Völlig ausgebrannt . Die erschöpfte Gesellschaft

SWR2 Wissen Aula -Hans-Joachim Lenger: Völlig ausgebrannt . Die erschöpfte Gesellschaft
Autor und Sprecher: Professor Hans-Joachim Lenger *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 21. November 2010, 8.30 Uhr,
SWR 2

* Zum Autor:
Prof. Dr. Hans-Joachim Lenger lehrt Philosophie an der Hochschule für Bildende
Künste in Hamburg. Homepage von Hans-Joachim Lenger: www.hjlenger.de.
Bücher (Auswahl):
- Zeichnen. (zus. mit Katrin Sahner und Ludwig Seyfarth. März 2009. Textem.
- Mnema. Derrida zum Anfassen. Zus. mit Georg Chr. Tholen. Oktober 2007.
Transcript.
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INHALT___________________________________________________________________
Ansage:
Mit dem Thema: „Völlig ausgebrannt – Die erschöpfte Gesellschaft“.
Befinden wir uns auf einem absteigenden Ast? In der Ökonomie bewegen wir uns am
Rande der Depression und vielleicht auch des Zusammenbruchs – Irland scheint es
bald zu erwischen, Irland braucht den Rettungsschirm. Und wie sieht es mit der
Kultur aus? Wo gibt es noch etwas Überraschendes, Neues, wo gibt es die
Innovation?
Wohin man blickt, man stößt auf Stillstand, Depression, burn-out, das meint der
Philosoph Hans-Joachim Lenger. In der SWR2 Aula begibt er sich auf Spurensuche,
analysiert Symptome der erschöpften Gesellschaft und skizziert Auswege.

Unverkennbar mehren sich die Zeichen, dass Kultur und Gesellschaft der Gegenwart
in einen Zustand tiefer Erschöpfung eingetreten sind. Diese Erschöpfung manifestiert
sich nicht so sehr an den großen Entwürfen und Vorhaben, von denen ohnehin
niemand mehr anzunehmen scheint, dass sie sich verwirklichen lassen; nicht an
einer Beseitigung von Hunger und Armut, an einer wirksamen Ächtung des Krieges
oder der Herstellung gerechterer ökonomischer und sozialer Verhältnisse weltweit.
Längst scheinen solche Utopien derart wirklichkeitsfremd geworden zu sein, dass sie
nicht einmal in Festtagsreden mehr beschworen werden. Die Erschöpfung, von der
hier die Rede ist, reicht unweit tiefer; sie könnte die Fundamente der heutigen
Gesellschaft selbst berühren. Sie sucht deren Ökonomie heim, deren Politik und
Kultur. Sie lässt alle Perspektiven einer Zukunft zerfallen, um sie durch eine
Erfahrung tiefer Vergeblichkeit und Aussichtslosigkeit zu ersetzen, die sich beständig
potenziert. Weit davon entfernt aber, nur gesellschaftlichen oder systemischen
Charakter zu haben, offenbart sich diese Erschöpfung bereits im psychischen
Haushalt der Einzelnen, im alltäglichen Befinden der Individuen.
Mit Besorgnis und kaum verhohlener Ratlosigkeit registrieren Ärzte, Psychologen
und Therapeuten die Zunahme einer Erkrankung, die in vielfachen Phänomenen
auftritt und sich zu einem geschlossenen Krankheitsbild kaum fügen will. Was unter
dem Sammelbegriff der „Depression“ bezeichnet wird, sperrt sich den
Systematisierungen und Einordnungen. Sie besteht nicht etwa in einer
vorübergehenden Niedergeschlagenheit oder zeitweiligen Ermüdung. Wie eine
schwarze Wand taucht sie vor den Einzelnen auf, um sie zu erfassen und gleichsam
in sich aufzusaugen; wie ein Abgrund bricht sie im Innern auf, um sie mit
unwiderstehlicher Kraft in sich hinabzuziehen. Ganz so, als fordere sie den
Individuen eine geradezu übermenschliche Kraft ab, auch nur den Anschein von
Fassung oder Gefasstheit aufrechtzuerhalten, zieht die Depression den Depressiven
immer tiefer in sich hinein.
Als vor einiger Zeit ein bekannter Fußballstar seinem Leben ein Ende setzte, weil
ihm dies der einzige Ausweg zu sein schien, sich seiner Depression zu entledigen,
blitzte für einen Augenblick so etwas wie ein öffentliches Erstaunen, vielleicht sogar
ein Erschrecken auf. Zu schroff war der Kontrast, der sich zwischen dem Bild des
erfolgreichen Sportlers und dem Abgrund auftat, der ihn im Griff gehalten hatte. Hier
zerbrach einer, dem es an nichts zu fehlen schien. Was ihm widerfuhr, war kein
Scheitern, waren nicht fehlende gesellschaftliche „Reputation“ oder mangelnde
persönliche „Beliebtheit“. Gängige Begriffe, vordergründige Erklärungsversuche
scheitern insofern beharrlich an der Schwärze, die als Depression aufsteigt. Durch
gesellschaftliche Anerkennung jedenfalls ist sie nicht zu vertreiben. Rätselhaft genug,
scheint sie viel eher zu den Phänomenen zu gehören, in denen sich das
Gesellschaftliche selbst in Frage stellt, in denen sich Brüche im Sozialen auftun, um
es als nichtig auszuweisen.
In solchen Augenblicken scheint die Medizin einspringen zu können, um Erklärungen
zu liefern und Risse zu schließen. Begriffe von Erkrankung und Gesundung, von
Leiden und Genesung sollen dingfest machen, was andernfalls ein bedrohliches
Rätsel bliebe. Doch die medizinischen Diagnosen, die der Depression gestellt
werden, sind so zahlreich wie deren Phänomene. Ärzte, Psychologen und
Therapeuten stützen sich in der Regel auf Medikamente, die auf den Stoffwechsel
des Gehirns einwirken, um diesem Phänomen zu begegnen, das von nun an als
individuelle Erkrankung gefasst wird, auch wenn sie zusehends um sich greift. Deren
Wirkungen sollen gedämpft, deren Verlauf beherrschbar gemacht werden; dabei sind
die Mediziner nicht einmal erfolglos. Doch zugleich sieht alles aus, als würde sich
das Übel nur potenzieren, sobald es bekämpft wird: als begänne die Depression im
gleichen Maß zu wuchern, in dem sie dingfest gemacht werden soll. „Alles wird zur
Depression“, schreibt der französische Medizinsoziologe Alain Ehrenberg in einer
bemerkenswerten Studie über Depression und Gesellschaft, „weil Antidepressiva auf
alles wirken. Man kann alles behandeln, man weiß aber nicht mehr genau, was
heilbar ist. Zur gleichen Zeit, zu der der Konflikt aus dem Blick gerät, verwandelt sich
das Leben in eine chronische Identitätskrankheit.“ (252)
Solche Feststellungen, solche Formulierungen immerhin lassen aufhorchen. Inmitten
eines medizinischen Diskurses taucht hier auf, was sich auf ein medizinisches
Problem keineswegs begrenzen lässt. Die „Identitätskrankheit“ nämlich, von der bei
Ehrenberg die Rede ist, berührt nicht weniger soziologische, ja philosophische
Fragen. Beständig entgleitet die Erschöpfung einem nur ärztlichen Horizont. Sie folgt
einer Krise, einer Erschütterung des „Ich“, einem Zerfall seiner Kohärenz und
Geschlossenheit. Das „Ich“ kann die Last nicht mehr tragen, die ihm die
Verpflichtung aufbürdet, ein mit sich identisches „Ich“ zu sein. Medikamentöse
Eingriffe können da zwar stabilisieren, was sich anders auflösen würde. Doch auf
diese Weise verwandeln sie die Krise der Identität nur in ein chronisches
Krankheitsbild. Weil Antidepressiva auf alles wirken, lassen sie auch alles zu einer
Depression werden, die ihre eigene Implosion beständig aufschiebt.
Wie Ehrenberg behauptet, korrespondiert die Heraufkunft dieser Situation gewissen
gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, die in den 60er und 70er Jahren
Platz griffen. An die Stelle eines autoritären Kapitalismus der Disziplinierung trat eine
Kultur, in der Maximen der „Selbstverwirklichung“ zur unmittelbaren ökonomischen,
sozialen und kulturellen Produktivkraft wurden. Nicht länger kennt diese Kultur
„Subjekte“ im Wortsinn, „Unterworfene“ also, die den Zwängen der Arbeit, den
Notwendigkeiten der Lebenserhaltung und den Gesetzen ausgesetzt sind, die über
sie verfügen. Wo solche Autoritäten bislang geherrscht hatten, greift nunmehr ein
anderes Diktat Platz: „Verwirkliche dich selbst!“, so lautete es, „entdecke dich
selbst!“, „sei du selbst!“.
Vom „Subjekt“ zum „eigenen Selbst“ also: Dieses Selbst zu verwirklichen, wurde nun
einerseits zum Versprechen einer unendlichen Befreiung. Sie verhieß den
„Subjekten“, nicht länger „Unterworfene“ zu sein. Sie forderte sie stattdessen auf,
eine geheime, rätselhafte und stets verschüttete Instanz zu entdecken, die ihnen
stillschweigend zu Grunde liege: ihr eigenes „Selbst“. Nicht umsonst schossen
seither die Programme zur Selbstfindung ins Kraut: die Esoterik-Angebote erlebten
einen Boom, die Mystizismen der Erweckung und Erleuchtung ebenso wie die
Evangelien gesellschaftlichen Erfolgs, der durch eine Entfesselung des geheimen
„Selbst“ allein zu erzielen sei.
Doch umso mehr musste sich all dies andererseits als ebenso unerfüllbares Diktat
herausstellen. Die Anstrengung nämlich, diesem Diktat des „Selbst“ zu genügen,
kann nur die Leere wiederholen, die im Abstraktum dieses „Selbst“ herrscht und in
der es sich selbst erfährt. Am Ende der Moderne, in ihrem Scheitelpunkt gleichsam,
dürfte sich auf der Ebene des „Subjekts“ etwas ereignen, was nicht nur ökonomisch,
politisch, sozial oder kulturell von einschneidendem Gewicht ist. Die Krise, die sich in
der Depression abzeichnet, wiese ebenso eine „metaphysische“ Dimension auf.
Vor etwa 80 Jahren erschien Sigmund Freuds Schrift über Das Unbehagen in der
Kultur. Dieser Text rekonstruierte den Prozess der Kultur als Geschichte eines
Triebverzichts, einer Sublimierung oder eines Aufschubs, dem die libidinösen
Energien kulturell unterworfen werden. Anstatt unmittelbar befriedigt zu werden –
was möglicherweise einem tierischen Niveau entspräche – bringt der Kulturprozess,
Freud zufolge, konstitutive Ersatzformen hervor, die ein Zweifaches bewirken: Zum
einen tritt der Ersatz an die Stelle des unmittelbaren Triebanspruchs. Er vertritt ihn
und hebt ihn zugleich auf eine andere Stufe seiner Realisierung. Er unterwirft ihn
dem Gebot, im Zeichen der Kultur seiner selbst zu entsagen. Zum andern wohnt
diesem Verzicht ein zeitliches Moment inne. Er vertagt das Unmittelbare, schiebt es
auf. Insofern konstituiert die Entsagung vor allem auch, was man einen kulturellen
Horizont nennen könnte. Er geht aus Techniken des Tabus und des Verbots hervor,
in denen sich ebenso symbolisiert wie verzeitlicht, was Freud „Trieb“ nennt. Hier
zeichnet sich deshalb die Frage nach einem „kulturellen Triebschicksal“ ab. Es sei
keineswegs zu übersehen, schreibt Freud, „in welchem Ausmaß die Kultur auf
Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung
(Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur
Voraussetzung hat.“ (227)
Sensibel registriert Freud aber zugleich, wie fragil diese Konstruktion bleiben muss.
Das „Unbehagen“ in der Kultur, das in vielfachen Formen aufbricht, betrifft sie
nämlich keineswegs von außen. Es steigt in ihrem Innern auf, indem es die Spur
kenntlich macht, die die Sublimierung in ihr hinterlässt. Denn wozu, so scheint dieses
Unbehagen sagen zu wollen, all die Techniken des Aufschubs und der Entsagung,
wozu die subtilen Artefakte, die Technologien und Künste? Wo immer sie einen
vertieften, weil verzeitlichten Genuss versprechen, könnte sich dessen Preis eines
Verzichts oder Aufschubs als zu hoch erweisen. Die Heraufkunft der Neurosen legt
davon eindrucksvoll Zeugnis ab. Unausgesetzt verschafft sich der Neurotiker
Ersatzbefriedigungen, die vom Misslingen des Verzichts sprechen. Das Unbehagen
in der Kultur ist sozusagen Ausdruck der Weigerung, den Kulturprozess einer
Entsagung statthaben zu lassen, die ihm doch als Kultur umso unveräußerlicher ist.
Nicht von ungefähr ordnete sich Freuds Begriff der Kultur um die Instanz des Vaters
und dessen Autorität. Er kreiste um jenes Gesetz, das die narzisstischen
Allmachtsvorstellungen eines Subjekts unterbricht und damit auf Andere verweist, die
mit ihm sind.
Die Kultur der Gegenwart dagegen scheint diese Ordnung verlassen zu haben. Der
Übergang vom autoritären Kapitalismus zu einem der Selbstverwirklichung unterwirft
die Individuen nicht mehr dem Gesetz des Vaters, einer Logik des Aufschubs und
einer Öffnung zum Anderen. In einer Kultur der Erschöpfung zählt der sofortige
Genuss, die umstandslose Selbstverwirklichung, die Konsumtion ohne Aufschub, der
Wechsel momentaner Befindlichkeiten. So schreibt Ehrenberg über Patienten, deren
Leiden sich nicht mehr in Registern der Schuld, des Gewissens und der Neurose
entziffern lassen; „anders als etwa den Neurotikern“, so sagt er, „gelingt es ihnen
nicht, ihre Konflikte zu erkennen, sie sich zu vergegenwärtigen. Ihnen fehlt die Basis,
ohne die man nur schwer eine Behandlung erfolgreich durchführen kann: die Schuld.
(...) Ihre Repräsentationen sind dürftig, sie sind unfähig, ihre Leiden symbolisch
auszudrücken: Sie sind die Gefangenen ihrer Stimmung. Diese neue Gattung hat
einen Namen: Borderline-Störung. Die Depression beherrscht ihr klinisches Bild.“
(163) Das Diktat des Selbst und seiner Verwirklichung hätte die Individuen insofern in
eine Sphäre vollendeter Einsamkeit versetzt, in der sie nur noch die Leere dieses
Selbst erfahren: als Stimmung, nicht länger als Drama.
Spätestens seit dem 19. Jahrhunderts sieht sich die okzidentale Kultur vom
Phantasma einer Erschöpfung begleitet, die sie in immer neuen Varianten, immer
neuen Todesvorstellungen heimsucht. Einerseits soll zwar nichts verloren gehen, soll
sich auch physikalisch die Energie eines geschlossenen Systems erhalten. Doch wie
der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik hinzusetzte, sei dieser Prozess von einer
Entropie unablösbar, die einer finalen Erschöpfung entgegengehe. Der Austausch
der Unterschiede erschöpft sich schließlich im Stillstand: Entropisch soll jeder
Unterschied letzten Endes ausgeglichen, jede Differenz getilgt, jede Bewegung zum
Erliegen, jedes Leben an ein Ende gekommen. Die Vorstellung, dass auch der Kultur
die schweigsame Macht eines solchen Stillstands, eines solchen Todes eingelassen
ist, prägte noch Freuds Konzeption eines Todestriebs, als dessen „Satelliten“ er die
Lebenstriebe fasste. Nicht anders hatte Marx beklagt, die Akkumulation des Kapitals
türme „tote Arbeit“ zur alles erdrückenden Macht auf, unter der auch die „lebendige
Arbeit“ begraben werde; hatte Schopenhauer die Todverfallenheit allen Lebens
betont, hatte Nietzsche dieses Leben als sonderbare Form des Todes bezeichnet. Im
Innern der Kultur, ihrer Systeme und Apparate, scheint sich diese Macht eines
Stillstands im gleichen Maß zu verstärken, in dem sie akkumulieren, immer größere
Einheiten aufbauen und ihre babylonischen Türme errichten. Umso unwiderstehlicher
werden sie von der lähmenden Macht eines Stillstands ergriffen.
Bereits individualtherapeutisch gehört tiefe Gehemmtheit zu den wiederkehrenden
Symptomen der Depression: eine Lähmung der Kraft, einer Verlangsamung aller
Bewegungsabläufe niederschlägt. Sie spricht von der unendlichen Anstrengung, die
aufgeboten werden muss, um auch nur einen einzigen weiteren Schritt noch zu tun.
Tief scheint diese Erschöpfung insofern in die Ökonomien dieser Kultur eingelassen
zu sein, und einfache Reform- und Verfahrensvorschläge werden kaum ausreichen,
dieser Falle zu entkommen. Die akkumulative Logik selbst potenziert die Mächte der
Erschöpfung in immer neuen Schüben, und mit hektischer Betriebsamkeit wird man
ihnen kaum begegnen können. Denn wovon spricht eine Ökonomie, die unter ihren
eigenen Überakkumulation von Werten und Reichtümern zu implodieren scheint,
doch umso größere Schulden aufhäuft, je angestrengter sie den bloßen Status Quo
zu sichern sucht? Doch weit davon entfernt, nur einer persönlichen Gier von Bankern
oder Managern entsprungen zu sein, entlud sich in diesem Kollaps der beständig
aufgeschobene Augenblick, in dem das Moment einer abgründigen Nichtigkeit
aufblitzte. Tatsächlich ist ein System, das den ökonomischen Wert lediglich als
Anweisung auf Mehr-Wert kennt, nur noch um die eigene Tautologie zentriert, es
selbst zu werden. Und wo sich seine Betriebsamkeit im Kollaps unterbricht, um in
dieser Tautologie abzustürzen, manifestiert sich, wie tief die Erschöpfung ist, von der
es im Innersten beherrscht wird.

Nicht zufällig verfallen Gesellschaft und Kultur in immer exzessivere Formen, in
denen die Hektik unablässiger Neuerungen über diese tiefe Lähmung hinwegtäuscht.
Umso lauter gebärdet sich dann der Betrieb, umso bizarrer werden Zielvorgaben und
Innovationen, umso maßloser geraten Forderungen und Absichtserklärungen,
Versicherungen und Beschwörungen. Täglich sich überstürzende und überbietende
Projekte suggerieren, man habe die Initiative keineswegs verloren. Der „rasende
Stillstand“ wird zur Signatur des Geschehens; doch wird er seinerseits bereits
begleitet von einer rätselhaften Entropie. Was man die „Politikverdrossenheit“ nennt,
die sich heute sogar zum „Vertrauensverlust“ verschärft haben soll, artikuliert nämlich
nicht so sehr das Versagen oder die sogenannte Abgehobenheit einzelner Politiker.
Diese „Vertrauenskrise“ lässt mittlerweile keinen Bereich, keine Struktur, keine
Institution mehr unangetastet. Sie steigt nämlich nicht einfach aus Gedankenlosigkeit
auf. Sie korrespondiert einer Erschöpfung, die das Denken und die Kultur selbst
erfasst hat. Schier unbegrenzt akkumulierten sich die Archive des Wissens, der
Künste, der Bilder und Texte, auf denen beruht, was man die „abendländische
Kultur“ nennt. In ihnen wurden Reichtümer zusammengetragen, die durchzuarbeiten
eine unendliche Kraftanstrengung erfordern würde. Tatsächlich aber sieht alles aus,
als sei die Kultur umso unerbittlicher von einer Logik des Ereignisses, der Sensation,
des „Events“ und des Erfolgs erfasst; mehr noch: als folge sie einem tiefen Wunsch,
auf diesem Weg ihrer Vorgeschichte und damit sich selbst zu entkommen. An die
Stelle der Vielfalt, der sich verzweigenden, subtilen, abgründigen Bewegungen eines
Denkens etwa, das der Gegenwart den Weg bahnte, trat die plumpe, die irreführende
Parole von den „jüdisch-christlichen Grundlagen“. Wer beispielsweise zur Kenntnis
nimmt, welche Schicksale der Gottesbegriff in dieser Tradition erfuhr, wird beschämt
sein vom frechen Gestus, mit dem der „christliche Gott“ öffentlich reklamiert wird, als
sei sein Name das Selbstverständlichste. Und wer die Erschütterungen registriert,
die der Name „des Menschen“ ebenso erfuhr wie der Begriff des „Bildes“, wird nur
resignieren können, wo ihm ein „christliches Menschenbild“ verordnet werden soll.
Die Erschöpfung von Kultur und Gesellschaft beschreibt allerdings keinen Zustand,
aus dem man mit etwas Klamauk und nach einer Phase der Erholung einfach
heraustreten könnte. Eine gewisse Bequemlichkeit vorausgesetzt, lässt sich die
Erfahrung, der diese Kultur ausgesetzt ist, zwar als ein „Verlust an Sinn“ beklagen.
Allenthalben, so hören wir tagein, tagaus, soll es an Vorgaben, an Setzungen und
Fundamenten fehlen. Kirchliche Apparate empfehlen eine Re-Fundamentalisierung,
Politiker eine Rückbesinnung auf vermeintliche Grundlagen des Zusammenlebens,
und die Moralisten sprechen davon, dass den ökonomischen Systemen wieder
zugemutet werden müsse, von verantwortungsvollen Repräsentanten gelenkt zu
werden, die der Masse als Vorbilder dienen können.
Doch lassen sich solche Erschöpfungszustände nicht einfach überwinden, neue
Kräfte nicht einfach sammeln, indem alte Regeln oder Parolen in Erinnerung gerufen
werden. Was sich hier zuträgt, dürfte mit der Logik der Akkumulation, mit jener
Ökonomie der Kräfte selbst zu tun haben, der sich diese Kultur verschrieben hatte.
Phänomene der Erschöpfung sind deren Symptom; doch so gesehen sind sie
ebenso Konstellationen eines Übergangs, einer Transformation oder eines
Umbruchs. Nicht weniger steht dabei auf dem Spiel als das rätselhafte „Selbst“, sein
Wille zur „Selbstverwirklichung“, der diese Kultur beseelte, ihre Apparate,
Institutionen und Verfahrensordnungen ebenso beherrscht wie das Schicksal der
Einzelnen. „Sei du selbst!“, „Entdecke dich selbst!“, „Finde dich selbst!“ – in diesem
Imperativ steckt nicht nur das ultraliberale Versprechen einer individuellen Befreiung,
sondern mehr noch eine unermessliche Drohung. Das „Selbst“, das sich da
projektiert, könnte sich nämlich als unendliche Entleerung herausstellen. Und
tatsächlich war es immer schon aus einem Missverständnis hervorgegangen. Jedes
„Selbstgespräch“ setzt bereits Sprache voraus – und damit andere. Noch dort, wo
sich dieses „Selbst“ als Singularität einer Entleerung erfährt, nimmt es einen Platz
unter anderen Singularitäten ein. Es findet sich an einem Ort, der ihm nicht gehört
hat und nicht gehören wird. Allein schon, „mit sich selbst“ zu sein, setzt nämlich
einen Abstand voraus, der sich dem „Selbst“ mitgeteilt haben muss, ohne aus ihm
hervorgegangen zu sein. Er setzt also Andere voraus, mit denen sich erst „selbst“
sein lässt, oder eine „Öffnung“, die jedem „Subjekt“ ebenso vorausgeht wie jedem
„Selbst“.
Dies allerdings ist kein bloß freundlicher Appell an Mit-Menschlichkeit, an
Barmherzigkeit oder Hilfsbereitschaft. Keineswegs geht es darum, die Kälte des
Betriebs mit dem Flair empfindsamer Seelen zu drapieren. Der unüberbrückbare
Abstand, der jedes „Selbst“ von sich getrennt haben muss, um es „selbst“ sein zu
lassen, berührt vielmehr den neuzeitlichen Begriff des Subjekts und seine Krise im
Innersten, seine Projekte und Erschöpfungen. Im rasenden Projekt einer
„Selbstverwirklichung“ hatte es vergessen, dass jedes „Selbst“, um „sein“ zu können,
früher noch „mit“ anderen ist. Kein Wunder, dass es im Zeichen dieses Vergessens
nur seine eigene Leere erfahren konnte, und zwar im gleichen Maß, in dem es sich
der Logik einer Akkumulation verschrieb, mit denen sich die Tautologien ins
Unermessliche trieben. Tatsächlich spricht diese Akkumulation in wiederkehrenden
Implosionen nämlich nur von ihrer eigenen Nichtigkeit, während sich ihr Diktat, sich
selbst zu verwirklichen, gnadenlos bis in die Befindlichkeit der Einzelnen hinein
verlängert.
Die Zustände tiefer Erschöpfung, die um sich greifen, dürften aus dieser
Konstellation aufsteigen. Sie sind Symptome eines Vergessens nicht weniger als des
Eintritts dessen, was vergessen wurde. Psychopharmaka mögen den Depressiven
da über ihr Leiden hinweghelfen, Programme zur wirtschaftlichen Wiederbelebung
für neuen Aufschub sorgen, runde Tische einem erschöpften Betrieb der Politik
vorübergehend zu neuer Attraktivität verhelfen. Die Transformationen, die sich in
solchen Phänomenen anzeigen, greifen jedoch ungleich tiefer. In immer neuen
Schüben hat sich diese Kultur nämlich nicht nur Projekten einer
„Selbstverwirklichung“ verschrieben, die heute – im Zeitalter eines Ultraliberalismus –
äußerste Zuspitzungen erfährt. Nicht weniger gab es Meditationen und Entwürfe, die
sich dem „Sein mit anderen“ verpflichtet wussten, Figuren des Gemeinsam-Seins,
eines „Commune“. Selbst der „Kommunismus“ gehört dazu, dieser terroristisch
gewordene und folgerichtig zerfallene Gewaltversuch, dem „Gemeinsam-Sein“ eine
endgültige, doktrinäre Gestalt zu geben. Sollte er einst den „Horizont der Geschichte“
definieren, so wurde er so tatsächlich zum Schreckbild einer Welt, die er ebenso
entstellte, wie er deren eigene Geschichtlichkeit seither für sie selbst zum Rätsel
machte.
Die Fragen eines „Gemeinsam-Seins“, das sich nicht mehr in tödlichen Tautologien
des „Selbst-Seins“ erschöpfen würde, sind mit dieser Katastrophe jedoch
keineswegs schon beantwortet. Vielmehr werden diese Fragen umso drängender.
Das Leiden, die katastrophischen Zusammenbrüche und Implosionen, von denen
Kultur und Gesellschaft heimgesucht werden, könnten immerhin auch ein
Kommendes anzeigen. Im Innern der Überakkumulation, die erdrückt, und der Leere
des „Subjekts“, das um seine Selbstverwirklichungen kreist, könnten sich, wie in
einem Vexierbild, auch Elemente einer anderen, einer kommenden Ordnung
abzeichnen. Zwar sind deren Konturen kaum erkennbar. Zumindest aber wäre sie
nicht mehr zentriert um eine Logik von Akkumulation und Selbstverwirklichung; und
keineswegs würde sie sich in den bekannten Oppositionen von Leben und Tod
einrichten.
Und tatsächlich – die Auflösungserscheinungen der Apparate und Instanzen, ihr
Verlust an Glaubwürdigkeit und Vertrauen zeugen ja nicht nur von einer
Erschöpfung. Inmitten dieser Erosionen löst sich zwar etwas auf, begibt sich jedoch
ebenso auf die Suche, wirft Fragen auf und experimentiert. Da zeichnet sich etwas
ab, was seine Sprache und seine Begriffe noch nicht gefunden hat, aber
hervorzubringen sich anschickt. Nicht mehr mitzumachen, den Selbstlauf der Dinge
zu unterbrechen, ihn mit überraschenden Öffnungen zu übersäen – das könnten
erste Formen sein, einer Logik der Erschöpfung zu entgehen. Es wären Formen, in
denen sich der „Sinn“ nicht mehr zwischen den großen, den vermeintlich
festgefügten Einheiten einerseits, der Leere eines vermeintlichen „Selbst“
andererseits herstellen soll. Viel eher ginge er aus einem „Eigensinn“ hervor, der sich
mit anderen zu teilen sucht. Nicht von ungefähr vermerken die Apparate und
Institutionen, was sich wie ein störendes Rauschen in ihren Planungen,
Entscheidungen und Maßnahmen bemerkbar macht. Bestimmte Investitionen
können nicht mehr garantiert, bestimmte Entscheidungen nicht mehr „zukunftssicher“
getroffen werden, sollte zunehmen, was aus zivilgesellschaftlichen
Zusammenhängen, aus Stadtvierteln oder Betrieben aufsteigt: Ebenso subtil wie
unbeherrschbar zeichnen sich hier andere Subjektivitäten, andere Subjektivierungen
ab, die der Tristesse zu entgehen suchen und eine andere Ökonomie der Kräfte
ankündigen könnten.
Denn der Abschied von einem Gesetz des Vaters bedeutet nicht, in eine Epoche der
Gesetzlosigkeit einzutreten. Es bedeutet, anders nach dem Gesetz zu fragen, um
anders zu antworten. In diesem Sinn subtiler Verschiebungen allerdings könnte sich
die Kultur der Erschöpfung als etwas erweisen, das wie eine Wüste immer schon
durchquert wird.
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