SWR2 WISSEN : Zu Hause sterben – Palliativversorgung auf dem Land , Horst Gross

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Sterben - Zu Hause - Palliativ . H. Gross
SWR2 WISSEN : Zu Hause sterben – Palliativversorgung auf dem Land , Horst Gross 
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Ausgangs-Punkt als Diskursbasis
Nur wenn keine Möglichkeit zur ambulanten Palliativversorgung vorhanden ist, bleibt nur das Sterben im Krankenhaus?
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ÜBERBLICK
Auch beim Sterben stehen heute wirtschaftliche Zwänge im Vordergrund. Auf dem Land bedeutet das konkret: Minimale Betreuung durch den örtlichen Pflegedienst und ein Hausarzt oder eine Hausärztin, die nur gelegentlich mal reinschauen.

Zu Hause sterben – Palliativversorgung auf dem Land

Palliativversorgung am Lebensende: ein Menschenrecht
Grund des Übels sind die gesetzlichen Vorgaben. Denn für das Sterben zu Hause sind in erster Linie die ganz normalen Pflegedienste zuständig. Doch die müssen ihre Tagesabläufe und Fahrtstrecken an der Routineversorgung orientieren. Und das in Form von langen Anfahrtswegen, schlechter Bezahlung und hohem Arbeitsdruck.

Die WHO hat 2014 die angemessene Palliativversorgung am Lebensende als Menschenrecht angemahnt. Die Bundesregierung musste also handeln. Doch die Palliativversorgung ist in Deutschland kein Teil der direkten staatlichen Daseinsfürsorge, wie etwa Feuerwehr und Rettungsdienst.

Der Gesetzgeber hat die Umsetzung an die Krankenkassen delegiert. Und die haben weitgehend freie Hand, wie viele Mittel sie in die ambulante Palliativmedizin stecken wollen. Etwa 3.500 Euro pro Kopf und Jahr erhalten die gesetzlichen Krankenkassen. Doch nur rund 10 Euro davon fließen in die Finanzierung der Ambulanten Palliativmedizin, also in das “Sterben zu Hause”.

Sterbende und Schwerstkranke haben keine Lobby
Zwei Drittel der Fläche Deutschlands sind darum aktuell ohne angemessene spezialisierte ambulante Palliativversorgung. Blinde Flecken auf dem Versorgungsatlas finden sich vor allem in den neuen Bundesländern, aber auch in Süddeutschland.

Mann sitzt seitlich abgewandt auf Krankenhausbett: Wenn keine Möglichkeit zur ambulanten Palliativversorgung vorhanden ist, bleibt nur das Sterben im Krankenhaus (Foto: Imago, imago/epd)
Wenn keine Möglichkeit zur ambulanten Palliativversorgung vorhanden ist, bleibt nur das Sterben im Krankenhaus
Imago imago/epd
Notgedrungen bliebe da am Lebensende oft nur der Weg in die Klinik, inklusive kostspieliger Therapieversuche, kritisiert der Berliner Palliativmediziner Prof. Winfried Hardinghaus, Vorsitzender des Deutschen Hospiz- und Palliativerbands. Nicht nur die pflegerische Versorgung ist bei der ambulanten Palliativbetreuung massiv unterfinanziert. Gleiches gelte auch für die Hausärzte, die sich palliativmedizinisch spezialisieren, so Hardinghaus.

Andere Länder erfüllen längst den palliativmedizinischen Standard
Mindestens ein Team aus Medizinern und Pflegern spezialisiert auf ambulante Palliativversorgung pro 100.000 Einwohner entspricht dem internationalen Standard. Der bundesdeutsche Durchschnitt liegt dagegen bei 0,3 Teams. Und die konzentrieren sich vornehmlich in den Ballungsgebieten. Dass es auch anders geht, zeigen Länder wie Schweden, Zypern und Island. Dort ist der internationale Standard längst erfüllt.

Deutschlands Palliativverbände hoffen nun auf einen Bundesrahmenvertrag zwischen Medizinern, Pflege und den Kassen. Der soll nicht nur die Zusammenarbeit zwischen regulären und spezialisierten Pflegeteams verbessern, sondern auch den Finanzrahmen neu definieren. Ein entscheidender Aspekt bleibt aber vorerst unberücksichtigt: eine verbindliche Qualitätskontrolle. So, wie sie in Hessen bereits realisiert wird.

Hessen: Marktforschung zur Qualität von Sterbebegleitung
Michaela Hach ist Geschäftsführerin des Fachverbands SAPV Hessen, dem hessischen Verband für spezialisierte Palliativversorgung. Gute ambulante Palliativversorgung dürfe kein Zufall sein, meint die Expertin. Bisher bezahlen die Krankenkassen die ambulante Palliativversorgung weitgehend auf Vertrauensbasis. Wie gut sie ist, wird nicht kontrolliert.

Schwerstkranker Mann wird zu Hause palliativ behandelt, vor seinem Pflegebett steht ein ganzes Arsenal von schmerzlindernden Medikamenten (Foto: Imago, imago images/Sven Simon)
Palliativmedizinische Versorgung am Lebensende muss vor allem menschlich sein und genügend Zeit, Fürsorge und Mittel zur Verfügung haben
Imago imago images/Sven Simon
Aus diesem Grund wurde ein Fragebogen mit Antwort-Optionen und Skalen eingeführt, das Projekt ELSAH. Ein Befragungskatalog, der aus der Marktforschung stammen könnte. Aber geht das überhaupt? Kann man Menschen, die in der letzten Lebensphase angekommen sind, im Sterben, mit so etwas behelligen? Das war eine große Frage für alle, die an dem hessischen Pilotprojekt beteiligt waren.

Nur der offene Umgang mit Mängeln ermöglicht gute Patientenbetreuung
Michaela Hach war überrascht von der großen Bereitschaft und Teilnahme. Viele Patienten sahen in dem Projekt die Möglichkeit, etwas Sinnbringendes am Lebensende tun zu können, auch für die nachfolgenden Schwerstkranken und sterbenden Menschen.

In Hessen ist die Befragung der Sterbenden und ihrer Angehörigen zum festen Bestandteil der internen Qualitätssicherung geworden. Andere Bundesländer zögern noch. Doch nur der offensive Umgang mit den eigenen Mängeln und Schwachstellen garantiert eine optimale Patientenbetreuung.

Palliativteams in Bayern erhalten Beratung per Videochat
Ländliche Region und Stadt können aber auch zusammenarbeiten. Wie in der Klinik Agatharied in Oberbayern. Hier unterstützt ein spezialisiertes Team der neurologischen Abteilung die Betreuerinnen und Betreuer von Sterbenden vor Ort. Mit modernster Technik. Per Videochat. Die gute Resonanz des Projekts hat das Land Bayern überzeugt.

Zu Hause Verstorbener auf einer Liege, sein Hut, ein kleiner Strauß Rosen und ein Fliederzweig liegen auf seinem Bett (Foto: Imago, imago/Sommer)
Dieser Mann starb friedlich zu Hause und wird für den Transport vorbereitet
Imago imago/Sommer
Der Dienst wird mittlerweile landesweit ausgebaut. Schon bald können sich alle bayerischen Palliativteams per Video-Chat von der Klinik Agatharied beraten lassen. Vorerst nur bei neurologischen Problemen wie Parkinson oder Demenz. Doch damit ist das Potenzial der Idee nicht ausgeschöpft, denn auch andere medizinische Fachdisziplinen können hier mitarbeiten. Und das ganze ohne lange Anfahrtswege und Zeitverluste. Schon wird geprüft, ob sich die Idee auch für Schmerzmediziner und Palliativärztinnen eignet.

Viele Menschen sterben allein
Eines kann aber auch die raffinierteste Technik nicht ersetzen: menschliche Zuwendung und Fürsorge. Die kämen uns immer mehr abhanden, mahnt der Gießener Soziologe Reimer Gronemeyer in seinem viel beachteten Buch “Sterben in Deutschland”.

Für Gronemeyer ist der Wunsch nach dem “friedlichen Sterben zu Hause” oft eine tragische Illusion, denn viele Menschen sterben allein, ohne Freunde oder Familie an ihrer Seite. Und das gilt heute auch zunehmend in ländlichen Regionen – wenn die Kinder in die Stadt gezogen und die Freunde schon gestorben sind.

Palliativmedizinische Versorgung am Lebensende muss darum vor allem menschlich sein und genügend Zeit, Fürsorge und Mittel zur Verfügung haben.
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INHALT
Manuskript zur Sendung
SWR2 Wissen Zu Hause sterben - Palliativversorgung auf dem Land Von Horst Gross
Sendung: Montag, 25. Januar 2021, 8:30 Uhr
Redaktion: Sonja Striegl Regie: Günter Maurer Produktion: SWR 2020

Die WHO hat 2014 die angemessene Palliativversorgung am Lebensende als
Menschenrecht angemahnt. Trotzdem fehlt sie in Deutschland immer noch vor allem
auf dem Land.
Bitte beachten Sie:
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2
Atmo:
Bauernhof, Hühner
Sprecher:
Ein abgelegener Bauernhof in Sachsen-Anhalt: Hühner, ein paar Tauben und Enten,
früher Kühe, heute Schweine. Landwirtschaft auf dem platten Land. Bis vor kurzem
war für Landwirt Karl-Heinz die Welt noch in Ordnung. Dann die Hiobsbotschaft. Das
Krebsleiden seiner Frau war unerwartet schnell fortgeschritten. Ihr Zustand kritisch.
Zurück in die Klinik, das kam nicht infrage. Hier zu Hause, auf dem Hof, wollte sie
ihre letzten Tage erleben.
O-Ton Bauer Karl-Heinz:
Hier ist das Zimmer, wo sie gelegen hat und verstorben ist. Da kam alles raus und
das Bett war hier hingestellt. Ein Beatmungsgerät war noch da. Hat sie nicht
gebraucht, weil sie es gar nicht nehmen wollte.
Sprecher:
Ein Viertel der deutschen Bevölkerung lebt in ländlichen Regionen1. Hier gibt es die
größten Probleme, dem Wunsch nach einem Tod in der eigenen Häuslichkeit
nachzukommen.
Ansage:
Zu Hause sterben – Palliativversorgung auf dem Land. Von Horst Gross.
Atmo:
Auf dem Land
Sprecher:
Ein paar Monate sind nun vergangen seit dem Tod der Bauersfrau. Genug Abstand,
um mit Freunden und Nachbarn über das Erlebte zu reden.
O-Ton Bauer Karl-Heinz und Nachbarin:
Weil ihr Wunsch war das. Für uns war es schwerer … Sie wollte zu Hause.... Sie hat
bloß zu mir gesagt: Du musst dich jetzt ein bisschen mehr kümmern. Die wollte
unbedingt zu Hause. Sie wollte nicht verlegt werden.
Sprecher:
Zu Hause sterben, das ist auf dem Land nichts Außergewöhnliches, erklärt eine
Nachbarin.
O-Ton Nachbarin:
Normal war früher: Die sind alle zu Hause gestorben. Man konnte auch ins
Krankenhaus, aber die wollten ja zu Hause sterben. Ist hier die letzte Zeit jemand zu
1https://de.statista.com/statistik/daten/studie/152879/umfrage/in-staedten-lebende-bevoelkerung-indeutschland-und-weltweit/
3
Hause gestorben? … Nein, ich wüsste nicht. … Das ist ja auch, weil hier ist ja kein
Arzt. Man muss immer in die Stadt fahren.
Sprecher:
Gemeindeschwester und Hausarzt, die wie selbstverständlich Tag und Nacht
erreichbar sind, das ist längst vorbei. Auch beim Sterben stehen heute wirtschaftliche
Zwänge im Vordergrund. Konkret bedeutet das: minimale Betreuung durch den
örtlichen Pflegedienst und ein Hausarzt oder eine Hausärztin, die nur gelegentlich
mal reinschauen. Eine weitere Nachbarin der Familie fasst das Erlebte in deutlichen
Worten zusammen:
O-Ton Nachbarin:
Ich habe das ja mitangesehen. Das fand ich richtig grausam. Eigentlich muss ich
sagen, ist es so, dass man fast Angst kriegen kann, auf dem Dorf zu wohnen. Und
nachher, später im Alter nicht mehr mobil sein zu können. Und das finde ich sehr
traurig.
Sprecher:
Lange Anfahrtswege, schlechte Bezahlung und hoher Arbeitsdruck. Das sind die
Rahmenbedingungen für Pflegedienste auf dem Land. Keine guten Voraussetzungen
für die Betreuung von Sterbenden.
O-Ton Nachbarin:
Die kriegen einen Schlüssel. Die kommen rein. … Dann wird ihr „Schema F“
abgearbeitet. Dann ist da immer dieser Zeitdruck. Das verstehe ich auch. Das ist
heutzutage nur ein Geschäft. Das ist nur Waschen, Anziehen, Tablettengeben.
Tschüss. Und ein Mensch, der wirklich in der letzten Phase seines Lebens ist,
bräuchte ein bisschen mehr der Zuwendung und vor allen Dingen fachliche Hilfe. Das
hat gefehlt. Und der Mensch bleibt auf der Strecke.
Sprecher:
Dann eskalierte die Situation. Quälende Schmerzen und heftige Luftnot signalisierten
den nahen Tod der Bauersfrau. Doch der lokale Pflegedienst war überlastet. Auf
Drängen der Familie übernahm kurzfristig ein palliativmedizinisch geschultes
Spezialteam den Fall bis zum Tod der Frau. Nur, dieses sogenannte „SAPVPflegeteam“ war im weit entfernten Magdeburg stationiert.
O-Ton Nachbarin:
Das von Magdeburg extra jemand kommen muss, dass das hier nicht um die Ecke
ist. Ich meine, wie lange muss sich ein Mensch quälen, bevor er eigentlich irgendeine
Spritze bekommt, die mich von Schmerzen und Qualen befreit? Also das ist wirklich.
Ich habe das ja mit angesehen. Das fand ich richtig grausam.
Sprecher:
Schnittstellenproblem, nennt man im Fachjargon solch eine Katastrophe. Und solche
Schnittstellenprobleme zwischen den Pflegediensten sind in ländlichen Regionen gar
nicht so selten.
4
O-Ton Tabea Friedersdorf:
Die haben einen strammen Ablauf in ihrem Pflegedienst, der sehr eng getaktet ist.
Sprecher:
Weiß Tabea Friedersdorf von den Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg. Ihre
Stiftung ist in der Region für die palliativmedizinische Versorgung zuständig.
O-Ton Tabea Friedersdorf:
Der Pflegedienst muss ja erkennen, wie ist denn der Patient. Das erwarte ich von
einem Pflegedienst mit Fachkompetenz. Und wenn immer mehr Symptome auftreten,
dann muss ich als Pflegedienst wissen: Okay, also der scheint jetzt in die palliative
Phase zu gehen. Und wenn jetzt so ein schreiender Mensch im Bett liegt, dann
können sie zwar Morphin verabreichen. Aber wenn das Gespräch dazu fehlt, sag ich
mal, dann funktioniert das Morphin ja auch nicht. Ja, wenn die Aufklärung fehlt: Ihre
Frau oder ihr Mann ist jetzt so und so, weil das Lebensende absehbar ist. Weil er
einfach Angst bekommt, wenn's dunkel ist oder, oder, oder. Es gibt ja viele Dinge, die
man nicht mit Medikamenten wegspritzen kann. Die einfach am Lebensende
auftreten. Wo es viel auch um Emotionen geht, um Angst und nicht wissen, was
passiert denn jetzt mit meinem Körper.
Sprecher:
Grund des Übels sind die gesetzlichen Vorgaben. Für das Sterben zu Hause sind in
erster Linie die ganz normalen Pflegedienste zuständig. Doch die müssen ihre
Tagesabläufe und Fahrtstrecken an der Routineversorgung orientieren.
O-Ton Tabea Friedersdorf:
Die Pflegedienste sind anders getaktet. Die sind auf Zeit getaktet. Und wenn dann so
ein Palliativpatient dazu kommt, dann bringt es oft das System durcheinander. Von
daher wird es immer schwieriger, das ist wirklich ein Problem, immer schwieriger,
Pflegedienste zu finden, die den Palliativpatienten versorgen. Das ist so.
Sprecher:
Reguläre Pflegedienste, die eine aufwendige Palliativversorgung übernehmen,
müssen ihre Mitarbeiter entsprechend qualifizieren. Ob das in der Praxis umgesetzt
wird, ist fraglich.
O-Ton Tabea Friedersdorf:
Ich glaube, dass dort die Fachkräftegewinnung für den Pflegedienst, dass das
wirklich ein großes Problem ist. Es ist eine Fluktuation gerade im Gange, was ja
wirklich, finde ich, katastrophal ist für diese Pflegedienste. Und dann gibt es eben
auch Hilfskräfte dazu. Und wenn mal keine Fachkraft da ist? Was wollen sie denn
machen? Wie sollen denn die Leute versorgt werden? Und auf dem Land ist das,
finde ich, eine Katastrophe. Weil, die haben ja auch weite Flächen und so was. In der
Stadt kriegt man das alles vielleicht noch gehändelt. Und wenn das dann nicht
ausreichend finanziert wird, weil die Fachkräfte dort hingehen, wo sie besser
finanziert werden, dann haben die Pflegedienste wirklich ein Problem.
Sprecher:
5
Und dieses Problem bekommen dann ausgerechnet Sterbende und ihre
Angehörigen zu spüren. Sie erhalten keine ausreichend qualifizierte
Palliativversorgung.
Atmo Bundestag:
Das Wort hat der ….
Sprecher:
Aber wollte der damalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe nicht genau
solche Zustände verhindern, als er mit viel Pathos 2015 das neue Hospiz- und
Palliativgesetz in den Bundestag einbrachte?
O-Ton Hermann Gröhe:
Wir wollen Menschen überall dort gut begleiten, wo sie sterben. Zu Hause. [Beifall]
Sprecher:
[über Beifall] Die WHO hat 2014 die angemessene Palliativversorgung am
Lebensende als Menschenrecht angemahnt2. Die Bundesregierung musste also
handeln.
O-Ton Hermann Gröhe:
Wir können Menschen durch Palliativmedizin und Hospizversorgung nicht die Angst
vor dem Sterben nehmen. Aber unerträglicher Schmerz muss nicht sein. Einsamkeit
in der letzten Lebensphase muss nicht sein. [Beifall]
Sprecher:
Versprechen, die gut klingen und Wählerstimmen bringen. Aber sie blieben eine
Mogelpackung. Denn die Palliativversorgung ist in Deutschland kein Teil der direkten
staatlichen Daseinsfürsorge, wie etwa Feuerwehr und Rettungsdienst. Der
Gesetzgeber hat die Umsetzung an die Krankenkassen delegiert. Und die haben
weitgehend freie Hand, wie viele Mittel sie in die ambulante Palliativmedizin stecken
wollen.
O-Ton Tabea Friedersdorf:
Ja, das Schwierige ist, dass Sterbende und Schwerstkranke keine Lobby haben.
Sprecher:
Professor Winfried Hardinghaus, Vorsitzender des Deutschen Hospiz- und
Palliativverbandes, meint:
2SIXTY-SEVENTH WORLD HEALTH ASSEMBLY WHA67.19 24 May 2014 - URGES Member States:
(1) to develop, strengthen and implement, where appropriate, palliative care policies to support the
comprehensive strengthening of health systems to integrate evidence-based, cost-effective and
equitable palliative care services in the continuum of care, across all levels, with emphasis on primary
care, community and home-based care, and universal coverage schemes;
(2) to ensure adequate domestic funding and allocation of human resources, as appropriate, for
palliative care initiatives, including development and implementation of palliative care policies,
education and training, and quality improvement initiatives, and supporting the availability and
appropriate use of essential medicines, including controlled medicines for symptom management;
6
O-Ton Winfried Hardinghaus:
Es fehlt immer noch die Unterstützung der breiten Öffentlichkeit, wiederum der Politik
und der Kostenträger. Die Kostenträger müssen dafür sorgen, dass ihre Versicherten
eine ausreichende palliative Versorgung haben.
Sprecher:
Etwa 3.500 Euro pro Kopf und Jahr erhalten die gesetzlichen Krankenkassen3. Doch
nur rund 10 Euro davon fließen in die Finanzierung der Ambulanten Palliativmedizin,
also in das „Sterben zu Hause”4. Reichen diese knappen Mittel aus, um eine
Minimalversorgung mit Palliativteams zu finanzieren?
O-Ton Winfried Hardinghaus:
Bisher noch nicht. Wir sind auf dem Weg. Viel besser als 2015, aber es gibt immer
noch Lücken, vor allem im ländlichen Gebiet. Natürlich gibt es in solchen Gebieten
auch noch gute Hausärzte, die nicht mitgezählt werden. Es gibt auch noch gute
Pflegedienste. Das können wir aber nicht kontrollieren. Darüber können wir nichts
sagen. Und der Gesetzgeber hat die Möglichkeit der spezialisierten Versorgung
geschaffen. Die Betroffenen haben ein Recht darauf, spezialisiert ambulant palliativ
versorgt zu werden. Also müssen wir uns dafür einsetzen, dass diese Bedingungen
erfüllt werden können.
Musik
Sprecher:
Zwei Drittel der Fläche Deutschlands sind ohne angemessene spezialisierte
ambulante Palliativversorgung5. Blinde Flecken auf dem Versorgungsatlas finden
sich vor allem in den neuen Bundesländern, aber auch in Süddeutschland. 850.000
Menschen leben in der südlichsten Region Baden-Württembergs, also in den
Landkreisen Hochschwarzwald, Lörrach, Waldshut und Schwarzwald Baar-Kreis. Die
Region, doppelt so groß wie das Saarland, verfügt erst seit Kurzem über ein einziges
SAPV-Team. Notgedrungen bliebe da am Lebensende oft nur der Weg in die Klinik,
inklusive kostspieliger Therapieversuche, kritisiert der Berliner Palliativmediziner
Hardinghaus.
O-Ton Winfried Hardinghaus:
Und jetzt müssten Sie mal die Zahlen dagegenhalten, die es jetzt auch gibt, für
Therapien am Lebensende. Das ist ein Zigfaches, ein Mehrfaches. Da sind die
ganzen onkologischen Therapien, die ich weiß Gott nicht kritisieren will. Es ist für den
Einzelnen segensreich. Aber da wird ganz, ganz, ganz viel Geld ausgegeben, auch
3 2020 : GKV Einnahmen 256 Mrd. € bei 73 Mio. Mitgliedern: 3506 €
4 Bundesgesundheitsministerium 2019: Gesetzliche Krankenversicherung Vorläufige
Rechnungsergebnisse 1. bis 4. Quartal 2019: SAPV incl Medikamente und Heilmittel: 8,41 € jährlich
pro Versichertem, zusätzlich ärztliche Kosten lt Wissenschaftliches Institut AOK 23.851.863,41 €,
allgem Pflegekosten werden statistisch nicht erfasst.
5 Bertelsmann-Stiftung: Palliativversorgung – Modul 2 –
Strukturen und regionale Unterschiede in der Hospiz- und Palliativversorgung, Autor
Heiner Melching (Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin), 2015. Aufgrund eines Gerichtsurteils,
das aus wettbewerbsrechtlichen Gründen die Gründung neuer SAPV-Stützpunkte praktisch
untersagt, ist der Stand von 2015 immer noch aktuell.
7
für Therapien für Menschen am Lebensende, wo wir sagen würden: Ob hier nicht die
Palliativmedizin sowieso besser greift? Muss man da immer noch teure
Chemotherapien ansetzen. Das, denke ich, ist auch noch für die Zukunft ein
Problem.
Sprecher:
Nicht nur die pflegerische Versorgung ist bei der ambulanten Palliativbetreuung
massiv unterfinanziert. Gleiches gelte auch für die Hausärzte, die sich
palliativmedizinisch spezialisieren:
O-Ton Winfried Hardinghaus:
Da hakt es an den Vergütungen, die den Ärzten – und das kann ich gut
nachvollziehen – völlig unzureichend erscheinen, nicht attraktiv ist für sie. Sie
müssen ja, wenn sie so einen Kurs machen, aus der Praxis raus und müssen dafür in
Vorleistung. Das erscheint nicht attraktiv.
Sprecher:
Mindestens ein SAPV-Team pro 100.000 Einwohner entspricht dem internationalen
Standard6. Der bundesdeutsche Durchschnitt liegt dagegen bei 0,3 Teams. Und die
konzentrieren sich vornehmlich in den Ballungsgebieten. Dass es auch anders geht,
zeigen Länder wie Schweden, Zypern und Island. Dort ist der internationale Standard
längst erfüllt. Deutschlands Palliativverbände hoffen nun auf einen
Bundesrahmenvertrag zwischen Medizinern, Pflege und den Kassen. Der soll nicht
nur die Zusammenarbeit zwischen regulären und spezialisierten Pflegeteams
verbessern, sondern auch den Finanzrahmen neu definieren. Ein entscheidender
Aspekt bleibt aber vorerst unberücksichtigt: eine verbindliche Qualitätskontrolle. So,
wie sie in Hessen bereits realisiert wird.
Musik
O-Ton Michaela Hach:
Auch in Hessen haben wir schwierige ländliche Regionen. Dennoch ist es gelungen,
dass Hessen flächendeckend zumindest mit spezialisierter ambulanter
Palliativversorgung versorgt ist.
Sprecher:
Michaela Hach ist Geschäftsführerin des Fachverbands SAPV Hessen. Gute
ambulante Palliativversorgung dürfe kein Zufall sein, meint die Expertin.
O-Ton Michaela Hach:
Erst mal hat jeder Patient das Recht auf palliative Versorgung, wenn sie notwendig
ist. Und da müssen wir dringend daran arbeiten, dass jeder Patient, der
schwerstkrank und auch sterbend Palliativversorgung benötigt, hier auch
niederschwelligen Zugang bekommt. Und zwar nicht zufällig oder nur weil mal
gerade jemand daran denkt, sondern gesichert.
6 EAPC Atlas of Palliative Care in Europe 2019
8
Sprecher:
Bisher bezahlen die Krankenkassen die ambulante Palliativversorgung weitgehend
auf Vertrauensbasis. Wie gut sie ist, wird nicht kontrolliert.
O-Ton Michaela Hach:
Derzeit wird geprüft, ob die Leistungen entsprechend auch korrekt abgerechnet
wurden. Qualitätsprüfungen in dem Sinne finden derzeit darüber hinaus nicht statt.
Und deswegen haben wir gesagt: Wir müssen auf anderen Wegen für eine
Qualitätssicherung sorgen. Und das führte letztendlich dann auch zu unserem
Forschungsprojekt.
Sprecher:
Das Projekt ELSAH sollte prüfen, ob die subjektive Zufriedenheit der Patientinnen
und Patienten mit ihrer Versorgung objektiv messbar ist.
O-Ton Michaela Hach:
Es war uns wichtig, auch zu schauen: Wie fühlt der Patient seine Symptome zum
Beispiel gelindert, wie stark wird sein Würdeerleben mit einbezogen, fühlte sich der
Patient zu Hause sicher und war sich auch sicher, dass er jederzeit anrufen kann?
Man kennt seine Situation. Man ist darauf eingestellt. Und fühlt sich da eigentlich
auch versorgt und umsorgt. Also wir haben das so aufgestellt, dass es auch in
anderen Bundesländern angewendet werden kann und dass es auch eine Akzeptanz
entwickeln kann.
Sprecher:
Herausgekommen ist ein Fragebogen mit Antwort-Optionen und Skalen. Ein
Befragungskatalog, der aus der Marktforschung stammen könnte. Aber geht das
überhaupt? Kann man Menschen, die in der letzten Lebensphase angekommen sind,
im Sterben, mit so etwas behelligen? Das war eine große Frage für alle, die an dem
hessischen Pilotprojekt beteiligt waren.
O-Ton Michaela Hach:
Also das war eine große Überraschung, wie groß diese Bereitschaft und Motivation
war. Das hat mich auch sehr berührt, uns alle sehr berührt in dem
Forschungsprojekt. Und viele Patienten haben da auch durchaus geäußert, dass das
eine Art Vermächtnis ist, auch für die nachfolgenden Schwerstkranken und
sterbenden Menschen. Damit noch etwas tun zu können. Also auch noch mal was
Sinnbringendes am Lebensende tun zu können, indem sie im Prinzip an dieser
Studie teilgenommen haben.
Sprecher:
In Hessen ist die Befragung der Sterbenden und ihrer Angehörigen zum festen
Bestandteil der internen Qualitätssicherung geworden. Andere Bundesländer zögern
noch. Doch nur der offensive Umgang mit den eigenen Mängeln und Schwachstellen
garantiert eine optimale Patientenbetreuung. Eine Betreuung, die auch die
Angehörigen miteinbeziehen muss. Denn sie sind mit der Situation meist überfordert.
O-Ton Anke Kiltz:
9
Ich habe auch gesehen, was die Leute machen mit meinem Mann. Also das könnte
ich gar nicht.
Sprecher:
Der Mann von Anke Kiltz litt an einer schweren Herzerkrankung. Wie ihn das SAPVTeam in der Sterbephase betreut hat, war für sie eine einschneidende Erfahrung.
O-Ton Anke Kiltz:
Wie man ihn lagert. Wie man ihn hochzieht. Wie man ihn auf dem Toilettenstuhl hält.
Also ganz viele praktische Sachen. Mein Mann musste ja viele Tabletten nehmen. Es
gibt einen kleinen... sowas wie Öl im Mund. Dann ist das einfacher, die Tabletten zu
schlucken. Weil er ja Schwierigkeiten mit dem Schlucken hatte. Es waren immer so
praktische Sachen, die meinem Mann Linderung gaben. Also das war eine große
Hilfe.
Sprecher:
Eine Hilfe, die ihren Preis hat. Eine spezialisierte palliativmedizinische Hauspflege
belastet die Kassen pro Jahr mit bis zu 32.000 Euro7. Das aber sei gut angelegtes
Geld, meint die Geschäftsführerin des Fachverbands SAPV Hessen Michaela Hach.
O-Ton Michaela Hach:
Spezialisierte ambulante Palliativversorgung ist teuer? Das würde ich als relativ
bezeichnen. Weil für diese Patienten bisher keine andere Versorgungsform zum
Tragen kam, denn sie sind ins Krankenhaus häufig gekommen. Und das ist ja das,
was SAPV, also die spezialisierte ambulante Palliativversorgung, verhindern will und
somit letztendlich dann auch zu einer Kostenersparnis führen kann.
Musik
Sprecher:
Mit dem Tod des Patienten und der Patientin endet oftmals die professionelle
Palliativversorgung. Zurück bleiben Angehörige, bei denen angeblich "die Zeit alle
Wunden heilt". Ein Vorurteil, warnt der Münchner Psychologe und Psychotherapeut
Professor Martin Fegg.
O-Ton Martin Fegg:
Angehörige sind mindestens genauso belastet wie der Patient selbst. Insgesamt ist
davon auszugehen, dass etwa ein Drittel bis die Hälfte der Angehörigen psychische
Belastungen erleben, bei denen – vielleicht auch nur kurzfristig – professionelle
Beratung und Hilfe guttun würden.
Sprecher:
Für Angehörige öffnet sich durch den Tod eines lieben Mitmenschen oft ein
schwarzes Loch, aus dem so mancher allein nicht mehr herausfindet.
7 Rusche, Herbert, et al. "Medizinische Versorgung und Kosten im letzten Lebensjahr." DMWDeutsche Medizinische Wochenschrift 141.22 (2016): e203-e212.
10
O-Ton Martin Fegg:
Gefühle von einer depressiven Stimmung. Dass es zum überwältigenden Gefühl von
Hilflosigkeit oder auch übergroßen Ängsten kommt. Und einfach große Energie- und
Kraftlosigkeit. Die können einem deutlich machen, dass dann eine professionelle
Unterstützung nötig sein kann.
Atmo:
Trauercafé, Gemurmel
Sprecher:
Um Menschen in einer solchen Krise aufzufangen, gibt es Trauercafés. Sie bieten
auch fachliche Unterstützung an. Doch die entscheidende Hilfe bringt meist der
Austausch mit anderen Betroffenen.
O-Ton Trauernder:
Vor zwei Jahren ist meine Lebensgefährtin verstorben. Krebs. Und auf einmal
plötzlich allein. In dem Moment ist man ja erstmal weggesackt. Ja, so irgendwo:
Lebensmittelpunkt und -Inhalt ist in dem Moment mal weg. Und da war ich auch
zufrieden und dankbar, dass man einfach jemand hatte. Einen Zuhörer.
Sprecher:
Und dafür ist dieser Mann aus Brandenburg bereit, eine relativ lange Anfahrt in Kauf
zu nehmen. Hier im Trauercafé des Malteser-Hilfsdienstes in Berlin-Treptow hat er
nun die Möglichkeit, sich mit anderen Trauernden auszutauschen und seine Sorgen
loszuwerden. Denn im Berliner Umland sind solche Einrichtungen rar. Dabei wusste
er bis vor Kurzem gar nicht, dass es so etwas überhaupt gibt.
O-Ton Trauernder:
Das war einfach der Zufall. Flyer. Aha, das ist es. Da musst du mal hin. Und hat man
auch sehr, sehr geduldig zugehört. Und es war sehr, sehr angenehm.
Sprecher:
Freunde und Bekannte verhielten sich Trauernden gegenüber oft hilflos, weiß
Cornelia Schütze. Die Sozialpädagogin gehört zum Team, das das Trauercafé des
Malteser Hilfsdienstes in Berlin-Treptow betreut.
O-Ton Cornelia Schütze:
Viele Menschen, gerade in der Umgebung von Trauernden, denken immer, sie
müssen jetzt ganz viel machen. Also da kommen ganz viele Ratschläge. Kauf dir
doch ein Haustier. Kauf dir doch einen Hund. Kauf dir doch einen Papagei und
sowas alles.
Sprecher:
Gut gemeinte Ratschläge, die wenig helfen. Denn die Betroffenen möchten keine
Allgemeinplätze hören, sondern mit ihren Emotionen klarkommen. Und genau hierzu
sind Trauercafés gedacht.
O-Ton Cornelia Schütze:
11
Sie können reden. Auch Tränen haben da Raum. Auch Gefühle, die man nicht so
gerne vor anderen zeigt. Trauernde machen häufig die Erfahrung, dass auch zum
Beispiel Wut, Aggression oder so jetzt bei ihnen aufkommen. Wo sie sagen: Das
kannte ich vorher gar nicht von mir. Das muss ich aber jetzt gut versteckt halten. Das
kann problematisch werden. Weil Trauer braucht Ausdruck und die Gefühle haben da
quasi den Raum.
O-Ton Trauender:
Da wird gequatscht, wer möchte. Also ist jetzt nicht so ein Druck „Du musst jetzt
irgendwas sagen“. Man kann auch dort zuhören, Erfahrungen machen oder einfach
unter Gleichgesinnten sitzen. Und war danach dann so ein zweiter Teil. Noch
gemütlich bei Kaffee und Kuchen gesessen. Und da wurde die Stimmung in dem
Moment natürlich ein bisschen lockerer. Auch teilweise ist es lustig. Einfach sich frei
reden in dem Moment.
Sprecher:
Gelegentlich finden sich Trauercafés auch in ländlichen Regionen. Doch die Berliner
Sozialpädagogin Cornelia Schütze hat beobachtet, dass Trauernde dort die
Anonymität vermissen.
O-Ton Cornelia Schütze:
Also ich glaube, dass es für viele schon eine kleine Hemmschwelle sein kann, die
Befürchtung, dass da jetzt auch Nachbarn sitzen oder jemand, der was Persönliches
von mir erfährt, was ich vielleicht eigentlich niemanden mitteilen möchte.
Sprecher:
Trotzdem lohnt es sich, auch im eigenen Umfeld gezielt nach Beistand zu suchen,
gibt der Münchner Trauerexperte Professor Fegg zu bedenken.
O-Ton Martin Fegg:
Am wichtigsten ist, die Erfahrung zu machen, dass man nicht allein ist, sondern den
Austausch mit anderen zu ermöglichen. Gerade im ländlichen Raum gibt es einfach
auch zwei große Vorteile: Der soziale Zusammenhalt ist oftmals auch ein stärkerer.
Und zum anderen können sich somit eben auch Türen öffnen zu Personen, die
vielleicht Ähnliches erfahren haben, Ähnliches durchlebt haben und so eben auch
Rat und tatkräftige Unterstützung geben.
Musik
Atmo:
Telekonferenz
Sprecher:
Ländliche Region und Stadt können aber auch zusammenarbeiten. Wie in der Klinik
Agatharied in Oberbayern. Hier unterstützt ein spezialisiertes Team der
neurologischen Abteilung die Betreuerinnen und Betreuer von Sterbenden vor Ort.
Mit modernster Technik. Per Videochat.
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Atmo:
Telekonferenz
O-Ton Christiane Weck:
Die Idee dahinter ist einfach, dass man sagt: Neurologische Patienten brauchen
auch eine Versorgung, wenn Sie in eine palliative Phase kommen.
Sprecher:
Die Ärztin Christiane Weck gehört zum Team von Professor Stefan Lorenzl:
O-Ton Christiane Weck:
Daraufhin hat mein Chef diese Idee geboren, diese neuro-palliative Expertise, die er
hat durch lange Jahre Erfahrung, dann per Telemedizin quasi an die SAPV-Teams
weiterzugeben bzw. mit denen diese Expertise zu teilen.
Atmo:
Telekonsil
Sprecher:
Heute geht es um die Medikamente eines Parkinson-Patienten. Auf ihrem Tablet
kann die Neurologin per Video die Krankheitssymptome beurteilen und die
Medikamente anpassen.
O-Ton Christiane Weck:
Unser Projekt ist jetzt wirklich ein Projekt, wo das Team beim Patienten zu Hause ist
und uns den Patienten per Videokamera zeigt. Der Patient kann uns auch sehen
quasi. Wir können uns direkt mit dem Patienten und mit dem Kollegen, der vor Ort ist,
bzw. dem Pflegenden, der vor Ort ist, unterhalten. Wir können den Patienten dazu zu
Hause untersuchen und können dann Therapieempfehlungen zum Beispiel machen.
Wir betreuen vorwiegend Patienten, die aufgrund ihrer Mobilität die Wohnung nicht
mehr verlassen können. Und diese Patienten sind enorm dankbar dafür, dass sie
weiterhin einen Facharzt sehen können auf diesem Weg, einen neurologischen
Facharzt. Weil neurologische Fachärzte, die Hausbesuche machen, die gibt es so
gut wie gar nicht mehr, muss man sagen.
Sprecher:
Die gute Resonanz des Projekts hat das Land Bayern überzeugt. Der Dienst wird
landesweit ausgebaut. Schon bald können sich alle bayerischen Palliativteams per
Video-Chat von der Klinik Agatharied beraten lassen. Vorerst nur bei neurologischen
Problemen wie Parkinson oder Demenz. Doch damit ist das Potenzial der Idee nicht
ausgeschöpft.
O-Ton Christiane Weck:
Aus meiner Sicht zum Beispiel geht es gut auch auf andere Fachdisziplinen zu
übertragen. Dass man sagt: Der Urologe kann mal mit draufschauen. Der Kardiologe
kann mal mit draufschauen. Also Disziplinen, die vielleicht jetzt in den Teams nicht
regelhaft vorhanden sind, können das gut ergänzen.
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Sprecher:
Und das Ganze ohne lange Anfahrtswege und Zeitverluste. Schon wird geprüft, ob
sich die Idee auch für Schmerzmediziner und Palliativärztinnen eignet. Doch eines
kann auch die raffinierteste Technik nicht ersetzen: menschliche Zuwendung und
Fürsorge. Die kämen uns immer mehr abhanden, mahnt der Gießener Soziologe
Reimer Gronemeyer in seinem vielbeachteten Buch „Sterben in Deutschland”8.
O-Ton Reimer Gronemeyer:
Das Wichtigste am Lebensende, dass da jemand ist, der Zeit hat. Also da sein, für
den Anderen.
Sprecher:
Für Gronemeyer ist der Wunsch nach dem „friedlichen Sterben zu Hause” deshalb
oft eine tragische Illusion.
O-Ton Reimer Gronemeyer:
Was heißt das denn: zuhause sterben? Wenn ich als 85-Jähriger irgendwo in einem
Appartement im dritten Stock eines Mietblocks wohne und keine Freunde sind da
und keine Familie ist da. Dann kann ich zwar sagen: Ich sterbe zu Hause, aber das
hat mit dem, was damit gemeint ist, ja eigentlich nichts zu tun. Es ist das zu Hause
sterben immer unmöglicher geworden, weil die freundschaftliche Sorge, die dafür
erforderlich wäre, ja immer seltener anzufinden und anzutreffen ist.
Sprecher:
Und das gilt heute auch zunehmend in ländlichen Regionen, wenn die Kinder in die
Stadt gezogen und die Freunde schon gestorben sind.
O-Ton Reimer Gronemeyer:
Wenn die Zeichen des Todes auf dem Antlitz eines Menschen zu erkennen sind, hat
der Arzt den Raum zu verlassen. Das hat bei uns bis ins 19. Jahrhundert hinein
gegolten. Jetzt ist das ganz umgekehrt: Der Priester ist verschwunden, der
medizinische Experte steht am Bett und mit ihm eine ganze Reihe von weiteren
Experten: Spezialisten für spirituelle Begleitung, Schmerzspezialisten usw., sodass
man sich teilweise sogar schon entschlossen hat, einen Case-Manager, einen FallManager, hinzuzuziehen, der all diese Experten miteinander in Verbindung bringt. Ob
das das ist, wohin wir wollten, ist ja wohl eher die Frage.
Sprecher:
Palliativmedizinische Versorgung am Lebensende muss menschlich sein. Ohne
sozialen Kontakt könnte sie zum reinen Aktionismus degenerieren.

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