200 Jahre Karl Marx Entfesselter Kapitalismus - wie aktuell ist Marx? Ralph Caspari mit Jürgen Neffe

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Kapitalismus = Kontrollverlust - Marx (J. Neffe)
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SWR2 Wissen: Aula | 200 Jahre Karl Marx Entfesselter Kapitalismus - wie aktuell ist Marx? Ralph Caspari mit Jürgen Neffe
Sendung: Dienstag, 1. Mai 2018, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary Produktion: https://www.swr.de/swr2/programm/ . 2018
Privat konnte Marx nicht mit Geld umgehen. Oft waren er und seine Familie pleite. Doch seine genialen Theorien über den Kapitalismus sind noch heute von ungebrochener Aktualität.
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Autor
Jürgen Neffe ist promovierter Biologe, Journalist und Buchautor. Er arbeitete u.a. bei der renommierten Wissenschaftszeitschrift "Nature" und war Korrespondent des "Spiegel". Heute ist er als freiberuflicher Autor tätig.
Bücher (Auswahl):
- Einstein: Eine Biografie. Rowohlt, 7. Auflage 2005
- Darwin: Das Abenteuer des Lebens. Bertelsmann, 2006
- Marx. Der Unvollendete. Bertelsmann, 2017

ÜBERBLICK
Wer heute Betriebswirtschaftslehre oder Wirtschaftswissenschaften studiert, kommt kaum mehr mit Marx in Kontakt, es dominiert eine rationale mathematische Methode. Dabei kann man noch heute von diesem genialen Theoretiker viel lernen. Die meisten seiner Konzepte haben nach wie vor eine große Aktualität.
 
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Entfesselter Kapitalismus - wie aktuell ist Marx?
 
Marx beschreibt als erster den Kontrollverlust im Kapitalismus
Die Kernaussage von Marx lässt sich in einem Wort zusammenzufassen: "Kontrollverlust". Damit meint er: Wir Menschen – und das hat Marx aus der Religionskritik übernommen –  haben mit dem Kapitalismus ein System geschaffen, das sich unserer Kontrolle entzogen hat. Wir werden paradoxerweise von etwas beherrscht, was wir selbst in die Welt gesetzt haben.

Diese Argumentationsfigur kommt aus der damaligen jung-hegelianisch aufgeladenen Religionskritik. Gemeint war damit: "Gott ist nur eine Erfindung des Menschen." Feuerbach etwa sagt: "In Gott beten die Menschen ihr besseres Ich an." Gott ist also einerseits ein Geschöpf des Menschen, andererseits hat er sich als Wesen verselbständigt. Marx überträgt das auf den damals noch jungen Kapitalismus. Er sagt, da ist etwas Ähnliches passiert: Ein von uns geschaffenes Etwas hat sich verselbständigt. Und dann erst geht er daran, dieses große Etwas zu untersuchen.

Marx und die Industrie 4.0
Ein Blick auf die heutige Industrie 4.0, die Entwicklung im Bereich künstliche Intelligenz, die Datenströme, zeigt, dass wir in den nächsten Jahren möglicherweise den totalen Kontrollverlust erleiden, wie Marx das im Ansatz vorausgesehen hat.
 
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Big Data . Algorithmen beeinflussen den Menschen
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Die neuen Systeme, die gerade geschaffen werden und schon fast transhumanistisch sind, also künstlich intelligente Systeme, könnten uns in Zukunft vorschreiben, was wir zu tun haben und was nicht. Schon heute hören wir auf abstrakte Algorithmen, die uns sagen, wie wir unsere Gesundheit optimieren können oder welcher Partner zu uns passt. Und Roboter arbeiten schon jetzt in vielen Bereichen besser als Menschen und werden in Zukunft weitere Tätigkeiten automatisieren. Insofern ist Marx auch auf dieser Ebene hoch aktuell.Bild

Entfremdung, Ausbeutung, Warenfetischismus sind wichtige Kategorien
Marx liefert eine Methode und ein Instrumentarium, um die ökonomischen Systeme zu verstehen. Entfremdung ist ja aus seiner frühen Zeit in mehrfachem Sinne gemeint: Es geht um Entfremdung des Produkts, wenn es eine Ware ist. Der Mensch hat von dem Herstellungsprozess eines Produkts keine Ahnung mehr, auch von seinem eigentlichen Objektcharakter, weil er es als Fetisch wahrnimmt. Marx meint aber auch Entfremdung des Vorgangs, der Produktion.
 
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Fließband mit Tellern, auf denen von mehreren Mitarbeitern ein Hauptgericht angerichtet wird.
Bei der Fließbandarbeit bekommt ein Mensch das fertige Produkt nicht zu Gesicht.
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Der Arbeiter in der Firma führt nur noch kleinteilige Tätigkeiten aus und weiß nicht mehr, wie ein Ding als Ganzes hergestellt wird. Und er beschreibt eben auch die Entfremdung des Menschen vom Menschen. Wir reden eigentlich alle nur noch in der Warensprache miteinander, sagt er. Und das trifft auch heute noch zu, in einer Zeit, in der Soziologen kritisieren, dass der Kapitalismus auch die Psyche erobert und dort eine Wettbewerbslogik etabliert hat. Auf all diesen Ebene kommt es zu Entfremdungserscheinungen.
Jürgen Neffe, aufgenommen im Oktober 2017, auf der 69. Frankfurter Buchmesse, in Frankfurt/Main (Hessen).

AUTOR
Jürgen Neffe
.ist promovierter Biologe, Journalist und Buchautor. Er arbeitete u.a. bei der renommierten Wissenschaftszeitschrift "Nature" und war Korrespondent des "Spiegel". Heute ist er als freiberuflicher Autor tätig.
Bücher (Auswahl):
- Einstein: Eine Biografie. Rowohlt, 7. Auflage 2005
- Darwin: Das Abenteuer des Lebens. Bertelsmann, 2006
- Marx. Der Unvollendete. Bertelsmann, 2017

INHALT
MANUSKRIPT
Caspary:
Herr Neffe, haben Sie „Das Kapital“ in allen Punkten verstanden?
Neffe:
Ich denke schon.
Caspary:
Ich frage das natürlich polemisch, weil mit dem „Kapital“ verhält es sich so wie mit „Ulysses“: Alle reden davon, die wenigsten haben es gelesen und noch weniger haben es verstanden. Das Werk „Das Kapital“ ist doch immanent schwierig, oder?
Neffe:
Ja, aber wenn man sich reinkniet ... Ich meine, Marx hat das ja nicht für Marsbewohner geschrieben, sondern für Menschen. Es ist vor allen Dingen am Anfang schwierig bis ungefähr Seite 85. Wenn man die kategoriellen philosophischen Herleitungen verdaut hat, wird das nachher sehr lesbar. Wenn jemand Angst vor dem „Kapital“ hat, würde ich sagen: „Fang auf Seite 86 oder vielleicht auf Seite 150“ an,
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dann wird es wirklich leicht lesbar. Der Anfang ist schwierig, so schwierig, dass auch Fidel Castro es wohl weggelegt und gesagt hat: „Das schaffe ich nicht.“
Caspary:
Bestimmt nicht nur er, sondern viele andere auch. Herr Neffe, kann man „Das Kapital“ auf einige Kernsätze reduzieren?
Neffe:
Ich behaupte sogar, dass die Kernaussage, die Marx uns hinterlassen hat, in einem Wort zusammenzufassen ist, nämlich das Wort „Kontrollverlust“. Marx beschreibt auf eine philosophisch-ökonomisch-politische Weise, dass der Kapitalismus ein endliches System ist, irgendwann wird es an ein Ende kommen müssen. Kontrollverlust insofern, als dass wir Menschen – das hat Marx aus der Religionskritik übernommen – mit dem Kapitalismus ein System geschaffen haben, das sich unserer Kontrolle entzogen hat. Wir werden von etwas beherrscht, was wir selbst in die Welt gesetzt haben. In der deutschen Ideologie sagen Marx und Engels: „Die Schöpfer verneigen sich vor ihrem Geschöpf.“ Das kommt aus der Religionskritik, die damals jung-hegelianisch aufgeladen war und meinte: „Gott ist nur eine Erfindung des Menschen.“ Und Feuerbach sagt: „In Gott beten die Menschen ihr besseres Ich an.“ Marx, das ist der große Schritt, überträgt das Ganze auf den damals noch jungen Kapitalismus, und er sagt, da ist etwas Ähnliches passiert: Ein von uns geschaffenes Etwas hat sich verselbständigt. Und dann erst geht er daran, dieses große Etwas zu untersuchen. Das lässt sich natürlich in wenigen Worten nicht zusammenfassen, aber auf eine gewisse Weise schon, weil Marx versucht zu verstehen, wie Wert entsteht.
Caspary:
Kann man sagen, dieses Etwas – das zieht sich ja auch leitmotivisch durch Ihr Buch –, diese „fremde Macht“, die uns zu kontrollieren scheint, ist das Kapital, das sich verselbständigende Kapital?
Neffe:
Genau. Marx sagt ja auch, das Kapital ist ein mit Wille und Vernunft begabtes Etwas, aber es ist nicht menschlich. Also er meint nicht Kapitalisten, die sind zwar die Ausführenden, aber nach Marx sind sie in gewisser Weise auch Marionetten an den Fäden dieses Systems. Das Kapital ist ja insofern nicht lebendig, sondern es ist, wie Marx so schön definiert, nicht ein Haufen Geld, sondern Geld in Bewegung. Kapital ist sozusagen der Treibstoff, der dieses System antreibt mit der merkwürdigen Eigenschaft, sich vermehren zu müssen. Das heißt also, Wachstum ist immanent im Kapitalismus. Wenn es aufhört zu wachsen, und das hat Marx als Erster so genau untersucht, dann kollabiert das System. Man kann es mit einem Krebsgeschwür vergleichen, das muss auch wachsen, und zwar solange, bis es seinen Wirt vernichtet hat. Der Mensch oder das Tier, das Krebs hat, stirbt. Das ist natürlich sehr metaphorisch gedacht, aber so hat Marx den Kapitalismus gesehen.
Caspary:
Nach der Lektüre Ihrer Biografie stellt sich für mich die Frage: Wer oder was war dieser Marx eigentlich? War er Soziologe? War er Ökonom? War er Philosoph? War er Journalist? War er alles zusammen und darüber hinaus noch mehr? War er mehr als die Summe dieser Teile?
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Neffe:
Es ist immer interessant, die Summe dieser Teile zu bilden. Ich würde mal die Überschrift bilden, er war Wissenschaftler. Ich glaube, das würde er auch unterschreiben: An erster Stelle war er Wissenschaftler, ein Wahrheit suchender Weltversteher. Einen Punkt haben Sie noch nicht genannt: Er war auch Politiker. Kein sehr erfolgreicher, wie ich finde. Und dann würde ich als Naturwissenschaftler auch noch ein Prädikat anheften: Er war ein Theoretiker. Er hat versucht, eine Theorie der Gesellschaft und der Wirtschaft zu entwerfen.
Caspary:
Auch eine ökonomische Theorie natürlich.
Neffe:
Genau. Es heißt ja auch „Kritik der politischen Ökonomie“. Er hat klar gemacht, dass man Ökonomie und Politik nicht trennen kann, weil eben auch Mächte und Kräfte wirken, die nicht nur von der Wirtschaft bestimmt werden, sondern sie werden eben auch von politischen Ereignissen maßgeblich bestimmt.
Caspary:
Er versucht, eine Theorie des Kapitals zu formulieren, eine Theorie der Warenströme, überhaupt wie das Kapital fließt. Dabei hat er selbst sein Leben lang unter Geldmangel gelitten. Er lebte von Schenkungen, vom Erbe, von Zuwendungen – und er entwirft eine Theorie des Kapitalismus, also des Kapitalismus und der ausgebeuteten Fabrikarbeiter z.B., hat aber fast nie eine Fabrik von innen gesehen.
Neffe:
Soweit wir wissen, gar nicht, obwohl sein Freund Engels eine Fabrik in Manchester geleitet hat. Offensichtlich waren diese zwei Welten für ihn voneinander getrennt. Er hat auch zwei Wohnungen gehabt. Marx hat schon immer wieder Geld gehabt, er hat ja auch Geld verdient: Als Korrespondent der damals größten Tageszeitung der Welt, der New York Tribune, hat er ein Einkommen gehabt. Er war vorher zweimal Chefredakteur der Rheinischen Zeitung, der Neuen Rheinischen Zeitung und hat durch Erbschaften größere Mengen Geld gehabt. Aber er konnte mit Geld nicht umgehen. Er war wie ein hochbegabter Prinzenjunge. Dummerweise hat er eine Frau geheiratet, die die gleiche Eigenschaft mitbrachte: Jenny von Westfalen, später Jenny Marx. Auch sie konnte mit Geld nicht umgehen. Zwischen Theorie und Praxis konnte Marx nicht vermitteln. Und wenn dann mal größere Beträge, z.B. in Form von Erbschaften, reinkamen, dann haben sie die in einem Jahr durchgebracht. In diesem Jahr haben sie gefeiert, Champagner getrunken, ein neues Haus bezogen, neue Möbel gekauft, und es gab so nette Kleinigkeiten, dass die Kleider der Puppen ihrer Kinder beim Schneider genäht wurden. Ich finde das irgendwie gut, er war keine schwäbische Hausfrau, sondern er hat gelebt. Nach einem Jahr sind sie zum Pfandleiher gegangen, haben ihr Silber, ihre Bettwäsche und schließlich noch seinen Mantel versetzt, so dass er das Haus nicht mehr verlassen konnte.
Frage:
Das ist ja interessant, dass jemand eine Theorie des Geldes entwirft, die fast bis heute noch gilt, der nicht mit Geld umgehen konnte. Woher hatte er das Wissen?
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Neffe:
Es gibt auch sehr viele Menschen, die über Fußball urteilen, ohne Fußball zu spielen. Und manche können das tatsächlich sehr gut, es gibt ja genügend Trainer, die als Spieler nicht so begabt waren. Marx konnte zwischen der Theorie, dem Verständnis dessen und dem, was das praktisch für ihn bedeutet, nicht vermitteln. Sonst hätte er ein bisschen mehr auf schwäbische Hausfrau gemacht und wäre kürzer getreten. Außerdem gab es noch ein Notventil: Das war sein Freund Friedrich Engels. Engels hat immer wieder Geld geschickt. Nicht allzu viel, die Familie hat also wirklich in Armut gelebt. Aber er hat dafür gesorgt, dass die Familie irgendwie durchkommt, zumindest einige Jahre nach seiner Ankunft in England. Ganz am Anfang war es sehr schlimm, da sind auch Kinder der Eheleute Marx im Elend gestorben, die Marxens haben vier von ihren sieben Kindern verloren. Frau Marx schreibt in ihren kurzen Erinnerungen: „Das hat auch damit zu tun, wie schlecht es uns ging“. Sie haben in London in feuchten Löchern gewohnt. Das besserte sich im Lauf der 1850er-Jahre. Richtig entspannt hat sich die Situation aber erst 1870, als Engels nach London zog und den beiden eine Art Rente ausgesetzt hat. Und davon konnte man schon gut-bürgerlich leben.
Frage:
Kommen wir zur Aktualität von Marx. Ich fand an Ihrem Buch sehr erholsam, dass Sie Marx aus den Fängen jeglicher Ideologie, sowohl der rechten als auch der linken, befreien. Sonst hätte man sagen können, Marx ist ein toter Hund, das interessiert keinen mehr, der ist ideologisch verbogen und instrumentalisiert worden, der sagt uns nichts mehr. In Ihrem Buch ist das anders, warum?
Neffe:
Ja, weil ich überzeugt bin, dass er uns sehr viel sagt. Das hatte auch mit dem schwer zu lesenden „Kapital“ zu tun. Wenn man das durcharbeitet, findet man Anklänge an die Finanzkrise usw. Und die Grundaussage, dass wir über das System, was wir selbst geschaffen haben, die Kontrolle verlieren, wird ja gerade heute nochmal aktuell in einer Weise, die Sorgen machen könnte: Wenn wir uns Industrie 4.0, künstliche Intelligenz, Datenströme usw. anschauen, dann erleiden wir in den nächsten Jahren möglicherweise den totalen Kontrollverlust. Herwegh hat noch gedichtet: „Alle Räder stehen still, wenn ein starker Arm es will“, also man kann eine Fabrik auch aufhalten und Interessen durchsetzen. Die neuen Systeme, die gerade geschaffen werden und schon fast transhumanistisch sind, also künstlich intelligente Systeme, die uns sagen, was wir zu tun haben, die wird man wahrscheinlich nicht mehr abschalten können. Da können Sie den Stecker rausziehen – das Ding läuft weiter. Insofern ist Marx auch auf dieser Ebene hoch aktuell. In Details seiner Theorie liegt er sicher an vielen Stellen daneben, wie kann es auch anders ein, wir reden hier von einem 150 Jahre alten Buch. Ich würde eher sagen, wenn man über die Aktualität eines so lange Verstorbenen spricht, dann muss man sich die Sachen raussuchen, die tatsächlich aktuell sind. Man kann ja nicht in jedem Punkt recht haben. Marx war schließlich kein Prophet.
Frage:
Wo lag er falsch?
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Neffe:
Er konnte vieles nicht kennen, z.B. die schnellen Datenströme. In der Grundlage, würde ich sagen, liegt er gar nicht so falsch. Es wird zwei Mal gesagt, die Arbeitswertlehre sei falsch. Aber das fängt er auf eine interessante Weise auf, indem er sagt, alle Ökonomie ist eine Ökonomie der Zeit. In dem Roboter, der scheinbar alles automatisch macht, steckt Arbeit, auch wenn wir es nicht mehr so nennen; in künstlicher Intelligenz steckt Wissen. Würden wir das kappen, dann liefe nichts mehr. Die Arbeitswelttheorie sagt ja, nur der Mensch mit Händen und Kopf kann Werte schaffen. Da sagen heute viele, und das hat Marx auch auf dem Schirm gehabt: Ein Diamant, den ich ausgegraben habe, hat einen ziemlich hohen Wert, viel Arbeit muss ich da aber nicht reinstecken. Nur auf dem Gesamtmarkt pendelt sich das aus. Ich sage dann immer, wenn ich bei einer Podiumsdiskussion bin: Wenn die Arbeitswerttheorie nichts wert ist, warum sucht dann die deutsche Wirtschaft z.B. so händeringend nach Arbeitsplätzen? Warum geben wir so viele Milliarden für Löhne und Honorare aus? Wenn die Arbeit nichts wert wäre, würde das eine Wirtschaft, wie ich sie verstehe, nicht machen. Nein, da werden Werte geschaffen, die sehen heute nur etwas anders aus als zu Marx‘ Zeiten.
Frage:
Marx beschreibt ja z.B. Entfremdungsphänomene in der Fabrik, wo der Fabrikarbeiter der Maschine ausgeliefert ist. Wäre das bei 4.0 so ähnlich, dass wir uns den Maschinen ausliefern?
Neffe:
Ja, noch in viel größerem Maß, würde ich sagen – wenn Sie „Maschine“ so verstehen wie ich: Nehmen Sie beispielsweise das Internet als große Weltmaschine: Wir liefern uns dem Internet in einer Weise aus, dass sogar soziale Beziehungen zu einer Ware werden, dass Entscheidungen uns abgenommen werden. Irgendwann wird Ihnen Ihr System sagen: „Kauf besser ein rotes Auto, weil Leute Deiner Herkunft mit einem roten Auto immer weniger Unfälle hatten“. So etwas wird passieren.
Frage:
Sie meinen, die Algorithmen sind mittlerweile klüger als wir?
Neffe:
Klüger würde ich nie sagen, aber sie können uns vorgaukeln, dass sie klüger sind. Und natürlich kann man mit Algorithmen auch Vorhersagen machen. Wenn mir z.B. das System empfiehlt, nach rechts abzubiegen anstatt geradeaus weiterzufahren, weil auf dem rechten Weg deutlich weniger Unfälle passieren, dann werde ich dieser Empfehlung vielleicht folgen, auch wenn ich damit einen Umweg in Kauf nehme. Das kann noch viel weiter gehen: Zum Profil meiner künftigen Ehefrau sagt das System: die Scheidungswahrscheinlichkeit in den ersten fünf Jahren bei euren beiden Profilen ist sehr hoch, such dir besser eine andere. Ich weiß gar nicht, wo das enden soll. Nur indem man sagt, nein, ich entscheide mich gegen die Maschine, nur das würde dann wieder einen autonomen selbständigen freien Menschen erfordern.
Frage:
Kommen wir Ihrer Meinung nach auch bei diesen Konzepten mit den Marx‘schen Konzepten von Entfremdung, vielleicht von Ausbeutung und Kontrollverlust weiter?
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Neffe:
Ganz sicher. Marx liefert ja eine Methode und ein Instrumentarium, um diese Systeme zu verstehen. Entfremdung ist ja aus seiner frühen Zeit in mehrfachem Sinne Entfremdung: Entfremdung des Produkts, wenn es eine Ware ist. Marx spricht ja von der Warenproduktion, der Massenproduktion in der Fabrik, dass wir damit nicht mehr soviel zu tun haben, irgendwo kommt vielleicht ein Ersatzteil raus. Er meint aber auch Entfremdung des Vorgangs, der Produktion, also dass man nur noch kleinteilige Tätigkeiten in der arbeitsteiligen Fabrik macht. Und er beschreibt eben auch die Entfremdung des Menschen vom Menschen. Wir reden eigentlich alle nur noch in der Warensprache miteinander, sagt er. Es gibt viele Punkte, wo ich sagen würde, wenn man das so liest – das ist wie heute.
Frage:
Hat er schon das, worüber wir heute reden, die Ökonomisierung der menschlichen Psyche, vorweggenommen?
Neffe:
Ja klar. Das ist ja ein oft nicht bedachter, nicht gesehener Aspekt bei Marx, dass er auch psychologisch denkt und über die Verformung der Sinne und des Bewusstseins reflektiert. Viele kennen den eigentlich psychologischen Satz: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Über diesen Satz wird viel gestritten, aber Marx meint, so wie wir wirtschaftlich, gesellschaftlich dastehen, so fühlen wir uns auch, und er beschreibt dann auch, dass in der Bewegung des Fortschritts sich dieses Bewusstsein ständig mit verändert. Wir sehen die Welt heute ganz anders als die Menschen vor 100 Jahren. Wenn man mal mit offenen Augen durch die Welt geht: Fast alles, was wir sehen, ist menschengemacht. Wir haben diesen Planeten komplett gemacht. Es gibt noch Urwälder und die großen Meere. Aber selbst da schwimmt Plastik, die Urwälder werden abgeholzt. Oder schauen Sie in Städte: Jeder Stein, jede Straße, jeder Garten – alles ist mal irgendwann produziert worden. Eigentlich alles, was wir in die Hand nehmen und sehen, war auch mal Ware oder ist Ware, ist mal verkauft worden – ein ungeheurer Apparat. Und Marx sagt, dass wir diesem Haufen an Dingen ausgesetzt sind, die Produktion bestimmt eigentlich über unser Leben, nicht unser Leben über die Produktion. Er stellt die absolut moderne Frage: Arbeite ich, um zu leben, oder lebe ich, um zu arbeiten?
Frage:
Wir sind bei der Kategorie des Warenfetischismus.
Neffe:
Der Warenfetischismus ist die Grundlage der ganzen Fetischismus-Theorie von Marx, würde ich sagen.
Frage:
Wie würden Sie die Warenfetisch-Theorie umschreiben?
Neffe:
Der Begriff „Fetisch“ stammt eigentlich aus den afrikanischen animalischen Urreligionen. Dass Menschen – und jetzt sind wir wieder beim Punkt – etwas schaffen, einen Götzen, einen Baumstamm oder sonst etwas, den sie dann anbeten. Die Ware ist der Anfang des Fetischismus. Die Ware wird für uns zum Götzen. Marx meint damit nicht unbedingt die Glitzerwelt eines Kaufhauses, sondern er meint die
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Herstellung der Ware, das Weitermachen- Müssen, Produktion um der Produktion willen. Selbst wenn wir genug haben, produziert die Fabrik immer weiter. Marx sagt außerdem, die Bedürfnisse werden auch geschaffen. Und das geht über den Geldfetischismus bis zum Fetischismus des Kapitals. Walter Benjamin hat einen schönen Aufsatz geschrieben: „Kapitalismus als Religion“. Wir beten das ja praktisch an. Die meisten Menschen würden sagen, es gibt gar nichts anderes, so müssen wir leben, dem sind wir ausgeliefert. Und damit sind wir wieder bei der Geschichte, dass uns hier etwas kontrolliert, was eigentlich wir kontrollieren sollten.
Frage:
Diese dunkle Macht des Kapitalismus, der uns zu Opfern macht, obwohl wir ihn ja mit geschaffen haben?
Neffe:
Opfer würde ich nicht sagen, sondern Marionetten.
Frage:
Hat Marx da nicht eine religiöse metaphysische Kategorie hineinschmuggelt?
Neffe:
Ich sehe eher eine ganz klare Linie von der Urentfremdung, die er beschreibt oder besser gesagt aus der Philosophie übernimmt. Den Begriff gibt es seit Aristoteles, Hegel hat sich sehr damit auseinandergesetzt, auch Feuerbach als Jung-Hegelianer, der von der Selbstentfremdung des Menschen spricht. Ich sehe da eigentlich eine durchgehende Linie bis zum Waren- und Kapitalfetisch. Marx sagt, wir müssen das in die religiöse Region hin abziehen, um zu verstehen, was mit uns eigentlich gerade passiert. Und das ist interessant, dass er sagt, am Ende werden wir wieder religiöse Begriffe gebrauchen, um zu beschreiben, was uns im Kapitalismus gerade passiert. Oft wird das verkürzt so dargestellt: Marx verspricht uns das Paradies im Sinne des Kommunismus.
Frage:
Tut er das?
Neffe:
Ich finde, nein. Er verspricht kein Paradies, aber er zeichnet einen Weg in eine Gesellschaft, eine Wir-Gesellschaft, in der der Egoismus überwunden ist, in der man vielleicht auch wenig arbeiten muss. Aber paradiesisch beschreibt er das nicht. Ich finde, er macht sich eher satirisch darüber lustig, wenn er sagt, dann gehen wir morgens fischen, mittags jagen und abends setzen wir uns ans Feuer und sind kritische Kritiker. Da beschreibt er ja eher die faulen englischen Ur-Kapitalisten. Nein, er meint schon eine Gesellschaft, wo die Menschheit gemeinschaftlich, nicht von Kadern oder irgendwelchen Leuten bestimmt, sondern gemeinschaftlich vielleicht so einen Grad von Intelligenz und Produktivität erreicht hat, dass sie jeden nach seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten versorgen kann.
Marx würde das Wort Utopie streichen. Er hat gegen Utopien gekämpft, er würde noch nicht einmal Visionen sagen, sondern er ist ein Theoretiker. Er hat eine Theorie erstellt, die gewisse Rückschlüsse zulässt. Der Kapitalismus reift nach seinem Gefühl, er reift und – das haben wir auch alle erlebt – er schafft immer mehr Produktivkräfte. Marx sagt das ja schon fulminant im „kommunistischen Manifest“ vorher, also sehr früh. Und er sagt, es ist wie bei einer Agave – das ist mein Bild –,
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die blüht wunderbar auf und bricht irgendwann zusammen. Und auf dem Alten kann etwas Neues entstehen. Den Kapitalismus einfach abschaffen oder zerschlagen, ist nicht Marx‘ Denken. Wenn ich heute über Postkapitalismus etwas lese, das ist auch Thema in meinem Buch, dann frage ich mich immer ganz ängstlich-besorgt, wenn das wirklich möglich ist, wie Marx das gesagt hat, dass das mal zu Ende ist, wie ist dann der Plan B? Wie geht es weiter? Ich habe mit vielen Ökonomen gesprochen, eine vernünftige Antwort habe ich nicht bekommen. Meistens heißt es Chaos. Auch nicht gerade beruhigend.
Frage:
Sie haben angedeutet, Marx hat die Entfesselung des Kapitalismus vorausgesagt und auch seine Anfälligkeit für chaotische Dinge, für das Aus-dem-Ruder-laufen, wie wir das in der Finanzkrise gesehen haben.
Neffe:
Er hat den Anfang der Entfesselung ja schon erlebt. Er hat auch den Anfang der Finanzwirtschaft erlebt und ihn in Band III des „Kapital“, der noch schwerer lesbar ist, ziemlich genau analysiert und eine sehr gute Krisen-Theorie entwickelt. Der Kapitalismus läuft nicht glatt, er ist wie ein stotternder Motor, zwischendurch wird ganz viel Kapital vernichtet. In einer nicht so bekannten Theorie „Der tendenzielle Fall der Profitrate“ sagt Marx, irgendwann bringt das Kapital soviel Profit, dass die Kapitalisten das nicht mehr hergeben. Den Punkt haben wir gerade erreicht, dass immer weniger in die Produktion, in die Realwirtschaft investiert wird, sondern das Kapital sucht sich andere Wege, und da ist die Finanzwirtschaft mit ihren Zukunftsversprechen ein Ausweg geworden, und die umfasst ja inzwischen ein Mehrfaches der Realwirtschaft.
Frage:
Das geht sogar noch weiter, dass reiche Leute ihr Kapital mittlerweile irgendwo parken und das erstmal in Ruhe lasse?
Neffe:
Ja, es gibt tatsächlich diese Tendenzen, auch dass manche Leute einen Haufen Bargeld lagern. In den Schweizer Bergen gibt es Bunker, in denen Milliarden geparkt werden. Aber es gibt auch Menschen, und da wird es gefährlich, die in großem Stil Wohnungen kaufen, ohne sie bewohnen zu wollen. In London habe ich ganze Areale von diesen Wohnungen gesehen, die werden wie Kunstwerke, Oldtimer oder Aktien gehalten. Sie sind versiegelt, es gibt nur einen Hausmeister im Haus. Die Besitzer setzen darauf, dass der Preis für die Wohnung wie bei einer Aktie immer weiter steigt. Das erleben wir jetzt in Deutschland auch, dass viele ausländische Investoren in unseren Städten in großem Stil Wohnungen als Kapitalanlage kaufen. Und da geht es wirklich an die Substanz dessen, was ich ein Grundbedürfnis des Menschen nennen würde: Wohnen, Essen, Trinken, Energie usw.
Frage:
Das hat Marx auch vorausgesehen, das Unproduktive oder Destruktive des Kapitals?
Neffe:
„Grund und Boden“ heißt das bei ihm. Aber unproduktiv ist das ja nicht.
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Frage:
Es wird doch aber nichts investiert in ein Unternehmen oder in Arbeit, sondern liegt brach?
Neffe:
Bei Marx gibt es schon die Idee, dass Werte sich steigern können. Die Tulpenzwiebelgeschichte ist ihm auch bekannt gewesen.
Frage:
Die Tulpenzwiebelgeschichte war die erste Finanzblase in Europa, um 1700.
Neffe:
Genau, in Amsterdam. Damals wurde eine Tulpe wie eine Aktie gehandelt, bis der Preis explodierte und eine Tulpenzwiebel soviel Wert wie ein Reitpferd hatte. Diese Blase ist irgendwann zusammengebrochen. Das hat Marx natürlich auch schon gesehen, und er spricht auch immer wieder über die Spekulanten. Interessanterweise, wenn man ihn aufmerksam liest, sieht man bei ihm auch die Griechenland-Krise, die Euro-Krise aufscheinen. Er schreibt nämlich, die Staaten begeben sich immer mehr in die Hände von Spekulanten. Er nennt das die Bankokratie. Übrigens spricht er auch schon als erster von arbeitendem Geld. Wir kennen den Satz: Geld arbeitet, ich schicke mein Geld zur Arbeit. Was bei uns aus dem Ruder läuft, ist, dass dieses arbeitende Geld mehr erwirtschaftet als der arbeitende Mensch. Nach Marx wächst der Haufen Kapital, der nach immer mehr Anlagemöglichkeiten sucht, daher kommen auch die Bestrebungen, alles zu privatisieren, den schlanken Staat zu wollen. All diese Dinge haben damit zu tun, dass das Kapital dringend nach Anlagemöglichkeiten sucht.
Frage:
Nach meiner Ansicht sollten heutige Studenten der Wirtschaftswissenschaften wieder mehr Marx lesen.
Neffe:
Da gibt es eine erfreuliche Entwicklung. Ich habe mich an der Humboldt-Universität zu Berlin als Gasthörer eingeschrieben und dort einige Kurse gemacht. Da habe ich festgestellt, dass die ganz jungen Leute tatsächlich wieder Marx lesen, sie organisieren sich sogar ihre eigenen Marx-Kurse, wenn die Uni sie nicht anbietet. Da ist gerade etwas im Umbruch, denn die verstehen, dass da einer versucht hat, ein Gesamtbild zu erstellen. Das interessiert die Studenten, denn es macht sie nervös, dass wir die Finanzkrise nicht auf dem Schirm hatten und sie überhaupt nicht vorhersagen konnten. Die jungen Leute sagen, wir müssen wieder zu einer Gesamtanalyse kommen. Die Möglichkeiten dafür sind heute grandios. Als ich aus den Hörsälen rausging, hatte ich eher ein gutes Gefühl. Präsident Macron wurde nach seiner Wahl von der Zeitschrift „Elle“ gefragt: „Welches Buch würden Sie jungen Franzosen empfehlen?“ Er hat geantwortet: „‘Das Kapital‘. Um die Welt zu verstehen.“
Frage:
Ich danke Ihnen für das Gespräch.
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Neffe:
Ich danke Ihnen, Herr Caspary.
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