Innerlichkeit . Typisch deutsch - entrückt und weltfremd von Sabine Appel Teil 1

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Innerlichkeit I
Innerlichkeit . Typisch deutsch - entrückt und weltfremd  von  Sabine Appel  Teil 1

Innerlichkeit klingt nach Weltferne, Abschottung gegen die Außenwelt, Versenkung in sich selbst und gilt als typisch deutscher Wesenszug. Was ist dran an dem Mythos? Antworten von Sabine Appel, Buchautorin im Genre Historische Biografien mit einem Schwerpunkt auf europäischer Ideengeschichte.
Entrückt und weltfremd? Innerlichkeit als Klischee und Konzept (1/2)
Quelle: SWR2 2019
 
Die Aula auf einen Blick:: Innerlichkeit
Innerlichkeit ist ein europäisches Phänomen
"Eine erste Blüte erlebte die 'Innerlichkeit' im 18. Jahrhundert in der Literatur und Philosophie bei Rousseau. In England hat sich die Innerlichkeit weiterentwickelt und schließlich in Deutschland zur Romantik geführt.
Innerlichkeit ist somit immer auch ein europäisches Phänomen gewesen. Allerdings zeigt sich ein deutscher Sonderweg: die manchmal gefährliche Vermischung von Politik und Poesie, wie sie bei Novalis vorkommt. Er überträgt weltferne und überspannte Ideale auf die Politik." (Sabine Appel)
Der angeblich typisch deutsche Nationalcharakter
"Trotz der europäischen Dimension kam es ab dem 19. Jahrhundert zu einseitigen Deutungen eines angeblich „rein deutschen“ Nationalcharakters, der auf einem deutschen Innerlichkeitskonzept basiere.
Thomas Mann z.B. sah im 'Deutschtum' respektive im 'deutschen Seelenbild' eine modern-nationalistische Form von Weltfremdheit, ein tiefsinniges Weltungeschick, einen 'spießbürgerlichen Universalismus', einen 'Kosmopolitismus in der Nachtmütze sozusagen', dem von jeher 'etwas von stiller Dämonie' anhafte.
Solche einseitigen Deutungen ebneten den Weg für all jene Historiker, Philosophen und Literaten, die behaupteten, die deutsche Innerlichkeit habe letztlich im Nationalsozialismus gemündet.
Doch dieses Argument übersieht z.B. die deutschen Beteiligungen an der europäischen Aufklärung, an den Wissenschaftsdiskursen des 19. Jahrhunderts, an den Neuorientierungen in den Zwischenkriegsjahren, auch durch linksgerichtete Vertreter der Literatur, von Ernst Toller über Kurt Tucholsky bis zu Bert Brecht.
Die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie ist die Geschichte einer Massenbewegung, doch sie wird ebenfalls ausgeblendet." (Sabine Appel)
Innerlichkeit heute
„Von außen betrachtet sind wir heute das Volk der Autobauer, Tüftler und Exportweltmeister, das sich weitgehend über seine Ökonomie definiert. Ein pragmatisches Volk, das nicht etwa aus Leidenschaft, sondern aus Vernunftgründen europäisch ist.
  Die Europaflagge weht im Wind (Foto: SWR)
SWR   
Kaum jemand würde uns mit der schillernden romantischen Innerlichkeit in Verbindung bringen, mit der wir uns sozusagen selbst einen dunkel umgedeuteten Nimbus gegeben haben. Ein Nimbus, der zwar fragwürdig, aber dennoch ein Teil des tiefen Aufarbeitens historischer Schuld ist.
**************
Inhalt Innerlichkeit
Die 'deutsche Innerlichkeit' ist ein Mythos. Aber an jedem Mythos ist ja auch zugleich etwas Wahres.“ (Sabine Appel)
Teil 1, Sonntag, 29. September, 8.30

SWR2 Wissen: Aula
Entrück und weltfremd?
Innerlichkeit als Klischee und Konzept (1/2)
Von Sabine Appel
Sendung: Sonntag, 22. September 2019, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2019
Innerlichkeit klingt nach Weltferne, Abschottung gegen die Außenwelt, Versenkung in sich
selbst und gilt als typisch deutscher Wesenszug. Was ist dran an dem Mythos? Antworten
von Sabine Appel, Buchautorin im Genre Historische Biografien mit einem Schwerpunkt auf
europäischer Ideengeschichte.
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2
Anmoderation:
Mit dem Thema: „Entrückt und weltfremd? Innerlichkeit als Konzept und Klischee.“
Innerlichkeit – das scheint ein typisch deutscher Begriff zu sein, damit wurde und wird
jedenfalls oftmals der angebliche Nationalcharakter der Deutschen beschrieben.
Innerlichkeit bedeutet so viel wie Weltferne, Bezug auf ein in sich gekehrtes monadisches
Ich, das die Außenwelt eher ausblendet. Es bedeutet im Politischen Weltflucht gepaart mit
Hang zum Utopischen und mit völligen Fehleinschätzungen der Realität.
Sind wir Deutsche so drauf? Dr. Sabine Appell, Buchautorin und Expertin für europäische
Ideengeschichte, fragt in zwei Teilen, wann und wie der Begriff Innerlichkeit auftauchte,
wie er sich verändert hat. Heute im ersten Teil geht es um Innerlichkeit und Kunst.
Sabine Appel:
"Innerlichkeit", oftmals unmittelbar genannt in der Wortkombination "deutsche
Innerlichkeit", liefert schlagartig ein Sammelsurium einschlägiger Assoziationen: Von
Weltferne über Seelentiefe und Waldeinsamkeit, ästhetische Entrückung durch Kunst und
Musik, Pietismus und protestantische Weltfrömmigkeit, die Begegnung mit den dunklen
Seiten des Ich in der Literatur der Romantik, Ausblendung von Wirklichkeit, ein gestörtes
Verhältnis vor allem zur politischen Außenwelt, innere Emigration bis hin zur konstatierten
politischen Unreife einer vermeintlich verspäteten Nation, Abkehr und Wirklichkeitsflucht
eines mit Kollektivschuld behafteten Volkes reicht hier das Spektrum.
Wie kam es zu diesen Assoziationen, und warum geht das Phänomen: "Innerlichkeit" seit
der Nachkriegszeit mit dem angeblichen Nationalcharakter eines Volkes einher, der seither
geradezu zum Kanon geworden ist, um die unheilvollste Periode der deutschen
Geschichte in eine kollektivpsychologische Diagnose zu fassen? Während es doch
gleichzeitig Konsens ist, dass so etwas wie Nationalcharakter in den nationalistischen
Fundus des 19. Jahrhunderts gehört und dass man vorsichtig sein sollte mit
monokausalen Erklärungsmodellen, gerade bei einer derart desaströsen Erscheinung wie
der deutschen NS-Zeit?
Es lohnt sich jedenfalls, einen Blick in die Entstehungsgeschichte des Begriffes zu richten,
der aus der Ästhetik kommt, aus der Poetik, genauer gesagt, von Klopstock, dem
Wegbereiter der deutschen Empfindsamkeit, und der damit genuin keinen Bezug hat zu
gesellschaftstheoretischen Analysen und den entsprechenden Ableitungen. Dies gleich
vorweg.
In der Medienlandschaft unserer Tage geistert die Innerlichkeit allenthalben herum - ob
unter der Überschrift: "Die Marke Luther, die Innerlichkeit und die Bildung" im
Reformationsjubiläumsjahr 20171, ob in immer wiederkehrenden Analysen deutscher
Kultur und deutscher Verfasstheit (Stichwort: "Von Innerlichkeit zu Nüchternheit. Deutsche
Kultur heute"2), gerne auch zum Beispiel im Unterschied zur angeblich eher
außengerichteten und strikt egalitären Mentalität der Amerikaner und dementsprechenden
Kommunikationsschwierigkeiten in der transatlantischen Partnerschaft. Ob in Freizeit- und
1 https://www.lebenslangeslernen.net/11393-die-innerlichkeit-und-die-bildung.html
2 http://politeknik.de/von-innerlichkeit-zu-nuechternheit-deutsche-kultur-heute-prof-dr-hans-dietergelfert/
3
Kulturangeboten im Geiste spiritueller Erfahrung von Zen-Buddhismus bis zu Taizé, in der
Frage nach dem In-Sich-Sein und der zum Luxus gewordenen Stille im
kommunikationsüberladenen digitalen Zeitalter bis hin zur "moosgepolsterten Innerlichkeit"
in einem Bericht über den Frankfurter Stadtwald und seine Gefährdung durch Trockenheit,
Klimawandel und Flugverkehr seitens des Frankfurter Grünflächenamts3.
Allen diesen Bildern und Verwendungszusammenhängen liegt die Vorstellung eines
autarken inneren Raumes zugrunde, der nicht nur als Schutzraum fungiert gegen die
gelegentlichen Zudringlichkeiten der Außenwelt, sondern der auch der Selbsterfahrung
und Selbsterkenntnis dient beziehungsweise im religiösen Kontext der unmittelbaren
Gottesbegegnung. Und der aufgrund einer völligen Sammlung und Konzentration aller
seelisch-geistigen Kräfte das Potential großer kreativer Entwürfe besitzt – allerdings, und
hier liegt die Einschränkung, nicht automatisch zum Guten. Aber ist das nicht ein
Gemeinplatz in allem menschlichen Tun?
Georgi Schischkoff definiert Innerlichkeit in seinem Philosophischen Wörterbuch in der 21.
Auflage 1982 eindeutig in einem mystischen Kontext, wonach sie "eine psychische Potenz
hohen, vielleicht des höchsten Ranges" ist, "denn sie bereitet dem Geist den Weg zur
Wahrheit."4 Zur Wahrheit also? Nun ja. Außer Acht lassend, dass die Begriffsgeschichte
der Innerlichkeit nicht in der Mystik, also im christlichen Mittelalter ihren Anfang nahm,
sondern deutlich später, in der deutschen Frühklassik und, wie gesagt, in einem
poetologischen Kontext, stünde sie nach dieser Definition aber eindeutig im
Zusammenhang mit der Vorstellung einer Aneignung von Welt durch das selbstbestimmte
und schöpferische, zugleich auch verantwortungsvolle Individuum in seiner gestalterischen
und souveränen Verfassung, wie sie auch die deutschen Klassiker propagieren, also die
Zeitgenossen der Innerlichkeit in der historischen Genese des Wortes.
Da ist noch keine Rede von Missbrauch durch Welt- oder Wirklichkeitsflucht, wie sie den
Interpreten einer Zeit gegenwärtig sein musste, die den sogenannten "deutschen Geist" im
Inferno des Zweiten Weltkriegs und in den Vernichtungslagern von Auschwitz aufgehen
sahen. So oder so muss die Frage gestellt werden, und zwar immer wieder. Und ob hier
wirklich eine so klare Linie vorliegt, wie es diese Deutungsrichtung behauptet – davon
abgesehen, dass so etwas wie ein "deutscher Geist" oder "Ungeist", auch wenn man es
heute anders ausdrücken würde, nun wirklich ein völkischer Anachronismus ist.
Die Romantik, diese Blüte der Innerlichkeit, wurde im Grunde in England erfunden, wie
übrigens auch die Empfindsamkeit etwa eine Generation zuvor. Die ganze Sphäre von
"Kreuz, Tod und Gruft" schließlich, die Thomas Mann wesensmäßig der deutschen
Geisteswelt zuordnet, hat sich, ausgehend von der englischen Schauerromantik, ziemlich
flächendeckend über Europa verbreitet. Shakespeares Hamlet, diese literarische Kernfigur
tatgelähmter Introspektion, wie sie geradezu epochal wurde als Archetyp abendländischer
Modernität und Zerrissenheit, im späten 16. Jahrhundert entstanden, ist ein dänischer
Prinz, aus der Feder eines Epochengenies und englischen Kosmopoliten geflossen. Nur
Faust – nun ja, Faust, der historische Faust – ist ein Deutscher. Ob er in seinem düsteren
Forscherdrang, einem Wissensdurst, der ihn in der Dichtung zu ungeheuren und
zerstörerischen Experimenten, zum sprichwörtlichen Pakt mit dem Teufel verleitet, was ja
tatsächlich zeitlose Fragen aufwirft, zum Beispiel über die Grenzen des Wissens und über
3 https://www.journal-frankfurt.de/journal_news/Panorama-2/Moosgepolsterte-Innerlichkeit-Einschwieriges-
Jahr-fuer-den-Frankfurter-Stadtwald-14799.html
4 Philosophisches Wörterbuch, begründet von Heinrich Schmidt, 21. Auflage. Neu bearbeitet von Prof.
Dr. Georgi Schischkoff, Stuttgart 1982, S. 315
4
globale Verantwortung, bis in die heutige Zeit, ob dieser also zugleich einen deutschen
Nationalcharakter bezeichnet, möge dahingestellt sein.
Auch französische, niederländische, spanische und polnische Autoren haben sich mit dem
Teufelsbündner beschäftigt. Herauszuheben ist auch die Faust-Dichtung des Engländers
Christopher Marlowe, die 1588, also nur ein Jahr nach der Lebensgeschichte des
historischen Dr. Faustus erschien. Das war 161 Jahre vor Goethes Geburt. Nicht alles,
was zum deutschen Schicksalsdrama stilisiert worden ist, muss auch ein solches sein.
Thomas Mann, dieser prägende und wirkungsmächtige Analytiker deutscher Innerlichkeit,
bringt die Faust-Legende in seinem Doktor Faustus-Roman, entstanden im kalifornischen
Exil in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs, als das Grauen also auf der anderen
Seite des Atlantiks noch tobte, explizit in Verbindung mit der NS-Zeit, als Deutschland, so
der Schriftsteller, buchstäblich vom Teufel geholt wurde. Die vermeintliche "deutsche
Innerlichkeit" wurde mit dieser Dämonisierung aber in ein vernichtendes Gesamttableau
integriert, das sie überhöht und zugleich reduziert, das sie in falsche Kontexte stellt und
das ihr historisch nicht gerecht werden kann. Als Erklärungsmodell, sobald man den Hort
der Dichtung verlässt, ist das Tableau schlichtweg zu einschlägig.
Die Innerlichkeitsdefinition des aus Bulgarien stammenden Münchener
Philosophieprofessors Georgi Schischkoff, der 1943 die Verhaftung und Hinrichtung
seines Mitarbeiters Kurt Huber erleben musste, der sich in der Widerstandsgruppe "Die
weiße Rose" gegen das NS-Regime engagiert hatte, kommt jedenfalls der ursprünglichen
Bedeutung des Wortes recht nahe, so wie es Hegel ins System brachte im Rahmen seiner
Subjektphilosophie, nachdem Klopstock es in seiner Dichtungstheorie eingeführt hatte.
Der Missbrauch in Form von Weltflucht und Ausblendung (politischer) Realitäten wird hier
geradezu von der Basis her ausgeschlossen und per definitionem delegitimiert.
Schischkoff findet sensible Worte für diesen Vorgang der Weltaneignung, der immer im
Einklang mit dem Reich der Werte geschehen müsse, also im Einklang mit der
moralischen Welt und mit der Würde des Menschen. "Es handelt sich um eine besondere
Form der Aneignung, die sich vom geistigen Ergreifen und Erfassen dadurch
unterscheidet, dass sie den Dingen gerecht zu werden sucht, sie als gleichrangig mit dem
Menschen betrachtet, und sie vor dem Akt der Aneignung nicht irgendwelchen Zwecken
oder Zielen zuliebe umgestaltet, stilisiert, rationalisiert, in ihrem Wesen vergewaltigt."5 Es
gelte, so die Erläuterung, die Dinge der Umwelt durch Sinnverleihung in das Wertereich
einzubeziehen. Dessen eingedenk, erübrigt sich eigentlich jede denkbare Diskrepanz zur
Wirklichkeit, zur politischen oder welcher auch immer, indem man sich in einer
ästhetischen Innenwelt einrichtet, überwältigt eventuell noch von dunklen
Welterlösungsfantasien wie der Romanheld von Thomas Mann, was nach dieser
Deutungsart gar nicht möglich wäre.
Aber zurück zur Genese des Wortes Innerlichkeit. Es wurde, so scheint es, von Klopstock
erfunden – Friedrich Gottlieb Klopstock, der die deutsche Empfindsamkeit auf den Weg
brachte und der die poetische Sprache befreite vom starren Regelwerk seiner Vorgänger,
indem er die freien Rhythmen ermöglichte und das innere Erleben zum Inhalt der Dichtung
erhob, beflügelte eine ganze Generation junger Dichter mit seinen Oden und seinen
Dichtungstheorien gleichermaßen, darunter den jungen Goethe, der ihn in seinem
"Werther" verewigte, durch eine Szene, die als Stimmungsbild auf ihn verweist. Klopstocks
5 Schischkoff, a.a.O.
5
geistige Herkunft scheint prototypisch für eine ganze Reihe von Dichtern und Denkern bis
weit ins 19. Jahrhundert hinein, die das Geistesleben in Deutschland prägten und die dann
vor allem im Rückblick als Wegmarken der Innerlichkeitsdebatten gesehen wurden. Ein
pietistischer Familienhintergrund, dann Besuch des berühmten Internats Schulpforta,
dessen Gründung noch in die letzten Lebensjahre Martin Luthers hineinreicht, gründliche
humanistische Studien, dann ein Studium der evangelischen Theologie. Nicht wenige
Vertreter der deutschen Geistesgeschichte entstammten protestantischen Pfarrhäusern,
wie wir wissen, und nicht ganz zu Unrecht werden die deutschen Innerlichkeitsdebatten in
ihrer historischen Herleitung eng mit dem Luthertum in Verbindung gebracht.
Anders etwa als in den calvinistisch geprägten Presbyterialkirchen mit ihrer unabhängigen
Kirchenverfassung und den zahlreichen Möglichkeiten zur Mitbestimmung in der
Gemeinde sei man im Luthertum und seinen obrigkeitsorientierten Landeskirchen, so die
These des 1985 verstorbenen Soziologen und Kulturanthropologen Helmuth Plessner,
ganz auf einen religiös kultivierten Innenraum auf der Ebene des Weltlichen, also Arbeit,
Haus und Familie verwiesen gewesen; das Ergebnis sei eine spezifisch deutsche Form
der Weltfrömmigkeit.
Eine der geistigen Folgen der Reformation und des Protestantismus im Ganzen ist
unbestritten die Tendenz zu einer stärkeren Selbstrechtfertigung des Individuums nach
dem Wegfall des Beichtsakraments und der priesterlichen Mittlerinstanz. Vor allem das 18.
Jahrhundert verzeichnet eine wahre Flut von Bekenntnisschriften und autobiographischer
Literatur, in dem Bestreben, auch die letzten Winkel des Ich auszuleuchten, sich
Rechenschaft zu geben über das eigene Fühlen, Denken und Tun, weit über die religiöse
Sphäre hinaus. Die Tendenz hält bis heute an. Der Erfinder des Wortes Innerlichkeit hat
darunter aber nur ein künstlerisches Darstellungsmittel in der Dichtung verstanden. Also
zurück zu Klopstock.
"Von der Darstellung" heißt die Abhandlung aus dem Jahre 1779. "Aus den Fragmenten
über Sprache und Dichtkunst." In anderen Schriften dieser Textsammlung hat sich der
Autor mit dem Silbenmaß, mit dem deutschen Hexameter und allgemein mit der
Nachahmung der griechischen Versmaße in der modernen deutschen Dichtung
beschäftigt. Griechenland, die Antike als ästhetischer Referenzpunkt im Sinne einer in der
Moderne verloren gegangenen Naturnähe, Naivität und Authentizität zugunsten eines
kunstfernen Formalismus, der überwunden werden muss - das ist der Rahmen der Kunstund
Dichtungsdebatten in dieser Zeit. Die Innerlichkeit erwähnt Klopstock nun in seiner
Schrift von der Darstellung als siebte von insgesamt neun Elementen poetischer
Darstellung, die wesentlich auf perfekter Täuschung beruhe, um Lebendiges sinnfällig
nachzuahmen. Andere Darstellungselemente sind etwa der wahre Ausdruck von
Leidenschaft, Wahrheit und Ernsthaftigkeit, Einfachheit und Stärke, die Wahl kleiner, aber
vielbestimmender Umstände oder die Zusammendrängung des Mannigfaltigen. Über
Punkt 7 heißt es ganz einfach: "Durch Innerlichkeit, oder Heraushebung der eigentlichen
innersten Beschaffenheit der Sache"6 erreiche man also unter anderem die perfekte
poetische Illusion. Niemand, der den Begriff damals aufgriff - Goethe zum Beispiel, der ihn
mehrfach im Plural verwendete, "Innerlichkeiten", etwa in der "Italienischen Reise", bevor
er ihn 1828 erstmals im Singular einsetzte -, hat ihn so eindeutig in den Bereich
menschlicher Introspektion, Innenschau, quasi dem Religiösen entlehnter produktiver
schöpferischer Potenz, psychischen Rückzugs oder Kontemplation, etwa auch durch
Kunstgenuss oder sonstige ästhetische Erfahrungen, gerichtet, wie dies im 20.
6 Klopstocks sämmtliche Werke, Leipzig 1855, Zehnter Band: Vermischte Schriften, S. 198
6
Jahrhundert geschah. Der Begriff bezeichnete einfach - so, wie ihn Klopstock auch
eingeführt hatte - die eigentliche Beschaffenheit einer Sache, nachdem man sie denn also
gründlich geprüft hatte, über ihre oberflächliche Erscheinung hinaus.
Es ist die Gleichzeitigkeit der Ereignisse, die bereits skizzierte zunehmende
Subjektivierung im europäischen Geistesleben und vor allem in der Literatur am Vorabend
der Französischen Revolution mit weiter Vorlaufzeit bis ins nächste Jahrhundert, und das
Aufkommen eines schillernden Begriffes, die seine einschlägige Verwendung im Rückblick
beförderte. Ein Satz aus Goethes "Werther" drückt diesen bahnbrechenden
Subjektivismus sinnfällig aus: "Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt."7 Aber
wieder kommt der Impuls dazu nicht aus Deutschland, sondern aus der französischen
Schweiz, von dem damals in Europa noch wirkungsmächtigeren Jean-Jacques Rousseau,
der das Thema der authentischen Ich-Erfahrung, die sich von gesellschaftlichen Normen
befreit und hier auch letztlich einen gesellschaftsrevolutionären Anspruch erhebt,
ausgiebig in seinen Romanen: "Émile" und "Julie ou La nouvelle Héloise" ausbreitete,
bevor er es autobiographisch gleichsam zum alleinigen Thema machte. "Einzig und allein
ich.", schreibt Rousseau in seiner erst posthum erschienenen Autobiographie, den
"Bekenntnissen" ("Confessions"). "Ich fühle mein Herz - und ich kenne die Menschen."8
Das formuliert tatsächlich den Anspruch des Individuums, Erkenntnisse über die
Beschaffenheit des Menschen im Allgemeinen gewinnen zu können, also geradezu
anthropologische Forschungen zu betreiben, wenn es sich nur konsequent mit dem
eigenen Seelenleben beschäftigt, sein "Herz" kennenlernt und analysiert, alle
Gefühlsregungen inbegriffen, und seien sie auch unrühmlich, dunkel, moralisch
zweifelhaft, peinlich und geradezu verabscheuungswürdig. Das authentische Ich blieb als
Thema im Zentrum der Dichtung, deren literarische Helden alle in einer gewissen
Diskrepanz zur (gesellschaftlichen) Wirklichkeit standen und eine gestörte Beziehung von
Ich und Welt dokumentierten. Auch diese ungesunde Form der "Innerlichkeit", die zugleich
die Krankheit einer Epoche zum Ausdruck bringt, unvereinbare Forderungen, das
Zusammenstoßen von Anspruch und Wirklichkeit, Resignation infolge zerschlagener
Hoffnungen nach der gescheiterten Revolution und den restaurativen Tendenzen der Zeit,
erhielt vielfachen literarischen Ausdruck im neuen Jahrhundert und beschränkte sich ganz
gewiss nicht auf Deutschland. Den Weltschmerz, auch "mal du siècle" genannt, die
Zerrissenheit des Künstlers und Intellektuellen, der keinen Bezug mehr findet zur "Welt",
findet man etwa in dem 1802 erschienen autobiographischen Roman: "René" des
französischen Schriftstellers und Diplomaten François-René de Chateaubriand, in dem
Roman: "Adolphe" des Schweizer Politikers und Staatstheoretikers Benjamin Constant,
der im Frankreich der nachrevolutionären Epoche die politische Bühne betrat, oder in dem
Versepos: "Childe Harold´s Pilgrimage" des englischen Dichters Lord Byron, zwischen
1812 und 1818 entstanden.
Die Romantik in Deutschland entwickelte sich zu der Zeit allerdings teilweise in eine
politisch reaktionäre Richtung, wenn man ihre Enthaltsamkeit im politisch Konkreten in
Zusammenhang bringt mit ihrer Verklärung des Mittelalters und des Katholizismus sowie
einer ästhetischen Theorie, die unter dem Stichwort: "Romantisierung des Lebens" die
stellenweise befremdliche Wendung vollzog, diese auch auf die politische Sphäre
übertragen zu wollen. So jedenfalls Friedrich von Hardenberg alias Novalis in seiner
seltsamen Schrift: "Glaube und Liebe oder: Der König und die Königin", erschienen 1798
in den Jahrbüchern der Preußischen Monarchie, die selbst dem Jenaer Freundeskreis
7 Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther, dtb München 1983, S. 13
8 Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse, Aus dem Französischen von Ernst Hardt, Frankfurt am
Main 1985, S. 37
7
peinlich war. Es gab andere Beispiele eines merkwürdig anmutenden metapolitischen
Utopismus in der vom Revolutionsgeschehen in Frankreich tief enttäuschten jungen
Romantikergeneration, der zumindest, was die konkreten Fragen der Zeit anbelangt,
Regierungsformen, Freiheitsrechte, Verfassungsdebatten, gelinde gesagt, niemandem
weiterhalf. Auch der Freiherr von Eichendorff, ein Vertreter der nächsten
Romantikergeneration, würde dem Adel eine führende Rolle in den politischen Fragen der
Zeit zuschreiben, ähnlich wie Novalis in seiner Huldigungsschrift an den preußischen
König Friedrich Wilhelm III. Ebenso wandte sich der dichtende Freiherr gegen einen
institutionalisierten Freiheitsbegriff und gegen die Konstitution - aus Angst vor einer, wie
man sagte, Durchrationalisierung des Lebens, die auch den Hintergrund bildet für den
magischen Idealismus seines Standesgenossen Novalis. Wenn man so will, kann man
hier einen Ausdruck unangemessener Übertragung eines poetischen Weltverhältnisses
auf die prosaische Sphäre der Politik sehen, die andere Fragen stellt und andere
Antworten braucht als die Dichtung, und im übrigen sind die Haltungen der Autoren, die
sich gewissen progressiven Debatten entzogen, auch ein Beitrag zur konservativen
Geschichtsschreibung - nicht mehr und nicht weniger. Hier den Beginn eines deutschen
Verhängnisses sehen zu wollen, "Innerlichkeit" in seiner ungesündesten Form, eine
Verklärung der Nachtseiten der menschlichen Existenz und des Irrationalismus, die zu
einer krankhaften Abkehr von der politischen Sphäre unter in-Kaufnahme
rückwärtsgewandter Ideologien geführt haben soll, bis zur großen Katastrophe 130 Jahre
danach, ungeachtet der ungeheuren zeitlichen Spanne und ihrer heterogenen
Entwicklungen auf den verschiedenen Feldern von Kultur und Gesellschaft, Wissenschaft,
Ökonomie, Politik, auch ungeachtet der Tatsache, dass wahrscheinlich nur ein sehr kleiner
Teil eines Volkes eine Affinität zu den Schöpfungen der literarischen Eliten besitzt, hat
allerdings selbst das Potential einer mythischen Deutung. Es ist zumindest eine gewagte
Schlussfolgerung, zumal es auch deutsche Romantiker mit einer anderen Ausrichtung
gab, etwa August Wilhelm Schlegel, ein politisch mittiger Geist, der das Geschehen in der
Zeit der Befreiungskriege kritisch begleitete und kommentierte, oder seine Ehefrau
Caroline, die später Schelling heiratete, eine Ex-Jakobinerin, die zeitlebens den
Revolutionsidealen die Treue hielt. Die romantische Ära brachte auch noch ganz andere
Blüten hervor als Nachthymnen und "Kreuz, Tod und Gruft". Man denke nur an den
deutschen Anti-Romantiker und Querdenker Heinrich Heine. Die romantische Polit-Satire
von Ludwig Tieck: "Der gestiefelte Kater" wird heute leider nur noch als Märchen für
Kinder gelesen.
Eines aber scheint klar: Die romantischen Dichter anderer europäischer Länder wussten
die dichterische und die politische Sphäre besser zu trennen. Weder Chateaubriand noch
Constant, der Diplomat und der Staatsmann, Letzterer übrigens ein Vorkämpfer des
europäischen Liberalismus, haben jemals den Versuch unternommen, das romantische
Weltverhältnis, dem sie in ihren Dichtungen Ausdruck verliehen, auf die Sphäre der Politik
übertragen zu wollen - vielmehr war Ersteres ja ein Ausdruck politischen Mangels. Dass
unter dem Motto eines magischen Idealismus in Verbindung mit einer Verklärung des
katholischen Mittelalters die mittelalterliche Reichsidee reaktiviert wurde wie durch den
Dichter Novalis, wodurch gewissermaßen alle virulenten Tagesdebatten der Politik in
einem mythischen Konstrukt neutralisiert wurden, ist in der Tat eine deutsche Spezialität.
Helmuth Plessner, der auf die Literaten nicht eingeht, sieht hier eine ganz klare Linie. Die
mythisch aufgeladene, eigentlich mittelalterliche Reichsidee musste, so Plessner, im
Deutschland des 19. Jahrhunderts geradezu zwangsläufig reaktiviert werden, und zwar de
fakto zum Zeitpunkt von Bismarcks Reichsgründung und der preußischen Monarchie, weil
hier ein jahrhundertelanger Hohlraum entstanden war, was die Ausbildung eines
neuzeitlichen, auf das natürliche Recht des Menschen gegründeten Staats- und
8
Völkerrechtes betrifft, woran die Deutschen, bedingt unter anderem durch die
Besonderheiten der Staatsformen in den zersplitterten deutschen Teilstaaten, im
Gegensatz zu anderen europäischen Völkern nicht teilnahmen. Plessner unterstellt den
Deutschen, die, so der Autor, seit dem 17. Jahrhundert begonnen hätten, "sich dem
Westen zu entfremden"9, ein mangelndes Verhältnis zum politischen Humanismus, was
mit der vielbeschworenen "Innerlichkeit" der Deutschen zu tun haben soll, einer
Ausblendung der politischen Sphäre aus ihrem Geistesleben in Ermangelung realer
gesellschaftspolitischer Teilhabemöglichkeiten, mit allen Folgen, die inzwischen zum
festen Kanon geworden sind: obrigkeitsstaatliches Denken, politische Unreife und
Indifferenz bei gleichzeitiger Kultivierung metaphysisch-ästhetischer Ersatzwelten, etwa in
Philosophie und Musik, die die Deutschen besonders empfänglich gemacht haben sollen
für die Ideologie der Nationalsozialisten, aber auch das Einschlagen eines "deutschen
Sonderweges", der sich von der politischen Entwicklung des Westens entkoppelte, das
Drama einer "verspäteten Nation", die in den Gaskammern von Auschwitz ihr Ende fand.
Was ist dazu zu sagen? Kann man das wirklich alles in so enge Verbindung bringen, um
die deutsche Katastrophe des 20. Jahrhunderts erklärbar zu machen?: Fragen von Kunst,
Philosophie, Literatur und Musik, Wagners Opern und das Luthertum, die Politikferne
einiger überspannter Poeten 130 Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten,
die zeitweiligen politischen Irrwege deutscher Geistesgrößen wie Martin Heidegger, die es
in Italien auch unter Mussolini gegeben hat, eine verschleppte Nationalstaatlichkeit und die
historische Entwicklung eines Staatengefüges, das in seiner föderal strukturierten Tradition
der Kleinstaaterei auch seine handfesten politischen Vorteile hatte? - kein Geringerer als
Mirabeau hat die Deutschen um ihre souveränen Kleinstaaten beneidet, da sie eine
politische, kulturelle und nicht zuletzt religiöse Vielfalt verbrieften, in deren Zwergstaaten
sich der eine oder andere aufgeklärte Potentat durchaus auf fortschrittliche und
segensreiche Weise verwirklichen konnte, angespornt auch durch lebhaften politischen
Wettbewerb. Damals waren es die kritischen Geister der Grande Nation und sogar der
republikanischen Schweiz, zum Beispiel Voltaire oder Jean-Jacques Rousseau, die auf
preußischem Territorium Zuflucht suchten vor politischer Verfolgung und die hier auch ein
liberaleres Presserecht vorfanden. Die Vertreter der berühmten Göttinger Publizistik im
Dunstkreis der neu gegründeten Universität Georgia Augusta, die am Vorabend der
Französischen Revolution Naturrechts- und Verfassungsdebatten, Fragen des
Staatsrechts oder zukunftsträchtige Wirtschaftsmodelle ähnlich lebhaft diskutierten wie die
Autoren auf der anderen Rheinseite, wirkten zeitgleich im Kurfürstentum Hannover,
dessen Souverän damals zugleich König von England war, der viel vom liberalen Geist der
Insel in sein deutsches Kurfürstentum importiert hatte, in einem nahezu vorbildlichen Klima
bürgerlicher und akademischer Freiheiten, das sogar Besucher aus England bewunderten.
Klopstock, der Erfinder der Innerlichkeit, ohne dass er doch wissen konnte, wofür man
sein Wort einmal in Dienst nehmen würde, hat auch den Begriff der "Gelehrtenrepublik"
aus der Taufe gehoben. Das hat eine französische Intellektuelle, die in der napoleonischen
Ära Deutschland bereiste und die fasziniert war vom deutschen Geistesleben, auch einer
von ihr richtig verstandenen Innerlichkeit, sehr inspiriert, und es kam sogar manchem, was
sie da vorfand in Deutschlands verschlafenen Kleinstaaten, auch wenn es
gewöhnungsbedürftig war für eine mondäne Pariserin, die alle Höhen und Tiefen der
Revolution mitgemacht hatte, recht nahe. Ob nun ausgerechnet Gelehrte im realen Leben
die besseren Staatsführer waren, mochte nun sicher dahingestellt sein. Dass sie es aber
9 Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes.
Stuttgart 1959, S. 42
9
besser machen würden als Robespierre und seine Henker-Schergen oder auch der
derzeitige Ein-Mann-Herrscher und Eroberer Bonaparte, der sie aus ihrem geliebten
Frankreich vertrieben hatte, war zumindest eine denkbare Möglichkeit.
Dass man erst gründlich nachdachte, bevor man eine Revolution machte, und dass man
sich sehr genau überlegen musste, was danach kommen sollte, nachdem man alles
zerstört hatte, schien dieser femme politique jedenfalls ein zentraler Gedanke der Zukunft
zu sein, und hierfür stand für sie nicht zuletzt auch die deutsche Innerlichkeit. Nach Hegel,
der sie in sein philosophisches System integrierte, war sie ein Ausdruck von Besonnenheit
und von geistiger Wachheit, die in keinerlei Gegensatz zur äußeren Wirklichkeit stand,
sondern sie, gewissenhaft prüfend, stets integrierte. Ein "Verhausen der subjektiven
Innerlichkeit in sich" schloss Hegel dezidiert aus.10 Von daher schien es dieser Reisenden
im Land der Dichter und Denker sicherlich wünschenswert, dass alle politischen Akteure
der Zeit so gründlich nachdachten wie die deutschen Gelehrten.
***
(Teil 2, Sonntag, 29. September, 8.30 Uhr)
10 Hegel: Ästhetik, Zweiter Teil: Entwicklung des Ideals zu den besonderen Formen des Kunstschönen.
Zweiter Abschnitt: Die klassische Kunstform, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke,
Juniläumsausgabe in zwanzig Bänden, hrsg. v. Hermann Glockner, Stuttgart (Frommann), 3. Auflage 1953,
Bd. 13, S. 15
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(Teil 2, Sonntag, 29. September, 8.30 Uhr)
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ds-swr2.mp3-19-9innerlichkeit
Typisch deutsch . Innerlichkeit - entrückt und weltfremd  von  Sabine Appel

Innerlichkeit klingt nach Weltferne, Abschottung gegen die Außenwelt, Versenkung in sich selbst und gilt als typisch deutscher Wesenszug. Was ist dran an dem Mythos? Antworten von Sabine Appel, Buchautorin im Genre Historische Biografien mit einem Schwerpunkt auf europäischer Ideengeschichte.
                       
Entrückt und weltfremd? Innerlichkeit als Klischee und Konzept (1/2)

Dauer:28:43 min| Quelle:SWR2 2019
 
Die Aula auf einen Blick:

Innerlichkeit ist ein europäisches Phänomen

"Eine erste Blüte erlebte die 'Innerlichkeit' im 18. Jahrhundert in der Literatur und Philosophie bei Rousseau. In England hat sich die Innerlichkeit weiterentwickelt und schließlich in Deutschland zur Romantik geführt.

Innerlichkeit ist somit immer auch ein europäisches Phänomen gewesen. Allerdings zeigt sich ein deutscher Sonderweg: die manchmal gefährliche Vermischung von Politik und Poesie, wie sie bei Novalis vorkommt. Er überträgt weltferne und überspannte Ideale auf die Politik." (Sabine Appel)

Der angeblich typisch deutsche Nationalcharakter

"Trotz der europäischen Dimension kam es ab dem 19. Jahrhundert zu einseitigen Deutungen eines angeblich „rein deutschen“ Nationalcharakters, der auf einem deutschen Innerlichkeitskonzept basiere.

Thomas Mann z.B. sah im 'Deutschtum' respektive im 'deutschen Seelenbild' eine modern-nationalistische Form von Weltfremdheit, ein tiefsinniges Weltungeschick, einen 'spießbürgerlichen Universalismus', einen 'Kosmopolitismus in der Nachtmütze sozusagen', dem von jeher 'etwas von stiller Dämonie' anhafte.
  
Solche einseitigen Deutungen ebneten den Weg für all jene Historiker, Philosophen und Literaten, die behaupteten, die deutsche Innerlichkeit habe letztlich im Nationalsozialismus gemündet.

Doch dieses Argument übersieht z.B. die deutschen Beteiligungen an der europäischen Aufklärung, an den Wissenschaftsdiskursen des 19. Jahrhunderts, an den Neuorientierungen in den Zwischenkriegsjahren, auch durch linksgerichtete Vertreter der Literatur, von Ernst Toller über Kurt Tucholsky bis zu Bert Brecht.

Die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie ist die Geschichte einer Massenbewegung, doch sie wird ebenfalls ausgeblendet." (Sabine Appel)

Innerlichkeit heute

„Von außen betrachtet sind wir heute das Volk der Autobauer, Tüftler und Exportweltmeister, das sich weitgehend über seine Ökonomie definiert. Ein pragmatisches Volk, das nicht etwa aus Leidenschaft, sondern aus Vernunftgründen europäisch ist.   

Kaum jemand würde uns mit der schillernden romantischen Innerlichkeit in Verbindung bringen, mit der wir uns sozusagen selbst einen dunkel umgedeuteten Nimbus gegeben haben. Ein Nimbus, der zwar fragwürdig, aber dennoch ein Teil des tiefen Aufarbeitens historischer Schuld ist.

Die 'deutsche Innerlichkeit' ist ein Mythos. Aber an jedem Mythos ist ja auch zugleich etwas Wahres.“ (Sabine Appel)


(Teil 2, Sonntag, 29. September, 8.30 Uhr)