Antigone . Tacita Dean 28.8.2021 – 9.1.2022


Kunstmuseum Basel
Antigone . Tacita Dean
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Kunstmuseum Basel: Antigone . Tacita Dean 28.8.2021 – 9.1.2022

Kuratorinnen: Laurenz-Stiftung, Schaulager:
Heidi Naef, Isabel Friedli

Inhalt
Das Kunstmuseum Basel | Gegenwart zeigt die Schweizer Erstaufführung von Antigone (2018), der bisher komplexesten Arbeit von Tacita Dean (geb. 1965). Die Präsentation des einstündigen, anamorphotischen 35mm-Films wird durch weitere Filme, Fotografien, Fotogravuren und Kreidezeichnungen der britisch-europäischen Künstlerin ergänzt.

In Antigone geht es um den Namen Antigone und alles, was in ihm anklingt, nicht nur in der griechischen Literatur der Antike, sondern auch im eigenen Leben der Künstlerin. Antigone ist der Name von Deans älterer Schwester und gehört somit zu den ersten Wörtern, die die Künstlerin gelernt hat. Ebendiesen Namen trägt bekanntlich auch die Heldin in der thebanischen Trilogie des griechischen Tragödiendichters Sophokles, was Dean darauf brachte, ihre eigene Geschichte mit dem mythologischen Kosmos der klassischen Antike zu verflechten.
Stofflich richtet sich Deans literarisches Interesse auf einen von Sophokles dramatisch nicht behandelten Zeitraum zwischen König Ödipus und Ödipus auf Kolonos, in welchem der geblendete, verbannte König Ödipus an der Seite seiner Tochter Antigone durch die Wildnis irrt, bis er schliesslich auf dem Hügel Kolonos einen heiligen Hain vor Athen erreicht. Solche Leerstellen, Nebenschauplätze und Zufälle haben Dean schon immer fasziniert. Ihre ersten noch unausgegorenen Ideen für Antigone reichen ins Jahr 1997 zurück, als sie im Rahmen des Sundance Screenwriting Lab versuchte, ein Drehbuch zu diesem Stoff zu verfassen; die Vollendung des Werks – ihre wohl bisher intimste und rätselhafteste Arbeit – sollte jedoch noch mehr als zwei Jahrzehnte in Anspruch nehmen.
Antigone wurde dank Deans Technik der Blendenmaskierung ausschliesslich mit und im Innern einer 35mm-Kamera auf Film gebannt. Diese Technik ermöglicht es der Künstlerin, mehrere Bilder innerhalb eines einzelnen Filmbildes festzuhalten, wobei Schablonen und Mehrfachbelichtungen zum Einsatz kommen. So entsteht das montierte Filmmaterial, das dem Resultat einer digitalen Nachbearbeitung täuschend ähnlich sieht, tatsächlich in der Kamera selbst. Das heisst: Die von der Künstlerin vor Ort getroffenen Entscheidungen fliessen gleichermassen in den Prozess des Filmemachens ein wie der Zufall. Antigone ist ein durch und durch analoges Werk. Die subtilen Eingriffe in die optische Mechanik der Filmkamera machen es zu einem technisch wie thematisch kühnen Experimentalfilm.
Das Leitmotiv in Antigone ist die Blindheit, entsprechend entwickelte sich der Film im Verlauf der Arbeit zu einer Doppelprojektion: rechtes Auge, linkes Auge. Da ist die Blindheit von Ödipus, der sich zur Strafe für seine unwissentlich begangenen Verbrechen – Vatermord und Inzest, wie vom Orakel vorausgesagt – selbst blendet und aus Theben verbannt. «Im Gewande» des Ödipus tritt der Schauspieler Stephen Dillane auf, mit falschem Bart, die Sicht behindert durch eine Sonnenfinsternisbrille, die von der sogenannten «Grossen amerikanischen Sonnenfinsternis von 2017» stammt, und tastet sich am Stock von einer Einstellung zur nächsten. Da ist weiter die Blindheit der Natur durch die Verdunkelung der Sonne während der amerikanischen Sonnenfinsternis, die Dean in Wyoming gefilmt hatte. Dazu kommt die von Deans Blendenmaskierungstechnik verursachte, technische Blindheit: einzig die Kamera sieht etwas. Dean selbst konnte sich erst Klarheit darüber verschaffen, was auf dem Film war, als das Negativmaterial volle neun Monate nach Belichtung der ersten Filmrolle entwickelt und kopiert wurde. Und last but not least war da noch Deans kreative Blindheit: dass sie keine Ahnung hatte, wie sie diese lange Zeit unbewältigte Arbeit schaffen sollte, und sich am Ende vom Zufall, den Umständen und der Alchemie dessen leiten liess, was vor Ort und in ihrer Kamera geschah.
Dean entschied sich, im Film mehrere Drehorte miteinander zu verbinden, darunter die thermale Landschaft des Yellowstone Nationalparks, welche die Bilder für die pythischen Dämpfe liefert, die im Apollo-Tempel in Delphi aus der Erde aufstiegen, wo das Orakel Ödipus sein Schicksal verhiess. Dean filmte auch das Hochland von Bodmin Moor in Cornwall und den Mississippi auf seinem Weg durch das Städtchen Theben in Illinois, wo auch das historische Gerichtsgebäude steht, das im Film eine so zentrale Rolle spielt.
In einem frühen Stadium der Arbeit hatte Dean die kanadische Dichterin Anne Carson eingeladen, etwas über die Lücke zwischen den beiden Ödipus-Stücken zu schreiben. Carson antwortete, dass sie im Jahr 2000 bereits das Gedicht TV Men: Antigone (Skripte 1 und 2) veröffentlicht habe. Von Carson selbst gelesen, wird dieser Text zu einem zentralen und wiederkehrenden Motiv im Film. Carsons Beteiligung gipfelte in einem improvisierten Gespräch über das Wort und den Namen Antigone und Sophokles’ Trilogie mit Dean und Dillane im Gerichtsgebäude von Theben, Illinois; Dean bezeichnete dieses Gespräch als dasjenige Element des Films, das der Idee des Chors in der griechischen Tragödie am nächsten komme. Eine weitere im Film vertretene Persönlichkeit ist der Drehbuchautor Stewart Stern, Autor von Rebel without A Cause («…denn sie wissen nicht, was sie tun», 1955), der als Berater von Dean während des Sundance Screenwriting Lab 1997 eine äusserst wichtige Rolle spielte. Seine Worte werden von Peter Mayer gesprochen, dem ehemaligen CEO von Penguin Books.
Präziser Blick und poetischer Zauber verbinden sich in Tacita Deans Werk auf eine Weise, die in der zeitgenössischen Kunst ihresgleichen sucht. Ihr Medium ist der analoge Film, so wie es die Leinwand für den Maler ist. Fotochemischer Film ist ein physisches und lineares Material. Als Negativ ist es ein lichtempfindlicher Streifen, auf dem die Zeit selbst ihren Abdruck hinterlässt – Einzelbild für Einzelbild aneinandergereiht, ergeben 24 Bilder eine Sekunde Bewegtbild. Dean schätzt ihr Arbeitsmaterial aufgrund der vielfältigen Bearbeitungsmöglichkeiten und seiner körnigen Brillanz. Menschen, Gebäude und Landschaften sind ebenso Gegenstand ihrer Filme wie in Spuren angedeutete Geschichten, deren gespenstische Präsenz den Eindruck vermittelt, die Zeit sei zum Stillstand gekommen.
Die Künstlerin hat sich im letzten Jahrzehnt der erneuten Verwendung einiger früher, visionärer Techniken des Filmemachens gewidmet, die das Kino, wie wir es kennen, hervorgebracht haben, und liefert mit ihrer Überarbeitung ein starkes Argument für dieses
Medium im 21. Jahrhundert. Dieses Bestreben gipfelte 2011 in der monumentalen Installation FILM für die Turbinenhalle der Tate Modern in London. Für ihre Virtuosität im Umgang mit diesen filmischen Verfahren wird sie mitunter von Kritikern als «Heldin des Zelluloids» gefeiert. Gleichzeitig hat Dean eine Bewegung initiiert, die das Bewusstsein für die Besonderheit des analogen Films schärfen soll und sich für dessen Erhalt und weitere Verfügbarkeit einsetzt. Leider ist die Zukunft von 16mm- und 35mm-Filmmaterial nach wie vor gefährdet.
Antigone wird im Kunstmuseum Basel | Gegenwart durch eine kleine Auswahl von Werken Deans ergänzt, die in engem Zusammenhang mit dem Film stehen. Hinzu kommen die grossformatige Kreidezeichnung Chalk Fall (2018) und einige Schieferarbeiten, darunter auch die neuste Zeichnung, Cynthia Teeming (2021) – Cynthia ist ein Vollmond. Der Titel dieses Werks ist einer Zeile des Gedichts Eyes and Tears des metaphysischen Dichters Andrew Marvell entliehen.
Als Fortsetzung der Ausstellung ist eine Gruppe von kurzen 16mm-Filmen zu sehen, die zum ersten Mal gemeinsam gezeigt werden. Ear on a Worm (2017) etwa entstand in Anlehnung an Leonard Cohens Song Bird on a Wire. Auf der Fahrt durch Los Angeles stimmte die Künstlerin angesichts der Vögel auf den zahllosen, kreuz und quer durch die Stadt gespannten Telegrafendrähten gern die Anfangszeilen dieses Liedes an. Die Herausforderung für Dean bestand darin, einen Vogel während der gesamten Lieddauer von 3 Minuten und 28 Sekunden auf Film festzuhalten. In A Cloud Makes Itself (2020) ist zu beobachten, wie sich eine Wolke im tiefen Blau des Himmels über L.A. bildet und wieder auflöst, und Providence (2017) ist ein stilles Duett zwischen dem Schauspieler David Warner und Kolibris. Erstmals zu sehen ist auch eine neue Serie handgezeichneter Lithografien mit dem Titel LA Magic Hour (2019–2021), die in Zusammenarbeit mit dem Druckverlag Gemini G.E.L. entstanden ist.
Antigone ist, wie viele andere Werke der Künstlerin, Teil der Sammlung der Emanuel Hoffmann-Stiftung. Mit seiner Laufzeit von genau einer Stunde wird das Werk als fortlaufende Projektion präsentiert, die so synchronisiert ist, dass der Film zu jeder vollen Stunde neu beginnt. Um den emotionalen Verlauf des Films wirklich zu verstehen, empfiehlt es sich, den Film von Anfang bis Ende zu schauen.
Vorführzeiten: Täglich um 11, 12, 13, 14, 15, 16 und 17 Uhr
Die Ausstellung wird ermöglicht durch die Laurenz-Stiftung, Basel, und den Fonds für künstlerische Aktivitäten im Museum für Gegenwartskunst der Emanuel Hoffmann-Stiftung und der Christoph Merian Stiftung.

Zur Protagonistin
Antigone
[an'ti:gɔne], auch Antigonae oder Antigonä (altgriechisch Ἀντιγόνη Antigónē) ist eine mythische Gestalt, deren Ursprung in der griechischen Mythologie liegt. Sie ist eine Tochter des Ödipus, des Königs von Theben.
Die klassische Version ihres Mythos findet sich in der gleichnamigen Tragödie des Sophokles*, die wahrscheinlich 442 v. Chr. zum ersten Mal aufgeführt wurde.
*) Sophokles ( Platons Zeit; * 428/427 v. Chr. in Athen oder Aigina; † 348/347 v. Chr. in Athen)
Sophokles (altgriechisch Σοφοκλῆς Sophoklḗs, klassische Aussprache [sopʰoklɛ̂ːs]; * 497/496 v. Chr. in Kolonos; † 406/405 v. Chr. in Athen) war ein Dichter in der Zeit der Griechischen Klassik. Er gilt neben Aischylos und Euripides als der bedeutendste der antiken griechischen Tragödiendichter. Seine erhaltenen Stücke, vor allem Antigone und König Ödipus, werden auf den Bühnen der ganzen Welt gespielt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Sophokles
https://de.wikipedia.org/wiki/Antigone

Zur Gestalterin
Tacita Dean (*1965 Canterbury/Grossbritannien)
Präziser Blick und poetischer Zauber verbinden sich in Tacita Deans Werk auf eine Weise, die in der zeitgenössischen Kunst ihresgleichen sucht. Ihr Medium ist der analoge Film, so wie es die Leinwand für den Maler ist. Menschen, Gebäude und Landschaften sind ebenso Gegenstand ihrer Filme wie in Spuren angedeutete Geschichten, deren gespenstische Präsenz den Eindruck vermittelt, die Zeit sei zum Stillstand gekommen. Tacita Dean hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten und ihr Werk wird weltweit ausgestellt. Das Kunstmuseum Basel | Gegenwart (damals: Museum für Gegenwartskunst Basel) zeigte 2000 die erste Einzelausstellung der Künstlerin in der Schweiz, 2006 widmete das Schaulager Basel ihr eine monografische Werkschau.

Kunstmuseum Basel | Gegenwart, St. Alban-Rheinweg 60, 4052 Basel
Bildmaterial und Informationen zur Ausstellung
www.kunstmuseumbasel.ch/medien
Medienkontakt
Karen N. Gerig, Tel. +41 61 206 62 80,
mailto:karen.gerig@bs.ch
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