir an der Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführt haben, mit dem Namen „SIMA“. „SIMA“ ist die Abkürzung für „Selbständig im Alter“. Wir haben 375 ältere Menschen mit dem Mindestalter von 75 Jahren nun bis heute schon über 14 Jahre hin weiter verfolgt. Wir haben sie damals an dem Projekt nur dann beteiligt, wenn sie absolut gesund waren. Und wir haben mit ihnen unterschiedlichste Maßnahmen ein Jahr lang durchgeführt, u. a. ein ausgefeiltes Gedächtnistraining und ein ausgefeiltes Psychomotorik-Training. Psychomotorik ist nicht Sport, denn Sport bezieht sich normalerweise auf Kraft und Ausdauer. Bei der Psychomotorik - wie wir sie verstehen - stehen im Mittelpunkt Wahrnehmung, Koordination und Gleichgewicht. Die einfachsten Übungen, die man dazu durchführen kann, kann man mit einem Luftballon machen. Wenn man den von einer Hand auf die andere schubst, dann ist man dauernd in Bewegung und braucht auch keinen Mikrochip dazu.

 Was kam nun in dieser Studie heraus? Ich habe gesagt, wir haben da ausgefeilte Übungen gemacht. Das bedeutet, wir sind sehr stark und erstmalig weltweit wissenschaftlich und theoriengeleitet vorgegangen und haben uns spezialisiert auf genau jene Gedächtnisfunktionsbereiche, die sowohl frontal als auch zentral - wie ich es vorhin geschildert habe - in Mitleidenschaft gezogen werden durch diesen lebenslangen Prozess, der zu Alzheimer führt. Und in gleicher Weise sind wir auch in der Psychomotorik vorgegangen, und dabei ist herausgekommen, dass es uns gelingt, dementielle Symptome, das sind all die Symptome die im Vorfeld einer Demenz auftreten - wie ich sie vorhin geschildert habe -, durch ein einjähriges Training massiv zurückzudrängen. Und wenn die Teilnehmer unsere Übungen täglich durchgeführt hatten, hielt dieser Effekt über die Jahre hinweg an. Und nicht nur die Symptome konnten wir behandeln, sondern nach der langen Wartezeit von 10, 11, 12, 13 bis heute 14 Jahren konnten wir auch zeigen, dass wir in der Gruppe, in der wir sowohl das Gedächtnis- als auch das Psychomotorik-Training durchgeführt hatten, die wenigsten Demenzen beobachten konnten. Also das wesentliche Ergebnis dieser Studie war: Dass man zwei Dinge gleichzeitig tun muss und täglich, nämlich ein Gedächtnistraining, kombiniert mit einem Psychomotorik-Training. Das Gedächtnistraining allein hat nicht diese Effekte gezeigt und auch das Bewegungstraining allein hat nicht diese Effekte gebracht.

 Das Fazit aus dieser Studie muss also lauten: Der alte Spruch „Wer rastet, der rostet“ muss neu formuliert werden und jetzt eigentlich lauten „Wer geistig und körperlich rastet, der rostet“. Nun möchte man sicherlich wissen, wie das geht. Ich will einige Beispiele nennen: Jeder hat zu Hause eine Tageszeitung. Man soll jeden Tag die Zeitung zur Hand nehmen, sich einen Artikel heraussuchen und in diesem Artikel so schnell wie möglich zwei Buchstaben gleichzeitig anstreichen. Also z. B. alle kleinen a und alle kleinen n. Wenn einem die zwei Buchstaben nicht mehr gefallen, kann man natürlich zwei andere nehmen. Wichtig ist, dass man versucht, jeden Tag ein bisschen schneller zu werden und die Buchstaben gleichzeitig anstreicht. Wenn man die Zeitung nun wie immer gelesen hat, dann kann man die letzte Seite hernehmen, die hat bekanntlich einen weißen Rand und man kann auf diesem weißen Rand möglichst viele Details notieren, an die man sich gerade noch erinnert. Mit Details meine ich: Da war irgendwo ein Busunglück, und wie viel Tote hat es dabei gegeben. Oder: Wie heißt der Politiker, der die Renten um wie viel Prozent kürzen will? Und wenn man ganz gut ist, dann nimmt man abends ein weißes Blatt Papier und wiederholt die Übung vom Morgen noch mal und schreibt alles auf, an was man sich noch gut erinnern kann. Das gleiche kann man auch auf der Autobahn machen. Wir alle fahren jeden Tag wiederholt an großen Schildern vorbei, wo ein Hinweis steht für etwa die nächste Autobahn-Raststätte. Man muss das während der Fahrt ganz schnell erfassen und kann versuchen zu memorieren: Wie weit ist es zu dieser Raststätte, wie weit ist es zur nächsten. Was gibt es eigentlich an dieser Raststätte usw. Natürlich gibt es hier auch Trainingsprogramme im Buchhandel, z. B. ein Buch mit einem 14-Tages-Programm mit dem Namen „SIMA-Basic“, oder ein Computer-PC-Programm, das für alle gedacht ist, die ab dem 50. Lebensjahr der Demenz entgegen wirken wollen.

 Was haben wir gelernt? Wir haben gelernt, dass man Einfluss nehmen kann offensichtlich auf die Progression der Veränderungen, die seit unserer Jugendzeit in uns selber vorgehen im Rahmen von Alzheimer. Es geht darum, dass wir unsere letzten Lebensjahren möglichst selbständig verbringen können. Es geht also nicht darum, dem Leben mehr Jahre zu geben, sondern den Jahren mehr Leben. In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein Leben und Sterben ohne Alzheimer.

Kurzbiographie 
 Prof. Dr. Christoph Butterwegge, geb.1951, leitet die Abteilung für Politikwissenschaft an der Universität Köln; er ist dort geschäftsführender Direktor des Seminars für Sozialwissenschaften und Mitglied des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Butterwegge hat zahlreiche Bücher veröffentlicht zu sozialpolitischen Themen. Seine Schwerpunkte sind: Rechtsextremismus und Globalisierung sowie Armut im nationalen und internationalen Vergleich. In den letzten Monaten hat er sich kritisch in die öffentliche Debatte über den Sozialstaat eingemischt.

  Veröffentlichungen: 
 - Kinderarmut in Ost-und Westdeutschland (zusammen mit Matthias Zang u.a.). Leske u. Budrich.
 - Kinderarmut und Generationengerechtigkeit (zusammen mit Michael Klundt). Leske u. Budrich.
 - Wohlfahrtsstaat im Wandel. Probleme und Perspektiven der Sozialpolitik. Leske u. Budrich.  
 
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