SWR2 Wissen Aula - Jürgen Wertheimer: Einübung in Fiktion . Wozu noch Literatur?

Diskurs SWR2

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Fiktion - Einübung (J. Wertheimer)
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SWR2 Wissen Aula - Jürgen Wertheimer: Einübung in Fiktion . Wozu noch Literatur?
Sendung: Sonntag, 10. Januar 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2015; http://www.swr.de/swr2/programm/
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:

AUTOR
Jürgen Wertheimer studierte Germanistik Komparatistik, Anglistik und Kunstgeschichte an den Universitäten München, Siena und Rom, promovierte (summa cum laude) und habilitierte sich an der LMU München, wo er auch zum Privatdozenten ernannt wurde. Er folgte einem Ruf an die Universität Bamberg und 1991 an die Universität Tübingen. Dort hat er den Lehrstuhl für Internationale Literaturen/Neuere deutsche Literatur inne.
Bücher (Auswahl):
– (Hrsg. Zus. mit Rita Triebskorn) Wasser als Quelle des Lebens. Eine multidisziplinäre Annäherung. Springer Spektrum Verlag 2015.
– Don Quijotes Erben. Die Kunst des europäischen Romans: Stationen des europäischen Romans. Konkursbuchverlag 2013.
– Die Venus aus dem Eis: Wie vor 4.000 Jahren unsere Kultur entstand (zusammen mit Nicholas Conard). Btb-Verlag 2013
Statement
„Ein-Deutigkeit“ sei artifiziell und werde im Konfliktfall konstruiert und inszeniert, um Vielfalt zu negieren, zu tarnen, zu verstecken oder beiseitezuschieben, so Wertheimer in einem Beitrag von 2002. Im Normalfall, den es zu verteidigen und zu emanzipieren gelte, seien unspektakuläre Sätze wie jene möglich, die der Bekleidungskonzern Benetton den Jugendlichen Yussef sagen lässt, in einem Kollektionskatalog vor dem Hintergrund des israelisch-palästinensischen Konfliktfeldes: Er sei froh, ein Mischling zu sein. Wertheimer argumentiert, Benetton wolle keine Heile Welt- oder Multikulti-Idylle verkaufen, sondern es gehe darum, en passant „ein Gefühl für die innere Vielfältigkeit und Komplexität normaler Lebensläufe in Konfliktfeldern herzustellen.“[
https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCrgen_Wertheimer

ÜBERBLICK
Warum lesen wir oder sollten wir lesen? Um die Welt um uns herum besser zu verstehen, um menschliche Konflikte besser deuten zu können, um Empathie für fremde Schicksale einzuüben, um die ästhetische Urteilskraft zu schulen? Antworten gibt der Tübinger Literaturwissenschaftler Professor Jürgen Wertheimer.

MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: "Einübung in die Fiktion? Wozu Literatur?"
Ja, wozu soll man eigentlich gute Literatur lesen? Um an Gefühlen anderer Menschen teilzuhaben, um Gedanken anderer Menschen nachvollziehen zu können, um die Vielfalt menschlicher Konflikte kennenlernen zu können?
Ja, das alles spielt eine Rolle, aber gleichzeitig geht es um noch viel mehr. Um was, das sagt Jürgen Wertheimer, Literaturwissenschaftler an der Universität Tübingen.
Jürgen Wertheimer:
Literatur sei ihm, hat mir jüngst ein Gesprächspartner gestanden, einfach etwas „zu textlastig“. Ich konnte ihm nicht widersprechen. 300, 400 Seiten Text – das kommt vor. Weshalb man das als eine Last empfindet, ist eine ganz andere Frage. Dennoch drückte das Gespräch eine derzeit verstärkt zu beobachtende Tendenz aus, größere, nicht immer auf Anhieb leicht zu verstehende Textmengen als Zumutung zu sehen. Womit indirekt das Phänomen der Literatur an sich in Frage gestellt wird.
Aber versuchen wir uns doch für einen Moment eine Welt ohne Literatur vorzustellen. Es fällt schwer. Denn alles, fast alles, was wir über die wichtigen Dinge der Welt wissen, wissen wir aus den Geschichten, die wir über sie erzählen. Und viele erfundene Figuren sind längst zu Bewohnern der Wirklichkeit geworden. Eine Welt ohne Antigone und Emma Bovary, ohne Werther und Macbeth ist kaum vorstellbar. Eine Welt ohne die Bibel und Shakespeare, ohne Homer und Dantes Hölle wäre merkwürdig entvölkert. Und es wäre nicht nur eine ärmere, sondern auch eine weit weniger kluge Welt. Wir hätten allenfalls leere Tempel, Ruinen alter Burgen, Kirchenhallen, Artefakte, Aktenkeller, aber all diesen Dingen würden wir ratlos gegenüberstehen wie den Felsbildern in den Steinzeithöhlen. Ohne die Geschichten und Figuren der Literatur fehlt uns der Schlüssel zum Verstehen der Zusammenhänge, der Bedeutungen, Gefühle und Gedanken der Bewohner dieser Kulissen.
Wenn Paris oder London über Nacht verschwänden und nur die Romane von Balzac oder Dickens blieben erhalten – wir wüssten nach wie vor fast alles über die Struktur und Kultur dieser beiden Städte, denn die Literatur ist das größte Archiv der Menschheitsgeschichte oder wie das größte Epos Indiens, das Mahabharata, es ausdrückt: Alles was es gibt, ist in ihr – was nicht in ihr ist, gibt es nicht.
Es ist an der Zeit, mit diesem Wissens- und Verstehens-Schatz achtsamer umzugehen, die Ressource Literatur bewusster zu nutzen. Die großen Geschichten der Literatur, die Geschichten der großen Literatur sind nicht weniger als real als Fakten, Daten und Ereignisse der Historie und die großen Mythen, die uns zusammenhalten oder trennen, bestehen aus Wörtern und Sprache, Tinte und Papier. Im Kopf des Lesers freilich verwandeln sie sich. Und aus einem Manuskript
wird Wirklichkeit. Ohne die Ilias wäre Troja ein Nichts. Ohne Goethe wäre Weimar bedeutungslos.
Lassen Sie uns diesen Spuren für ein paar Minuten folgen, kreuz und quer, von der Antike bis zur Moderne und über Kontinente hinweg und dabei die zentrale Rolle der Literatur als Leitmedium der vorbehaltlosen Suche nach der Wirklichkeit, auch den Zweifeln an der Wirklichkeit, nachgehen.
Es ist ein heller Herbsttag im September 1872, als im Untergeschoss des ehrwürdigen British Museum der junge Assistenz-Kurator George Smith mit einem feinen Stichel eines der 150.000 Tontäfelchen reinigt, die hier seit Jahrzehnten lagern. Behutsam löst er die Verkrustungen von zerbrechlichen, fragilen Täfelchen und liest nach all den Jahren beinahe so geläufig wie eine Zeitung – halblaut mit leise bewegten Lippen. Und er liest gebannt mit wachsendem Erstaunen eine Geschichte, die er bislang nur aus der Bibel kennt, die Geschichte der Sintflut. Smith ist wie vom Donner gerührt. Mit einem Schlag öffnet sich der Blick in eine Tiefe der Zeit vor der Zeit und weit Entferntes wird zum Naheliegenden. Das Gilgamesch-Epos liefert den Schlüssel hierzu.
Die Geschichte der Entdeckung und Wiederherstellung der einst größten Bibliothek der Welt in den Mauern der größten Bibliothek der neuen Welt des Commonwealth liest sich wie ein Krimi. Eine leidenschaftliche Jagd nach Texten setzt ein, Texten, die die Formel des Wissens um die Welt zu enthalten scheinen. Arabische und westliche Wissenschaftler geraten genau dort miteinander in Konflikt, wo drei- oder viertausend Jahre später die Golfkriege Zerstörung und Hass hinterlassen werden. Aus den Wurzeln der Kultur wächst nicht nur Versöhnliches, sondern auch das Gift des Überlegenheitsgefühls und das Material, aus dem clashes of culture gemacht sind.
In seinem klugen Essay über die Möglichkeiten, Fanatiker von ihren Wahnvorstellungen zu heilen, hat Amos Oz den Humor und das Lachen als eine mögliche und wirksame Methode beschrieben. Umberto Eco argumentierte ähnlich, wenn er im Namen der Rose zeigt, dass man lachend zwar vernünftig nicht aber fanatisch sein kann. Freilich sollte der Lachende dem Fanatiker nicht zum Opfer fallen – sonst nutzt die vermeintliche Überlegenheit wenig.
Man fragt sich dennoch, ob die genannten Autoren nicht zu kurz gegriffen haben, wenn sie sich primär auf die Macht des Lachens als Kampfmittel konzentrieren. Sollte man nicht sehr viel weiter gehen und die Literatur als Ganzes, als die vielleicht effizienteste Kraft im Aufstand gegen das Prinzip Fundamentalismus sehen und in Stellung bringen?
Denn es ist nicht die Philosophie und noch weit weniger die Religion, es sind nicht die großen Lehrer der Moral oder die Theoretiker der Kulturwissenschaften, die den Fundamentalisten und Dogmatikern jeder Couleur den entschiedensten Widerstand entgegensetzen, es ist: die Literatur. Sie und nur sie, die oft als weltfremd, abgehoben, textsüchtig diffamierte Literatur ist es, die den Systemen der Macht an die Wurzel geht. Nicht um sie zu legitimieren soll hier von ihr die Rede sein, sondern um sie wieder zu sich zu bringen. Nicht um sie zu verteidigen, sondern sie zum Angriff zu bewegen. Nicht um ihre Ohnmacht zu beklagen, sondern sie zu dem zu "ermächtigen", zu dem sie fähig ist.

Und sie ist zu vielem fähig. Sonst hätte man sie nicht seit 500 Jahren zensiert, indiziert, verfolgt, verboten oder verbrannt. Ganz offenbar hat sie genau das an sich, was Manipulatoren und Meinungsvergewaltiger am meisten fürchten. Zu Recht fürchten. Ob Mullahs oder Marxisten, Faschisten oder Technokraten – sie alle wittern Gefahr, wenn die Literatur ihre Register zieht und sagt, was nur sie sagen kann, was nur sie so sagen kann.
Dabei geht es in der Regel nicht um ein Engagement im ideologischen Sinn, nicht um Parteinahme von Autoren für diese oder jene Richtung, Farbe, Partei. Es geht in der Tat nicht primär um Politik, sondern um Poesie. Nicht um Ethik, sondern um Ästhetik. Nicht so sehr um den Gestus eines j'accuse, sondern um ein j'excluse: um eine grundsätzliche Verweigerung gegenüber vorgegebenen, über das Leben von Menschen verfügenden Zugriffen und Zumutungen. Und alles, was Systeme im Namen von Ideologien mit Individuen anstellen, sind Zumutungen. Oft genug solche, mit tödlichen Konsequenzen.
Jahre danach fällt der Literatur dann häufig die ehrenvolle, aber auf Dauer wenig befriedigende Rolle der Aufarbeitung jener Schrecken zu, die diejenigen verursachten, die zuvor nicht nur die Literatur verfolgten. Jahrzehnte später erzählt man akribisch vom Anfang des Endes, vom Ende des Anfangs. Erzählt, wann und wie man hätte regieren können, sollen, müssen , um zu verhindern, dass es wenigen gelang, viele um ihr Leben zu bringen – physisch oder psychisch.
Literatur als Dokumentationsstelle, um Spurensuche zu betreiben und anonymen Opfern eine Stimme zu geben – dies ist sicher eine wichtige Funktion von Literatur. Zu zeigen, wie mit Sprache gezündelt wurde, um damit Menschen in Brand zu setzen – wer würde an der Wichtigkeit dieser Mission zweifeln? Und doch stellt sich bei dieser Art der poetischen Vergangenheitsbewältigung ein schales Gefühl der Ohnmacht und der Tristesse ein. Ein Gefühl, das man ehren kann, aber an das man sich nicht gewöhnen sollte.
Immer zu spät zu kommen oder zu früh zu warnen – mit Celan zu trauern oder als Cassandra ungehört zu bleiben, das entspricht so gar nicht dem Auftrag und den Möglichkeiten der Literatur. Noch weniger freilich entspricht es ihrem Auftrag – dies darf hier nicht unterschlagen werden – in die Rolle des Verräters zu schlüpfen und zum Lieferanten für destruktive kollektive Gefühle zu werden, Teil einer Todesfabrik aus Wörtern. Ob Bosnien oder Nazideutschland – in der ganzen Welt haben Autoren sich wirkmächtig in den Dienst von Ideologen stellen lassen und Mythen der Reinheit, Feindbilder und verlogene Zusammengehörigkeitsgefühle bedient und geliefert. Davon soll hier nicht weiter die Rede sein. Auch Autoren sind korrumpierbar und Eitelkeit ist ein extrem wirksames Lockmittel.
Wichtiger als die Defekte und Gefährdungen auch der Literatur sind ihre Möglichkeiten. Stellen wir stattdessen die Frage nach den spezifischen Qualitäten der Literatur als Mittel einer Aufklärung, die das Individuum gegen den Sog der Systeme verteidigt und nur einer "Partei", der freilich bedingungslos, verpflichtet ist, der des einzelnen Menschen.
Kafka ist gefährlich. Die Chefideologen der Kommunistischen Parteien hatten aus ihrer Sicht Recht, ihn zu verbieten. Denn obwohl in seinen Geschichten kaum oder nie die Rede von Politik ist, sind sie ein einziger Sturmlauf gegen die abstrusen
Zumutungen politischer und technokratischer Systeme. Sein erzählerischer Trick: Das jeweils betroffene Individuum wehrt sich nicht etwa, sondern unterwirft sich freiwillig den selbstzerstörenden Regularien, ja tritt gelegentlich in einen geradezu irrwitzigen Wettlauf mit ihnen. Der Protagonist in "Der Prozess" hilft bei der Erfindung seiner "Schuld" geradezu beflissen mit:
"'Das wäre neu', sagte K., sprang aus dem Bett und zog rasch seine Hosen an. 'Ich will doch sehen, was für Leute im Nebenzimmer sind und wie Frau Grubach diese Störung mir gegenüber verantworten wird.' Es fiel ihm zwar gleich ein, daß er das nicht hätte laut sagen müssen und daß er dadurch gewissermaßen ein Beaufsichtigungsrecht des Fremden anerkannte, aber es schien ihm jetzt nicht wichtig.“
Ob "Prozess" oder "Verwandlung", "Das Schloss" oder "Amerika" – stets wird der Leser zum Zeugen eines absurden Selbstdemütigungsprozesses von bisweilen grotesker Komik. Es ist sicher mehr als eine Anekdote, wenn Kafka selbst immer wieder von den schreiend komischen Leseabenden im Kreis seiner Freunde berichtet. Alles andere als mystisch grundierte Weihestunden. Kafka ohne religiöses Beiwerk – das ist ein Fanal gegen Entmündigung und metaphysischen Trost, gegen den Systemterror der kleinen Schritte und gegen das Gift der langsam einsickernden Gleichmacherei. Seine Strichmännchen, mögen sie nun K oder F heißen, zeigen modellhaft und auf jedermann übertragbar, dass Konformismus nicht nur feige, sondern auch kontraproduktiv ist. Wer mitmacht hat verloren. Wer rechtzeitig aussteigt, hat eine minimale Chance auf ein geglücktes Weiterleben. Kafka selbst ist ein brillantes Beispiel. Er und seine Texte haben alle Schulen der Diktaturen, alle Gehirnwäscheanstalten überlebt! Weltweit!
Genauso wie die Texte Georg Büchners. Ein kaum 24-Jähriger, der den Dingen auf den Grund ging. Der dort nachgräbt, wo der Hund begraben liegt. Der Hund heißt Woyzeck. Er heißt auch Danton, Robespierre, heißt, kann auch heißen das Volk, die Revolution, sogar den Namen der "Republik" kann er tragen. In einer Zeit der permanenten revolutionären, konterrevolutionären und restaurativen Gesinnungsschlachten hält ein junger Mann der Welt einen Spiegel vor und – die Welt schaut weg, tut so, als ginge sie das alles nichts an, als sei sie nicht gemeint. Doch sie ist gemeint.
Denn auch die Ideologie der Aufklärung war Ideologie, die der aus ihr erwachsenden Revolution noch sehr viel mehr. Büchner geht der Gefahr des Systemdenkens auch im Sinn einer im Ursprung positiv intendierten Normierung nach. Die Aufklärung im Zeitalter ihrer Selbstreflexion – in Büchners "Dantons Tod" kann man lernen, wie und wie schnell Ideale zu Ideen, Ideen zu Dogmen, Dogmen zu Todesurteilen mutieren:
"Geht einmal euren Phrasen nach bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden. – Blickt um euch, das alles habt ihr gesprochen; es ist eine mimische Übersetzung eurer Worte. Diese Elenden, ihre Henker und die Guillotine sind eure lebendig gewordenen Reden. Ihr bautet eure Systeme ...aus Menschenköpfen."
Man könnte, kann lernen, dass die Bildung von Parteien und Fraktionen nur eine Ausdifferenzierung der Macht darstellt, dass "Gut" und "Boese" im Politischen nur Vorspiegelungen sind und dass auch das "brave, gute Volk" nur eine ideologische Worthülse im Richtungsstreit darstellt. "Volonté Generale" , die vielleicht gefährlichste
Waffe im Dienst der selbsternannten Vollstrecker einer Gerechtigkeit, ihrer Gerechtigkeit. Büchner-Lektüre, richtig betrieben, ist angewandte Aufklärung der Masse über sich selbst!
Literatur bringt wie kein zweites Medium gesellschaftliche Entwicklungen, Fehlentwicklungen, Entwicklungs- und "Einwicklungs"-Verfahren nicht nur auf Begriffe, sondern auch zur Kenntlichkeit. Und nicht nur das, sie ist Expertin für Zwischentöne, Ambiguitäten und Ambivalenzen. Ein Grund mehr, weshalb man sie nicht umgehen kann und weshalb sie fasziniert.
Aus genau demselben Grund freilich ist ihre politische Reichweite begrenzt. Nicht, dass die Leute an den Schalthebeln der Macht für Literatur unempfänglich wären – im Gegenteil, da ist kaum einer oder eine, die nicht das Lesen von Romanen oder Theaterbesuche als eminent wichtigen Bestandteil ihrer Freizeitaktivitäten und ihrer öffentlichen Selbstdarstellung deklarieren würde. Und durchaus nicht nur die Alphatiere, auch das Gros derer, die sich als vernünftig im Leben stehend betrachten, nimmt diese Haltung ein, Literatur als wichtigen, aber in letzter Instanz doch nicht entscheidenden Faktor zu begreifen und ihr eine Art unterhaltsamen de Luxe-Status zuzugestehen. Kein Mensch würde sich erlauben, mit religiösen Texten so herablassend arrogant umzugehen, wie es bei literarischen Texten – unausgesprochen – der Usus ist. Goethe hat im "West- östlichen Divan" auf ebenso elegante wie subversive Art religiöse von literarischen Texten geschieden:
"Der Poet vergeudet die ihm verliehene Gabe im Genuss, um Genuss hervorzubringen (...) Alle übrigen Zwecke versäumt er, sucht mannigfaltig zu sein, sich in Gesinnung und Darstellung grenzenlos zu zeigen. Der Prophet hingegen sieht nur auf den einen einzigen bestimmten Zweck; Solchen zu erlangen, bedient er sich der einfachsten Mittel. Irgendeine Lehre will er verkünden und, wie um eine Standarte, durch sie und um sie die Völker versammeln. Hierzu bedarf es nur, dass die Welt glaube, er muss also eintönig werden und bleiben, denn das Mannigfaltige glaubt man nicht."
Man könnte die Differenz im Kern kaum treffender darstellen: Die Literatur verfolgt in der Tat keine Absicht, aber zweckfrei ist sie deshalb beileibe nicht. Sie bietet keine Lösungen, vor allem keine Erlösungen (aber auch keine Verdammungen) an. Sie stellt stattdessen Fragen, ohne Antworten zu geben. Weil sie keine Antworten gibt, gibt sie jedem die Chance, s e i n e Antwort zu suchen, vielleicht auch zu finden. Sie will auf nichts hinaus. Und genau das ist ihre Stärke. Sie bevorzugt offene, häufig auch unbefriedigende Enden, statt ein glattes, lebensfernes, verführerisch-suggestives Konstrukt aus Hoffnung und Lüge anzufügen. Und sie stellt sich der Komplexität, Ambiguität, Doppeldeutigkeit und Ambivalenz der alltäglichen Wirklichkeit, statt sie mit Wunschvorstellungen zu verkleistern.
"Glaubten die Griechen ihre Mythen?" Paul Veynes polemische Frage aus dem Jahr 1983 verdient es, ernst genommen und zu Ende gedacht zu werden. Ernst genommen und auf alle Mythologien übertragen zu werden. "Ilias" und "Odyssee" gehören bis heute zum Kern des europäischen Kanons. Dennoch käme niemand auf den Gedanken, sie "ernst" zu nehmen. Gewiss, Heinrich Schliemann nahm Troja wörtlich und fand – was, auch immer, die Experten streiten. Dennoch, einen existenziellen Wahrheits-bzw. Authentizitätsanspruch würde ernsthaft niemand mehr mit Ort oder Personal der Odyssee verbinden. Die großen religiösen Schriften, Altes

Testament, Neues Testament und Quran sind nicht weniger "wahr" oder "fiktiv" wie die "Ilias" oder die "Odyssee" – allesamt fantastische Geschichten mit strategischen Zielen. Obwohl nichts dafür spricht, sie ernster zu nehmen als irgendwelche anderen antiken Mythen, gelang es ihnen jedoch, den Charakter 'Heiliger Texte' zu erlangen und sie nahezu unangreifbar, unverwundbar zu machen. Aus Dichtung wurde und wird Wirklichkeit, die das individuelle Leben von Millionen bis ins Intimste regelt. Nietzsche spricht in seinem brillanten Essay "Über Lüge und Wahrheit im außermoralischen Sinne" davon, dass wir in Domen aus Begriffen lebten, deren Ursprung in unserem eigenen Kopf wir vergessen hätten. Im Fall unserer Gottesvorstellungen verhält es sich noch gravierender: Wir haben uns daran gewöhnen lassen, uns so zu verhalten, als würden wir vor den selbsterfundenen Mythen erzittern. Noch immer steht das "Verletzen religiöser Gefühle" wenn nicht unter Strafe, so doch unter Generalverdacht. Kaum ein anderes Gefühl besitzt diesen Schutz. Im Gegenteil: andere, individuelle Gefühle werden bedenkenlos von religiösen Gefühlen malträtiert.
Kurz: Es ist an der Zeit, den überfälligen Auftrag der Aufklärung mit zwei-, dreihundertjähriger Verspätung zu erfüllen, die Säkularisierung so genannter "Heiliger" Texte durchzusetzen und sie damit wieder zu literarisieren. Wenn man mit ihnen wieder so umgehen könnte wie mit der Literatur, verlören sie mit einem Mal all ihren Schrecken. Befreiungstheologie heißt vor allem Befreiung von der Theologie. Wer hätte sich je so elegant und souverän dogmatischen Verhärtungen zu entziehen gewusst wie Heinrich Heine auf der italienischen Reise:
"Katholizismus ist eine gute Sommerreligion. Es läßt sich gut liegen auf den Bänken dieser alten Dome, man genießt dort die kühle Andacht, ein heiliges Dolce far niente, man betet und träumt und sündigt in Gedanken, die Madonnen nicken so verzeihend aus ihren Nischen, weiblich gesinnt verzeihen sie sogar, wenn man ihre eignen holden Züge in die sündigen Gedanken verflochten hat, und zum Überfluß steht noch in jeder Ecke ein brauner Notstuhl des Gewissens, wo man sich seiner Sünden entledigen kann. .. Doch kam außerhalb desselben eine Hand zum Vorschein, die mich gleichsam festhielt. Ich konnte nicht aufhören, diese Hand zu betrachten; das bläuliche Ge- äder und der vornehme Glanz der weißen Finger war mir so befremdlich wohlbekannt, und alle Traumgewalt meiner Seele kam in Bewegung, um ein Gesicht zu bilden, das zu dieser Hand gehören konnte. Es war eine schöne Hand und nicht, wie man sie bei jungen Mädchen findet, die, halb Lamm, halb Rose, nur gedankenlose, vegetabil animalische Hände haben, sie hatte vielmehr so etwas Geistiges, so etwas geschichtlich Reizendes wie die Hände von schönen Menschen, die sehr gebildet sind oder viel gelitten haben. [evtl: Diese Hand hatte dabei auch so etwas rührend Unschuldiges, daß es schien, als ob sie nicht mitzubeichten brauche und auch nicht hören wolle, was ihre Eigentümerin beichtete, und gleichsam draußen warte, bis diese fertig sei.]"

Eine illusionäre, weltfremde Vorstellung?
Die irdischen, mondänen, menschlichen Bedürfnisse wieder definitiv ins Zentrum zu rücken, ist keine Illusion. Die Literatur lehrt die Kunst, die Dinge ernst zu nehmen und gleichzeitig mit ihnen zu spielen. "Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt, und er spielt nur da, wo er ganz Mensch ist", sagt Schiller in seinen "Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen" und umreißt damit ein Programm für die Zukunft.

Der Literatur kommt darin eine entscheidende Rolle zu, denn sie ist nichts anderes als Spiel. Ernsthaftes Spiel, aber Spiel. Ist Text gewordene Virtualität, Simulation, Stimulation vonWirklichkeit – hautnah, täuschend echt und dennoch ungefährlich, Simulation, Lebenssimulation eben. Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Diese Frage ist nicht nur erlaubt, sie ist nachdrücklich gefordert. Ein spielerisch-leichter, phantasievoller und angstfreier Umgang mit den komplexen Wirklichkeits- und Wahrheitskonfigurationen unserer postmodernen, graduell vernetzenden Welt ist das Gebot der Stunde. Die Zeit der schwarz-weiß-Philosophien ist abgelaufen: Es ist die Stunde der Literatur.
Das Curriculum einer wirklich gegenwärtigen Literatur fordert und realisiert weder Kunden noch Gläubige, sondern Köpfe, die von dem in ihnen angelegten emotionalen und Intellektuellen Potential konsequenten Gebrauch machen. Das geht nicht ohne jene "kleine Spur Gift" und Giftigkeit ab, mit der Musil den späteren, sozialisierten Törless ausgestattet sieht. Und das soll es auch nicht. Literatur ist alles andere als eine Institution zur Herstellung von "Gutmenschen". Sie will kritisch Widerständige, vergleichsweise schwer zu manipulierende Individuen i, möglichst großer Zahl ausbilden. Sie wird und muss den Fundamentalisten ins Wort fallen, muss in ihren Herrschaftsraum eindringen. Zumindest auf ihrem ureigensten Territorium, dem der Sprache, der Wörter und Texte. Sie wird und darf sich nicht der eigenen Sprache durch Dilettanten der Sprache berauben lassen. Die eingangs erwähnten Maßnahmen der Indizierung und Verbote sind es wert, immer wieder die Probe aufs Exempel zu machen. Die Art und Weise, wie die Weltöffentlichkeit Rushdies "Satanische Verse" gegen den Willen der Mullahs, ja gegen Todesdrohungen durchsetzte, war imponierend. Aber sie darf kein Einzelfall bleiben.
Denn erstens und zuletzt geht es ihr immer, man vergisst es so leicht, um das Individuum. Auch in dieser Zeit der Labels, Ketten, Zielgruppen und Excel-Tabellen. Aber es existiert, zugegeben, kaum mehr erkennbar, inmitten der Masse Mensch, der Menschenmassen und der Massenmenschen. Nicht als das "große" herausragende Individuum möglicherweise, aber doch als jenes ganz gewöhnliche Einzelwesen, das seit je im Zentrum des Interesses der Literatur steht, allein der Literatur.
Dies geschieht so selbstverständlich, dass kaum mehr ins Auge fällt, dass sie, die Literatur, die einzige Diskursform ist, die sich seiner annimmt. 600, 700 Seiten über Jedermann, über Herrn Bloom (Ulysses), Anna Karenina oder Hans Castorp(Zauberberg) – im Grunde undenkbar im Zeitalter der Effizienz, des Power Point-artigen Reduktionismus auf das "Wesentliche". Möglicherweise ist dies das revolutionärste, subversivste, inkommensurabelste Wesenselement des Phänomens "Literatur": Diese selbstverständliche Fokussierung auf einzelne Menschenwesen ganz ohne exemplarische, allegorische oder typologische Ansprüche oder Deutungshintergründe. Die Selbstverständlichkeit, mit der man der akribischen Darstellung des Schicksals von Durchschnittsmenschen Raum gewährt, jenseits hochtrabender Diskurse um Menschenwürde.
Mit der man auch dezidiert "Unwürdigen" volle Aufmerksamkeit schenkt – Außenseitern, Blindgängern, Wahnsinnigen, Asozialen, schrägen Typen, hoffnungslos bizarren Vögeln. Nicht wie die Bibel, um etwas damit zu beweisen, beispielsweise deren verborgenen Wert zu zeigen, sondern bloß um des puren Da-Seins und Fühlens dieser Figuren willen. Die Revolte der Revolten schlechthin in Welten, die sich daran gewöhnt haben zu akzentuieren, zu formatieren, Schwerpunkte zu setzen, Wesentliches von Unwesentlichem strikt zu unterscheiden. Zumindest aber zu erziehen, zu systematisieren oder zu therapieren.

Mit derselben Widerständigkeit entzieht sich die Literatur auch anderen Versuchen der höheren Sinngebung wie der des Mythos. Individuelle Bedeutung ja – Bedeutsamkeit: nein! Literatur will dem Individuum auf die Sprünge helfen, es auf unprätentiöse Art hellsichtig machen, die Sinne schärfen, sie aber nie betäuben. Wie sagt Christa Wolf, möchte sie "ihrer" Kassandra näherkommen? Durch eine narrative Rückführung in die gedachten sozialen Koordinaten dieser Figur, nicht aber durch irgendeine nachempfindene Mythieiserung. Denn letztlich ist alles eine Frage des Stils. Flauberts Kampf um den style indirecte libre in "Emma Bovary", den er gegen die Anwälte der bürgerlichen Moral vor Gericht durchzusetzen wusste, war sehr viel mehr als eine Querele um Formalia. Er erstritt sich und den Lesern das Recht, ohne Zensurbalken, in das Innere einer Ehebrecherin hineinschauen zu können und auch ihren Triumph, nicht nur ihre Scham und Schande miterleben zu können.
"Sobald sie von Karl befreit war, ging sie in ihr Zimmer hinauf und schloß sich ein. Sie war zunächst noch wie unter einem Banne. Sie sah im Geist die Bäume, die Wege, die Gräben, den Geliebten und fühlte seine Umarmung. Das Laub wisperte um sie herum, und das Schilf rauschte. Dann aber erblickte sie sich im Spiegel. Sie staunte über ihr Aussehen. So große schwarze Augen hatte sie noch nie gehabt! Und wie tief sie lagen! Etwas Unsagbares umfloß ihre Gestalt. Sie kam sich wie verklärt vor. Immer wieder sagte sie sich: 'Ich habe einen Geliebten! Einen Geliebten!' Der Gedanke entzückte sie."
Allein der unverstellte Blick in die hochkomplexen Abgründe unserer unterirdischen Gefühlslandschaften, auch auf die dunkle Seite unserer meist sehr gemischten Gefühle ist primär Sache der Literatur. Selbst Freud beneidete Schnitzler um die poetische Intuition, die dem Dichter spontan zu erkennen erlaubte, wofür der Wissenschaftler Jahre der Forschung benötigte. Karl Kraus kämpfte um jedes Komma, Paul Celan um jedes Wort, das er der Sprache des Dritten Reichs entreißen konnte, Herta Müller bricht die Macht der Ceaucescu-Schergen, indem Sie ihnen die Sprachhoheit entzieht.
Deshalb brauchen wir Literatur. Nur Literatur.

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