Hans-Werner Wahl: Mehr Zeit zu leben Alt, fit und geistig kompetent . Über die Chancen der späten Lebensphase

<< SWR2 Wissen: Aula - ARD-Themenwoche -  - ARD-Themenschwerpunkt: Mehr Zeit zu leben >>
Autor und Sprecher: Professor Hans-Werner Wahl *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch;
Sendung: Sonntag, 20. April 2008, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

ÜBERBLICK
In der Öffentlichkeit geht es meistens um negative Aspekte des Alterns. Stichworte wie "Vergreisung", "Multimorbidität", "Kampf von Jung gegen Alt" machen die Runde, eher selten geht es um die positiven Elemente einer alternden Gesellschaft. Dabei gibt es gerade dazu viele neue Forschungsbefunde, die zeigen: Das Alter birgt in sozialer, psychologischer und neurologischer Sicht viele Kompetenzen, die für eine funktionierende Gesellschaft notwendig sind. Die Weisheitsforschung betont etwa die Fähigkeit alter Menschen, ihr Erfahrungswissen sinnvoll zu strukturieren und an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Professor Hans-Werner Wahl, Leiter der Abteilung Psychologische Alternsforschung der Universität Heidelberg, fasst die neuen Forschungen zu diesem Gebiet zusammen und zeigt, warum Altern viele Chancen beinhaltet.

Autor *
Prof. Hans-Werner Wahl machte 1981 sein Diplom in Psychologie an der Uni in Heidelberg, 1989 folgte die Promotion im Fach Psychologie, 1995 die Habilitation. Von 1997 bis 2005 war er Professor für Soziale und Ökologische Gerontologie am Deutschen Zentrum für Alternsforschung in Heidelberg, seit 2006 ist er Leiter der Abteilung für Psychologische Alternsforschung an der Universität Heidelberg.
Forschungsschwerpunkte: Fragen der angewandten Gerontologie, Alltagskompetenz alter Menschen, Entwicklungspsychologie.


INHALT
___________________________________________________________________
Ansage:

Im Rahmen des ARD-Themenschwerpunkts über die Chancen einer alternden Gesellschaft geht es heute um positive Aspekte des Alterns. Professor Hans-Werner Wahl ist Leiter der Abteilung für psychologische Alternsforschung an der Universität Heidelberg und ihn stört die zumeist negative öffentliche Diskussion über das Thema. Es werden viele Horrorszenarien skizziert und mit grellen Farben ausgemalt, Deutschland hat Angst vor einer vergreisten Gesellschaft, vor maroden Renten- und Krankenkassen, vor lauter egoistischen multimorbiden Menschen.
Dabei wird ausgeblendet, dass das Alter und das Altern auch neue Kompetenzen und Möglichkeiten mit sich bringt, die man endlich berücksichtigen sollte. Das meint Hans-Werner Wahl, und in der SWR2 AULA präsentiert er einen kleinen Baukasten, der Begriffe und Konzepte enthält, mit deren Hilfe man das Alter und Altern neu sehen kann.

Hans-Werner Wahl:

Zunächst geht es um eine Sichtweise der lebenslangen Entwicklung. Das mag Ihnen trivial vorkommen, vielleicht halten Sie es für selbstverständlich, dass wir Altern in einer lebenslangen Perspektive betrachten sollten. Aber es ist immer noch wichtig, das zu betonen, beispielsweise mit dem Argument, dass es keine Lebensphase gibt, die irgendeine höhere Berechtigung als eine andere hat. Es gilt die Gleichberechtigung der Lebensphasen sowohl der Kindheit und Jugend ebenso wie der des Alterns. In diesem Zusammenhang möchte ich einen vielleicht schwierigen Begriff nennen: Es gibt einen Lebensphasenkontextualismus. Was meine ich damit? Das bedeutet, dass wir eine Lebensphase nur verstehen, wenn wir uns die andere vor Augen führen, dass wir Jugend heute nur verstehen, wenn wir gleichzeitig mitdenken, da liegt noch sehr viel Zeit vor diesen Jugendlichen, soviel wie historisch überhaupt noch nie; es geht darum, dass wir Altern nur verstehen, wenn wir auch begreifen, was im mittleren Lebensalter, aber auch in der Kindheit gelaufen ist. Denken Sie in diesem Rahmen an Bildung. Mit der Ressource Bildung gehen wir sehr früh in unser Leben, und es gibt sehr viele gute Argumente, die zeigen, dass gerade Bildung auch das Altern stark differenziert und sehr unterschiedliche Verläufe bedingt; ein gebildeter Mensch wird anders alt als ein ungebildeter. Und schließlich möchte ich auch die Suche nach einer – wie bei jeder anderen Lebensphase – „Normalität des Alterns“ hervorheben. Altern soll und ist aus meiner Sicht keine besondere Phase, sondern eine von mehreren Lebensabschnitten, die ihre Gewinne und ihre Verluste genauso wie ihre Schatten- und Sonnenseiten beinhalten. Es gibt einfach nur eine Normalität des neuen langen Alterns festzustellen.

Zweiter Punkt aus meinem Werkzeugkasten: Wir brauchen einen richtigen Begriff von Entwicklung, wohlwissend, dass man sehr viel darüber diskutieren kann, auch wissenschaftlich. Der tradierte Entwicklungsbegriff war ja sehr stark an Fortschritt, an „alles muss nach oben, von einer Stufe zur nächsten“, orientiert, er musste immer mit positiven, gewinnorientierten Aspekten verbunden sein. Wenn wir jedoch einen Entwicklungsbegriff suchen, der zu der gesamten Lebensspanne wenigstens ansatzweise passen soll, dann brauchen wir offensichtlich eine Bezeichnung, die Gewinne und Verluste ausdrückt, denn wir haben in jeder Lebensphase Gewinne, aber auch Verluste zu konstatieren. Sie haben sich für einen bestimmten Beruf, für einen bestimmten Partner entschieden. Aus all den Hunderttausenden Möglichkeiten, die sich Ihnen bieten, haben Sie einen Weg gewählt, Sie haben gewonnen und auch verloren. Man kann nun das Argument anbringen, dass die formale Schulausbildung auch dazu führt, dass andere Fähigkeiten sehr früh im Leben nicht so gut entwickelt werden. Also wir finden in allen Lebensphasen Gewinne und Verluste, das ist ein Stück der conditio humana, dass wir Entscheidungen treffen müssen oder manchmal auch Entscheidungen für uns getroffen werden. Es ist sicherlich richtig, dass sich die Bilanz im Alter zu ungunsten der Gewinne verändern kann. Dennoch stimmt es auch, dass es genauso umgekehrt Entwicklung und Fortschritte bis zum Lebensende geben kann. Und das ist mein Argument.

Als nächsten Punkt möchte ich die Unterschiedlichkeit menschlicher Entwicklung ansprechen. Wir sagen ja oft, Kinder oder Jugendliche entwickeln sich in verschiedene Richtungen, aber das gilt vor allem – das kann man wissenschaftlich zeigen – für alte Menschen. Es gibt keine Gruppe, die so heterogen ist wie die der alten Menschen, sei es hinsichtlich ihrer geistigen Leistungsfähigkeit, hinsichtlich ihrer sozialen Beziehungen oder ihrer Persönlichkeit, wenn es um das Umgehen mit Lebensproblemen geht. Zum Beispiel ist es gar nicht so einfach – das sage ich jetzt als Nicht-Mediziner -, den Normal-Blutdruck eines 95-Jährigen zu bestimmen.

Dann das Voranschreiten von Entwicklungen auf vielen Ebenen, man nennt das auch die „Multidimensionalität“ des Alterns. Wir dürfen eben Altern nicht nur als geistige Entwicklung sehen, und dann kämen wir vielleicht zu einem eher negativen Bild. Sondern es gibt auch so etwas wie soziale Aspekte, soziale Kreise, soziale Pflege, soziale Kontakte. Es gibt Persönlichkeiten, es gibt die eigene Wohnsituation, die es über Jahre und Jahrzehnte zu entwickeln, zu kultivieren, zu verändern gilt. All diese Bereiche müssen wir in einem ganzheitlichen Duktus, in einer ganzheitlichen Weise sehen, um das Altern gut verstehen zu können. Jede Reduktion des Alterns auf etwa kognitive Dinge ist eine unzulässige Vereinfachung.

„Multidirektionalität“ ist mein nächster Punkt, er bedeutet, dass die Entwicklung unserer Lebensbereiche in verschiedenen Lebensphasen auch unterschiedlichen Rhythmen unterliegen. Wir wissen, und das ist ein wichtiger Aspekt in der Alternsforschung, dass die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, das schnelle Lösen von Problemen, von logischen Anforderungen -etwas rasch zu erkennen und zu reagieren beim Autofahren zum Beispiel- schon mit 25 oder 30 Jahren beginnt, deutlich abzunehmen. Und dieser Prozess setzt sich exponential, also mit relativer Beschleunigung, bis ins höchste Alter fort. In anderen Bereichen, ich nenne die Kultivierung von sozialen Beziehungen, findet kein solcher Abbau statt, vielleicht eher sogar ein Fortschritt. Wir müssen also die unterschiedliche Getaktetheit von menschlicher Entwicklung sehen, und wenn wir sie ernst nehmen, dann merken wir sehr schnell, Altern ist auf keinen Fall eine einseitige Verlustgeschichte, sondern vielmehr beinhaltet das Altern auch Gewinne, manchmal sogar neue Grenzüberschreitungen.


Das Wort Grenze bringt uns zu einem anderen Aspekt: Wir haben trotz der Vielfältigkeit mit Sicherheit auch über Jahrzehnte hin betrachtet so etwas wie Veränderungen unserer motivationalen Motoren, unserer Ziele, dass es uns also ab einem bestimmen nicht mehr so wichtig wird, dass wir unseren sozialen Kreis immer weiter expandieren, sondern dass wir das, was wir haben, pflegen, kultivieren, zu neuen Gestalten des Erlebens bringen. Das ist wohl schon etwas, was die Jahrzehnte umfassende Entwicklungsstruktur des Alterns ausmacht. Wir wollen vielleicht im hohen Alter nicht alle zwei Wochen sonst wo hinreisen, sondern lieber an den bekannten Orten verweilen und uns damit ein Stück weit stützen und Vertrautheit bieten. Auch das gehört zum Altern, genauso wie die geschichtlich-kulturelle Eingebunden- und Eingebettetheit. Altern ist ja immer auch etwas, was durch aktuelle Erfahrungen, Kriegsereignisse, aber auch Bildungsinstitutionen geprägt wird – Kohorteneinflüsse nennt man so etwas auch. Heute erleben wir eine neue Codierung, eine neue Erwartungshaltung an das Altern, auch an das kompetente Altern. Das wird etwas machen mit den jungen Menschen, wenn sie in ihr Alter gehen, denn sie werden andere Erwartungen haben und mit anderen Erwartungen der Gesellschaft konfrontiert werden.

Der nächste Begriff aus unserem Werkzeugkasten heißt Plastizität, ich hatte ihn vorhin schon einmal erwähnt. Noch in den 50er, 60er Jahren wäre jede Alternsforscherin oder jeder Alternsforscher wahrscheinlich ausgelacht worden, der gesagt hätte, Altern ist plastisch und wir können Verschiedenes noch einmal deutlich beeinflussen, wir können die geistige Leistungsfähigkeit auch in grundlegenden Bereichen, die man häufig als biologisch kodiert betrachtet hat, zum Guten hin verändern. Heute wissen wir, es gibt dafür viele Studien, dass dieses möglich ist, zum Beispiel durch kognitives Training. Gehirnjogging, das ist ja vielen von Ihnen bekannt. Ich will später auch noch einmal darauf zurückkommen.

Vor diesem Hintergrund möchte ich die Stärke des Alterns aufzeigen und dabei wieder unseren Werkzeugkasten berücksichtigen. Ich möchte das an sechs Beispielen und sechs Bereichen verdeutlichen. Der erste Bereich: Lebenserfahrung und Lebensweisheit. Ich hatte schon gesagt, mit zunehmenden Alter geht die Geschwindigkeit, auch die Genauigkeit unserer kognitiven Systeme zurück, und damit verbunden auch der Koordination des Geistigen mit dem Motorischen und Sensorischen. Da gibt es ganz eindeutig Verluste, die schon sehr früh beginnen. Aber lassen Sie es mich so formulieren: Was ist eigentlich wichtiger? So schnell wie möglich ein Problem zu lösen oder so gut, so tief und so umfassend wie möglich? Umgehen mit den Widersprüchlichkeiten des Lebens, das Umgehen damit, dass Lebensperioden kontextuell zusammenhängen- genau das können alte Menschen in der Regel sehr gut, sie besitzen Lebenserfahrung und Weisheit. Auch wenn Altern keine Garantie für Lebensweisheit ist, so wissen wir doch, dass genau diese pragmatischen Fähigkeiten im Alter nicht zurückgehen, sondern relativ konstant bleiben. Aus meiner Sicht ist das eindeutig eine Stärke des heutigen Alters. Vielleicht ist es eine Paradoxie, dass wir zwar langsamer, aber gleichzeitig auch besser werden, das Alter bringt auch so etwas mit sich wie eine Beratungskompetenz, zum Beispiel gegenüber jungen Menschen. Das sind eindeutige Ressourcen und Stärken des neuen Alterns.

Zweiter Punkt: soziale Beziehungen und Generativität. Erik Erikson, ein großer Lebenslauftheoretiker, hat diesen Begriff der Generativität ins Spiel gebracht dahingehend, dass wenn wir in die zweite Lebenshälfte oder auch ins Alter eintreten, es uns ein besonderes Bedürfnis ist, der nachfolgenden Generation etwas mitzugeben, sie zu beraten und mit unserem Wissen zu unterstützen. Das wird auch für eine arbeitende Alternsgesellschaft ein ganz zentraler Prozess werden, der heute meiner Ansicht nach noch zu sehr unterschätzt wird. Wir wissen von der amerikanischen Lebenslaufforscherin Laura Carstensen, dass insbesondere dann, wenn unsere Zukunftsperspektiven kürzer werden, das kann übrigens auch durch eine sehr schwerwiegende Erkrankung der Fall sein, wir uns dann besonders im Sozialen auf das konzentrieren, was wir haben. Das bedeutet, dass wir unsere Beziehungen pflegen, den familiären Kreis intensiver nutzen, vielleicht sogar neue Formen des Umgangs finden. Das können alte Menschen, soweit wir wissen und auch dazu gibt es Daten, am besten: eine Kultivierung von menschlicher Nähe und Intimität. Und das hat eben etwas mit der verkürzten Lebensperspektive zu tun. Wieder erkennen wir eine Paradoxie: auf der einen Seite Trauer, dass das Leben kurz geworden ist, aber genau diese relative Kürze führt zu neuen Ressourcen, gerade auch in der Gestaltung des eigenen sozialen Kreises.

Ein nächstes Argument: ehrenamtliches Engagement, Produktivität von alten Menschen, die ja zunehmend so etwas wie Mitverantwortung für die Gestaltung des Gesamtgemeinwesens erleben und dieses auch zum Ausdruck bringen wollen, indem sie auch selber wieder etwas lernen, indem man sich ehrenamtlich engagiert. Auch das ist eine neue Stärke und Ressource des neuen Alterns.

Dritter Punkt: Persönlichkeit, Selbst und Emotionalität. Warum bricht eigentlich unsere Identität und Persönlichkeit im Alter nicht zusammen? Es ist ein weitverbreiteter Missglaube, dass Depressionen im Alter stark zunehmen. Das stimmt nicht, Depressionen bleiben relativ konstant. Überhaupt bleibt unsere Persönlichkeit im Laufe unseres Lebens recht konstant. Auch das ist eine große Ressource.

Wir wissen auch, dass bestimmte Eigenschaften der Persönlichkeit, zum Beispiel die Verträglichkeit, die ja nicht ganz unwichtig ist im Zusammenleben mit anderen Menschen, besser wird. Man könnte sagen, das ist wieder eine Weisheit des Alterns. Personen, die sehr feindselig, sehr unverträglich waren, werden im Alter verträglicher. Das ist nicht nur Alltagswissen, das kann man durch Daten zeigen. Viele alte Menschen können besser mit negativen Emotionen umgehen, sie lassen sich weniger überfluten von belastenden Ereignissen, sondern sie sind in der Lage, damit umzugehen. Das schließt Trauer und tief empfundenes Leid nicht aus, aber ich rede hier über mittlere Tendenzen. Sterben und Tod sind auf keinen Fall auf der Agenda der Alltagsgedanken alter Menschen, sie haben natürlich einen gewissen Stellenwert, das ist auch gut so, aber nicht an der obersten Stelle, selbst bei den Hochaltrigen nicht.

Ein vierter Punkt: Ziele und Zieladjustierungen, also mit Zielen umgehen. Eine große Gerontologin, Margret Maria Baltes, hat einmal gesagt: „Gutes Altern heißt Ziele haben“. Ich habe viel mit ihr gearbeitet und dieser Satz ist mir gut in Erinnerung geblieben. Und ich glaube, das ist auch richtig. Die Motoren, die uns treiben bis ins höchste Alter, bis zum Tode, das muss man glaube ich so klar sagen, sind Ziele auf unterschiedlichsten Ebenen, die wir vor uns haben und die wir erreichen. Natürlich müssen wir auch an diesen Zielen arbeiten, und diese Flexibilität im Umgang mit Zielen ist eine große Herausforderung, aber auch eine große Fähigkeit, die gerade alternde Menschen haben. Ziele neu adjustieren, sie umgewichten, nicht mehr alles, was man vielleicht einmal wollte, erreichen wollen, auch mit den kleinen und etwas weniger anspruchsvollen Alltagszielen zufrieden zu sein, dies alles können alte Menschen auf sehr kreative, ich möchte fast sagen virtuose Art und Weise. Allerdings zeigt uns das auch wieder die Paradoxie des Alterns: Es kommt schon sehr darauf an, dass es uns im Laufe des Lebens gelingt, die richtigen Ziele zu setzen, Ziele, die bis ins höchste Alter tragen und die auch gut veränderbar sind.

Der fünfte Punkt: Umgang mit chronischen Verlusten, die ja insbesondere zum hohen Alter gehören. Ich will hier den Gedanken von eben nochmal aufgreifen. Ich hatte gesagt, Depressivität, unangenehme negativ-orientierte Gedanken und Gefühle auf der einen Seite, Wohlbefinden, positiv formulierte Gedanken und Gefühle auf der anderen Seite, beides bleibt relativ stabil bis ins allerhöchste Alter. Man mag sich fragen, wie das sein kann, denn es gibt relativ viele Verluste und dennoch bleibt das Wohlbefinden stabil. Es ist so, wir wissen das aus vielen Daten. Erst im allerhöchsten Alter sind gewisse Abfälle zu bemerken, aber auch die sind nicht so stark. Wir können also tatsächlich von Stabilität sprechen. Häufig vergleichen gerade alte Menschen sich mit anderen in dem Sinne: Ich kann zwar nicht mehr richtig sehen, aber wenn ich jetzt im Rollstuhl sitzen würde, wie mein Nachbar, das wäre wirklich ganz schlimm. Diese Art von Vergleichen und vieles mehr hilft, unser Wohlbefinden zu stützen und aufrechtzuerhalten, und das funktioniert bei den meisten von uns sehr sehr gut.

Ein sechster und letzter Punkt: die Veränderbarkeit des Alterns, warum auch natürliche Alternsverluste zumindest teilweise wieder rückführbar sind. Es gibt eine sehr robuste Evidenz durch Studien, dass gerade Gehirnjogging, gut gemachtes kontinuierliches kognitives Training, wenigstens ein bis zwei Mal pro Woche für 60 bis 75 Minuten intensiv betrieben, zu deutlichen Gewinnen führt, auch in den Bereichen, die traditionell als nicht mehr veränderbar galten. Lassen Sie es mich in der folgenden Weise sagen : kognitiv Verluste, die wir natürlich zwischen 60 und 80 Jahren erleben, kann man durch ein gutes Training mit einem 80-Jährigen wieder ganz gut wettmachen. Aber nicht nur geistige Trainierbarkeit zeigt uns Plastizität, sondern auch körperliche Bewegung. Wir wissen ja, wie wichtig für uns alle auch in jüngeren Jahren körperliche Aktivität ist. Und ich sage das deshalb, da es nicht nur zu deutlichen Verbesserungen der körperlichen Leistungsfähigkeit führt, sondern auch wiederum zu kognitiven Gewinnen. Die sind übrigens fast genauso stark wie die Gewinne, die wir durch kognitives Training erzielen. Und ein dritter Punkt in diesem Zusammenhang: Psychotherapie im Alter geht ja vielen von uns noch quer, aber wir wissen mittlerweile, das ist eine Versorgungsform, die auch im hohen Alter gut funktioniert. Es gibt viele Argumente, die gegen eine Psychotherapie sprechen können, vielleicht die Schwere, die Dauer oder genetische Anteile einer psychischen Erkrankung, ein Argument gilt jedoch nicht: nämlich das Alter. Das Alter spielt keine Rolle für den Erfolg einer Psychotherapie; auch Hochaltrige können von ihr profitieren.

Ich möchte nun zum Schluss ganz kurz einen weiteren Punkt anreißen: auf dem Teppich bleiben. Ich hatte ja zu Anfang gesagt, ich werde Ihnen auf der einen Seite ein recht beeindruckendes Tableau an Stärken des Alterns vorführen. Aber ich will auf keinen Fall den Eindruck hinterlassen, Altern sei nur positiv. Es geht vielmehr um das halb volle und das halb leere Glas, um die Paradoxien, aber auch darum, die Stärken deutlich zu markieren, sie rot anzustreichen in einem Bild, das sonst häufig eher düster gemalt wird und eher von Ängsten und negativen Szenarien geprägt ist.

Natürlich müssen wir differenzieren zwischen einem dritten, sehr aktiven und einem vierten, eher von Pflege- und Hilfsbedürftigkeit geprägten Alter. Solche Unterscheidungen sind notwendig, insbesondere da es immer mehr hochaltrige Menschen gibt, da sind die Grenzen des Lebens sicherlich näher gerückt. Aber auch hier müssen wir vorsichtig sein und die hohe Vielfalt des Alterns berücksichtigen, die ich vorher schon angesprochen hatte. Die hört auch im vierten Alter nicht auf, auch im vierten Alter finden wir das gesamte Spektrum von Alternsstrukturen einschließlich hochkompetenter Formen des Alterns. Deshalb müssen wir sehr vorsichtig sein mit einfachen Gruppierungen wie der Einteilung in ein drittes und viertes Alter, auch wenn sie sicherlich ein Stück weit hilfreich sind.

Ich komme zum Schluss: Blick zurück nach vorn. Warum zurück nach vorn? Zurück auch deswegen, weil ich nicht sagen will, wir sollten „drauf los spinnen“ bezüglich der neuen Möglichkeiten des Alterns, sondern zurückschauen, über welche Daten und Befunde verfügen wir. Das, was ich gesagt habe, ist kein bloßes „Wunschdenken“, sondern wird gestützt durch Daten und Befunde nicht zuletzt der psychologischen Alternsforschung. Ich glaube, dass unsere Gesellschaft noch zu sehr negative Szenarien zeichnet. Meistens wird nur darüber gesprochen, wie viel Geld alte Menschen kosten, die Potentiale für die Gesellschaft werden leider oft vergessen. Ich glaube, hier brauchen wir positiv ausgerichtete Blicke nach vorne. Wir müssen uns heute um die Zukunft des Alterns kümmern, wir haben eine „silent revolution“, eine stille Revolution, die aber eine sehr starke und wie ich glaube sehr fundamentale Auswirkung auf unsere Gesellschaft hat. Lassen Sie mich nur noch zwei drei kleine Beispiele nennen: Die Rolle von Technologien wird beim zukünftigen Altern eine ganz andere sein. Denken Sie an Sensoren, die Ihnen helfen, Ihren Alltag zu meistern, die vielleicht automatisch die Rollläden auf- und zuziehen, möglicherweise wird es Roboter geben, die uns dabei unterstützen, unsere körperlichen Einschränkungen im hohen Alter zu kompensieren.

Lachen Sie jetzt bitte nicht! Ich denke, hier ist etwas sehr Ernsthaftes im Gange, hier wird etwas passieren, wir müssen uns damit auseinandersetzen. Und meine Prognose ist, es wird ganz neue Formen von Autonomie und Selbständigkeit von alten Menschen geben. Gleichzeitig sehen wir, es gibt so etwas wie eine Kundenorientierung nicht nur an den älteren durchschnittlichen Menschen, sondern auch an denjenigen mit Pflegebedürftigkeit, die immer selbstbewusster die unterschiedlichen Angebote, die für ihre spezifische Hilfsbedürftigkeit besonders geeignet sind, sich zusammenstellen. Hier liegt aus meiner Sicht eine sehr positive und gute Entwicklung, dass die Orientierung am Kundenbedarf auch für die Situation der Pflegebedürftigkeit als normal gilt. Da geht es um geprüfte Qualität des Wohnens, der Pflege, der Versorgungsangebote, das wollen die alten Menschen von morgen sehen, und das ist auch gut so.

Wir brauchen ein neues Altersbewusstsein, ein Bewusstsein für das Altern und das lange Leben, für die Stärken und die Schwächen jeder Lebensphase, auch für die Stärken des Alters und des hohen Alters. Wir brauchen kein Anti-Aging, dieser Begriff bedeutet für mich mehr das sich Entgegen -Stemmen gegen einen natürlichen Prozess, den wir wohl auch in der fernen Zukunft nicht verändern können.

Lassen Sie mich schließen mit einem Zitat von zwei Alternsforschern, die ich sehr schätze. Paul Baltes und Jürgen Mittelstraß haben schon 1992 geschrieben: „Als Gesellschaft stehen wir erst am Anfang eines Lernprozesses über das Alter. In diesem Sinne ist das Alter noch jung, sein Potential noch weitgehend unausgeschöpft und eine differenzierte Kultur des Alterns gilt es erst noch zu entwickeln. Da liegt noch einiges vor uns, vor allen Lebensaltern.“

*****