SWR2 WISSEN: AULA . Franz Josef Wetz: Sterben und Tod in der modernen Gesellschaft . Ende ohne Gott!?


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SWR2 WISSEN: AULA: Franz Josef Wetz " Sterben und Tod in der modernen Gesellschaft . Ende ohne Gott!?"
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ÜBERSICHT
Zu allen Zeiten und in allen Kulturen findet sich der Wunsch, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Und die meisten Religionen reagieren auf diese Furcht mit dem Konzept eines ewigen Lebens im Jenseits. Doch wie geht der moderne Mensch, für den religiöse Metaphysik lediglich ein Gedankenspiel ist, mit Sterben und Tod um? Antworten gibt Professor Franz Josef Wetz, Philosoph und Ethiker an der PH Schwäbisch Gmünd.
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Tot ohne Gott. Eine neue Kultur des Abschieds .Von Franz Josef Wetz
Verlag: Alibri 2018 ISBN: 978-3-86569-249-8
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INHALT
SWR2 Wissen: Aula
Sterben und Tod in der modernen Gesellschaft . Ein Ende ohne Gott .
Von Franz Josef Wetz
Sendung: Sonntag, 1. November 2020, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2020
Zu allen Zeiten und in allen Kulturen findet sich der Wunsch, dem Tod ein
Schnippchen zu schlagen. Und wie geht der moderne Mensch mit Sterben und Tod
um?
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
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MANUSKRIPT
Anmoderation:
Mit dem Thema: „Ein Ende ohne Gott – Sterben und Tod in der modernen
Gesellschaft“.
Zu allen Zeiten und in allen Kulturen findet sich der Wunsch, dem Tod ein
Schnippchen zu schlagen. Und die meisten Religionen reagieren auf diese Furcht mit
dem Konzept eines ewigen Lebens im Jenseits. So verlieren Tod und Sterben ihren
Schrecken. Doch wie geht der moderne Mensch, für den religiöse Metaphysik
lediglich ein Gedankenspiel ist, damit um? Antworten gibt Professor Franz Josef
Wetz, Philosoph und Ethiker an der PH Schwäbisch Gmünd.
Franz Josef Wetz:
Jedes Jahr feiern wir unseren Geburtstag. Warum eigentlich? Immerhin rücken wir
mit jedem neuen Lebensjahr doch dem Tod ein Stück näher. Nun mag es Menschen
geben, die das wirklich gut finden, weil für sie das Leben nicht schön, einfach zu
anstrengend ist. „Ach, wie wäre alles gut, hätte Gott am sechsten Tag geruht. Er wär´
nur kommen bis zum Affen. Die Menschen blieben unerschaffen“, dichtet Eugen
Roth. Aber so denken die meisten von uns nicht. Wir hängen am Leben, und darum
scheint es widersinnig zu sein, das Älterwerden zu feiern.
Tatsächlich feiern wir ja gar nicht unseren Geburtstag, weil wir dem Tod ein Stück
näher rücken. Trotzdem hat eine Geburtstagsfeier etwas mit dem Tod zu tun: Ehrlich
gemeint und nicht bloß konventionell vollzogen, wird ein Geburtstag aus Freude
darüber gefeiert, dass es einen Menschen gibt – und das heißt: noch gibt. Wäre es
selbstverständlich zu existieren, würde ein Geburtstag vermutlich nicht festlich
begangen werden. So aber feiern wir diesen Tag, weil die Geburtstagsperson, die
auch nicht und schon nicht mehr sein könnte, dennoch und noch immer existiert.
Eine Geburtstagsfeier bringt also idealerweise unsere Freude zum Ausdruck, dass
der gefeierte Mensch überhaupt und noch immer unter uns weilt, obgleich er nicht
und bereits nicht mehr leben könnte. So verstanden zelebriert eine Geburtstagsfeier
das Leben vor dem Hintergrund des Todes. Wer dem Leben nur tief genug ins Auge
blickt, der stößt zwangsläufig auf den Tod, mit dem wir alle irgendwie fertig werden
müssen.
Zwei Phänomene sind für den gegenwärtigen Umgang mit dem Tod charakteristisch:
Erstens behaupten auffällig viele Menschen, dass sie nur Furcht vorm Sterben, aber
keine Angst vorm Tod haben. Sie sagen, dass ihnen der Tod nichts ausmache, dass
sie sich aber vor der letzten Lebensphase ängstigten: der Apparatemedizin, dem
Siechtum, der Agonie, dem letzten Moment des Lebens. Zweitens scheint in der
Gegenwart der Tod nicht mehr so stark wie in früheren Zeiten verdrängt zu werden.
Für die wachsende gesellschaftliche Präsenz des Todes sprechen die vielfältigen
Diskussionen über humanes Sterben, Gesundheitsvorsorge, Sterbehilfe,
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Palliativmedizin, Hospiz, Vorsorgevollmachten, Patienten- wie
Betreuungsverfügungen und Ähnliches mehr.
Aber so auffällig die beiden gesellschaftlichen Phänomene sind. Es gibt doch genug
Indizien, die sie wieder relativieren. So mag in der heutigen Gesellschaft auch öfter
über den Sensenmann diskutiert werden, dem Lebensende im persönlichen
Nahbereich wird allen Vorsorgemaßnahmen zum Trotz weiterhin nur wenig
Aufmerksamkeit geschenkt. Jeder weiß, dass er eines Tages sterben wird. Dennoch
verhalten sich die meisten Menschen so, als ob ihr Leben immer weitergehen würde.
Der Tod ist ein Missgeschick, das erst einmal die anderen betrifft. Es ist die
Ungewissheit der Todesstunde, die uns in der Illusion irdischer Unsterblichkeit wiegt.
Denn irgendwann zu sterben heißt: niemals zu sterben. Selbst rüstige Greise wollen
nicht in das Alter kommen, wo sie reif zum Sterben wären. Sie vertrauen auf die
Nachgiebigkeit der Zeit zu ihren Gunsten. Obwohl es hinlänglich bekannt ist, dass
man eines Tages an die Reihe kommt, sind die meisten überrascht, wenn es so weit
ist. Dabei kann einem doch jederzeit etwas zustoßen. Solange man lebt, ist man
gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen. Das wissen alle und
übersehen die meisten. So hofft auch die rüstige Greisin auf Aufschub – eine
Galgenfrist: Jetzt noch nicht.
Und was die Todesangst betrifft: Natürlich gibt es sie nicht weniger als die
Sterbensangst. Stellen Sie sich doch nur einmal vor, Sie wären in drei Wochen
bereits bestattet, was ja durchaus möglich ist. Freilich würde viele von Ihnen eine
starke Todesangst befallen. Oder wenn bei fortgeschrittenem Lebensalter die
Vorsorgeuntersuchungen ohne Befund bleiben, lässt bereits die Freude hierüber
erahnen, wie sehr wir Menschen doch den Tod verachten. Am stärksten jedoch lässt
die tollkühne Hoffnung von Milliarden Menschen auf persönliche Unsterblichkeit und
Auferstehung die unausrottbare Todesangst hervortreten.
Wie groß muss die Todesangst sein, dass Menschen eine solche Glaubenskraft
bezüglich des ewigen Lebens entwickeln können, dem von so vielen Tatsachen aufs
Heftigste widersprochen wird. Die fromme Zuversicht auf ein ewiges Leben ist die
vornehmste Form der Todesangst, gleichsam deren Tarnkappe. Aber auch religiöse
Menschen, für die der Tod ein Sprungbrett in eine bessere Welt bedeutet, verspüren
im Ernstfall die Todesangst genauso unerbittlich hart wie alle anderen auch. Wer am
Leben hängt, den kann selbst die rosige Aussicht auf einen schönen Himmel nicht
ohne weiteres über den Tod hinwegtrösten. Dabei muss man das Leben nicht einmal
übermäßig lieben, um vor dem Tod ein starkes Grauen zu empfinden. Erst recht aber
scheint die Todesangst dort berechtigt zu sein, wo der religiöse Kahlschlag der
säkularen Moderne den Betriebsablauf der Natur nach oben gänzlich abgeschottet
hat.
Wer am Leben hängt, wird sich wohl nie mit dem Tod so richtig anfreunden können.
Niemand hakt sein Leben einfach ab. Denn der Tod ist ungeheuerlich, unsere
Rückkehr ins Nichts die größte Zumutung ans Leben.
Quellen der Todesangst
Nachdenkliche Gemüter ängstigen sich vor dem Tod als etwas Geheimnisvollem,
Dunklem, Unbekanntem, weil es ihnen schlicht unmöglich ist, sich das eigene
Nichtsein vorzustellen. Davon abgesehen verbinden viele mit dem Tod den traurigen
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Verlust liebgewonnener Lebensgüter. Es erfasst sie ein Grauen bei der Vorstellung,
von den eigenen Leidenschaften und Interessen, der Familie, den Freunden, dem
Eigenheim mit Garten, der Natur und Ähnlichem mehr Abschied nehmen zu müssen.
Todesangst ist auch und vor allem Trennungsschmerz.
Dennoch ist Todesangst durchaus sinnvoll. Biologisch betrachtet leistet sie einen
wesentlichen Beitrag zum menschlichen Überleben, setzt sie doch die Vorsicht vor
das Wagnis und dient so der Gefahrenabwehr. Von Natur aus hängt der Mensch am
Leben und richtet geradezu automatisch seine Kräfte auf die eigene Erhaltung.
Evolutionsbiologisch formuliert sind wir aufs Leben-wollen programmiert. Darum
halten wir im Alltag unser Dasein auch mit großer Selbstverständlichkeit für die
Mühen wert, die es uns und anderen bereitet. Das biologisch erklärbare
Selbsterhaltungsstreben lässt den Einzelnen sich sogar verzweifelt an sein Dasein
klammern, solange sein Leid nicht ein bestimmtes Maß überschreitet. Unser
Lebenswille sträubt sich gegen die Zerstörung des ihm zugrundeliegenden
Organismus´.
Eine augenfällige Bestätigung des elementaren Erhaltungsdrangs gibt die
Beobachtung, wie sich fast alle Lebewesen gegen den Tod wehren. Mit aller Macht
stemmt sich ihr Organismus gegen die Gefahr seines Untergangs. In
lebensbedrohlichen Situationen gerät der Körper regelmäßig in Panik. Er beginnt zu
schwitzen, zu zittern, der Blutdruck steigt. Beklemmungen treten auf. Es entsteht
Angst. Der Körper kämpft ums nackte Überleben. Die Todesangst gehört zu den
Gefühlen eines Lebewesens, das sich nicht aufgeben möchte. Solange noch Leben
im Körper glimmt, empfindet der Einzelne seine Fortdauer geradezu als
selbstverständlich und den Tod als eine Gewalttat, einen Skandal, etwas
Außergewöhnliches, so natürlich die eigene Begrenztheit auch ist.
Denn mag der Tod objektiv gesehen auch nicht mehr als nichts sein, subjektiv für
jeden Einzelnen ist er nicht weniger als alles: Er bedeutet größtmöglichen Verlust,
eine Beraubung des Lebens und aller damit verbundenen Lebensgüter. So liefert
also das natürliche Selbsterhaltungsstreben die letzte Erklärung für die Todesangst.
Sie ist gewissermaßen die Kehrseite der Todesangst. Darum können wir nicht der
Frage entrinnen, ob und wie uns angesichts der unausrottbaren Todesangst die
Zustimmung zum eigenen Ende abgerungen werden kann. Gibt es etwas, das uns
über die eigene Endlichkeit hinwegzutrösten vermag?
Trost
Der Tod ist eine Herausforderung für das Leben. Hierbei muss unterschieden werden
zwischen dem eigenen Tod, dem unserer Nächsten, dem Tod fremder Menschen
sowie der Vergänglichkeit des Menschen allgemein. Je mehr es um den persönlichen
Tod und den unserer Angehörigen und Freunde geht, umso trostbedürftiger sind wir.
Erfreulicherweise ist der Mensch darauf spezialisiert, sich selbst dort noch helfen zu
können, wo ihm nicht mehr geholfen werden kann. Ratlosigkeit war nie seine Stärke,
andernfalls hätte er nicht bis heute überlebt. Zu der Fähigkeit, Probleme zu meistern,
gesellt sich das Talent, sich in hoffnungslosen Lebenslagen trösten lassen zu
können. Nun sind aber Tröstungen, die sich auf schwere Schicksalsschläge
beziehen, etwas zutiefst Zweideutiges. Denn sie helfen mit etwas fertig zu werden,
mit dem man eigentlich nicht fertig wird.
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Jeder Trost angesichts unumstößlicher Lebenshärten, ob religiös oder nicht, bietet
keine echte Problemlösung, sondern ist nur ein Ersatz dafür. Gelungener Trost ist
bestenfalls eine als Problemlösung getarnte Problembeschwichtigung. Im Angesicht
des Todes sind wir gerade deshalb des Trostes bedürftig, weil uns nicht mehr
geholfen werden kann. Könnte uns wirklich geholfen werden, wären wir nicht mehr
des Trostes bedürftig. Aber eine Lösung der mit dem Tod verbundenen Probleme
gibt es für Trostsuchende nicht. Sie haben es mit Unabänderlichem zu tun, das ihnen
die eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit vor Augen führt: der eigenen Sterblichkeit oder
dem Tod eines Nächsten. Gespendeter Trost vermag diese traurige Situation nicht
zu ändern, aber die Betroffenen hiervon ein wenig zu entlasten. Besänftigende
Sprüche, offene Ohren für tränenreiche Klagen, jede Art emotionaler Beistand im
beschwerlichen Alltag schaffen die bitteren Widerfahrnisse zwar nicht aus der Welt,
sie können aber die Last abmildern und ein Stück auf Abstand bringen.
Letzte-Hilfe-Koffer
In der Antike gab es fast ein Jahrtausend lang eine lebendige Trostliteratur
philosophischer Art, die nach der Etablierung des Christentums von geistlichen
Erbauungsschriften verdrängt wurde.
Die traditionelle Trostliteratur fordert zur fortwährenden Arbeit an sich selbst auf. Wie
man die Heil- und Handwerkskunst erst durch wiederholte Ausübung erwerbe, so
gelte es mithilfe eines Ensembles von Übungen seinem Dasein einen Stil
einzuprägen, der es befähige, sich mithilfe der angeeigneten Weisheiten und
einzelner Techniken dem unausweichlichen Ende gewachsen zu zeigen. Aber wie
kann das Projekt einer lebenslangen Einübung ins Sterben überhaupt gelingen?
Sterben bedeutet doch das letzte Mal etwas zum ersten und einzigen Male zu tun.
Darum kann man das Sterben gar nicht trainieren. Trotzdem gibt es eine Menge von
Anleitungen und Trostschriften für Sterbliche und Hinterbliebene mit zahlreichen
Ratschlägen, Tröstungen und Übungen.
Unter den antiken Philosophen war der intellektuelle Optimismus weit verbreitet, dass
sich durch wiederholte Vergegenwärtigung der eigenen Endlichkeit sich die
Todesangst bannen ließe. Memento mori! Bedenke deine Sterblichkeit! Näher
betrachtet verfolgte diese Aufforderung allerdings drei Ziele:
Erstens sollte im religiösen Zusammenhang die Erinnerung an die Begrenztheit der
Lebenszeit die Gläubigen zur Umkehr bewegen: Nicht im irdisch Vergänglichen liege
das Heil des Menschen, sondern im Jenseits, dem man sich stärker zuwenden solle.
Zweitens sollte mit dem Hinweis auf die Kürze des Lebens der Einzelne zu einer
bewussteren Lebensweise bewegt werden: Da die Lebenszeit begrenzt ist, sollte
man sie nicht sinnlos verplempern, sondern vielmehr im Hier und Jetzt leben –
gemäß der Devise: „Carpe diem!“ – pflücke den Tag. Oder wie es in der heutigen
Jugendkultur heißt: „Yolo!“ You only live once! Du lebst nur einmal.
Seit wenigen Jahren erregt eine amerikanische App mit dem Titel „We croak“ einiges
Aufsehen, was soviel heißt wie „Wir werden alle dahingerafft“. Diese App erinnert
den Nutzer fünf Mal täglich an die eigene Sterblichkeit, damit der Angesprochene
nicht auf den ausgetretenen Wegen seiner Gewohnheiten vergisst, bewusst und
intensiv zu leben, nicht alles so verbissen zu nehmen, mehr darüber nachzudenken,
was ihm wirklich wertvoll und wichtig ist. Dem Bewusstsein der eigenen
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Vergänglichkeit soll ein existenzieller Mehrwert entlockt werden. Drittens schließlich
soll die Mahnung, das eigene Ende regelmäßig zu bedenken, aber auch dazu
dienen, sich an den bevorstehenden Tod bereits zu Lebzeiten zu gewöhnen, um auf
diese Weise besser mit ihm fertig werden zu können.
Einen zusätzlichen, wichtigen Beitrag zur Erreichung dieses Ziel kann nach
philosophischem Trostverständnis eine Reihe geistreicher Reflexionen leisten,
welche die existenzielle Harmlosigkeit des Todes nachzuweisen suchen. Die meisten
dieser klugen Tröstungen gehen davon aus, dass alle düsteren Affekte im
Zusammenhang mit Sterben und Tod auf bloßen Fehlurteilen beruhen, deren
Korrektur eine Überwindung dieser Gefühle bewirken könne. Alles komme auf die
rechte Einsicht an. Dahinter steckt die aufklärerische Zuversicht, dass sich mithilfe
rationaler Argumente vernunftwidrige Gefühlszustände mildern, ja sogar aufheben
ließen. Hierfür zwei Beispiele.
Symmetrie und Empfindung
Seit jeher erfreut sich das sogenannte Symmetrieargument größter Beliebtheit. Alle
Gewährspersonen des Symmetriearguments von Seneca bis Schopenhauer stellen
die Zeit vor unserer Geburt mit der Ewigkeit nach unserem Tod gleich. Da uns das
Nichtsein vor unserer Geburt nicht belastet, soll uns der Zustand nach dem Tod auch
nicht weiter quälen, ist dieser doch nur sein Spiegelbild. Die unendlichen Zeiträume
davor und danach verhalten sich also symmetrisch zueinander.
Noch populärer als dieses verblüffende Argument ist eine brillante Einsicht Epikurs,
die gleichfalls viele Anhänger bis Ludwig Wittgenstein fand. Epikur weist darauf hin,
dass alles Gute und Schlimme für uns Menschen auf Empfindungen beruhe, der Tod
aber das Ende aller Empfindungen sei, weshalb es mit ihm auch nichts auf sich
habe. Denn solange wir noch existierten, sei der Tod ja nicht da; stelle sich aber der
Tod ein, so seien wir schon nicht mehr da. Mit Büchners Woyzeck gesprochen: Man
kann nicht mehr frieren, wenn man erst einmal kalt geworden ist.
Genauer betrachtet bieten das Symmetrie- und Empfindungsargument aber keinen
Trost, sondern tilgen das Todesproblem einfach, wie es auf ganze andere Weise die
großen Religionen mit ihren Unsterblichkeitsversprechen tun. Alles läuft auf die
Erkenntnis hinaus: Der Tod ist nichts. Deshalb bedarf es weder Tröstungen noch
Vertröstungen, um damit fertig zu werden, sondern – sofern religiöse Zuversicht
keine existenzielle Anschlusskraft mehr hervorruft - lediglich rationaler Argumente,
die den Tod als Scheinproblem entlarven. Hierdurch versucht man ihm jeglichen
Aufregungswert zu nehmen. Aber so groß der Beifall für solche Argumente ist, ganz
so einfach liegen die Dinge leider nicht.
Bei erstem Zuhören klingt das Symmetrieargument überzeugend. Doch sind Anfang
und Ende, Geburt und Tod weder austauschbar noch symmetrisch.
Verständlicherweise schaudern wir nicht vor dem Nichts, aus dem wir hervorgingen,
aber vor dem Nichts, in das wir für immer verschwinden werden. Das Nichtsein vor
der Geburt ist schon deshalb kein Problem, weil man ja jetzt lebt. Aus demselben
Grund, nämlich jetzt zu leben, ist aber die Vorstellung, dass das Leben eines Tages
zu Ende gehen wird, ein Problem. In erster Linie ist es das Selbsterhaltungsstreben,
verbunden mit unseren Wünschen und Interessen, das uns am Leben hängen lässt.
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Wir möchten überleben, weiterleben, noch das Morgen erleben, selbst wenn uns das
Nichtsein nach unserem Tod gleichgültig sein sollte.
Der biologische Mechanismus der Selbsterhaltung, der Verlust aller Lebensgüter
sowie die Angst vor dem letzten Moment geben dem postletalen Nichtsein ein
existenzielles Gewicht, das dem pränatalen Nichtsein fehlt.
Aus demselben Grund vermag auch Epikurs stupende Einsicht, dass man den Tod
nicht zu fürchten brauche, weil man ja nichts mehr empfinde, wenn der Tod
gekommen sei, nicht das Schaudern vor dem Tod gänzlich zu besiegen. Das
menschliche Selbsterhaltungsstreben ist für gewöhnlich so stark, dass sich die
Todesangst nicht ohne weiteres durch rationale Argumente beseitigen lässt. Der Tod
bleibt ein existenzielles Übel, weil er einem das Leben nimmt, das man bei
durchschnittlicher Vitalität gerne fortgeführt hätte.
Alle Versuche, das existenzielle Problem des Todes mithilfe rationaler Argumente
aus dem Wege zu räumen, können den Schmerz der Endlichkeit nicht gänzlich
aufheben, mit dem zu leben wir gezwungen sind. Diese Argumente können uns aber
zusammen mit allen sonstigen philosophischen Zusprüchen über unser eigenes
Dahinscheiden und das unserer Nächsten ein wenig hinwegtrösten, vorausgesetzt,
wir verfügen über eine diesen Tröstungen angemessene Grundhaltung dem Leben
gegenüber.
Kosmische Bescheidenheit
Unser Dasein ist von allen Seiten her begrenzt. Wer die Erde von einer fernen
Galaxie aus betrachtet, der wird automatisch des geringen Platzes gewahr, den er im
Weltraum einnimmt, und der kurzen Zeit, die er darin verweilt. In räumlicher Hinsicht
marginal und in zeitlicher Beziehung ephemer – so offenbart der Kosmos unsere
Nichtigkeit. Hierbei wird unmissverständlich deutlich, dass es auf niemanden darin
ankommt. Aus kosmischer Perspektive erscheint alles Menschliche als winzig, was
den Einzelnen davor schützen kann, sich über seine wahre Größe zu täuschen.
Solch desillusionierende Sicht auf den Menschen kann – religiös formuliert – demütig
machen. Diese Demut, kosmische Bescheidenheit, ist bereits die gesuchte
Grundhaltung, weil sie zu einer Zurücknahme überzogener Lebenserwartungen führt.
So kann schon unsere kosmische Eingliederung einen wichtigen Beitrag zur
Absenkung unserer Todesangst leisten. Denn die Erkenntnis, ein flüchtiges
Pünktchen im unermesslichen Weltall zu sein, lehrt den Himmels- und
Selbstbetrachter, sich nicht mehr so wichtig zu nehmen und von sich selbst
abzusehen. Wer solch adäquates Selbstverständnis besitzt und die eigene
Geringfügigkeit verinnerlicht, dem wird es vermutlich leichter fallen, sich ins
Unausweichliche zu fügen, weil er über die hierfür notwendige Bescheidenheit
verfügt. Jetzt kann jene Gemütsruhe entstehen, die den Einzelnen zumindest
teilweise befähigt, sein Leben loszulassen und sein Ende mit stiller Wehmut gelassen
zu ertragen.
Erst nachdem solch demütige Erfahrung der kosmischen Nichtigkeit des eigenen
Lebens ins Selbstbild übergegangen ist, können die rationalen Argumente zur
Überwindung der Todesangst ihre tröstliche Kraft entfalten. Jetzt bekommen die
maßvollen Tröstungen der Philosophie existenzielle Wirkkraft. Tröstungen wie das
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Symmetrieargument und die epikureische Erkenntnis, dass Tod soviel wie
Empfindungslosigkeit bedeutet, können deshalb wirksam werden, weil sie bloße
Auslegungen des existenziell angeeigneten Grundsatzes sind: Der Mensch ist winzig
und flüchtig im unermesslichen Universum. Ist dieser Grundsatz kosmischer
Bescheidenheit durch kontinuierliche Arbeit an sich selbst verinnerlicht, bildet er den
Rahmen, innerhalb dessen alle Todesweisheiten ihre Wirksamkeit entwickeln
können.
Eine schwierige Balance
Nun können wechselseitiger Beistand, maßvolle Tröstungen und die ihnen
angemessene Grundhaltung zwar die Not lindern, in die uns der Tod stürzt, doch
gänzlich beseitigen lässt sich mit diesem Rüstzeug die Todesangst auch nicht. Denn
durch das tief eingeprägte Bewusstsein eigener Geringfügigkeit wird ja nicht unser
Lebenswille ausgeschaltet, der auch gar nicht aufgehoben werden darf, wenn wir
unseren Alltag und unser Dasein weiter erfolgreich meistern möchten. Solange aber
das Selbsterhaltungsstreben intakt bleibt, ist die Todesangst nicht vollständig
gebannt.
Darum ist auch fraglich, ob eine lebenslange Beschäftigung mit dem Tod, wie oben
empfohlen, das Sterben wirklich leichter macht. Die bloße Gewöhnung an die
persönliche Sterblichkeit kann dieser traurigen Wahrheit nicht ohne weiteres den
Stachel ziehen. Das allem Leben zugrundeliegende Selbsterhaltungsstreben vereitelt
nämlich oftmals, dass sich die Menschen an ihre Endlichkeit gewöhnen können.
Mancher zeigt angesichts des bodenlosen Abgrunds eine Stärke, derer er sich selbst
nicht für fähig gehalten hätte, während andere, die ständig über ihre Endlichkeit
grübeln, zuletzt doch in Angst und Panik verfallen. Auch Religiosität kann hier keine
Garantien geben. So haben selbst Gläubige nicht selten wahnsinnige Angst vor dem
Ende, wohingegen geduldige Atheisten dem Tod still ergeben unter die Augen treten
können. Alles in allem fällt es uns Menschen schwer, sich an die eigene Sterblichkeit
zu gewöhnen. Aus diesem Grund gilt es die richtige Balance zwischen komischer
Bescheidenheit und starkem Lebenswillen, verständiger Selbstentsagung und
entschlossener Selbstbehauptung zu finden. Leider gibt es keine praktikable Regel,
mit der sich die erstrebte Ausgewogenheit, das gesuchte Gleichgewicht zwischen
Lebensbejahung und Lebenspreisgabe herstellen lässt.
Bei alldem sollten wir aber niemals verkennen, wie leidensanfällig und trostbedürftig
wir Menschen in Anbetracht unserer Sterblichkeit sind. Es ist überaus menschlich,
den Tod für grausam zu halten, wenn man das Leben aus ganzem Herzen liebt und
bejaht.
Der Tod ist groß, wie Rilke dichtet, gerade weil er das Ende des Lebens bedeutet.
Dies ist schlimm für bewusste Lebewesen mit starkem Überlebensdrang. Zu
Abschied verurteilt und zu Verzicht gezwungen, ist darum auch nicht jeder zu
freiwilliger Entsagung bereit.
Heftige Gefühlsstürme sind bei schweren Schicksalsschlägen zutiefst menschlich,
mögen sie auch noch so sinnlos sein, weil sich durch sie ja nichts ändern lässt und
der Tod nun einmal zum Leben dazugehört. Aber tränenreiche Verzweiflung kann
uns alle auf schonungslose Weise lehren: Auch das ist das Leben, in dem es keine
dauerhafte Ruhe gibt und sich Gefühle nicht beliebig zum Schweigen bringen lassen.
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Erst wenn der übersteigerte Gefühlsüberschwang nachlässt, die Traurigkeit langsam
zurückgeht, wird sich der Leidtragende und Trostsuchende für freundlichen Zuspruch
und Beistand öffnen können. Zur Bewältigung solcher Krisen mit ihren
unterschiedlichen Reaktionsmustern steht eine ganze Reihe sozialer Hilfsdienste zur
Verfügung: auf „Spiritual Care“ spezialisierte Seelsorger wie professionelle Betreuer,
Trauerbegleiter, Trauerselbsthilfegruppen, Grabredner, Psychologen etc. Diese
können zwar das Unabänderliche nicht beheben, dafür aber dazu beitragen, dass
der Betroffene mit seiner schwierigen Situation so zurechtkommt, dass er nicht daran
zerbricht.
Am Ende läuft alles auf Improvisation und Kompromiss hinaus. Die meisten Konflikte
im Zusammenhang mit Sterben und Tod lassen sich nicht lösen, sondern allenfalls
schlichten, und einen Konflikt schlichten heißt: Man arrangiert sich irgendwie. Es ist
ein schwerer Irrtum anzunehmen, dass die eigentliche Aufgabe unseres Lebens in
der befriedigenden Beantwortung aller Fragen liegt, die mit dem Tod verbunden sind.
Stattdessen kommt es vielmehr darauf an, auf welche Weise man mit dem Tod nicht
fertig wird, ob gelassen, wehmütig, heiter, resignativ, anklagend, rebellierend oder
sonst irgendwie, nachdem nun einmal feststeht, dass es unmöglich ist, ihn so zu
bewältigen, dass nichts mehr zu wünschen übrig bleibt. Natürlich ist eine versöhnliche
Einwilligung ins Unabänderliche wünschenswert, nur wie weit uns eine solche
gelingen wird, das kann uns bloß der individuelle Ernstfall zeigen, wenn es so weit
ist.
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