SWR2 Wissen: Aula - Josef Kraus: Durchgefallen! Warum Deutschland als Bildungsnation gescheitert ist


Diskurs SWR2-Kooperation
Bildung DE - gescheitert (R.Kraus)
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SWR2 Wissen: Aula - Josef Kraus: Durchgefallen! Warum Deutschland als Bildungsnation gescheitert ist
Sendung: Sonntag, 02. Juli 2017, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2017
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:

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AUTOR
Josef Kraus,
Jahrgang 1949, studierte von 1971 bis 1977 in Würzburg Deutsch und Sport für das Lehramt an Gymnasien; sein 2. Staatsexamen legte er in Ingolstadt ab. Ein Jahr darauf erlangte Kraus ebenfalls in Würzburg sein Psychologie-Diplom. Ab 1980 unterrichtete er für 15 Jahre als Gymnasiallehrer in Landshut und war als Schulpsychologe für den Regierungsbezirk Niederbayern zuständig. Ab Februar 1995 fungierte er als Schulleiter am Maximilian-von-Montgelas-Gymnasium in Vilsbiburg bei Landshut. Josef Kraus bekleidete von 1979 bis 1987 verschiedene Vorstandsämter im Deutschen Philologenverband und ist seit 1987 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL). Kraus gilt als einer der schärfsten Kritiker einer leistungsfeindlichen Schulpolitik. Zu schulpolitischen Themen schreibt er regelmäßig in der "Welt am Sonntag" und im "Rheinischen Merkur".
Bücher (Auswahl): -
Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen. Herbig, München 2017. - Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013.  - Ist die Bildung noch zu retten? - eine Streitschrift, Herbig, München 2009. - Der Pisa-Schwindel. Unsere Kinder sind besser als ihr Ruf. Wie Eltern und Schule Potentiale fördern können. Signum, Wien 2005. - Spaßpädagogik. Sackgassen deutscher Schulpolitik. Universitas, München 1998, 2., ergänzte Auflage, 1998
http://www.lehrerverband.de/inhalt.htm

ÜBERBLICK
Unsere Schulen sind zu Laboren mutiert, in denen eifrig experimentiert wird, unsere Schüler und Schülerinnen sind die Labormäuse: Mal müssen sie das achtjährige Gymnasium austesten, dann die Ganztagsschule, mal müssen sie sich eine neue Rechtschreibstrategie antrainieren, dann wieder auf die Kompetenzideologie umschalten. Die Folge dieser Reformitis ist eine Politik wider jede Vernunft, die alles nur verschlimmbessert. Warum das so ist, erläutert Josef Kraus, ehemaliger Schulleiter und bis dieses Jahr Chef des Deutschen Lehrerverbands.


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Ansage:
Mit dem Thema: "Durchgefallen! – Warum Deutschland als Bildungsnation gescheitert ist".
Unsere Schulen sind zu Laboren mutiert, in denen eifrig experimentiert wird, unsere Schüler und Schülerinnen sind die Labormäuse: Mal müssen sie das achtjährige Gymnasium austesten, dann die Ganztagsschule, mal müssen sie sich eine neue Rechtschreibstrategie antrainieren, dann wieder auf die Kompetenzideologie umschalten. Die Folge dieser Reformitis ist eine Politik wider jede Vernunft. Josef Kraus, ehemaliger Schulleiter und ehemaliger Chef des Deutschen Lehrerverbands, zeigt es uns: das Sündenregister deutscher Bildungspolitik.
Josef Kraus:
Das Sündenregister deutscher Bildungspolitik
„Sündenregister der Bildungspolitik“ – das klingt nach Religion, Theologie, Kirche, Glauben, Aberglauben, Gott, Teufel, letztem Gericht, Himmel, Hölle. Sind solche Assoziationen im Kontext mit Bildung zu weit hergeholt? Was hat Bildungspolitik mit Religion zu tun?
Eine Menge! Denn immer häufiger drängt sich der Eindruck auf, dass Bildungspolitik mit all den von ihr verbreiteten Ängsten und Horrorszenarien im Gegenzug gerne zu Heilsversprechungen neigt. Ängste werden – wohl zur Vorbereitung der Heilversprechungen - geschürt und apokalyptische Bilder gemalt: von Bildungspolitikern, von Bildungsforschern, von Lobbyisten, von Stiftungen usw. Ihnen geht es um Bildungsverlierer und Bildungsarmut, die ach so krankmachende Schule, die ach so selektierende Schule, traumatisierte Schüler, frustrierte und frustrierende Lehrer.
Darauf und dagegen setzt man dann Heilsversprechungen: Gymnasium und Abitur für alle! Lebensraum Schule! Offene Schule! Lernen mit Spaß und ohne Anstrengung! Keine Kränkungen mehr durch Noten und Zeugnisse! Kein Stress mehr mit Hausaufgaben und Auswendiglernen! Ausschließlich selbstgesteuertes, intrinsisches, hirnbasiertes Lernen! Kein Frontalunterricht!
Am Ende dann angeblich hochkompetente junge Leute, fit für das globale Haifischbecken! Vor allem aber ist gerechte Bildung angesagt!
Ganz schön viel ewig-morgige Gesinnungsethik ist das! Und ganz schön viel spießige „educational correctness“! Aber: Wie passt all das zusammen? Hier Heilsversprechen! Und dort kommt dann einer und spricht von Sündenregistern! Ja, es passt zusammen, denn so paradox es klingt: Die bildungspolitischen und pädagogischen Heilsversprechungen, das sind die Sünden!
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Eine erste Todsünde ist der Egalitarismus. Das ist der Irrglaube, dass alle Menschen, Strukturen, Werte, Inhalte, ja sogar die Geschlechter, von denen es ja nicht nur zwei, sondern bis zu sechzig geben soll, gleich bzw. gleich gültig seien. Das ist auch die Ideologie, dass es keine verschiedenen Schulformen, keine verschiedenen Begabungen, keine verschiedenen Fächer sowie keine bestimmten Werte geben dürfe.
Ich setze dagegen: Schule ist keine Institution zur Herstellung von Gleichheit, sondern zur Förderung von Verschiedenheit und Individualität. Gewiss ist das Spannungsverhältnis von Gleichheit und Freiheit nicht aufhebbar. Deshalb gilt, was Goethe meinte: „Gesetzgeber oder Revolutionäre, die Gleichheit und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Scharlatane“. Es gibt also kein Zugleich. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang an Alexis de Toqueville (1835) und dessen warnendes Wort: Freiheit erliege gern der Gleichheit, weil Freiheit mit Opfern erkauft werden müsse und weil Gleichheit ihre Genüsse von selbst darbiete.
Bezogen auf Bildung lautet die Frage: Soll ein Bildungswesen am Prinzip Freiheit oder am Prinzip Gleichheit orientiert sein? Gewiss doch an der Freiheit! Auch wenn wir dazu neigen, jede Form von Ungleichheit zu skandalisieren, gilt: Die „conditio humana“ kennt keine Gleichheit. An der Unterschiedlichkeit und an der Vielfalt von Menschen ändern keine noch so moralisierende egalitäre Zivilreligion, kein Bildungssystem und auch kein noch so gestalteter Unterricht etwas.
Es ist nun einmal das unüberwindbare Dilemma des pädagogischen Egalitarismus: Egalitäre Schulpolitik erzielt vermeintliche Gleichheit allenfalls durch Absenkung des Anspruchsniveaus. Wer aber die Ansprüche senkt, der bindet gerade junge Menschen aus schwierigeren Milieus in ihren „restringierten Codes“ fest. Selbst ein hochindividualisierender Unterricht zementiert Unterschiede. Denn: Je besser der Unterricht ist, je erfolgreicher Schüler individuell gefördert werden, desto mehr spielt die genetische Anlage eine Rolle. Und die ist schlicht und einfach unterschiedlich!
Verschiedenheit ist keine Ungerechtigkeit. Vielmehr ist nichts so ungerecht wie die gleiche Behandlung Ungleicher. Das Prinzip Leistung und das Prinzip Auslese sind nun einmal die beiden Seiten ein und derselben Medaille. Zudem ist Auslese eine notwendige Voraussetzung für individuelle Förderung von Kindern. Die anti-thetische Formel „Fördern statt Auslese“ ist grundfalsch. Es muss heißen: Fördern durch Differenzierung! Gleichmacherei würde zudem jede Anstrengungsbereitschaft gefährden, sie würde auch Eigenverantwortung und Eigeninitiative bremsen. Gleichmacherei wäre auch nur gefühlte Gerechtigkeit.

Eine zweite Sünde ist die Sünde der Hybris. Das ist der aus dem Marxismus („Der neue Mensch wird gemacht“) und dem Behaviorismus („Der neue Mensch ist konditionierbar!“) abgeleitete Wahn, jeder könne total gesteuert und zu allem „begabt“ werden. Ja mehr noch: Hier glaubt der Mensch, via Bildungssystem Schöpfer spielen zu dürfen.
Ich setze dagegen: Es gibt Unterschiede in der Begabung von Menschen.
Was den Faktor Begabung betrifft, so mag es heute politisch nicht korrekt sein, davon zu sprechen. In manchen Diskussionen ist aus Begabung eine „vermeintliche Begabung“ geworden. Wissenschaftlich haltbar ist eine solche Diktion nicht. Denn die
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Forschung hat eindeutig nachgewiesen, dass die Hälfte bis zwei Drittel des kognitiven Potentials durch Erbfaktoren bestimmt ist.
Trotzdem glaubten ab Mitte der 1960er Jahre "Reformer" verkünden zu können, dass es Begabung als angeborene Fähigkeiten nicht gebe. Alles Verhalten einschließlich aller geistigen Fähigkeiten sei soziogen, so hieß es; das Endogene, das Genetische könne, ja müsse vernachlässigt werden, weil der Glaube daran Ungerechtigkeiten fortschreibe.
Nicht um eine statische Vorstellung von Begabung, sondern um einen dynamischen Begabungsbegriff, um das "Begaben" gehe es. Wer anderes im Sinn habe, sei zumindest ein Biologist. Vielmehr seien gemäß Milieutheorie Intelligenz und Schulerfolg determiniert durch die Schichtzugehörigkeit eines Individuums und durch die "Primärerziehung". Die Behavioristen seit John B. Watson (ab ca. 1920) und vermehrt ab Burrhus F. Skinner (ab ca. 1940) taten ein Übriges, indem sie verkündeten, nur die Umstände entschieden darüber, ob ein Mensch ein bewundertes Genie oder ein Verbrecher werde. Daraus leitete sich ein grenzenloser Optimismus ab, der das Neugeborene hinsichtlich Dispositionen als „tabula rasa", als „white paper" sehen wollte, auf dem Prägungen ohne Grenzen vorgenommen werden könnten.
Konsequenterweise gerieten „Begabung“ und „Intelligenz“, in der Folge auch Intelligenztests und der Intelligenzquotient IQ in Misskredit. Beide Instrumente bzw. Messgrößen standen im Verdacht, Schichtzugehörigkeit zu zementieren. Dabei hätte man schon sehr früh wissen können (leidenschaftslose Psychologen wussten es), dass die Wahrheit in der Mitte liegt. Weder Anlage und genetische Disposition noch Umwelt und individuelle Soziogenese können für sich allein erhellend wirken, wenn es um Fragen der intellektuellen Entwicklung geht. Nur wenn Anlagefaktoren und Umweltfaktoren zusammen gesehen werden, gewinnt man ein realistisches Bild von menschlicher Entwicklung, denn Anlage und Umwelt wirken - heute sagt man: „synergetisch" - zusammen wie Boden und Klima: Der beste Boden bringt keine reiche Ernte, wenn das Klima miserabel ist, und das beste Klima lässt nicht üppig Früchte tragen, wenn der Boden es nicht hergibt.
Menschen kommen nun einmal unterschiedlich auf die Welt. Wer völlige Chancengleichheit will, müsste die Menschen entmündigen. Er dürfte beispielsweise ausschließlich die Schwächeren und Langsameren fördern. Die Stärkeren und Schnelleren müsste er den Eltern wegnehmen, sie aus der Schule verbannen, ihnen jede Möglichkeit nehmen, Zeitung zu lesen, Rundfunk zu hören, Fernsehen zu schauen, Museen zu besuchen, ins Internet zu gehen usw. Beim Start in die Bildungslaufbahn sollten selbstverständlich alle die gleichen Chancen haben, gleiche Zielchancen kann es aber nicht geben. So äußert sich auch der Begabungsforscher Christopher Jencks, dessen Klassiker von 1972 „Inequality“ betitelt ist (und der in Deutschland im Jahr 1973 im Rowohlt-Verlag bezeichnenderweise mit dem Titel „Chancengleichheit“ auf den Markt kam). Bereits bei Jencks findet sich die Feststellung: Chancengleichheit durch Bildung ist eine Illusion, denn selbst wenn Bildung am Ende gleichmäßig verteilt wäre, schlagen doch andere Unterschiede durch: familiäre Förderung, Begabung usw. Die kompensatorische Erziehung kann die Handicaps der Unterprivilegierten nicht total kompensieren.
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Eine dritte Sünde ist die Sünde der Spaß-, Erleichterungs- und Gefälligkeitspädagogik. Diese tut – angestrengt und sehr bemüht – so, als ob Schule immer nur cool sein könne und ja alles tun müsse, dass sich Kinder doch ja nicht langweilten. Der Folge wurden Leistung und Anstrengung vor allem von einer 68er geprägten Pädagogik schier zu Missgunst-Vokabeln erklärt. Und immer noch und immer wieder ist im Zusammenhang mit Schule in übler Weise die Rede von „Leistungsstress", „Leistungsdruck", „Leistungsterror".
Ich setze dagegen: Bildung ohne Anstrengung geht nicht.
Die um sich greifende Wohlfühl-, Gute-Laune-, Spaß- und Gefälligkeitspädagogik schadet unseren Kindern. Wir müssen Kindern wieder mehr zutrauen und auch mehr zumuten. Aber in der Folge werden die Ansprüche heruntergefahren: der mutter- und fremdsprachliche Wortschatz wird gekürzt; ein Auswendiglernen von Gedichten findet fast nicht mehr statt; das Einprägen von historischen oder geographischen Namen und Daten gilt als vorgestrig; Grundschüler dürfen gegen jede Orthographieregel „phonetisch“ , das heißt: nach Gehör, schreiben; die lateinische Schrift soll durch die Grundschrift ersetzt werden. Die Beispiele sind Legion. Dass diese pseudopädagogische Erleichterungsattitüde falsch ist, wussten Generationen von Eltern und Lehrern seit der Antike. Selbst ein Sigmund Freud, der bekanntermaßen vieles auf das Luststreben des Menschen zurückführte, war überzeugt: Leistung und Erfolg, ja das Erleben von Glück, setzen Bedürfnis- und Triebaufschub voraus.
Wer Leistung und Anstrengung zu Missgunst-Vokabeln macht, versündigt sich an der Zukunft unserer Kinder und unserer Gesellschaft. Denn wer das Leistungsprinzip bereits in der Schule untergräbt, setzt eines der revolutionärsten demokratischen Prinzipien außer Kraft. In unfreien Gesellschaften sind Geldbeutel, Geburtsadel, Gesinnung, Geschlecht Kriterien zur Positionierung eines Menschen in der Gesellschaft.
Freie Gesellschaften haben an deren Stelle das Kriterium Leistung vor Erfolg und Aufstieg gesetzt. Das ist die große Chance zur Emanzipation für jeden einzelnen. Ganz zu schweigen davon, dass der Sozialstaat nur dann funktioniert, wenn er von der Leistung von Millionen von Menschen getragen wird. Jeder soll seines Glückes Schmied sein können. Mit Ellenbogengesellschaft hat das nichts zu tun. Vielmehr ist auch der Sozialstaat zugunsten Benachteiligter, Kranker und Alter nur realisierbar mit der millionenfachen Leistung und Anstrengung der Leistungsfähigen. Deshalb kann das Sozialprinzip auch nicht über das Leistungsprinzip gestellt werden. Auch im internationalen, im globalen Wettbewerb geht es nicht ohne Leistung. Wir sollten ansonsten auch froh sein, wenn wir leistungshungrige Spitzenschüler für zukünftige Eliten haben. Demokratie in Deutschland darf nicht zum Diktat des Durchschnitts werden. Eine zur Gleichheit verurteilte Gesellschaft wäre zur Stagnation verurteilt. Vor einem solchen Hintergrund ist selbst Ungleichheit gerecht – nämlich dann, wenn Elite allen nützt, wenn das Handeln von Eliten quasi zu einem „inequality surplus”, zu einem Mehrwert führt.
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Eine vierte Sünde ist die Quotengläubigkeit. Das ist die planwirtschaftliche Vermessenheit, es müssten möglichst alle das Abitur-Zeugnis bekommen und es dürften möglichst wenig oder gar keine Schüler sitzenbleiben. Dabei müsste doch eigentlich klar sein: Wenn alle Abitur haben, hat keiner mehr Abitur!
Ich setze dagegen: Es ist überfällig, über die Opportunitätskosten einer gerade von OECD, Bertelsmann Stiftung und Co. permanent eingeforderten Überbewertung von Gymnasium/Studium und einer Vernachlässigung der beruflichen Bildung nachzudenken, ….. das heißt, nachzudenken, was es uns kostet bzw. was uns entgeht, wenn wir die berufliche Bildung weiter so vernachlässigen wie zuletzt. Die Wachstumsbremse der Zukunft wird die Über- und Pseudoakademisierung sein, weil sie einhergeht mit einem gigantischen Fachkräftemangel.
Man schaue sich einmal an, dass wir seit 2011 ziemlich genau ebenso viele Studienanfänger haben wie junge Leute, die eine berufliche Bildung anfangen. Eine gewaltige Schieflage! Denn dort, wo man in Europa die niedrigsten Abiturienten-Quoten hat, gibt es zugleich die besten Wirtschaftsdaten: nämlich in Österreich, in der Schweiz und eben in Deutschland. Ein wichtiges bildungspolitisches Kriterium wird ebenfalls häufig übersehen, nämlich das Ausmaß an Jugendarbeitslosigkeit. Hier haben oft sogar vermeintliche Pisa-Vorzeigeländer mit Gesamtschulsystemen eine Quote, die deutlich über derjenigen Deutschlands oder gar der süddeutschen Länder liegt. Zuletzt gab es in Deutschland eine Quote an arbeitslosen Jugendlichen von 7 Prozent, in den schulpolitisch vermeintlich vorbildlichen Ländern dagegen Quoten um 20 Prozent: in Schweden mit 20,2 und in Finnland mit 21,7 Prozent. In Baden-Württemberg und Bayern hatten wir übrigens Quoten zwischen 2 und 3 Prozent. Länder mit vergleichsweise niedriger Studierquote und dualer Berufsbildung liegen also erheblich besser. Aber es dringt nicht durch: Der Mensch scheint für viele immer noch beim Abitur zu beginnen. Eigentlich entspringt solches Denken einem egalitären, sozialistischen Denken. Nun aber kommt etwas Paradoxes ins Spiel: Dieselben Leute, die ständig Lippenbekenntnisse von wegen Gleichheit, Gerechtigkeit, Kindgemäßheit absondern, betreiben unter Einflüsterung der Wirtschaft und der OECD eine Ökonomisierung von Bildung. Alles an „Bildung“ soll in Quoten und Rankingtabellen messbar sein. Der Mensch wird zum „Humankapital“ und damit verdinglicht. Das ist Kapitalismus, Ausbeutung pur. Es hat sich dies übrigens schon lange vor Pisa angekündigt. Vor mehr als einem halben Jahrhundert, 1961, hat die OECD, die ja auch für die Pisa-Testerei verantwortlich zeichnet, in einem Grundsatzpapier festgehalten: „Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken.“ Nette Vergleiche sind das!
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Die fünfte Sünde heißt Utilitarismus. Hier geht es darum, in der Schule überwiegend nur noch Dinge zu vermitteln, die man im späteren Leben braucht, die dafür nützlich sind, die sich später „rechnen“: zum Beispiel Computer Literacy.
Ich setze dagegen: Das wäre ein verarmtes Verständnis von Bildung. Hier wird Bildung zur bloßen Abrichtung.
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Die größten deutschen Philosophen haben sich schon vor Jahren mit einem solchen eingeschränkten Bildungsverständnis auseinandergesetzt. Man braucht ja nur Nietzsches fünf Baseler Reden „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ aus dem Jahre 1872 nachzulesen: Dort rechnet er es im ersten dieser Vorträge zu den beliebtesten nationalökonomischen Dogmen, den Nutzen, ja den möglichst großen Geldgewinn als Ziel und Zweck der Bildung auszugeben. Wörtlich: „Dem Menschen wird nur so viel Kultur gestattet, als im Interesse des Erwerbs ist.“
Klüger ist deutsche Bildungspolitik seitdem nicht geworden. Es geht in der Bildung aber nicht nur oder gar in erster Linie darum, wie ein junger Mensch fit wird für das globale Haifischbecken. Nein, es geht in Sachen Bildung – weil sie sonst nur Ausbildung ist – um den Eigenwert des Nicht-Ökonomischen. Es geht um Muse/Muße, und es geht um die Bildung von Persönlichkeiten.
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Die sechste Sünde heißt Empirismus. Sie hat viel mit PISA und Co. zu tun. Dahinter steckt die Vorstellung, alle Bildung müsse sich messen und in Rankingtabellen abbilden lassen.
Ich setze dagegen: Wer so tut, als sei Bildung das, was PISA misst, der hat eine armes, ja ein erbärmliches Bildungsverständnis.
Denn PISA und die sog. empirische Bildungsforschung haben nur noch das an schulischem Lernen im Blick, was sich messen lässt. Im Falle von PISA ist das wahrscheinlich nur ein Zehntel dessen, was in Schule geschieht: ein bisschen etwas von Informationsentnahmekompetenz, ein bisschen etwas von mathematischem Verständnis und ein bisschen etwas von naturwissenschaftlichem Verständnis.
Nicht erfasst von PISA werden folgende Bildungsbereiche: sprachliches Ausdrucksvermögen, Fremdsprachenkenntnisse, Wissen in den Bereichen Literatur, Geschichte, Geographie, Politik, Wirtschaft, Religion/Ethik, ästhetische Bildung in den Fächern Kunst und Musik usw..
Nein, das kann es nicht sein! Wir brauchen wieder ein Verständnis von Bildung, das gerade auch Wert legt auf diese Bereiche.
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Die siebte Sünde ist die Veloziferische. Velozifer ist nach Goethe der Gott der rasenden Beschleunigung. Es geht hier um die Sünde des Beschleunigungswahns.
Das ist der Irrglaube, man könne mit einer immer noch früheren Einschulung in immer weniger Schuljahren und mit immer weniger Unterrichtsstunden zu besser gebildeten jungen Leuten und zu einer gigantisch gesteigerten Abiturienten- und Akademikerquote kommen. Typisches Beispiel für eine solchermaßen verkorkste „Reform“ ist das achtjährige Gymnasium (G8).
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Ich setze dagegen: Bildung braucht Zeit. Man kann intellektuelle, körperliche und soziale Reifung nicht beliebig beschleunigen.
In Afrika sagt man: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man an ihm zieht. Dieses Bild gilt auch für das Heranreifen junger Menschen.
Immer noch früher einschulen und das Gymnasium immer noch mehr beschleunigen ist Unsinn. Die in manchen deutschen Ländern reichlich verkorkste Einführung des achtjährigen Gymnasiums beweist, dass bei solcher Beschleunigung viel auf der Strecke bleibt: neben der Persönlichkeitsbildung auch Schul- und Freizeitkultur.
Zwar werden die Abiturnoten immer besser und noch besser. Tatsache aber ist: Die G8er können weniger, und vor allem: Sie sind ein Jahr weniger reif, wenn sie die Schule verlassen.
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Und dann schließlich die Psychologismus-Sünde, das ist der Irrglaube, Pädagogik von einer vagen Traumapsychologie her aufziehen zu können.
Für die Psychologie und ihr Image ist dies nicht gut, denn vieles von dem, was an Psychologischem in die Pädagogik hereingenommen wird, ist triviale Alltagspsychologie und damit Banalisierung von Psychologie.
Alle Pädagogik soll offenbar vom zerbrechlichen Kind, dessen permanenter Traumatisierbarkeit, dessen Gegenwartsperspektive und dessen unmittelbaren Bedürfnisse her gedacht werden. Dem Kind, dem Schüler soll bloß nichts zugemutet werden, es könnte ja frustriert, demotiviert, ja traumatisiert werden. Dass man damit Kinder in einer Käseglocke und in einer ewigen Gegenwart einschließt und ihnen die Zukunft raubt, scheint nicht zu zählen. Statt ihnen ein bisschen etwas zuzumuten, werden unsere Kinder von einem Teil der Eltern, von den „Helikoptereltern“ rundum „gepampert“.
Ich setze dagegen: Wir sollten nicht ständig fragen, was Kinder krankmacht, sondern was Kinder stark macht.
Der Mythos von der allgegenwärtigen Traumatisierung ist falsch. Im Normalfall gibt es keinen Eins-zu-eins-Determinismus. Das Risiko des Scheiterns, Enttäuschungen und Niederlagen – all das gehört zum Leben. In altersgemäßer Dosis muss ein Kind solches erfahren dürfen, sonst entwickelt es weder die Fähigkeit, damit umzugehen, noch das Selbstbewusstsein, mit Problemen selbst fertig zu werden, noch die Bereitschaft, erst einmal eigene Kräfte zu mobilisieren.
Nein, unsere Kinder sind viel widerstandsfähiger, als wir gemeinhin annehmen. Die Resilienzforschung hat dies nachgewiesen. Resilienz heißt wörtlich: zurückspringen, abprallen. Im übertragenen Sinn meint man damit die Kraft zur Überwindung von Einschränkungen oder gar von Verletzungen. Die Entwicklung dieser Kraft kann man fördern, indem man die Kinder – altersgerecht – Probleme selbst lösen lässt.
Und wo ist ein Ausblick?
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Wir brauchen eine Revolte gegen diese acht Sünden! Denn mit diesen acht Sünden drohen Individualität, Leistung, Anstrengungsbereitschaft, natürliche Reifung und Qualität zu versinken. Viel zu lange wurde Bildung – je nach Land in Deutschland unterschiedlich intensiv – kopf- und konzeptionslos re- und deformiert. Reformen über Reformen werden in den Sand gesetzt, ohne Produkthaftung von Seiten derjenigen, die all dies inszeniert haben.
Woran liegt das? Wahrscheinlich hat es ein wenig zu tun mit dem Nationalcharakter der Deutschen, nämlich der Selbstvergessenheit und der ständigen Selbsttribunalisierung der Deutschen. Diese Selbstverleugnung lässt uns zum Beispiel ein weltweit renommiertes Diplom wegschmeißen, das Gymnasium entkernen und unsere Sprache denglifizieren.
Wie auch immer: Jeder persönliche oder kulturelle Abstieg beginnt mit Selbstverleugnung und Überangepasstheit. Oder noch härter ausgedrückt: Der Verlust der Selbstachtung ist der Beginn des Verfalls, der Dekadenz. Das gilt für jede Einzelperson, jede Familie, jede Gruppe, jede Nation, jede Kultur. Dass die allermeisten Reformen eben gerade denen schaden, denen sie zugutekommen sollten, nämlich den sozial Schwächsten, wird verdrängt: Die Kinder aus „gutem“ Hause bekommen die Verirrungen der Schulpolitik durch elterliches Zutun kompensiert, die Kinder aus „bildungsfernen“ Elternhäusern aber bleiben in ihren Herkunftsmilieus eingekerkert.
Dagegen brauchen wir eine bürgerliche Revolte – nicht für noch mehr weichgespülte Schule, sondern für anspruchsvolle Schule. Dass so etwas gelingen kann, hat die Hamburger Initiative „Wir wollen lernen“ gezeigt. Dort hat man per Volksentscheid am 18. Juli 2010 die Pläne der schwarz-grünen Regierung Hamburgs zur Verlängerung der Grundschule von vier auf sechs Jahre vom Tisch gewischt.
Einen solchen Mut aufzubegehren wünsche ich all denen, die sich um diese Bildungsnation sorgen. Denn die Bildungspolitik benimmt sich teilweise wie ein trotziges Kind, das keine Verfehlungen einräumen oder wenigstens abstellen will. Diesen Trotz zu brechen, das ist das Recht, ja die Aufgabe des Souveräns, des Volkes. Dazu bedarf es des Mutes, der Courage, wie dies schon vor zweieinhalb Jahrtausenden Perikles gesagt hat: „Zum Glück brauchst du Freiheit, zur Freiheit brauchst du Mut.“
Zurück zum Sündenbild: Wann ist Absolution, also ein Freispruch von den Sünden möglich? Nun, dafür gibt es drei Voraussetzungen. Freispruch ist möglich: Erstens wenn der Sünder bereut. Zweitens wenn der Sünder Buße tut. Drittens wenn der Sünder Besserung gelobt. Kann es – gemessen an diesen Maßstäben – eine Absolution der Bildungspolitik geben?
Wahrscheinlich nicht, denn die real praktizierte Bildungspolitik bereut nichts oder nur selten etwas; sie tut selten Buße, nämlich allenfalls dann, wenn – was einem Wunder gleichkäme – mal ein Bildungsminister zurücktritt! Und sie gelobt eigentlich nie Besserung. Vielmehr meint sie, eine Sünde durch eine neue Sünde vergessen zu machen. Also soll sie zumindest ein paar Jahre in der bildungspolitischen Hölle schmoren. Zusammen mit ihren bildungswissenschaftlichen Einflüsterern, die – oft professoral reichlich geschraubt – mit einer stets neuen Pädagogik immer wieder den
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Bildungshimmel auf Erden versprechen. Vielleicht findet Schule dann wieder zurück zu der Bodenständigkeit, und Ehrlichkeit, die sie braucht.
Und was brauchen wir sonst in Sachen Bildung? Wir brauchen
· Freiheit statt Gleichheit!
· Leistung statt Verwöhnung!
· Qualität statt Quote!
· Inhalte statt curricularer Nihilismen!
· Orientierung im europäischen Wertekosmos statt Relativismus!
Dies auszusprechen und einzufordern, sollten wir den Mut haben!
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