SWR2 Wissen - Fritz Riemann und die Grundformen der Angst . Von Reinhard Krol

Angst (F. Riemann, R.Krol)
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SWR2 Wissen - Fritz Riemann und die Grundformen der Angst . Von Reinhard Krol

Sendung: Montag, 30. März 2015, 8.30 Uhr
Erstsendedatum: 26. November 2012
Redaktion: Detlef Clas
Regie: Reinhard Krol
Produktion: SWR 2012
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Literatur :
zur Erweiterung und Vertiefung des Themas der Sendung:
 Fritz Riemann: Grundformen der Angst – Reinhardt Verlag, München
 Karl König: Kleine psychoanalytische Charakterkunde – Vandenhoek & Ruprecht , Göttingen
 Karl König: Arbeit und Persönlichkeit – Brandes & Apsel, Frankfurt a.M.
 Christoph Thomann / Friedemann Schulz von Thun – Klärungshilfe – rororo Sachbuch 1690
 Christoph Thomann – Klärungshilfe: Konflikte im Büruf – rororo Sachbuch 60462
 Gerald Hüther – Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn – Vandenhoek & Ruprecht
 Gerald Hüther – Biologie der Angst – Vandenhoek & Ruprecht
 Hans-Joachim Maaz – Die narzisstische Gesellschaft – C.H.Beck, München


ÜBERBLICK
Angst gehört zu unserem Leben wie Liebe, Ruhebedürfnis, Entdeckerfreude oder Kreativität. Und Angst ist keineswegs nur negativ. Angst zwingt den Menschen nachzudenken, zu reagieren, aktiv zu werden. In den 50er-Jahren folgerte der Münchner Psychoanalytiker Fritz Riemann aus Gesprächen mit seinen Patienten, dass es Grundängste geben muss, die als Baby und Kleinkind durchlebt werden und die später den Charakter eines Menschen formen. Diese Erkenntnisse fasste er in dem Buch "Grundformen der Angst" zusammen, das bis heute - auch 50 Jahre nach seinem Erscheinen - zur Lektüre jeder Psychologieausbildung gehört. (Produktion 2012)

INHALT
MANUSKRIPT
OT Riemann:
Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. Sie tritt immer dann auf, wenn wir uns in einer Situation befinden, der wir nicht oder noch nicht gewachsen sind. Sie ist einmal Signal und Warnung bei Gefahren und sie enthält gleichzeitig einen Aufforderungscharakter, nämlich den Antrieb, die Angst zu überwinden. So liegt in jeder Angstsituation immer zugleich eine Bedrohung, aber auch eine Chance. Die Chance einen neuen Entwicklungsschritt zu wagen, indem wir die durch die Angst gesetzte Grenze überschreiten und damit in unserer Weltbewältigung einen neuen Schritt vollziehen.
Ansage:
Fritz Riemann und die Grundformen der Angst
Eine Sendung von Reinhard Krol
Sprecher:
Warum brauchen manche Menschen viel Nähe und andere fühlen sich davon eingeengt? Warum fühlen sich manche Menschen nur wohl, wenn alles genau geregelt ist und anderen schnürt das die Luft ab? In den 50er-Jahren versuchte der Psychoanalytiker Fritz Riemann genau das zu ergründen.
OT-Collage:
Im Grunde genommen ist es erstaunlich, wie Riemann damals schon die wesentlichen Grundzüge erkannt hat / Riemann hilft, die Andersartigkeit von anderen Menschen zu verstehen / Riemann war ein Pionier.
Sprecher:
Fritz Riemann – 1902 in Chemnitz geboren. Sein Vater besaß eine Fabrik, die Scheinwerfer und elektrische Ausrüstung für die boomende Autoindustrie lieferte. Der Sohn sollte das Unternehmen weiterführen. Doch das Kaufmännische lag ihm nicht. Seine Lehre brach Fritz Riemann bald ab und ging mit 20 Jahren zum Psychologiestudium nach München. Auch das befriedigte ihn nicht und er zog sich mit seiner Frau aufs Land zurück. Sie praktizierte als Ärztin. Er bildete sich im Selbststudium weiter und stieß dabei auf die Psychoanalyse und die Arbeiten von Siegmund Freud. In dieser Zeit begann er, mit Patienten psychotherapeutisch zu arbeiten. Den Krieg durchlebte er als Sanitäter erst in Russland, dann in Holland und als er aus der Gefangenschaft entlassen wurde, nahm er diese Arbeit wieder auf. Gleich nach dem Krieg gelang es ihm, zusammen mit Kollegen in München das Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie aufzubauen, das bis heute existiert.
Seine Überlegungen und Erfahrungen mit Patienten sammelte Riemann in einem Buch, das fast 1 Million mal gedruckt wurde, und das – auch 50 Jahre nach seinem Erscheinen – als Grundlektüre in jeder Psychologie-Ausbildung empfohlen wird, weil seine Erkenntnisse noch immer gültig sind. Ein Buch, das in 17 Sprachen übersetzt ist und das vor allem auch von jedem Laien verstanden wird: Grundformen der Angst.
Es sind vier Grundängste, die Riemann bei seiner Arbeit mit Patienten ausgemacht hatte:
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OT Riemann:
Die Angst vor der Bedrohtheit unseres Daseins in der Welt, die Angst vor Trennung und Verlust, die Angst vor Schuld und Strafe und schließlich die Angst vor der Bedrohtheit unseres Selbstwertgefühls und unserer Identität sind die Grundängste, die unvermeidlich zu unserer menschlichen Existenz gehören.
Sprecher:
Die erste Angst bringt Menschen dazu, Distanz zu halten. Riemann sprach vom schizoiden Charakter.
Die zweite Angst lässt Menschen die Nähe zu anderen Menschen suchen. In der Psychologie wird das der depressive Charakter genannt.
Die dritte Angst bedingt, dass man Chaos und Veränderung nur schwer aushalten kann. Alles soll so bleiben wie es ist. Der zwanghafte Charakter.
Die vierte Angst verhindert, sich zu binden, Verantwortung im Leben zu übernehmen. Diese Menschen möchten im Hier und Jetzt leben. Die Zukunft interessiert sie nicht. Es sind die Wechsler, der hysterische Charakter.
Jeder Mensch trägt alle diese Charaktereigenschaften in sich. Aber da zu Riemann Patienten kamen, die seine Hilfe wollten, erlebte er diese Charaktere besonders ausgeprägt. Und er folgerte, dass der Mensch in den ersten Wochen, Monaten und Jahren seines Lebens mit diesen Ängsten konfrontiert wird. Fritz Riemann formulierte es 1971 in einer Sendung im Süddeutschen Rundfunk so:
OT Riemann:
Die erste Forderung, die mit der Geburt einsetzt, ist die, dass wir uns der Welt und dem Leben vertrauend öffnen sollen, gleichsam ja sagen sollen zu unserem Dasein. Nie wieder in unserem Leben sind wir aber so total abhängig und hilflos der Umwelt ausgeliefert, wie in den ersten Lebenswochen. Daher werden Not- und Mangelerlebnisse hier als unser ganzes Dasein bedrohend erlebt. Dieses völlige Ausgeliefertsein, unsere hilflose und wehrlose Abhängigkeit sind daher die Grundlage unser tiefsten und frühesten Angst, die wir die Existenzangst nennen wollen.
Sprecher:
Wer also als Baby in den ersten Wochen und Monaten nicht Sicherheit und Vertrauen von seiner Mutter erhält, kann diese erste Angst später in überstarkem Maß entwickeln. Die Angst, sich selbst, sein Ich zu verlieren. Die Welt ist gefährlich. Nähe und Bindung wirken gefährlich. Und um sich gegen diese Gefahren zu wappnen, lässt man nichts und niemanden an sich heran. Distanz wird zum Schutz vor der Welt. Riemann nennt es die Angst vor der Hingabe. Die Psychologen sprechen von schizoidem Verhalten. Riemann beschreibt dazu folgenden Fall aus seiner Praxis:
Zitator:
Ein Mann ging auf ein Ehevermittlungsbüro und suchte sich nach den ihm vorgelegten Fotografien die Frau aus, die ihn am wenigsten gefiel – sie konnte ihm wenigstens nicht gefährlich werden, konnte keine Liebesgefühle in ihm auslösen.
Sprecher:
Wenn das Baby älter wird, erkennt es, dass es eine eigene Person ist. Es merkt, dass es Menschen gibt, von denen es abhängig ist, zu denen es gleichzeitig eine Vertrautheit spürt. An erster Stelle ist das natürlich die Mutter. Wenn sie nicht da ist, fühlt sich das Kind verlassen und weint. Aber gleichzeitig gibt es die Grundforderung des Lebens, sich
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zu einem eigenständigen Individuum zu entwickeln. Das heißt, sich aus der Abhängigkeit von einem anderen Menschen lösen zu können.
Oder auf diese Situation gesprochen: Das kleine Kind muss die Sicherheit entwickeln, dass die Mutter wieder kommen wird, dass es allein sein kann ohne verlassen zu sein. Mütter, die unzuverlässig sind, Mütter, die ihren Kindern mit Liebesentzug drohen, aber auch Mütter, die ihre Kinder in zu großer Abhängigkeit halten, verhindern, dass ihre Kinder diese Sicherheit entwickeln. Riemann gibt auch für die depressive Grundhaltung ein Beispiel:
Zitator:
Wenn das Kind in den Augen seiner Mutter ungezogen war, was meist nur hieß, dass es nicht sofort gehorchte, oder etwas tat, was ihr nicht gefiel, legte sie sich aufs Sofa und „starb“ – das heißt, sie rührte sich längere Zeit nicht und reagierte auf die Bitten des Kindes nicht, bis es in verzweifeltes Weinen ausbrach.
OT Riemann:
Die Menschen mit diesem Kindheitshintergrund übergroßer Mutterbindung und Verlustangst – es sind die depressiven Menschen – haben als tiefstes Lebensgrundgefühl eine pessimistische Einstellung. Sie leben immer mit dem Bedrohtheitsgefühl möglicher Verluste und fürchten in die Einsamkeit und Verlassenheit zu fallen, sobald sie den Griff etwas lockern, mit dem sie den Partner festhalten.
Sprecher:
Es ist also die Angst vor der Selbstwerdung, wie es Fritz Riemann nennt. Aus Angst, allein zu sein, versucht man dem anderen größtmöglich nahe zu sein. Der klassische Nähe-Typ.
In der nächsten Lebensphase entdeckt das Kind die Gebote und Verbote, die unsere Gesellschaft sich gegeben hat. Und gleichzeitig, dass man gegen diese Normen rebellieren, verstoßen, sie negieren kann. Eine wichtige Phase, denn das Kind möchte sich in seiner Umwelt orientieren. Was ist gut, was ist böse? Jetzt kommen Schuld und Strafe mit ins Spiel. Das Kind lernt, die Zusammenhänge zwischen dem eigenen Tun und Handeln und dessen Folgen zu verstehen. Und gleichzeitig sieht es, dass auch die Erwachsenen unterschiedlich reden und handeln. Es bildet sein eigenes Werte-Bewusstsein heraus. Aber wenn der Druck seiner Eltern oder der direkten Umwelt gar nicht zulässt, dass viele Möglichkeiten kennengelernt und ausprobiert werden, dann kann das Kind nur etwas übernehmen, nicht entwickeln.
OT Riemann:
Starre, prinzipielle und autoritäre Verhaltensweisen der Eltern, harte Strafen und schwer zu erringende Verzeihung schaffen im Kind eine Schuldgefühlsbereitschaft und Strafangst, die ihm den Mut zum Wagnis, zur selbstverantwortlichen Entscheidung völlig nehmen können. Man wird sich dann auch später immer an das Gelernte und Vorgeschriebene halten, sich um jeden Preis anpassen, weil die möglichen Folgen seines Verhaltens immer drohend wie ein Damoklesschwert über einem hängen.
Sprecher:
Es ist die dritte Grundform der Angst, die Riemann hier beschreibt: Die Angst vor der Veränderung. Menschen, die sich nicht den Normen unterwerfen, sind dem Zwanghaften ein Gräuel. Sein Credo – auf den kürzesten Nenner gebracht – lautet: „Das haben wir schon immer so gemacht“. Und wenn er erklären soll warum, dann fängt er bei Adam und Eva an. Riemann erzählt wie sich einer seiner Patienten entschuldigte,
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der zwei Minuten zu spät kam. Statt einfach nur zu sagen: „Entschuldigen Sie bitte die kleine Verspätung“, ließ er eine Rede vom Stapel:
Zitator:
Ich habe mein Büro pünktlich wie immer um 18:15 verlassen. Ich bin in meinem gewöhnlichen Schritt zur Omnibushaltestelle gegangen. Der Bus kam knapp 3 Minuten zu spät, holte dann aber etwa eine Minute auf. Ich kam dann mit dieser Verspätung an der Haltestelle an, wo ich aussteigen musste, um zu Ihnen zu kommen. Ich wollte noch etwas aufholen durch schnelleres Gehen, wurde aber von einer Frau aufgehalten, die mich nach einer bestimmten Straße fragte und der ich natürlich Auskunft geben musste. Es war nicht ganz leicht, ihr den Weg zu beschreiben. Die letzten Meter zu Ihnen bin ich dann im Dauerlauf gerannt.
Sprecher:
Ein weiters Credo des Dauer-Typus heißt: „Ordnung muss sein“. Das fängt schon bei der Anrede an – bitteschön.
Atmo Kohl: „Für Sie bin ich nicht der Herr Kohl …“ – „Herr Dr. Kohl ...“
Sprecher:
Erwartet war natürlich nicht „Herr Dr. Kohl“, sondern „Herr Bundeskanzler“.
Sprecher:
In der letzten Entwicklungsphase, die der Psychoanalytiker Fritz Riemann beschreibt, entdeckt das Kind – etwa im 3. bis 5. Lebensjahr – seine Gesamtpersönlichkeit und seine Geschlechtlichkeit. Es möchte geliebt werden um seiner selbst willen. Und es möchte auch, dass die eigene Liebe anderen etwas bedeutet. Es merkt, dass es sich bewähren muss und hat gleichzeitig Angst zu versagen, vor Blamage, vor der Zurückweisung durch ein anderes Mädchen oder einen anderen Jungen. Es hat Angst vor Prüfungen, vor Verpflichtungen, vor Verantwortung – was eben alles zu einem „erwachsenen Verhalten“ gehört.
Das Kind spürt, dass die Zukunft Anforderungen stellen wird, die es bisher nicht kannte. Für diese Entwicklung braucht es Vor- und Leitbilder, die ihm natürlich nur lebendige Erwachsene bieten können. Gerade die Reife der Eltern ist wichtig. Es muss attraktiv sein, wie die Eltern erwachsen zu werden.
OT Riemann:
Ist die ihm vorgelebte Welt dagegen chaotisch oder überfordernd, fühlt es sich nicht angenommen, spürt es die Unechtheit der Eltern oder merkt es, dass sie eine doppelte Moral haben und das, was sie ihm verbieten, selber tun, wird es Angst vor dem nun völligen Reifungsschritt bekommen.
Sprecher:
Und deswegen – denkt sich der hysterische Charakter – ist es doch besser, nicht erwachsen zu werden, keine Verantwortung zu übernehmen, den Zwängen auszuweichen und sich die Welt so zurecht zu denken, wie man sie gerne hätte. Es ist die Angst vor dem Erleben des eigenen Unwerts. Als Scharlatan entlarvt zu werden. Die Angst vor der Notwendigkeit.
Diese Erkenntnisse hat Riemann vor über 50 Jahren in seinem Buch Grundformen der Angst beschrieben. Seitdem hat sich die Psychologie weiterentwickelt. Doch auch wenn
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man mit heutigen Psychologen, Psychotherapeuten oder Psychoanalytikern spricht, hört man die große Hochachtung, die sie Riemann zollen.
OT König
Riemann war ein Kind seiner Zeit. Und für seine Zeit und die Möglichkeiten, die er damals hatte, hat er wirklich großes geleistet. Und er hat es eben auch ermöglicht – den Nachfolgern – Weiterentwicklungen anzuschließen und dabei eben auch manches zu korrigieren. Aber er war ein Pionier.
Sprecher:
Das sagt der Arzt und Psychoanalytiker Karl König, emeritierter Professor der Universität Göttingen. Karl König ist 30 Jahre nach Riemann geboren und würde sich wohl selbst als einen dieser Nachfolger bezeichnen. Denn er hat das Riemannsche Modell der vier Charakter-Typen nicht verändert, sondern um zwei erweitert.
OT König:
Riemann fehlten bestimmte Konzepte, die man heute zur Verfügung hat. Und deshalb konnte er seine Beobachtungen nicht entsprechend einordnen. Da ist einmal die narzisstische Struktur und die phobische Struktur, die ja überhaupt erst 1981 publiziert wurde, während das Buch von Riemann, das nachher dann kaum verändert wurde, 1962 herausgekommen ist.
Sprecher:
Kurz gesagt handelt es sich bei einem stark narzisstisch ausgeprägten Charakter um einen Menschen, der andere nur braucht, damit sie ihm ständig bestätigen, wie großartig und einmalig er ist. Es gab in den 90er Jahren einen Werbespot. Knapper und treffender kann man den narzisstischen Charakter nicht beschreiben. Da treffen nämlich gleich zwei aufeinander.
Atmo: Sparkassenwerbung
Sprecher:
Der phobische Charakter hingegen hat schon als Kind verinnerlicht, dass die Eltern ihn nichts selbständig machen ließen aus der Besorgnis heraus: Dem Kind könnte ja was passieren. Erst in Gegenwart einer Person, die auf ihn „aufpasst“, fühlt der Phobiker sich sicher. Gerade zum Verständnis dieses Charakters hat Karl König viel beigetragen. In einem seiner Bücher schildert er den Fall eines Studenten:
Zitator:
Der hatte sein Fahrrad auseinandergenommen und war nicht mehr in der Lage, es zusammen zu schrauben. Obwohl er genau wusste, wie das ging. Erst als ein Bekannter sich neben ihn stellte, ohne ihm zu helfen oder Ratschläge zu geben, war er wieder in der Lage, das Rad zusammenzubauen.
Sprecher:
Der ausgeprägte phobische Charakter spürt Angst vor Plätzen, Spinnen oder der Dunkelheit. Angst, die nicht gerechtfertigt ist, weil auf dem Platz keine Gefahr droht, weit und breit keine Spinne zu sehen ist und in der Dunkelheit nichts lauert.
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OT Riemann:
Es gibt dann Leute, die einen Beruf wählen, wo sie mit der Angst, gegen die sie ankämpfen, dauernd konfrontiert werden. In einem Krankenhaus, wo ich gearbeitet habe, gab es einen Nachtwächter mit Dunkelangst. Der ist immer mit einem Hund herumgegangen, der ihn irgendwie wohl beschützen sollte. Aber er hatte diese Dunkelangst. Er war aber ein guter Nachtwächter.
Sprecher:
Wir alle tragen in uns Wesenszüge dieser vielen Charaktere. Das ist normal, nichts Schlimmes oder krankhaftes. Man könnte natürlich auf diesen Gedanken kommen, bei den Begriffen, mit denen die Psychologen hantieren: Depressive, schizoide, zwanghafte Struktur ... Diese Bezeichnungen sind eben aus klinischen Beobachtungen entstanden, sagt der Psychoanalytiker Karl König. Nähe-, Distanz-, Dauer- oder Wechsel-Typ klingt schon viel neutraler. Gemeint ist das Gleiche.
OT Riemann:
Ich glaube sagen zu können, dass unsere differenzierte, moderne Industriegesellschaft mit ihren verschiedenen Berufen überhaupt nicht funktionieren könnte, wenn es nicht Menschen mit verschiedenen Charakterstrukturen gäbe und damit auch mit verschiedenen Interessen. Zum Beispiel, jemand, dessen Charakter sich eignet für die Tätigkeit eines Buchhalters, eines Mathematikers oder Philosophen, würde wahrscheinlich als Animateur in einem Ferienclub nicht sehr gut funktionieren können.
Atmo Gottschalk: letzte „Wetten dass ...“-Sendung
Atmo Alm
Sprecher:
In einem Dorf bei Bern in der Schweiz lebt der Psychotherapeut, Christoph Thomann. Er ist 50 Jahre nach Fritz Riemann geboren, ging in die Grundschule, als Riemann sein Buch Grundformen der Angst schrieb.
OT Thomann:
Als ich junger Psychologe war habe ich dieses Buch – Riemann – nicht im Studium empfohlen bekommen, sondern hinterher, in meiner Supervision, von Ruth Cohn übrigens. Und die hat mal gesagt: Christoph, weißt du denn nicht, dass alle Menschen nicht gleich sind? Da musst du dir aber den Fritz Riemann lesen. Habe ich gemacht. Und gleich beim ersten Kapitel, die schizoide Persönlichkeit, habe ich erkannt: Du liebe Güte, ich wusste es nicht, aber jetzt weiß ich´s, ich bin schizoid. Beim zweiten Kapitel dann, die depressive Persönlichkeit, wie nicht anders zu erwarten, auch so bin ich. Und so weiter und so weiter. [Ich habe das quasi als Diagnose genommen solche Typen gibt es und natürlich auch gewisse Mischformen. Und ich war absolut fasziniert davon.]
Da ich als junger Psychologe dann viel mit Paaren zu tun hatte, ich gab Kommunikationskurse, hab ich das den Paaren dann vorgestellt und daraus ergab sich automatisch, dass die jeweils als Paar gesagt haben: „Ja genau, so sind wir.“ Und immer waren sie auf der anderen Seite. Der eine sagt, ja du bist Nähe und ich bin Distanz. Oder umgekehrt. Und so habe ich lehrend herausgefunden, dass das meiner Ansicht nach nicht eine Typologie ist, sondern beschreibt, wie Menschen sich im Laufe des Zusammenseins, im Laufe von Konflikten dann polarisieren, extremisieren und dann werden die Typen erst deutlich sichtbar.
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Sprecher:
Stellen sie sich bitte ein Koordinatenkreuz vor. Am oberen Balkenende steht der Dauer-Typ, am unteren Balkenende der Wechsel-Typ. Links steht der Nähe-Typ, rechts der Distanz-Typ. Dieses Koordinatenkreuz hat Christoph Thomann in die Fachwelt eingeführt. Es wird dort das Riemann-Thomann-Kreuz genannt. Man kann es mit einer Landkarte vergleichen, die man für den Augenblick einer Kommunikation ausbreitet. Hier stehe ich, dort stehst du. Morgen, wenn wir mit anderen Menschen zu tun haben müssen wir unsere Positionen neu in diese Landkarte einzeichnen. Nehmen wir folgendes klassisches Beispiel:
Zitator:
WG-Bewohner Eins, wird nicht übermäßig vom Abwaschwahn geplagt. Zu Hause überlässt er das sowieso großzügig seiner Mutter. Jetzt bekommt seine WG ein neues Mitglied, das noch weniger vom Abwaschwahn geplagt wird als WG-Bewohner Eins. Ändert der jetzt dessen Charakter?
OT Thomann:
Das nicht. Aber ich werde reagieren wie ein Dauermensch. Dass ich ihm zum Beispiel vorwerfe, jetzt hast du schon 5 Tage nicht mehr abgewaschen. Ich finde 3 Tage abwaschen reicht. Irgendwann müssen wir jetzt ran. Weil, wenn ich meine Lieblingstasse nicht mehr habe und so weiter usw. Und er hört sich noch selber sprechen und denkt vielleicht: eigenartig. Jetzt spreche ich wie mein Vater oder meine Mutter oder wie dieser WG-Kollege, den ich gar nicht gerne so sprechen höre.
Sprecher:
Christoph Thomanns Spezialität ist die Klärung von Konflikten: unter Ehepartnern, in Teams, in Betrieben. Und jeder Konflikt, egal wo er auftritt, folgt einem Muster, dem man sich – wie auf einer Leiter – nähern kann. Die Riemannsche Charakter-Typisierung ist eine Stufe dieser Leiter.
OT Thomann:
[Irgendwann muss man den Sachinhalt mal verlassen und mal auf eine Beziehungsebene gehen, und dort findet dann sofort der Vorwurf statt: Dass du mich damals am Flughafen hast stehen lassen! Dass du mich beim Bau unseres Hauses nicht unterstützt hast! Dass du mich, als die Kinder klein waren… oder dass Sie mich bei der Betriebsversammlung vor versammelter Mannschaft gefragt haben: Sie wissen doch, wieviel 1 + 1 sind! Da kommen die Vorwürfe. Dann noch eine Stufe tiefer. Da kommen wir dann zur – ich nenne sie – Aggressionsebene. Also zu der Unterschiedlichkeit, wie nun im Konflikt die negativen Gefühle ausgeprägt sind.] Zum Beispiel auf der Distanzseite ist dann jemand böse oder misstrauisch oder arrogant oder explosiv oder verachtend. Oder in der Dauerrichtung ist er dann borniert, selbstgefällig, stur, verhärtet. Auf der Wechselseite dann vielleicht dramatisierend oder beschönigend, überheblich, trotzig, beleidigt, auch unehrlich, die lügen ja. Und jetzt speziell für die Aggressionsebene auf der Näheseite dann gar nicht aggressiv, sondern weinerlich, selbstzerstörerisch, nachtragend, resigniert, mutlos, hinterhältig, eingeschnappt usw. Ja, wo ist da die Aggression? Die Aggression wird eben da exportiert. Die anderen müssen dann auch noch sich zusätzlich schuldig fühlen, respektive werden dann böse.
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Sprecher:
Und auf dieser Ebene eskaliert der Konflikt. Jetzt könnte man ja denken: Na prima, ein reinigendes Gewitter. Doch nichts da!
OT Thomann:
Da findet man nicht zusammen auf der Ebene im Konflikt. Man muss da noch eine Ebene tiefer gehen. Ich nenne sie die Angstebene. Man könnte sie auch die Ebene der inneren Not nennen, wo dann Gefühle völlig anders sind und wo man sich abgewiesen fühlt, ausgeliefert, betrogen, enttäuscht, hilflos, einsam, unverstanden, verletzt, zu kurz gekommen und so weiter.
Sprecher:
Als Riemann sich vor über 50 Jahren daran machte, seine Erfahrungen und Erkenntnisse aus der analytischen Arbeit im Buch Grundformen der Angst zusammenzufassen, fragten die Hirnforscher noch nicht danach, wie Emotionen, Gefühle, Bewusstsein im menschlichen Gehirn entstehen. Insofern konnte Riemann von dieser Seite auch keine Ergänzung erfahren. Heute ist das anders. Psychologie und Hirnforschung vernetzen sich immer stärker.
Einer, der dabei eine führende Rolle spielt, ist Gerald Hüther, Professor an der Uni in Göttingen und Leiter der neurobiologischen Präventionsforschung dort. Er untersucht, wie sich Verschaltungen im Gehirn bilden, die dann von uns als Enttäuschung, Trauer und Wut aber auch als Freude, Zufriedenheit und innere Stärke erlebt werden.
OT Hüther:
Also wenn eine Mutter während der Schwangerschaft in Angstzustände gerät, kommt es über diese körperlichen Reaktionen eben auch zu einer Kontraktion der Bauchdecke. Das Fruchtwasser ist nicht komprimierbar. Damit geht der ganze Druck auf das ungeborene Kind und das reagiert darauf mit einer archaischen Erstarrungsreaktion. Und wenn so etwas häufiger auftritt und auch noch in Kombination mit einem äußeren Stimulus, dass die Mutter herumschreit oder der Vater. Oder es werden Türen geschlagen, dann verbindet sich im kindlichen Gehirn dieses Zusammengedrücktwerden mit diesem Stimulus, mit diesem Geräusch.
Sprecher:
Erfahrungen, die ein Mensch macht, bilden in seinem Gehirn neuronale Muster. Je früher und je häufiger ein Mensch sie macht, umso tiefer prägen sich diese Muster ein. Gerald Hüther benutzt gerne das Wort von den neuronalen Wegen, Landstraßen und Autobahnen. Die bilden sich bereits im Mutterleib.
OT Hüther:
Mit dem Ergebnis, dass dann ein Kind zur Welt kommt, das schreckhaft erstarrt, wenn die Mutter diese Tonlage anschlägt. Oder wenn der Vater mit dieser lauten Stimme herumbrüllt. Oder wenn Türen geschlagen werden. Das heißt, es kommen Kinder zur Welt, die haben eine Prädisposition, auf bestimmte Wahrnehmungen mit Angst zu reagieren.
Sprecher:
Und so geht es auch später, vor allem mit schlechten Erfahrungen. Nehmen wir den Fall, den die meisten von uns aus eigener Anschauung kennen. Ein Lehrer hat uns gesagt, wir seien zu blöd für Mathe oder für Englisch oder seien total unmusikalisch.
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Solche Situationen sind mit Blamage, Enttäuschung und Verletzung verbunden, graben sich tief ins Gehirn ein und gehen auch nur schwer wieder weg …
OT Hüther:
Weil die Erfahrungssituation dafür gesorgt hat, dass im Hirn gleichzeitig ein emotionales Netzwerk aktiviert ist, das wir dann später immer wieder aufrufen können, wenn wir erzählen, wie es uns gegangen ist damals in der Musikstunde. Und gleichzeitig ist es aber auch ein kognitives Netzwerk in der präfrontalen Rinde, was aktiviert wird. Da kann man nämlich auch mithilfe dieses Netzwerkes immer sehr genau berichten, was man da erlebt hat. Wie es genau gewesen ist. Manchmal kennt man sogar den Namen von diesem Lehrer noch. Und diese beiden Netzwerke sind in dieser Erfahrungssituation aneinander gekoppelt. Und deshalb kann man diese Kopplung jetzt nicht auflösen, indem man auf jemanden einredet und ihm sagt: Du brauchst keine Angst zu haben. Das ist sowas von albern. Weil kognitiv weiß der das auch. Aber emotional hält es ihn in der Angst. Und es geht aber auch nicht, indem man ihn jetzt küsst und umarmt und das emotionale Netzwerk aufmacht und er Vertrauen kriegt. Er weiß ja, dass es ihm passiert ist. Es zieht ihn auch wieder zurück. Das einzige, was geht ist, dass man so einem Menschen die Chance gibt, eine neue Erfahrung zu machen, ne bessere.
Sprecher:
Natürlich: einmal ist keinmal. Bis sich die alten Verschaltungen im Gehirn auflösen und neue gebildet haben, braucht es viele, viele bessere neue Erfahrungen. Das Gehirn ist noch nicht so weit. Die neuen Bahnen im Gehirn sind noch lange nicht fertig.
Unser Gehirn muss quasi umlernen. So wie bei einem Rechtshänder, der seinen rechten Arm verloren hat und lernen muss, mit links zu schreiben. Neue Erfahrungen können das Gehirn im wahrsten Sinn des Wortes neu formen. Gerald Hüther nennt das die Gießkanne der Begeisterung.
OT Hüther:
Unter diesen Bedingungen werden im Hirn an den Enden dieser Nervenzellfortsätze, die aus den emotionalen Bereichen kommen, diese wunderbaren neuroplastischen Botenstoffe ausgeschüttet. Und die führen dazu, dass man die Lösung, die man jetzt gefunden hat, um aus der Angst heraus zu kommen, dass diese dabei aktivierten Netzwerke – ja – gedüngt werden. Es kommt dazu, dass die neue Eiweiße machen, die sie brauchen, um neue Fortsätze zu bilden, um neue Kontakte zu machen. Das ist das Wunderbare am Hirn, dass wenn man ne Lösung findet, die auch im Hirn sozusagen verstärkt wird. Dass Netzwerke noch mal auswachsen, die sich dann über andere, ältere, durch ungünstige Erfahrungen entstandene Netzwerke drüber legen können.
Sprecher:
Vor 50 Jahren schrieb Fritz Riemann sein wichtigstes und bis heute wegweisendes Buch: Grundformen der Angst. Eine Charakterkunde, die erklärt, warum wir als Menschen eher dem Wechsel oder der Dauer zuneigen, warum wir eher Nähe suchen oder Distanz halten. Und in manchen Situationen so, in anderen unterschiedlich reagieren.
OT König:
Alle Kombinationen sind im Prinzip möglich. Und man ist eben heute so weit, dass man verstehen kann, warum diese verschiedenen Kombinationen auftreten und wie sie entstehen.
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Sprecher:
... sagt der Psychoanalytiker Karl König, der Riemanns Charakterkunde in einem eigenen Buch erweitert hat.
OT Thomann:
Riemann hilft, die Andersartigkeit von anderen Menschen a) überhaupt zu checken und zu verstehen, b) vor allem zu akzeptieren und c) dann eventuell auch noch dahinter zu sehen, ja was könnte das für einen lebensgeschichtlichen Hintergrund haben, warum sieht für ihn die Welt ganz anders aus als für mich?
Autor:
... sagt der Psychotherapeuth Christoph Thomann, der Riemanns Systematik bei der Klärung von Konflikten einsetzt.
OT Hüther:
Im Grunde genommen ist es erstaunlich, wie Riemann damals schon die wesentlichen Grundzüge erkannt hat. Und das kann heute, nachdem wir in der Lage sind, tatsächlich diese Prozesse auch im Gehirn nachzuvollziehen, eigentlich alles nur bestätigt werden. Der war sehr weit für seine Zeit.
Sprecher:
... sagt der Göttinger Gehirnforscher Gerald Hüther anerkennend. Und außerdem konnte Fritz Riemann seine Gedanken, so einfach und klar niederschreiben, dass man auch als psychologischer Laie die Grundformen der Angst mühelos versteht.
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