Prof. Wolfgang U. Eckart: Hilfe für verwundete Seelen – Der Beginn der Traumaforschung im Ersten Weltkrieg

<<>>
SWR2 AULA  

Redaktion: Ralf Caspary; Sendung: Sonntag, 5. Dezember 2004, 8.30 Uhr, Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Die sozialdarwinistische Auffassung, dass die neue Art des mörderischen Stellungskrieges, wie er 1914 bis 1918 auf den Schlachtfeldern in Frankreich und Belgien stattfand, in erster Linie die Stärkeren durch ihren Fronteinsatz gefährde und vernichte, gerade die Schwächsten aber durch ihre Untauglichkeit schütze, war in ärztlichen Kreisen - bei Kriegsbefürwortern ebenso wie bei Pazifisten - weit verbreitet. In ihren Schlussfolgerungen und Erwartungen schieden sich indessen die Geister. So fürchtete der Münchener Hygieniker Max von Gruber (1853 - 1927), alldeutsch, radikal anglophob, romantisch-idealistischer Mystiker des Deutschtums, zwar besonders um die "Gesündesten, Kräftigsten, Kühnsten, Unternehmensten, Pflichttreuesten, Opferfähigsten, die geborenen Führer und Vorkämpfer", war im Grunde jedoch optimistisch, diese Lücke durch "ausgiebige Fortpflanzung" der Gesunden und Leistungsfähigen nach dem Kriege ausgleichen zu können. Dem Berliner Physiologen und Pazifisten Georg Friedrich Nicolai (1874 - 1964) hingegen waren solche Träumereien fremd. Das sozialdarwinistische Menetekel der „Kontraselektion“, wie es die Bevölkerungswissenschaftler nannten, die ungewollte Vernichtung der Besten also, und die daraus resultierende Gefahr einer Volksentartung durch die biologisch-demographischen Auswirkungen des Krieges, bestimmten sein Denken. In seiner Biologie des Krieges heißt es 1919: "Der Krieg schützt die Blinden, die Taubstummen, die Idioten, die Buckligen, die Skrofulösen, die Tuberkulösen, die Blödsinnigen, die Impotenten, die Paralytiker, die Epileptiker, die Zwerge, die Missgeburten. All dieser Rückstand und Abhub der menschlichen Rasse kann ruhig sein, denn gegen ihn pfeifen keine Kugeln. [...] Der Krieg bildet also für sie geradezu eine Lebensversicherung, denn diese körperliche und geistige Krüppelgarde, die sich im freien Konkurrenzkampf des Friedens gegen ihre tüchtigen Mitbewerber kaum behaupten könnte, bekommt nun die fettesten Stellen und wird hoch bezahlt".
Ähnlich pessimistisch wie der Pazifist Nicolai bewertete der führende Neurologe und Kriegspsychiater Max Nonne (1861 - 1959) in der Rückschau 1922 die negative Auslesewirkung des Weltkriegs. Ein "Jammer" sei es, dass der Krieg "Darwin'sche Zuchtwahl" gerade im "umgekehrten Sinne mit großem Erfolg" betrieben, "Minderwertige" aber erhalten habe: "Die besten werden geopfert, die körperlich und geistig Minderwertigen, Nutzlosen und Schädlinge werden sorgfältig konserviert, anstatt dass bei dieser günstigen Gelegenheit eine gründliche Katharsis stattgefunden hätte, die zudem durch den Glorienschein des Heldentodes die an der Volkskraft zehrenden Parasiten verklärt hätte".
Es ist vor diesem ideologischen und damals in weiten Kreisen der bürgerlichen Intelligenz, der Generalität und des Offizierskorps konsensfähigen Hintergrund geradezu verständlich, dass auch die Medizin nach Kräften darum bemüht war, der kontraselektorischen Auswahl des Krieges entgegenzuwirken, Schwächlinge, wie es damals hieß, zu erkennen und hart zu machen, Simulanten und unterstellte Rentenbetrüger zu entlarven, Kriegshysteriker und Neurotiker zu behandeln und wieder zur Front zu schicken. Wie keine andere Teildisziplin der Medizin hat sich die deutsche Kriegspsychiatrie in den Jahren 1914 bis 1918 auf diesem Felde engagiert und damit eines der dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte geschrieben. Hiervon wird im Folgenden die Rede sein.

Der Erste Weltkrieg ist häufig genug als traumatisches Erlebnis der deutschen Gesellschaft, und zwar nicht nur als das am Krieg unmittelbar Beteiligten, sondern auch als das der folgenden Generationen beschrieben worden. Er war in erster Linie aber ein traumatisches Erlebnis für die Frontsoldaten selbst, für ihre Körper selbstverständlich in einem ganz unmittelbaren Sinn, vielleicht noch mehr aber für ihre Psyche. Man schrieb von Kriegshysterie oder „Shellshock“, dem Schreckenstrauma also, das von der überlebten Erfahrung einer Granatexplosion in unmittelbarer Nähe herrührte. Der moderne, hochtechnisierte Krieg traf an allen Fronten Menschen, die dem apokalyptischen Inferno des mörderischen Stellungskrieges nicht mehr Stand halten konnten oder wollten. Die Männer zerbrachen im pausenlosen Kugel- und Granatenhagel, im grellen Leuchten, Blitzen und Flackern der Frontabschnitte an ihrer Unfähigkeit, in den Gräben dem Inferno zu entkommen. Viele wurden irre an dieser Situation, erlitten eine schwere psychische Traumatisierung, zitterten, krampften, erbrachen sich pausenlos, nässten ein, verstummten, vergruben sich in ihr Innerstes, reagierten skurril, wie sich der Psychiater Julius Raecke 1919 erinnerte: "So schor sich ein Soldat ein Kreuz ins Haupthaar, um angeblich gegen Fliegerbomben gesichert zu sein [...] Ein anderer brachte bei der Aufnahme einen Frosch an der Leine mit und sagte, das sei ein Bär. Einige tranken Tinte und erklärten dieselbe für guten Wein". Kriegsneurotiker war das Schlagwort, und es traf alle, deren Psyche sich nicht mit dem Unfassbaren an den Fronten besonders im Westen abfinden konnte, denen schließlich auch der Körper den Dienst versagte angesichts der Übermacht psychosomatischer Verletzungsgewalt des hochtechnisierten, fabrikmäßigen Schlachtens in den Gräben und Trichtern.
Solche Menschen galten – durchaus auch im sozialdarwinistischen Deutungshorizont - als schwach, wenn man ihnen nicht von vornherein Simulation und Drückebergerei vorwarf. Leiden aus verständlichen Gründen wurde zur Kampfunlust umdefiniert. Diese Umdefinition fügte sich gut in das weitverbreitete sozialdarwinistische Bild von der Vernichtung der Tüchtigsten im Kriege und vom Erhalt der Schwachen.
Noch im Spätsommer des Jahres 1914 hatte Karl Bonhoefer in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift die Rolle der Psychiatrie im gerade entfesselten Krieg gering geschätzt. „Die praktische Bedeutung der Psychiatrie im Kriege“, so seine eher zurückhaltende Einschätzung, „ist gering im Vergleich zu den Aufgaben der Chirurgie“ [...] Von eigentlichen Kriegspsychosen zu sprechen, im Sinne einer besonderen nosologischen Einheit, mit eigenem wissenschaftlich begründeten Krankheitsbild also, ist man nicht berechtigt“. Zwar hatte der Berliner Psychiater bereits „hysterische Zufälle, Ohnmachten mit funktionellen Krämpfen, funktionelle Abasie, ausgelöst durch den Anblick eines Verwundetentransportes, Angstzustände, hysterisches Erbrechen, Schlaflosigkeit mit Angstzuständen, Phobien aller Art, hysterische Delirien und Aehnliches“ beobachten können. „Fast ausnahmslos“ habe sich jedoch feststellen lassen, dass es sich bei Soldaten mit solchen Erscheinungsbildern um Individuen handelte, die schon früher konstitutionell psychopathische Erscheinungen dargeboten hätten“, die also in der zeitgenössischen Auffassung zu veranlagter geistiger Minderwertigkeit neigten. Optimistische Einschätzungen solcher Art bewahrheiteten sich nicht, auch wenn sie von anderen psychiatrischen Beobachtern der ersten Kriegswochen geteilt wurden. Der Stillstand der deutschen Offensive im Westen im Kriegswinter 1915 und die Phase des sich etablierenden Stellungskriegs 1916 ließen überdeutlich werden, dass die Seelen aller Soldaten, die der vermeintlich schwachen ebenso wie die der angeblich starken verletzbar waren. Im Trommelfeuer der Grabenlinien breiteten sich nun „affektive Reaktionen wie Epidemien über die ganze Front aus“. Deren Manifestationen reflektierten häufig durchlebte Strapazen, Todesängste, Verwundungen, Granateinschläge in unmittelbarer Nähe oder Verschüttungen.
Die psychischen Zusammenbrüche der Soldaten bereiteten sich – so scheint es - meist in der subjektiv als besonders anstrengend empfundenen allgemeinen Belastungssituationen desFronteinsatzes vor. ZurEntfaltung kamen sie wenig später in der als deprimierend erlebten Hospital-Situation. Hier dekompensierten die meisten Betroffenen, brachen psychisch zusammen. Zwei Beispiele aus Feldpostbriefen mögen dies erläutern. So schreibt der Berliner Schützengrabensoldat Franz Müller (wir wissen sonst nichts über ihn) am 21. Januar 1915 aus einem Lazarett im Westen per Feldpost, die abgefangen ihre Adresse nicht erreichte:  „Durch die große Überanstrengung besonders der letzen 3 Tage, bei denen unser Schützengraben von der feindl. Artillerie förmlich umgewühlt worden ist, habe ich mir eine Nervenkrankheit zugezogen, sodaß ich am 8. November [...] zurückgeschafft wurde. [...] Nur wenige Stunden bin ich tagsüber auf, denn diese verflixte Krankheit hat sich auf meine unschuldigen Beine gelegt, sodaß ich durch Schmerzen und Lähmung an den Beinen u. rechten Arm an meinem Fortkommen behindert bin. Man stelle sich den 92kg Recken zwischen Betten, Stühlen u. Tischen mühsam weiterkrebsend vor. Der reine Hohn!“ - Der offensichtlich sensible Unterarzt Wilhelm Pfuhl gelangt im November 1916 in ein Etappenlazarett und berichtet am 17. November 1916 von dort: „Ich glaube, es sind weniger die Anstrengungen, als all das Grauenhafte, das ich in den letzten Monaten erlebt habe, was meine Gesundheit so erschüttert hat. Es kommt mir ganz unfassbar vor, wie die Menschheit sich so in gegenseitigem Massenmord zerfleischen kann. Ich kann mich nicht rühmen, jemals besonders widerstandsfähig gewesen zu sein gegen das Widerwärtige und Grauenhafte, aber jetzt ist es ganz damit zu Ende. Ich bin gar so müde und matt, möchte am liebsten einschlafen und nicht wieder aufwachen, ehe Friede im Lande ist, oder gar nicht.“
Mit zunehmender Dauer des Krieges wurden auf beiden Seiten der Front zunehmend mehr Soldaten von den geschilderten Symptomen der Kriegsneurose erfasst. Wie deuteten und erklärten die mit solchen Phänomenen konfrontierten Ärzte die Ursachen jener neurotischen posttraumatischen Störungen? Esther Fischer-Homberger hat 1975 eine grundlegende Arbeit zur Phänomenologie der Traumatischen Neurose auf ihrem Entwicklungsweg vom „Railway spine“, einer, wie man glaubte, durch Eisenunglücke verursachten Verletzung des Rückenmarks, zur ‚Kriegsneurose’, von der somatischen zur sozialen Krankheit vorgelegt, die hier nur angesprochen werden, aber mit zeitgenössischen Urteilen aus dem Umfeld des Krieges untermauert werden soll. Ex post hat sich Robert Gaupp, Direktor der Nervenklinik in Tübingen 1922 hierzu geäußert: "Die ungeheure Steigerung der Kriegstechnik“, so schreibt er, „die furchtbare Zerstörungskraft der modernen Artilleriegeschosse, das Trommelfeuer, die Gasgranaten, Fliegerbomben, Flammenwerfer und all die anderen Formen überraschender Schädigungen aus nächster Nähe und weiter Ferne haben zu einer Häufung heftigster Schreckenswirkungen geführt, wie sie sicher noch kein Krieg auf der Erde gesehen hat". "Die Wucht der Kriegsereignisse, die völlige Umwandlung der körperlichen und seelischen Existenzbedingungen für die Mehrzahl der Kriegsteilnehmer, die ungeheueren seelischen und körperlichen Strapazen, denen der Frontsoldat fast ununterbrochen ausgesetzt war, hatten die allgemeinen Bedingungen geschaffen zur Entfaltung der Kriegshysterie".
In die psycho-somatische Phänomenologie der Kriegshysterie mengten sich früh auch soziale Deutungen im Sinne eines triebhaften ‚Selbsterhaltungskomplexes’, einer ‚Flucht in die Krankheit’ mit der unterstellten Simulation derselben. Karl Bonhoefer gehörte wohl zu den vehementesten Verfechtern dieser Auffassung. "Der auf Selbstschutz gehende Trieb“, so der Berliner Psychiater, „wird um so stärker sein, je schwächer die ideellen überwertigen Vorstellungen von vornherein sind, je geringer die psychische Widerstandskraft, je stärker und andauernder Gefahr und Anspannung, d. h. je stärker die emotionellen und erschöpfenden Einflüsse sind. Es ist kein Zweifel, dass die Verhältnisse des modernen Krieges, insbesondere des Stellungskrieges mit seinen [...] sehr heftigen und langandauernden Spannungsaffekten der Todesbedrohtheit in ganz besonderem Maße geeignet waren, das Verlangen nach Sicherstellung der Person psychisch wirksam werden zu lassen. [...] Die Kriegserfahrung hat [...] mit eindringlicher Deutlichkeit gezeigt, dass der Konflikt der beiden gegensätzlichen affektbetonten Vorstellungsreihen auf der einen Seite der unentrinnbare militärische Zwang und die gefahrdrohende, todbringende Kriegsnotwendigkeit, auf der anderen Lebensbejahung und der Wunsch, aus dem Feuer, außerhalb des Gefahrenbereichs zu sein, eine große pathogenetische Bedeutung hat. Dass die Kriegshysterie dieser Paarung entstammt, kann durch den Krieg als erwiesen gelten". Für Bonhoefer ist die Kriegshysterie Ausdruck der Kriegsunlust, ist "Durchscheinen einer bestimmt gearteten Willensrichtung in der Krankheitsdarstellung", die mit zunehmender Dauer des Krieges zunehmend auf die Entfernung vom Kriegsgeschehen zielt:
"Es war“, so schreibt er, „eine mit der langen Dauer des Krieges sich allwärts aufdrängende Beobachtung, dass die übermäßige und dauernde Anspannung der dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb entgegenwirkenden überwertigen Ideen, wie sie der Krieg den Soldaten auferlegt, allmählich bei vielen zu einem Sieg des Triebes über die Idee führte. Das hat sich in der Heimat in der Stellung zur Ernährungsfrage, beim Heer in der zunehmenden Neigung zu Abwehrreaktionen, zur Flucht in die Krankheit gezeigt. Es ist kein Zufall, dass mit zunehmender Kriegserschöpfung die Differentialdiagnose zwischen Hysterie und Simulation immer fließender wurde, und dass sich die Beobachter mehrten, die allmählich keine Hysterie, sondern nunmehr bewusste Flucht in das Krankhafte gelten lassen wollten. Es kam gewissermaßen zu einer willkürlichen Benützung hysterischer Ausdrucksformen durch Gesunde".
Von einer solchen Deutung war es selbstverständlich nur ein Schritt bis zur Kriminalisierung der Kriegsopfer. Dass nämlich, so Bonhoefer, "solche dem Selbsterhaltungstriebe entstammenden und dem Kriegszwecke entgegenstehenden Vorstellungskomplexe mit der Dauer des Krieges und der Verstärkung der Anstrengungen in zunehmendem Maße sich in einer Häufung der Subordinationsvergehen, der Fahnenflucht, des Überlaufens, der Selbstbeschädigung in Krankheitssimulationsversuchen sich äußerten", sei als "psychologische Erscheinung" nur zu verständlich.
Das Thema Kriegsneurose, Granatschock, Kriegshysterie beherrschte die deutsche Psychiatrie der Kriegsjahre unmittelbar und uneingeschränkt. Freilich sollten die Kriegspsychiater niemals Verbündete ihrer Patienten werden, sondern immer Aufklärer vermeintlicher "Simulation" und "Willensschwäche" bleiben und sich damit regelmäßig als Feinde ihrer Schutzbefohlenen erweisen. Simulanten zu entlarven, Kriegsgegner zu erkennen, ihren Unwillen zu brechen, ihren Willen aber für das Morden gefügig zu machen, dies war das politische Behandlungsziel jener Zeit. So pervers wie dieses Ziel, so pervertiert waren auch die "therapeutischen" Instrumente der Behandler: Elektrische Stromstöße als Überrumplungsmaßnahmen, stundenlange Anwendung schmerzhaftester elektrischer Sinusströme - die "Kaufmann-Kur" -, die Nötigung, Erbrochenes wieder herunterzuschlucken, Röntgenbestrahlungen in Dunkelkammern, wochenlange Isolationsfoltern, die Provokation von Erstickungstodesangst durch Kehlkopfsonden oder Kugeln, herzlos inszenierte Scheinoperationen in Äthernarkose, von den Betroffenen empfunden wie Hinrichtungen. Seelisch Gebrochene blieben zurück, wenn sie nicht zuvor aus Gründen der Abschreckung direkt in die Trommelfeuer zurückgeschickt und so herzlos vernichtet worden waren. Neue "Kriegsverwendungsfähigkeit" konnte freilich in den wenigsten Fällen erreicht werden; allenfalls "Arbeitsfähigkeit" für die rückwärtigen Munitionsbetriebe war meist das Resultat.
Die Methoden, die Kriegsneurosen zu behandeln, damit aber vor allem den Überlebenswillen ihrer Patienten zu brechen, waren ebenso brutal wie vielfältig. Am harmlosesten muten heute vielleicht noch die von Max Nonne erprobten Suggestionsversuche in Hypnose an. Nonne hatte erfolgreich versucht, seinen Kriegszitterern ihre entstellenden Körperverrenkungen mittels hypnotischer Berührung abzutrainieren. Die Filmdokumente solcher fast ans Wundersame grenzender Heilungen sind noch heute beeindruckend. Sehr viel einschneidender waren die Methoden der wochenlangen Isolationsfolter in Dunkelzimmern, eine grausames Verfahren, das mit dem Begriff der "psychischen Abstinenz" ummäntelt werden sollte. Verabreicht wurden durchaus auch indikationslose Röntgenbestrahlungen in Dunkelzimmern, feuchtkalte Packungen und Dauerbäder, verbunden mit der Drohung, diese erst nach erfolgter "Heilung" wieder abzusetzen. Auch mit künstlich erzeugter Erstickungsangst sollten Kriegsneurose und Wille gebrochen werden. Hierbei bedienten sich die Psychiater einer Kehlkopfsonde oder Kehlkopfkugel, die der Essener Neurologe O. Muck zur Therapie schwerer Heilung funktioneller Aphasien (Sprachlosigkeiten) ersonnen hatte, tatsächlich die Patienten aber zunächst in höchste Todesangst versetzten. Die Idee war, den Schreckensmoment eines unerwarteten künstlichen Kehlkopfverschlusses auszunützen. "Die Folge war", so Muck 1916, "dass im Augenblick der Patient erschrak, den Atem eine Zeitlang anhielt, die Zunge losließ und einen Schrei ausstieß. Auf der Höhe dieser Emotion wurden die Patienten aufgefordert zu sprechen". Im Anschluss an die Behandlung seien die Soldaten häufig in Freudentränen ausgebrochen. Wichtig sei, dass der "Eingriff sachgemäß ausgeführt" werde. Die alleinige Brüskierung der Schlund- und Kehlkopfgegend zum Beispiel mit einem Spatel, der plötzlich in den Rachen gestoßen werde, führe allenfalls zu Erbrechen, nicht aber zu Heilung. Zu letzterer sei die künstlich erzeugte Angst unerlässlich. Und mögen die Erfolge einer solch brutalen Traktierung der Patienten auch noch so faszinierend gewesen sein, ethisch blieben sie doch außerordentlich fragwürdig.
Dies gilt in besonderer Weise für die Versuche, Kriegsneurotiker durch die Applikation elektrischer Ströme zu "heilen". Dabei wurden Faradaysche Ströme nicht nur lokal angewandt, etwa bei psychogener Taubheit auf Ohrmuscheln und Nasenschleimhäute oder bei psychogener Stummheit auf die Halsgegend, sondern auch generalisiert und bisweilen über lange Zeiträume. Weit verbreitet war die nach ihrem Erfinder Kaufmann benannte Methode, bei der stärkste Sinusströme stundenlang und außerordentlich schmerzhaft von den Opfern ertragen werden mussten. Kaufmann verfolgte mit seiner Methode den Zweck, kriegsneurotische Soldaten zu überrumpeln und Heilung "unbeirrbar konsequent" möglichst in einer Sitzung zu erzwingen. Dabei wurden auch Todesfälle ganz offenbar in Kauf genommen. Der brachiale Heilungsversuch Kaufmanns sollte sich in zwei Schritten vollziehen: An die suggestive Vorbereitung der Heilung, in der dem Patienten unmissverständlich die Entschlossenheit des Therapeuten signalisiert werden sollte, schloss sich die Verabreichung "kräftiger Wechselströme" in drei- bis fünfminütigen Intervallen an. Begleitet wurde auch sie durch Suggestion, die in scharfem militärischen Befehlston zu halten war. Unabhängig davon, ob sich die Behandlung über mehrere Stunden hinzog, war die "Erzwingung der Heilung in einer Sitzung" oberstes Prinzip. Der "gewaltige Schmerzeindruck", so Kaufmann, würde schließlich alle "negativen Begehrungsvorstellungen" des Patienten verdrängen und ihn "in die Gesundheit hinein" zwingen.
Max Nonne verdanken wir einen Bericht, der auf eindrückliche Weise die bedrückende Praxis der Stromtherapie nach Kaufmann beleuchtet. Die 1922 publizierte Szene wirkt bereits impressionistisch verfärbt und deutet auch schon Elemente der Gewaltästhetisierung an, wie sie den Kriegsroman der Zwanziger Jahre - von Jünger über Remark bis Beumelburg - beherrschen sollten. Es ist eine noch heute bedrohlich wirkende Szenerie, die Nonne hier in ihrer deskriptiven Suggestivität und der psychischen Totalität der Situation vor uns entfaltet: "Im Halbdunkel, umgeben von allerlei phantastischem Gerät, liegt ein alter Hysteriker in meinem Heilzimmer auf dem Behandlungstisch. Vorgestern Abend war er angekommen, ein früherer Offiziersbursche mit guten Manieren und einem offenen anständigen Gesicht. Das heißt: er schleppte sich auf zwei Stöcken hängend, zitternd, mit steifen verkreuzten Beinen in unbeschreiblich grotesken Gangfiguren. Wie dieser Mann nun auf dem Behandlungstisch liegt und ich nehme die schmerzlose Elektrode zur Hand - eben hatte er noch gelassen und freundlich mit mir gesprochen -, da geschieht etwas Unbegreifliches: er verwandelt sich unter meinen Augen in einen anderen - plötzlich, so wie wenn man an einer sacht laufenden Maschine den Hebel drückt, und es fällt unversehens ein brausendes Räderwerk ein. [...] Ein Zittern, Krachen und Zucken - die Zähne klappern, die Haare sträuben sich, der Schweiß tritt auf das blass gewordene Gesicht. Was noch durch diesen Tumult hindurchdringt, das sind kurze, scharfe Zurufe, festes Anfassen, rascher kräftiger Schmerz. Und unter diesen Reizen tritt, wieder mit einem plötzlichen Ruck, eine zweite Verwandlung ein. Man hat ein fast körperliches Gefühl davon, so als ob ein ausgedrehtes Gelenk wieder einschnappte. Auf einmal ist der Wille glatt und gerade und die Muskeln folgen beruhigt, willig seinem Antrieb". Es ist bemerkenswert, dass Nonne diese gespenstische Szene totaler psychischer und physischer Gewalt des Therapeuten über seinen Patienten als so vollkommen typisch für den "Kriegstherapeuten" hielt, dass man "sich noch in der Erinnerung daran zu langweilen" beginne.
Das Bestreben der deutschen Kriegspsychiater, im regelrechten Kampf mit dem Patienten dessen "Heilung" herbeizuführen, ist charakteristisch für das gesamte Spektrum der unterschiedlichen Therapieformen der Kriegsneurosen. Dem Krieg im Kriege lag die Vorstellung zugrunde, dass der eigentliche seelische Defekt nahezu immer begleitet werde von "ethischer Minderwertigkeit", von "antisozialer Neigung", dem Willen zur "Simulation" und der Tendenz, die eigene Minderwertigkeit gegenüber der Umwelt zu verschleiern. Die starke Tendenz der Kriminalisierung kriegsneurotischer Patienten wurde ergänzt durch den Versuch des Arztes, das Objekt seiner Therapieversuche gleichzeitig zu infantilisieren und in eine geradezu unterwürfige Abhängigkeit zu bringen. Wie ein "trotzköpfiges Kind" mit strenger, aber wohlwollender Hand zur Vernunft gebracht werde, so habe der Therapeut seine Überlegenheit permanent zu signalisieren. Max Nonne empfahl prinzipiell, den Patienten "stets ganz nackt ausziehen" zu lassen, weil "dadurch das Gefühl der Abhängigkeit bzw. der Hilflosigkeit erhöht" werde. Abhängigkeit und geradezu kindliche Hilflosigkeit konnte auch durch fortgesetztes Anbrüllen oder Zwangsexerzieren im Behandlungszimmer ausgelöst werden. Gelegentlich versuchten die Soldaten jedoch auch, sich den menschenverachtenden Prozeduren der Ärzte zu entziehen, ihnen Widerstand entgegenzusetzen oder sie als nur dem Kriege dienend zu entlarven. Hierzu hat uns Oskar Maria Graf in seiner 1925 publizierten Dokumentation „Wir sind Gefangene“ ein bedrückendes Dialogzeugnis zwischen einem Militärarzt und seinem Patienten überliefert. Zuerst spricht der Arzt milde, fast bittend: „Sehen Sie mich doch an. Sehen Sie, ich bin ein Mensch wie Sie. Meine Aufgabe ist es, Sie baldmöglichst zu heilen. Weiter nichts.“ Doch sein Patient will sich nichts vor machen lassen. Er durchschaut und entlarvt die Situation. „Sie sind der größte Verbrecher. Sie heilen nur, damit man uns wieder als Kanonenfutter verbrauchen kann. Sie sind schlimmer als jeder General und Kaiser, denn Sie benützen Ihre Wissenschaft nur, damit es wieder Leute zum Umbringen gibt. Sie machen zu Tode Geschundene wieder lebendig, damit man sie wieder morden, wieder zerfetzen kann!“
Es ist im Nachhinein sicherlich nicht fair, die gesamte deutsche Kriegspsychiatrie der Jahre 1914 bis 1918 der Unmenschlichkeit zu bezichtigen. Sie hat sich sicher in zahllosen Fällen den ihr anbefohlenen Patienten auch sorgsam, mit Respekt und ärztlichem Ethos gewidmet. Und es gab Ärzte, die sich den brutalen Prozeduren der Kriegspsychiatrie verweigert haben. Deshalb darf man allerdings auch die Schattenseiten jener Psychiatrie nicht verschweigen und die Behandlungspraxis der traumatischen Neurosen gehört sicherlich dazu.
Der erste moderne Weltkrieg der Menschheitsgeschichte, der seine mörderischen neuen Tötungs- und Verstümmelungstechniken aus einer gigantischen Büchse der Pandora über die Schlachtfelder Europas ausgeschüttet hatte, hinterließ vielgestaltige Narben: topographisch-ökologische in den zerwühlten Landschaften der Vogesen, der Argonnen, an der Somme und in Flandern mit ihren vernichteten Baumbeständen, menschengedüngten Ackerflächen und Heerscharen hungriger Leichenratten; soziale in den zerstörten Dörfern und Dorfgemeinschaften, in weggesprengten, ausradierten Kultur- und Lebensräumen, anthropo-psychologische auf den gemarterten Körpern und Empfindungen der Überlebenden, in den hart gewordenen Seelen ihrer Völker.
Am augenfälligsten war bereits während der ersten Kriegsmonate das Heer der Versehrten, der Blinden, der Amputierten, der Zerschmetterten und Entstellten, wie sie die Straßenbilder in den Städten der Kriegsbilder in Frankreich, England, Belgien und Deutschland nur allzu bald beherrschten. Anfang 1915, noch vor den unvorstellbaren Materialschlachten im Westen, schätzte der Orthopäde Konrad Biesalski die Zahl der bereits Verstümmelten deutschen Soldaten auf etwa 30.000. Die Reaktionen auf ihr Erscheinen in der Heimat waren so unterschiedlich wie die körperlichen Entstellungen durch den Krieg, die sich der Öffentlichkeit ungeschminkt präsentierten: Ein enormer Aufschwung in der orthopädischen Prothetik (Sauerbrucharm) und in der plastischen Chirurgie sowie das - halbherzige - Bemühen um die soziale Absicherung der "Kriegskrüppel" und ihrer Familien auf der einen, die Sorge um die Beseitigung dieser hässlichen Erscheinungen aus den Städten und aus den Seelen, die "Entkrüppelung aller Gebrechlichen" auf der anderen. "Eiserner Wille" müsse die "Kriegszermalmten" dahin bringen, die Behinderungen ihrer Bewegungsfreiheiten zu bekämpfen und zu besiegen, eiserner Glaube an die Macht des medizinisch-technischen Fortschritts ihre Seelen und die ihres Publikums zu läutern, den inhumanen Krieg aus der Vogelperspektive zu humanisieren; diesem Zweck war auch die möglichste Verharmlosung der Kriegsverkrüppelung in der Presse gewidmet, wie sie etwa durch Abbildung behinderter Sportler, mähender Landarbeiter oder präzis produzierender armamputierter Feinmechaniker vor Augen geführt werden sollte.
Einer schnellen Reintegration in die Arbeitswelt schließlich, der "Verstreuung unter die Masse des schaffenden Volkes, als wenn nichts geschehen wäre", dienten Versehrtenrenten in der Nähe oder unterhalb des Existenzminimums, die brutale Aufforderung zur Leistungssteigerung, die Mahnung vor der Verhätschelung besonders der psychisch Kriegsversehrten selbst durch die eigenen Ehefrauen, die hysterische Jagd auf vermeintliche Rentenbetrüger, die den sozialpolitischen Diskurs während der Weimarer Republik vergifteten würden. Alle Bemühungen scheiterten letztlich, und zurück blieb ein Heer vernichteter Existenzen, die mit ihren Familien durch die viel zu weiten Maschen eines viel zu ungleich gespannten sozialen Netzes gestürzt waren. Zurück blieb gerade, was hatte vermieden werden sollen und können, ein Nährboden der sozialen Ungerechtigkeit und Unzufriedenheit, auf dem politische Hetzer neues Verderben heraufbeschwören konnten.
Auch Ärzte hatten hierzu beigetragen.

Literatur:
- Eckart, Wolfgang U.: Aesculap in the Trenches: Aspects of German Medicine in the First World War, in: War, Violence and the Modern Condition, ed. by Bernd Hüppauf (=European Cul­tures.
Studies in Litera­ture and the Arts, vol. 8), Berlin/New York: W. de Gruiter 1997, 177-193.
- Fischer Homberger, Esther: Die traumatische Neurose - Vom somatischen zum sozialen Leiden, Bern, Stuttgart, Wien 1975,  S. 136f.
- Eucken, Rudolf; Max von Gruber: Ethische und hygienische Aufgaben der Gegenwart. Berlin 1916, 27-28.
- Fischer-Homberger, Esther: Zur Medizingeschichte des Traumas, in: Gesnerus  56(1999),3/4, S. 260 – 294
- Nonne, Max: Therapeutische Erfahrungen an den Kriegsneurosen in den Jahren 1914 bis 1918. In: K. Bonhoeffer (Hrsg.): Handbuch der ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/1918, Bd. l. IV, Leipzig 1922, S. 102-121, 112.
- Riedesser, Peter; Axel Verderber:  "Maschinengewehre hinter der Front": zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie, Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl., 1996.
- Riedesser, Peter; Axel Verderber:  Aufrüstung der Seelen: Militärpsychiatrie uund Militärpsychologie in Deutschland und Amerika, Freiburg i. Br.: Dreisam-Verl., 1985.
- Ulrich, Bernd; Benjamin Ziemann (Hrsg.): Frontalltag im Ersten Weltkrieg - Wahn und Wirklichkeit. Quellen und Dokumente, Frankfurt: Fischer 1994, S. 103.

Zum Autor:
Geboren 1952, Studium der Medizin, Geschichte und Philosophie in Münster; 1977 Approbation als Arzt, 1978 Promotion zum Dr. med; 1986 Habilitation für Geschichte der Medizin; 1988 - 92 Professor für die Geschichte der Medizin und Direktor der Abteilung Geschichte der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, seit 1992 Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Heidelberg. Eckarts Forschungsschwerpunkte sind: Das Entstehen der neuzeitlichen Medizin im 16. und 17. Jahrhundert, Medizin in der Literatur, Medizin und Krieg, Ärztliche Mission

Wolfgang U. Eckart: Auch Sterben ist Leben - Über Palliativmedizin damals und heute

<<>>

SWR2 AULA: Redaktion: Ralf Caspary. Susanne Paluch; Ortrud Maske; Sendung: Sonntag, 14. August 2005, 8.30 Uhr, SWR 2Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichenGenehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Überblick

Für Palliativmediziner gehört Sterben zum täglichen Leben. Sie behandeln Menschen, die unheilbar krank sind, und versuchen, ihnen ein möglichst schmerzfreies Leben bis zum Tod zu ermöglichen. Palliativmedizin ist daher Lebensmedizin, und auf Palliativstationen fragt kaum ein Patient nach Sterbehilfe. Das ist die Erfahrung vieler Ärzte.  Professor Wolfgang U. Eckart, Direktor des Instituts für die Geschichte der Medizin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, beleuchtet die historische Dimension des Themas und zeigt, warum die Palliativmedizin ein Ausweg aus der Sterbehilfe-Problematik ist. Ansage:

 

Heute mit dem Thema: „Auch Sterben gehört zum Leben- Palliativmedizin damals und heute“.

 

Die Frage nach einem menschenwürdigen Sterben wird kontrovers diskutiert. Darf dem Leiden und Leben eines Schwerkranken ein Ende gesetzt werden? Ja, sagen dazu Belgien und die Niederlande, die aktive Sterbehilfe unter gewissen Bedingungen erlauben. In den meisten anderen europäischen Ländern, auch in Deutschland, ist nur die passive Sterbehilfe erlaubt, wenn dies der eindeutige Wille des Patienten ist. Allerdings gibt es in Deutschland noch immer keine eindeutigen Regelungen im Umgang mit Patientenverfügungen, die Noch-Bundesregierung plante deshalb ein Gesetz, das jetzt aber wegen der bevorstehenden Neuwahlen vorerst auf Eis liegt.

 

Andererseits gibt es viele, die sagen, wir brauchen gar nicht neue Gesetze, die bestehenden reichen aus, wir brauchen eigentlich nur eine effizientere Palliativmedizin und mehr Hospize, die es Schwerkranken ermöglichen, ihre letzte Lebensphase menschenwürdig gestalten zu können.

 

Professor Wolfgang U. Eckart vertritt diese Position. Er ist Direktor des Instituts für die Geschichte der Medizin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. In der SWR2 AULA beleuchtet Eckart die historische Dimension des Themas und zeigt, warum die Palliativmedizin ein Ausweg aus der Sterbehilfe-Problematik ist.

Wolfgang U. Eckart:

 

Die Palliativmedizin bejaht das Leben und sieht das Sterben als einen normalen Prozess des Lebens an dessen Ende an. Sie will den Tod weder hinauszögern noch beschleunigen oder gar herbeiführen. Am Lebensende in körperlicher und seelischer Ruhe sterben, Wichtiges noch mitteilen und noch erfahren zu können, ist kostbarer Teil humaner Existenz in der Grenzsituation des Lebens.

 

Die Palliativmedizin hat sich aus der modernen Hospizbewegung entwickelt und bildet zusammen mit ihr das derzeit bestehende Modell der umsorgenden Sterbebegleitung, der „rounded care“. Von der Hospizidee überzeugt, hatte der kanadische Onkologe Belfour Mount 1975 am Royal Viktoria Hospital in Montreal die wohl erste Palliativstation überhaupt errichtet und darf daher als der Begründer dieses Gedankens gelten. Mount prägte zugleich den Begriff „Palliativ“, wenngleich die Idee einer Schmerzlinderung und Pflege integrierenden „terminal“ oder „rounded care“ auf die engagierte christlich inspirierte Arbeit der englischen Krankenschwester und späteren Ärztin Cicely Saunders zurückgeht. Saunders hatte als eine rigorose und wortgewaltige Bekämpferin des Euthanasiegedankens in den 1960er Jahren das ganzheitliche Konzept der umfassenden Pflege bei der Begleitung und Betreuung Sterbender entwickelt und mit der Eröffnung des St. Christopher Hospice in London 1967 zugleich das erste moderne Hospiz gegründet. Saunders hielt eine adäquate Schmerztherapie als integrale medizinische Begleitmaßnahme professioneller, einfühlsamer „rounded care“ (umhüllender Sorge) der Sterbenden für unverzichtbar.

 

Palliativmedizin ist im Prinzip nicht auf besondere Einrichtungen beschränkt, sondern kann in vielfältiger Weise, auch in der häuslichen Pflege, realisiert werden, wie das Beispiel Großbritannien zeigt, wo wir eine umfangreiche Integration der Palliativmedizin in das gesamte Gesundheitswesen vorfinden. In Deutschland hat die Palliativmedizin, ähnlich wie die Hospizbewegung, gemessen am britischen Vorbild erst mit Verzögerung in Fach- und Laienkreisen Interesse gefunden. Den entscheidenden Schub scheint sie zu Beginn der 90er Jahre erfahren zu haben: 1983 gab es eine Palliativstation mit nur fünf Betten in Deutschland, 1993 waren es schon 21 mit insgesamt 137 Betten, und im Jahre 2000 gab es dann bereits 65 Stationen mit mehr als 500 Betten für die palliative Versorgung. Derzeit arbeiten in der Bundesrepublik Deutschland über 70 Palliativstationen mit einer Versorgungskapazität von mehr als 700 Betten. Dass dies allerdings eine noch nicht annähernd hinreichende Versorgung darstellt, zeigt der Blick auf die Dichte der verfügbaren Palliativbetten. Sie variiert von Bundesland zu Bundesland zwischen drei Betten in Baden-Württemberg und 26 Betten auf eine Million Einwohner in Bremen. Deutschland ist damit sicher kein palliativmedizinisches Entwicklungsland mehr, von einer flächendeckenden palliativmedizinischen Versorgung sind wir allerdings immer noch weit entfernt.

 

Eine wichtige Wegmarke im Prozess der institutionellen Etablierung der Palliativmedizin war die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin im Jahre 1994. Als ihr satzungsgemäßes Ziel definierte diese Gesellschaft bis heute gültig „die Behandlung und Begleitung von Menschen mit einer nicht heilbaren, progredienten und weit fortgeschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung“. Ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zur disziplinären Etablierung der Palliativmedizin war das Erscheinen des ersten Lehrbuchs, das im Jahre 1997 von Eberhard Aulbert und anderen herausgegeben wurde; ein Jahr später bereits erschien 1998 im Heidelberger Wissenschaftsverlag Springer die „Palliativmedizin“ als „Praktische Einführung in Schmerztherapie, Ethik und Kommunikation“ von Stein Husebø und Eberhard Klaschik. Klaschik ist es auch, der seit 1999 an der Rheinischen Wilhelms-Universität zu Bonn den ersten Lehrstuhl für Palliativmedizin bekleidet. Zu diesem Zeitpunkt war die vorgefundene Situation verglichen mit der heutigen jedoch noch alles andere als befriedigend. Von 220.000 Menschen, die in Deutschland alljährlich an den Folgen einer Krebserkrankung starben, litten damals noch etwa 150.000 auf ihrer letzten Lebensstrecke an kaum zu ertragenden Schmerzen, da die Morphinverschreibung und die angemessene Schmerzbekämpfung überhaupt noch keineswegs hinreichend waren. Diese Situation aber hat sich in den vergangen Jahren im klinischen wie auch im nichtklinischen Bereich wesentlich verbessert. Dies gilt ebenso für das Gebiet der Milderung stark beeinträchtigender körperlicher Begleiterscheinungen, etwa der Chemotherapie, wie Übelkeit und Erbrechen.

 

Ein gewisses Konfliktpotential besteht seit den späten 1990er Jahren in der Koexistenz von Palliativstationen und bereits länger bestehenden Hospizeinrichtungen. So wurden auf der Seite der Hospizbewegung immer wieder Befürchtungen geäußert, dass der schrecklich veraltete, vertikal hierarchische Aufbau des deutschen Gesundheitswesens zur ärztlichen Dominanz und allmählichen Medikalisierung der terminalen Versorgung zuungunsten einer ganzheitlichen Sterbebegleitung im Sinn der „rounded care“ führe, die eben auch spirituelle Elemente einbezieht. Doch scheinen mir solche Sorgen eher weniger begründet. Zu Recht hat Eberhard Klaschik schon 1999 gefordert, das gewachsene Zweisäulen-System der terminalen Pflege und Sorge zugunsten eines integrativen Kooperationssystems von Palliativmedizin und Hospizarbeit aufzugeben. Es sei an der Zeit, dass Hospize „palliativmedizinisch kompetente Ärzte einbinden, ohne die Medizinierung der Hospize zu befürchten“. Ärzte wiederum müssten lernen, den „empathischen Teil der Hospizidee in sich aufzunehmen“. Im Hinblick auf mögliche Konflikte und Kontroversen muss vor allem die Teamarbeit im Vordergrund stehen, die der mehrdimensionalen Bedürfnislage des Palliativpatienten gerecht wird. Der hannoversche Kinderpsychiater und hospizengagierte Arzt, Johann-Christoph Student, ist in seinen Arbeiten zum Hospiz zuerst der „Mehrdimensionalität menschlichen Seins“ nachgegangen; Pfarrer Wolfgang Weiß, Leiter des Berliner Lazarus-Hospizes, hat sie 1999 in seinem „Handbuch der Hospizarbeit“ hinsichtlich der Schmerzspezifität, die jeweils ihre besondere, der Situation angemessene Hilfskompetenz sucht, die ärztliche, die pflegerische oder auch die geistliche auf den Punkt gebracht: „Im Sterbeprozess“, so Wolfgang Weiß, „ fordert jede Dimension Raum ein, indem sie sich in der je entsprechenden Bedürfnisformulierung ausdrückt. Kann dieses nicht befriedigt werden, so drückt sich das entsprechende Defizit als Schmerz aus. Doch es ist nicht so einfach auszumachen, an welcher Stelle dieses Defizit auftritt. Von daher legt sich eine integrale Schmerzanschauung nahe, die sich bemüht, jene Dimension des Menschen aufzuspüren, die der ‚Behandlung’ bedarf“.

 

Im klinischen Alltag bedeutet dies, dass der seelische Abschiedsschmerz einer 45jährigen krebskranken Mutter mit zwei von ihr gern weiter umsorgten Kindern und einem geliebten Mann genauso der Beachtung und Behandlung bedarf, wie der brennende Kopfschmerz einer Hirntumorpatienten, die seelische Einsamkeit einer 90jährigen kinderlosen und schwer herzkranken Witwe oder die permanente Übelkeit eines Kindes unter Zytostatika-Behandlung. Gerade an diesen wenigen Beispielen zeigt sich eben ganz deutlich: Hospize sind nicht einfach - und in der falsch geprägten Öffentlichkeit ebenso falsch wahrgenommene - „Sterbehäuser“, sondern in Wirklichkeit lebendige „Lebensstätten für Sterbende“. Sterben ist eben lebendiger Teil des Lebens und nicht mechanisches Absterben.

 

Die letzte Wegstrecke der lindernden Begleitung unheilbarer Krankheit zum Tode verläuft in der Regel nicht mehr in unseren klinischen Schmerzzentren, sondern entweder in der häuslichen Situation oder im Hospiz. Zur häuslichen Präfinal- und Sterbesituation hier nur wenige Bemerkungen: Sie sollte in erster Linie von fürsorgender, warmer Ehrlichkeit und aufmerksamer Offenheit geprägt sein und auf die gewohnten Lebensumstände und spirituellen Erwartungen des Kranken eingehen. Vorauseilende Trauer und ungehemmtes Klagen um den noch nicht verstorbenen Kranken belasten die Situation, sorgendes Mühen um die körperlichen Bedürfnisse, ungebrochenes Anteilgewähren an den Alltagsproblemen des Moments und auch an denen der Zukunft erleichtern sie. Wichtig erscheint mir insbesondere die Aufmerksamkeit der Begleitenden hinsichtlich offener Wünsche des Sterbenden, die sein Verhältnis zu Partner, Kindern, Freunden, aber auch vermeintlichen Feinden oder Missgesonnenen betreffen. Zwischenmenschliche Schuldkonten noch bereinigen, alte Konflikte endlich beilegen zu können, erleichtert den Sterbenden oft sehr. Das Sterben zuhause hat heute leider nicht mehr die allgemeine Bedeutung, die ihm noch bis zum Beginn des letzten Jahrhunderts zukam. Es findet nur noch vereinzelt statt als Relikt einer guten, aber im entschwinden begriffenen Sterbekultur; wo immer aber heute der Wunsch nach und die Bereitschaft zur häuslichen Begleitung zum Tode auftaucht, sollten wir diese Chance nutzen und stützen. Gutes Sterben in der Familie oder im Kreise von Freunden ist für den Sterbenden und die ihn Umgebenden ein wertvolles Gut, dessen Bedeutung wir allerdings im Sinne einer Ars bene moriendi erst wieder erlernen müssen. Die Ars bene moriendi meint buchstäblich übersetzt die „Kunst des guten Sterbens“, so wie es eben auch die Kunst des guten Lebens, die Ars bene vivendi, gab. Beides aber ist Kunst des Lebens.

 

Um die heutige Sterbebegleitung und Palliativmedizin der abendländischen-christlichen Kultur zu verstehen, ist ein Blick auf ihre historische Entwicklung angebracht. Obwohl ein direkter Bezug zur Sorge um den Sterbenden im neuen Testament nicht explizit enthalten ist, deuten doch einige Episoden aus dem Leben Jesu eine solche Sterbebegleitung zumindest an. So wird berichtet, dass Jesus zu manchen gerufen wurde, um helfend in das letzte Geschehen einzugreifen. Er selbst bittet im Garten Gethsemane seine Jünger um Beistand im Gebet in seiner letzten Stunde, damit er allen damit zusammenhängenden Versuchungen und Bedrängnissen widerstehen könne. Das vordergründige Thema der Alten Kirche war die Sorge um die ewige Rettung. Bei Todesgefahr halfen Diakone und Presbyter, indem sie den Sterbenden die Sakramente der Buße und des Abendmahles brachten. Die christlich geleitete Sterbeseelsorge nahm damit sakramentale und episkopale Strukturen an, während die karitative Fürsorge für die Todgeweihten weiterhin Angehörigen und Nahestehenden oblag. In der Zeit des Mittelalters bildeten sich drei Formen der Sterbevorbereitung heraus: Die sakramentale Praxis (Eucharistie, Absolution, Letzte Ölung), Gebetsrituale für die sterbende Seele (commendationes animae) mit der Bitte um Befreiung und Aufnahme bei Gott und schließlich die Sterbe- und Trostbüchlein mit der Anregung, sich innerlich auf den Tod vorzubereiten. Das Sterben selbst fand in der häuslichen, familiären Umgebung oder im christlichen Hospital und den ihm angeschlossenen Pfründnereinrichtungen statt. Von der mittelalterlichen Einrichtung des „Hospitals“, das ja mehr war als nur ein Krankenhaus, sondern darüber hinaus auch Herberge für durchreisende Pilger und Bedürftige, für Alte, Gebrechliche, körperlich und geistig Schwache, leitet sich auch der Name „Hospiz“ ab. Auch das Hospiz ist eine Herberge, heute für hilfe- und sorgebedürftige ‚Reisende’ auf dem Weg vom Leben in den Tod.

 

Die moderne Hospizbewegung greift zwar traditionelle und historische Elemente aus der Gastfreundschaft und der Pilgerbeherbergung aus dem Umfeld des mittelalterlichen Hospitals auf, zwingt aber in einer aufgeklärten, pluralistischen und zu großen Teilen säkularen Welt den Sterbenden nicht mehr in eine unbedingt religiös geprägte Sterbekultur. In der modernen Industriegesellschaft richtet sie sich vielmehr auf die ganzheitliche Bewältigung eines Phänomens, das die Ausmaße einer Tragödie erreicht hat: das vereinsamte Sterben inmitten einer durchtechnisierten Apparatemedizin, die das Versprechen, den Tod zu besiegen, doch nicht einlösen wird. Die wohl bereits antike Weisheit „mors vera, hora incerta“ (Der Tod ist sicher, seine Stunde ungewiss) gilt immer noch, und die Hospizbewegung gibt der Gesellschaft Anstöße, eine neue Ars bene moriendi zu entwickeln.

 

Die moderne Hospizbewegung in Deutschland hatte noch in den 1970er Jahren einen schweren Stand und wurde in ihrer Entwicklung mehrfach gebremst. Sowohl die Etikettierung von Hospizen als „Sterbekliniken“ als auch die anfangs fehlende Auseinandersetzung mit Hospiz-Positionen führte zu einem regelrechten Negativ-Image. Unberechtigterweise geriet die moderne Hospizbewegung sogar in die Nähe der nationalsozialistischen Euthanasiepraxis. Vor dem Hintergrund der Euthanasieverbrechen während des Nationalsozialismus traf die Vorstellung, Sterbende in spezielle Abteilungen der Krankenhäuser "abzuschieben", vor allem bei den Kirchen, aber auch in der öffentlichen Diskussion in Deutschland auf Ablehnung. Die Sterbebegleitung zu Hause oder im Krankenhaus nahmen seit je kirchliche und karitative Gruppen unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit wahr. Erst Mitte der 80er Jahre erfolgte ein Umdenken in den beiden großen deutschen Kirchen. Die Erkenntnis griff, dass Sterbende einer besonderen medizinischen, aber auch therapeutischen Betreuung bedürfen. Nun wurde auch von der breiten Öffentlichkeit der enorme Bedarf an Institutionen für die Sterbebegleitung erkannt. Der Weg der modernen Hospizbewegung ins öffentliche Bewusstsein verlief in mehreren Etappen: Das erste Jahrzehnt ihrer Entwicklung in den 1970er Jahren kann als Phase des Informationsdefizits und der Ablehnung gekennzeichnet werden. Die 1980er Jahre sahen Pionierleistungen einzelner und den allmählichen Aufschwung des Hospizgedankens, während es im letzten Jahrzehnt des 20. Jahnhunderts schließlich zur Etablierung der Hospizidee als Bürgerbewegung und zu einer breiten Akzeptanz für das Konzept der multikompetenten Versorgung Sterbender im Sinne der „rounded care“ kam.

 

Eine große Chance der modernen Hospizbewegung liegt sicher darin, den notwendigen Wertewandel in der heutigen Gesellschaft – weg von der ich-bezogenen „Raffgesellschaft“ hin zu einer „caring society“ – positiv zu beeinflussen. Allerdings kann dies nur gelingen, wenn die Hospizbewegung ihre ehrenamtliche Komponente behauptet. Sie darf nicht zum bloßen Element des staatlichen Gesundheitswesens oder zum Spielball von Funktionärsinteressen und -querelen werden, die als praxisferne Laien um die konkreten Anforderungen der Hospiz- und Palliativarbeit nichts wissen. Die Chance der Hospizbewegung liegt wohl darin, in einer säkularisierten und individualisierten Gesellschaft den bezeichneten Wertewandel zu befördern. Dazu ist es freilich notwendig, dass sie nicht nur an bislang Bewährtem (Integration von Palliativmedizin und Hospizarbeit, Ablehnung der aktiven Sterbehilfe) festhält, sondern auch Visionen und Konzepte, etwa ihre Ausweitung auf Kinder- und Waisenhospize, entwickelt, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein.

 

Ein großes Problem allerdings erwächst der Hospizbewegung aus dem immer wieder erstarkenden Gedanken der Sterbehilfe im Sinne eines - vorsichtig formuliert - ‚selbstbestimmten Todes’, bei dem es sich, hart auf den Punkt gebracht, doch eigentlich eher um einen ärztlich assistierten Selbstmord handelt. Hierfür wird häufig und vielerorts - so etwa in den Niederlanden, in Belgien oder in der Schweiz -, allerdings sinnentstellt, der Begriff der „Euthanasie“ verwendet. "Euthanasie" stand in der Antike für einen "guten", schnellen und ehrenvollen Tod. Der Begriff beschrieb damit vorwiegend die Qualität des Sterbens, nicht aber die Fremdhilfe beim Sterben. Auch in der frühen Neuzeit bedeutete "Euthanasia medica", so wie sie etwa Francis Bacon (1605) gefordert hat, nur den ärztlichen Beistand durch die Verabreichung von schmerzlindernden Medikamenten. Eine Begriffsausweitung erfolgte allerdings in der frühen Neuzeit. So beschrieb Thomas Morus in seiner "Utopia" 1517 die aktive Sterbehilfe auf Verlangen. Wenn eine qualvolle und schmerzhafte Krankheit "dauernd" und "unheilbar" sei, der Betroffene "den Mitmenschen zur Last" falle und "sich selber unerträglich" werde, dann dürfe er sich entweder selbst "aus diesem bitteren Leben wie aus einem Kerker oder aus der Folterkammer befreien oder sich willig von anderen herausreißen lassen". Es beende der leidend Todkranke sein Leben daher "freiwillig durch Enthaltung von Nahrung" oder er werde "eingeschläfert" und finde so "Erlösung", ohne den Tod zu bemerken. Gegen seinen Willen aber" dürfe niemand getötet oder schlechter gepflegt werden.

 

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wird das Problem der Selbsttötung oder der Tötung auf Verlangen in aussichtslosen Krankheitsfällen erneut diskutiert. Der Patient besitze ein Recht, unheilbares Leiden durch "den raschen und schmerzlosen Tod" zu beenden, ein "Recht auf den Tod" also. Die letzte Entscheidung bleibe jedoch dem Patienten; anders bei unheilbar "geistig Kranken", hier entscheide der Staat und sei berechtigt, Tötung zu vollziehen. Weitergehende Ideen entwickelte 1895 Alfred Ploetz in seiner Utopie, die dem Staat das Recht gab, unheilbar krank geborene Kinder zum Schutz einer rassisch makellosen Fortpflanzung unmittelbar nach der Geburt zu töten. Ähnlich radikal hatte sich Ernst Haeckel 1904 in den "Lebenswundern" geäußert. Für Haeckel stand die ärztliche Moral, die Ethik der uneingeschränkten Lebenserhaltung, der Notwendigkeit einer biologischen Auslese entgegen. In den frühen 20er Jahren des letzten Jahrhunderts setzte die Diskussion um die Euthanasie vehement ein. Grell wurde das Menetekel zunehmender "Volksdegeneration" nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs entworfen. Eugenische Gegenmaßnahmen (Sterilisation oder Euthanasie) fanden in allen Lagern offene Diskussionsforen. Angestoßen wurde die Debatte durch die Schrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" (Binding/Hoche, 1920). Es war dieser Gedanke, der letztlich in den als „Euthanasie“ verbrämten, hunderttausendfachen Krankenmord im Nationalsozialismus führte.

 

Es gibt vor diesem Hintergrund heute gute Gründe, gegen jede Form aktiver Sterbehilfe einzutreten. Entscheidend ist wohl in erster Linie die christlich-moralische Normsetzung des ‚Nicht- Menschen- töten- Sollens’. Man kann angesichts der Fortschritte moderner Palliativmedizin aber auch ins Feld führen, dass ein würdevolles Sterben, ein humaner Tod, auch ohne die verwerflichen Mittel der Beihilfe zur Selbsttötung oder gar der Tötung auf Verlangen, möglich und realisierbar ist. Leider wird in den Medien die Problematik gelegentlich zu einseitig, das heißt im Sinne einer Wertedominanz des ‚selbstbestimmten Sterbens’ dargestellt. Es sind dies Berichte, die zeigen, wie durch Tötung auf Verlangen ein qualvolles Sterben verhindert wurde. Seltener hingegen wird über die guten neuen Möglichkeiten berichtet, durch die Palliativmedizin ein erfülltes und selbst auf der letzten Wegstrecke noch wichtiges und befriedigendes oder doch zumindest ruhiges und schmerzfreies Verabschieden von der Welt zu realisieren.

 

Ich will versuchen, dies an der Behandlung des spektakulären Falls der Britin Diane Pretty klarzumachen, die an der unheilbaren Nervenkrankheit ALS (amyotrophe Lateralsklerose) litt und an deren Folgen sie am 12. Mai 2002 in Luton bei London starb. Die amyotrophe Lateralsklerose ist eine schwere neuromuskuläre Erkrankung, die sich zuerst meist als Schwäche in den Händen oder Füßen bemerkbar macht. Dann greift die Muskelschwäche auch auf andere Muskelgruppen über. Im Durchschnitt sterben die Patienten drei Jahre nach Erkrankungsbeginn an einem allmählichen Ausfall der Atemmuskulatur. Einer großen Öffentlichkeit war die 43-jährige Trägerin dieser Krankheit bekannt geworden, weil sie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenige Tage vor ihrem Tod mit ihrem Begehren unterlag, dass ihr Ehemann sie ungestraft töten dürfe.

 

Das Bild der fast vollständig gelähmten Frau im Rollstuhl, wie sie von ihrem Mann nach dem Spruch der Straßburger Richter vor die Fernseh-Kameras geschoben wurde, rührte alle an. Manche machte es sogar ausgesprochen zornig. Warum verweigerten kaltherzige Juristen der Kranken ein friedvolles, selbstbestimmtes Ende? Warum zwangen sie die Frau, qualvoll zu sterben, sobald ihre Nervenlähmung das Atmungszentrum erreichen würde? Das Lesepublikum der Printmedien reagierte emotionalisiert bis wütend. Doch es war nicht so, wie ein Teil der Sensationspresse dies einer interessierten Öffentlichkeit wochenlang präsentierte: Diane Pretty ist nicht qualvoll einen fürchterlichen Erstickungstod gestorben, sondern friedlich in ihren Tod geschlafen. Sie wählte als Ort ihres Sterbens ein Hospiz, also ein Haus, das auf die Begleitung Todkranker und auf die massive Eindämmung ihrer Schmerzen spezialisiert ist. Diane Pretty starb anders, als sie es befürchtet hatte, – sie starb in Würde. Und sie bildet damit keine Ausnahme. Palliativ-Mediziner – Experten der Schmerzmilderung – sagen, dass auch ALS-Kranke bei richtiger Behandlung keinen qualvollen Todeskampf zu befürchten haben.

 

Aber es ist richtig, Diane Pretty, ihre Familie und ihr Anwalt hatten vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg die Möglichkeit einer straffreien Tötung auf Verlangen gefordert, um sich so, wenn wir der Argumentation der Klägerin folgen, „einen Tod in Würde“ zu ermöglichen. Diese fragwürdige Argumentation des Anliegens war es, die der Presse suggerierte, ein würdevolles Sterben in auswegloser Situation sei eben nur durch selbstbestimmtes Sterben auf Verlangen möglich. Versehen mit der zu Unrecht entfalteten Horrorvision vom qualvollen Erstickungstod, wie er früher durchaus die Regel gewesen sein mag, erreichte diese Meldung ihr empörtes Publikum. Hintangestellt wurde der Umstand, dass mehr als 90 Prozent aller palliativ behandelten ALS-Patienten inzwischen ruhig und ohne Erstickungsangst sterben und die Angehörigen die hierzu erforderlichen palliativmedizinischen Maßnahmen überaus zu schätzen wissen. Auch Diane Pretty glitt zwei Tage vor ihrem Tod in ein Koma, und ihr Sterben wurde vom behandelnden Chefarzt des Hospizes als „völlig natürlich und friedlich“ beschrieben.

 

Das Fazit, das aus dem geschilderten Fall gezogen werden kann, ist bedrückend und zeigt doch zugleich, dass die Palliativmedizin in Deutschland auch weiterhin einer nachhaltigen Unterstützung bedarf. Bedeutung und Chancen einer adäquaten palliativmedizinischen und palliativpflegerischen Versorgung am Lebensende als wesentliche Voraussetzung eines Sterbens in Würde werden zwar grundsätzlich bejaht, in der medialen Berichterstattung und in der Gesundheitspolitik jedoch noch viel zu wenig thematisiert.

 

Hier allerdings scheint sich ein Umdenken zumindest in der Politik anzubahnen: So hat jüngst die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages neue Akzente gesetzt, als sie am 28. Juni 2005 ihren Zwischenbericht zur „Verbesserung der Versorgung Schwerstkranker und Sterbender in Deutschland durch Palliativmedizin und Hospizarbeit“ vorstellte. Darin wurden endlich ein Gesetz und durchaus wesentlich mehr Geld für die Palliativmedizin und Hospiz-Einrichtungen gefordert.

 

So sollen nahe Angehörige durch eine „Karenzregelung“ bis zu sechs Monate von ihren Beschäftigungsverhältnissen freigestellt werden, Kündigungsschutz genießen und in dieser Zeit Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe erhalten. Die häusliche Betreuung von Schwerstkranken und Sterbenden soll flächendeckend durch ambulante „Palliative-Care-Teams“ gesichert werden. Die Pflicht der Krankenkassen zum Abschluss solcher Verträge soll gesetzlich verankert werden. Zudem will die Kommission Schmerztherapie und Palliativmedizin als Pflichtfach in der Ausbildung von Ärzten und Pflegekräften an Universitäten und Fachhochschulen verankert wissen. Aber, so muss gefragt werden, wie sollen diese guten Forderungen bezahlt werden? Und wird die neue Bundesregierung den sicher kostenträchtigen Forderungen der Enquete-Kommission überhaupt weiter nachgehen wollen und können? Tatsächlich ist die Kostenfrage wichtig, moralisch aber doch zugleich nachgeordnet. Wäre es nicht beschämend für ein so hochentwickeltes Land wie das unsere, innovative Vorschläge für ein humaneres Sterben mit dem Kostenargument ad acta zu legen, und dies angesichts der unbestrittenen Tatsache, dass in unserem Land oft genug schwerkranke Menschen zwar hochtechnisiert versorgt werden können, aber dann doch einsam, ohne Trost und Begleitung, sterben müssen?

 

Die Zielvorgaben der Enquete-Kommission sind hoffentlich richtungsweisend, aber sie beschreiben zugleich den noch bedrückenden Ist-Zustand: Weder in der ärztlichen Fort- und Weiterbildung noch im Medizinstudium gehören palliativmedizinische Inhalte derzeit zum Unterrichtspflichtprogramm. In der Gesundheitspolitik und in den Medien bedürfte es eines noch nachhaltigeren Plädoyers für bessere Versorgungsstrukturen für Schwerstkranke und Sterbende, um ein „Recht auf würdiges Sterben“ für die meisten Menschen in unserer immer noch wohlhabenden Gesellschaft auch tatsächlich zu realisieren. Es muss in Deutschland noch mehr als bisher über die Problematik der aktiven Sterbehilfe berichtet, und es müssen stärker als bisher die positiven Alternativen der Palliativmedizin in medizinischer, seelischer, spiritueller und auch sozialer Hinsicht herausgestellt werden. Sterben ist Leben in seiner letzten Phase; und wenn wir dem menschlichen und verfassungsmäßigen Gebot des Lebensschutzes in seiner letzten Konsequenz gerecht werden wollen, dann müssen wir eben auch das Sterben als Teil des Lebens anerkennen, es als solchen beforschen, vor allem aber schützen und umsorgend begleiten.

* Zum Autor:

Geboren 1952, Studium der Medizin, Geschichte und Philosophie in Münster; 1977 Approbation als Arzt, 1978 Promotion zum Dr. med.; 1986 Habilitation für Geschichte der Medizin; 1988 - 92 Professor für die Geschichte der Medizin und Direktor der Abteilung Geschichte der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, seit 1992 Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Heidelberg. Eckarts Forschungsschwerpunkte sind: Das Entstehen der neuzeitlichen Medizin im 16. und 17. Jahrhundert, Medizin in der Literatur, Medizin und Krieg, Ärztliche Mission.

Bücher (Auswahl):

- Geschichte der Medizin. Springer.

- Medizin und Kolonialimperialismus. Schöningh.

- Die Medizin und der Erste Weltkrieg (mit Christoph Gradmann). Centaurus