Sterbehilfe und Patientenverfügungen


 Fachtagung: Februar 2007, Heinrich-Böll-Stiftung,
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lehrstuhl.lipp@jura.uni-goettingen.dehttp://www.jura.uni-goettingen.de/lipp/

Sterbehilfe und Patientenverfügungen sind heute wichtige Themen.
Viele Menschen machen sich Gedanken darüber, wie sie mit
dem medizinischen Fortschritt umgehen sollen. Denn die Chancen
ärztlicher Lebensverlängerung können zur Belastung werden,
wenn die Intensivmedizin das Leben auch um den Preis der
Leidens- und Sterbensverlängerung erhält. Gegenüber solchen
existenziellen Fragen ist der Gesetzgeber bisher blind geblieben.
Hier verlässliche rechtliche Regelungen zu fordern soll nicht
gegen den Wunsch nach verbesserter Palliativversorgung und
gegen den Ausbau der Hospizarbeit ausgespielt werden. Es geht
um die grundrechtliche Freiheit der Selbstbestimmung der
Patienten. Bis zum Lebensende.
Der Deutsche Bundestag will den Missstand fehlender gesetzlicher
Regelungen in den nächsten Wochen und Monaten beheben.
Geplant ist ein Gesetzentwurf als Gruppenantrag aus der Mitte
des Parlaments. Der Fraktionszwang wird wie bei der Debatte
und Verabschiedung des Stammzellgesetzes aufgehoben.
Die Fachtagung macht den Auftakt zu der zu erwartenden großen
Debatte im Deutschen Bundestag.Auf ihr sollen die strafrechtlichen
und zivilrechtlichen Probleme von Patientenverfügung und
Sterbehilfe im Kontext der geltenden Verfassungslage und der leitenden
Verfassungsprinzipien erörtert werden.
DIE FREIHEIT ZU STERBEN
Selbstbestimmung durch
Sterbehilfe und Patientenverfügungen

Die Freiheit zu sterben.
Selbstbestimmung, Sterbehilfe und Patientenverfügungen
Fachtagung der Heinrich-Böll-Stiftung und der Humanistischen Union
Dienstag, 27. Februar 2007
Einführung durch Ralf Fücks,
Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung
Die heutige Tagung behandelt ein schwieriges Thema. Denn wir
sprechen über die rechtliche Normierung medizinischer Behandlung in
Grenzbereichen des Lebens. Dort können sich angesichts des nahen,
des erwarteten oder des erwünschten Todes ganz andere Fragen
aufdrängen als in den Situationen, die der überkommenen juristischen
Normierung des Arzt-Patient-Verhältnisses als Modell zugrunde
liegen.
Die Debatte über eine Neuregelung dieses politischen, rechtlichen
und medizinischen Grenzbereichs ist in vollem Gang. Denn die
bestehenden Regelungen können nicht mehr befriedigen. Unübersehbar
lösen die Möglichkeiten der modernen Medizin, insbesondere der
modernen Intensivmedizin Ängste aus – Ängste, dass Grenzen des
Humanen überschritten werden, vor Bevormundung und Entmündigung, vor
einem medizintechnisch in die Länge gezogenen Sterben, das sich dem
Willen des Patienten entzieht. Die Schlagworte dafür sind
„seelenlose Medizin“ und „Sterben zwischen Maschinen und
Schläuchen“.
Die Kehrseite dieses Albtraums bilden Ängste vor zuwenig Therapie,
vor dem „Tod in Weiß“ durch selbstherrliche Handlungen des
Medizinpersonals oder durch schlichte Vernachlässigung – nicht
zuletzt vor dem Hintergrund des Kostendrucks in den Sozialsystemen.
Die einen wie die anderen Sorgen werden verstärkt, solange
Öffentlichkeit und Politik die veränderten Realitäten des Sterbens
angesichts einer sich rasant wandelnden modernen Medizin und eines
im Umbruch befindlichen Gesundheitswesens weitgehend tabuisieren.
Eine offene Diskussion dieser Fragen ist dringend erforderlich. Wir
hoffen, dass die heutige Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung
und der Humanistischen Union zu ihr beitragen wird und den Auftakt
zu einer großen Debatte im Deutschen Bundestag bildet, in der die
Abgeordneten, frei vom Fraktionszwang und nur ihrem Gewissen
verpflichtet, die Grundüberzeugungen unserer Gesellschaft im
Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und existentieller
Abhängigkeit am Lebensende thematisieren.
Elitendiskurs und Mehrheitsmeinung
Soll man die Beendigung einer medizinischen Behandlung verlangen
dürfen, auch wenn das den sicheren Tod bedeutet? Soll es aktive
Sterbehilfe geben und wie würde diese sich zum ärztlichen Ethos
2
verhalten? Soll der Arzt Schmerz- und Beruhigungsmittel einsetzen
dürfen, die als sichere Nebenfolge den Sterbensprozess beschleunigen
und wie lässt sich diese indirekte von aktiver Sterbehilfe
abgrenzen? Soll man festlegen können, dass man nicht mehr behandelt
wird, falls man ins Koma fällt oder demenzkrank wird? Oder verfügt
man damit über eine Person, die man heute noch nicht ist und deren
Wünsche man heute nicht kennt? Wer kann in solchen Situationen
Treuhänder und Bevollmächtigte sein? Diese Fragen bewegen die
Öffentlichkeit.
Parlament und Regierung müssen sich noch eine zweite Kategorie von
Fragen stellen: Wieweit ist die Politik als normsetzende Instanz für
diese ethischen Grenzfragen überhaupt zuständig? Und wie engmaschig
sollen rechtlich-politische Regelungen für den Übergangsbereich vom
Leben zum Tod sein? Wie viel Autonomie soll also Patienten,
Angehörigen und Ärzten eingeräumt werden, solche Entscheidungen nach
eigenem Willen und Gewissen miteinander auszuhandeln? Staatliche
Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht von Patienten und in die
ethischen Maxime von Ärzten bedürfen ihrerseits einer normativen
Begründung. Aber auch der Verzicht auf straf- und zivilrechtliche
Normierung von Grenzfällen des Arzt-Patient-Verhältnisses wäre eine
weitreichende Entscheidung, die begründet werden muss.
Wie das Parlament nun entscheidet, ist ungewiss. Absehbar ist
jedoch, dass es sich in seiner mit Mehrheit getroffenen Entscheidung
wohl vom Wertverständnis der Bevölkerungsmehrheit unterscheiden
wird. In der Bevölkerung beherrscht der Wert der Selbstbestimmung
das Ethos moderner Lebensführung. Das ist in einer pluralistischen
und individualistischen Gesellschaft auch gar nicht anders zu
erwarten. Umfragen zeigen, dass Selbstbestimmung heute auch dort die
zentrale Kategorie bildet, wo Entscheidungen über das Ende des
eigenen Lebens getroffen oder erwogen werden. Der Einfluss
religiöser Deutungen, die das Leben und Sterben des Einzelnen in
einen größeren Sinnzusammenhang stellen, Demut vermitteln und die
Bereitschaft lehren, sich in sein Schicksal zu fügen, tritt diesem
modernen Individualismus gegenüber zurück. So befürworten 64 Prozent
der Bevölkerung die aktive Sterbehilfe und mehr als 70 Prozent
lehnen deren gesetzliches Verbot ab. Und rund 90 Prozent der
Befragten verlangen, dass in Patientenverfügungen getroffene
Vorfestlegungen für Ärzte und Pflegepersonal bindend zu sein haben.
Die politische Elite Deutschlands sieht das mehrheitlich anders. Ihr
Diskurs über Sterbehilfe bezieht sich immer wieder auf den
Zivilisationsbruch der Nazizeit, auf die historische Erfahrung einer
verbrecherischen Euthanasie-Politik. Vor diesem Hintergrund und mit
dem Hinweis auf unabsehbare Missbräuchlichkeit wehrt ein Großteil
der politischen Klasse in Deutschland die Debatte über aktive
Sterbehilfe ab. Auch die Bindewirkung von Patientenverfügungen wurde
durch komplizierte Formerfordernisse erschwert. Ob die historische
Erfahrung der nationalsozialistischen Verbrechen allerdings auf
Dauer den Bezugsrahmen für medizinethische Entscheidungen einer
individualistischen und pluralistischen Gesellschaft bilden kann,
muss mit wachsendem zeitlichen und emotionalen Abstand zur
nationalsozialistischen Herrschaft, dem Sterben der letzten
Zeitzeugen und im Kontext einer multikulturellen
Einwanderungsgesellschaft bezweifelt werden. Daraus folgt freilich
nicht, dass es nicht doch ganz angemessen sein kann, die
3
Verabsolutierung der Selbstbestimmung in Form einer absolut
gesetzten Patientenautonomie zu begrenzen – und zwar im Interesse
der Patienten selbst.
Prinzipienstreit zwischen Lebensschutz und Selbstbestimmung
In Deutschland werden die staatliche Verpflichtung zum Schutz des
Lebens und die freie Selbstbestimmung am Lebensende gegeneinander
gestellt. Zwar könnte man einwenden, dass die Erhaltung des Lebens
die Bedingung für die künftige Ausübung der Freiheit sei, so dass
der Lebensschutz als Selbstverpflichtung dem Recht der
Selbstbestimmung inhärent wäre. In der Praxis manifestiert sich die
Prinzipienfestigkeit des Lebensschutzes allerdings eher als
Misstrauen in die zivile Kraft der Mitmenschlichkeit, in
vertrauensvolle zwischenmenschliche Beziehungen, in denen ein
Mensch seine Not mit anderen besprechen kann, von ihnen verstanden
und beraten wird, so dass sein Selbstbestimmungsrecht sich als
sozial eingebettete, beziehungsreiche Selbstbestimmung äußert. Die
deutsche Orientierung auf abstrakte Prinzipien ist auch Ausdruck des
Misstrauens in die kommunikative Vernunft sozialer Institutionen –
in diesem Fall des Gesundheitswesens und speziell der Beziehung
zwischen Patient und medizinischem Personal. Was als Schutz der
Patienten gedacht ist, muss in der Praxis nicht unbedingt zu ihrem
Vorteil sein.
Patientenemanzipation
Hinter der Forderung nach Patientenautonomie steht vielfach die
Vorstellung, die Medizin sei Serviceleistung und der Patient sei
Kunde. Vertraulichkeit werde durch Vertraglichkeit ersetzt.
Tatsächlich lässt sich das Verhältnis Patient – Gesundheitssystem
nicht auf ein Vertragsverhältnis zwischen Kunden und Anbietern
reduzieren. Überspielt wird damit, dass sich der zum Patienten
gewordene Kranke in eine Situation der Fürsorge und der
Abhängigkeit, also der treuhänderischen Verwaltung seiner Autonomie
begibt. Dieser Verwaltung wird mit Misstrauen begegnet und Autonomie
als negative Freiheit, als Abwehr von Bevormundung durch die
ärztliche Expertokratie oder als Emanzipation vom Paternalismus der
medizinischen Fürsorge interpretiert. Auch hier beobachten wir also
die Abgrenzung gegenüber einem fürsorglich zu denkenden
Gesundheitswesen aus Misstrauen und mangelnde Zuversicht in deren
kommunikative Vernunft. Dass Kassen, Krankenhäuser und Ärzte
Patienten in existentiellen Entscheidungsfragen allein lassen, muss
wohl als ein Fall krasser Unterversorgung und Vernachlässigung
betrachtet werden – selbst und gerade wenn sich die schlimmsten
Ängste der Überversorgung im Fall eines elenden und langen „Sterbens
zwischen Maschinen und Schläuchen“ bewahrheiten.
Sterbehilfe im Kontext: ein verbessertes Gesundheitssystem und
bessere medizinische Betreuung
Das Gesundheitssystem darf die Patienten am Ende ihres Lebens nicht
mit sich und ihren Ängsten allein lassen. Dazu brauchen wir
kommunikativ geschultes medizinisches Personal. Dazu brauchen wir
dringend den Ausbau der Palliativmedizin in allen Krankenhäusern und
4
viel mehr Hospize. In guten Gesundheitsinstitutionen, so ist zu
hoffen, treffen Sterbende auf Situationen, die sie in ihren
Patientenvorausverfügungen so vielleicht nicht bedacht und erwartet
haben – sei es dass sie im neu gewonnenen Vertrauen auf die
medizinische Fürsorge ihre Vorausverfügung verwerfen und sich länger
behandeln lassen oder im Konsens mit dem medizinischen Personal die
Behandlung abbrechen oder durch die Verabreichung von Sedativa mit
lebensverkürzenden Nebenfolgen substituieren lassen.
Zu welchem Ergebnis auch immer die parlamentarische Willensbildung
in der Frage der Patientenautonomie am Lebensende und der
Verbindlichkeit der Patientenverfügung gelangen wird: es wäre sicher
gut, wenn es sich nicht von der Vorstellung des isolierten Patienten
als Kunden leiten ließe, der für sich Wahlfreiheit reklamiert,
sondern vom Bild einer sozial eingebetteten Patientenautonomie.
Indirekt wird nämlich auch über unsere Vorstellung von einem
gerechten und effizienten Gesundheitssystem verhandelt. Dessen
Qualität wird sich nicht zuletzt daran ablesen lassen, wie mit
Entscheidungen am Lebensende umgegangen wird. Der medizinische
Fortschritt, der wachsende finanzielle Druck auf die Sozialsysteme
und die demographischen Veränderungen werden zu Situationen führen,
in denen immer häufiger Entscheidungen über Behandlung und
Behandlungsabbruch am Lebensende notwendig werden.
Alle Lösungen, die heute gefunden werden, müssen sich der Frage
stellen, wie sie sich in Zukunft unter dem größeren externen Druck
bewähren werden. Und sie müssen die Freiheitsgrade von Menschen in
der Übergangsphase zum Tode erweitern: weder sollen sie durch
unwürdige Umstände oder durch Kostengründe zum Abbruch von
medizinischer Behandlung gedrängt, noch gegen ihre eigenen Wünsche
und Empfindungen am Sterben gehindert werden. Es mag in manchen
Ohren frivol oder gar zynisch klingen, von der „Freiheit zu sterben“
zu sprechen, wo doch der Tod in vielen, wenn nicht den allermeisten
Fällen als ein erzwungener Abschied erscheint, der sich der
Selbstbestimmung entzieht, und der in hohem Maß mit den Attributen
des Leids, der Hilflosigkeit und der Abhängigkeit von anderen
gekoppelt ist. Aber die menschliche Freiheit als Kern der
Menschenwürde erweist sich gerade damit, wie wir als Individuen und
als politisches Gemeinwesen mit der letzten Phase unseres Lebens
umgehen.
5
Dank an die gute Zusammenarbeit mit der Humanistischen Union,
insbesondere an deren Bundesvorsitzende Professor Rosemarie
Will. Dank an das Referat Bildung und Wissenschaft (Andreas
Poltermann und Stephan Ertner), auch für die Anregungen zu
dieser Einführung.
Übergabe des Worts an Rosemarie Will.

Dr. Ulf Kämpfer – Goethestr . 26 – 24116 Kiel
Sterbehilfe und Verfassung
Thesen
1. Der entscheidende Gradmesser für die Menschenwürdigkeit medizinischer Behandlung
ist das Maß des Respekts, der den Wünschen und Bedürfnissen und damit der
Selbstbestimmung des Patienten entgegengebracht wird. Was darüber hinaus unter
einem Recht auf einen menschenwürdigen Tod zu verstehen ist, findet in Art. 1
Abs. 1 GG kaum argumentative Anknüpfungspunkte.
2. Das Grundgesetz schützt nicht nur spezifische Verfügungsrechte wie das Recht auf
passive und indirekte Sterbehilfe, sondern ein allgemeines und umfassendes Verfügungsrecht
über das eigene Leben. Für die dogmatische Zuordnung des Verfügungsrechts
in Frage kommen Art. 2 Abs. 1 GG oder – wofür die besseren dogmatischen
Argumente sprechen ‐ eine autonomieorientierte Auslegung des Rechts auf Leben
und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
3. Das Verfügungsrecht gilt auch, wenn ein Patient seine Entscheidungsfähigkeit verloren
hat, er aber für diesen Fall in einer Patientenverfügung vorab geäußert hat, unter
welchen Voraussetzungen er einer lebenserhaltenden Behandlung nicht mehr zustimmt.
4. Die Beteiligung Dritter ist aus Sicht des sterbewilligen Patienten lediglich eine Frage
der Modalität der Ausübung des Verfügungsrechts. Die Wahl der Modalität der Lebensbeendigung
gehört untrennbar zur eigentlichen Verfügungsfreiheit.
5. Auch die aktive Sterbehilfe und die Selbsttötungsbeihilfe fallen deshalb unter das
Verfügungsrecht über das eigene Leben. Damit verbunden ist allerdings kein Anspruch
auf die Leistung von aktiver Sterbehilfe oder Selbsttötungsbeihilfe.
6. Eingriffe in das Verfügungsrecht bedürfen verfassungsrechtlicher Rechtfertigung.
Grundrechtsbeschränkende Eingriffe sind z.B. die Anwendung der §§ 212, 216, 222
oder 323 c StGB auf Fälle der Sterbehilfe und assistierten Selbsttötung.
7. Als Gründe für Beschränkungen kommen insbesondere die Sicherung eines freiverantwortlichen
Sterbewillens sowie die Pflicht zu individuellem und allgemeinem Lebensschutz
in Betracht. Besondere Bedeutung kommt der Verhinderung von Missbrauch
und Schiefe‐Ebene‐Effekten zu.
8. Passive Sterbehilfe bei entscheidungsfähigen Patienten kann nur in engen Grenzen
beschränkt werden. Das gilt auch für die Einstellung künstlicher Ernährung und
Hydrierung.
9. Im sensiblen Bereich der passiven Sterbehilfe bei entscheidungsunfähigen Patienten
gibt es gute Gründe für einen „weichen Paternalismus“ gegenüber einem SterbeDr.
Ulf Kämpfer – Goethestr . 26 – 24116 Kiel – ulf.kaempfer@jumi.landsh.de
wunsch. Hohe Anforderungen an die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung und
begleitende Verfahrensregelungen zur Vermeidung von Willensmängeln und irrtümlichen
oder missbräuchlichen Entscheidungen sind verfassungsgemäß.
10. In vielen Fällen ist die Anwendung des Grundsatzes „In dubio pro vita“ die angemessene,
jedenfalls aber verfassungsmäßige Reaktion auf Unsicherheiten bei der Willensermittlung.
11. Werden im Entscheidungsprozess ergänzend allgemeine Wertvorstellungen herangezogen,
darf dies nur patientenzentriert geschehen. Die Orientierung an allgemeinen
Wertvorstellungen im Sinne von „objektiven Patienteninteressen“ rückt nicht an
die Stelle von Selbstbestimmung, sondern ist deren imperfekter, unter den gegebenen
Umständen aber bestmöglicher Ausdruck.
12. Eine Beschränkung des Rechts auf passive Sterbehilfe auf die Sterbensphase oder tödliche
Krankheitsverläufe ist bei entscheidungsfähigen Patienten verfassungswidrig.
Entsprechende Beschränkungen der Reichweite von Patientenverfügungen sind verfassungsrechtlich
prekär.
13. Das Verbot aktiver Sterbehilfe durch § 216 StGB (Tötung auf Verlangen) ist verfassungsgemäß.
Leistet ein Arzt einem schwer leidenden, entscheidungsfähigen Patienten
in Krankheitsendstadium, dessen Leiden palliativmedizinisch nur unzureichend
gelindert werden kann und der zu einer Selbsttötung körperlich nicht in der Lage ist,
auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin aktive Sterbehilfe, kann eine Bestrafung aus
§ 216 StGB jedoch unverhältnismäßig sein.
14. Die Möglichkeiten verfassungsmäßiger Beschränkung der Verfügungsfreiheit korrespondieren
nicht mit einer entsprechenden Beschränkungspflicht. Der Gesetzgeber
hat bei der Wahrnehmung grundrechtlicher Schutzpflichten im Bereich der Sterbehilfe
einen weiten Einschätzungs‐ und Ermessensspielraum. Er ist nicht verpflichtet, die
von einem urteilsfähigen Patienten gewünschte Sterbehilfe strafrechtlich zu verbieten.
15. Aus dem Gebot zur Optimierung der Grundrechtsgewährleistung folgt, bei der Gestaltung
des Sterbens nicht zuerst an Sterbehilfe zu denken, sondern an Lebenshilfe in
Form von Fürsorge, Solidarität und Leidensminderung, damit sich tragische Entscheidungskonflikte
am Ende des Lebens so selten wie möglich stellen.

Prof. Dr. Rosemarie Will, Bundesvorsitzende der Humanistischen Union
Zur Eröffnung der Fachtagung „Die Freiheit zu sterben –
Selbstbestimmung durch Sterbehilfe und Patientenverfügung“
am 27. Februar 2007
Die HUMANISTISCHE UNION hat als 1961 gegründete
Bürgerrechtsorganisation 1978 die Diskussion über die Rechte von
Kranken und Sterbenden in die Öffentlichkeit getragen. Sie hat im
Rahmen dieser Diskussion – erstmals im Jahre 1984 – eine
Patientenverfügung publiziert.
Seither sind Patientenverfügungen immer populärerer geworden1.. Ihre
juristische Verbindlichkeit wird zunehmend weniger bestritten. Gleichwohl
fehlt es bis heute an einer gesetzlichen Regelung. Generell ist der
Gesetzgeber blind geblieben gegenüber dem existenziellen Problem des
Sterbens. Wegen des Fehlens gesetzlicher Regelungen bleibt das Thema
Sterbehilfe in der Gesellschaft weitgehend tabuisiert. Dabei müssten
sowohl die strafrechtlichen als auch die zivilrechtlichen Aspekte der
Sterbehilfe geregelt werden, damit in der Gesellschaft auch jenseits
individueller Vorstellungen vom eigenen Tod Klarheit über die Rechte
Sterbender entsteht. Die Realisierung von Fürsorge und Hilfe gegenüber
dem Sterbenden geschieht nicht im rechtsfreien Raum. Wer dem
Sterbenden helfen will, muss immer auch seine Rechtspositionen sichern
und stärken. Die Meinung der Enquete-Kommission des letzten
Bundestages „Ethik und Recht der modernen Medizin“, dass kein
gesetzlicher Handlungsbedarf bestehe, die Politik sich jedoch eingehend
mit den ethischen und rechtlichen Fragen der aktiven Sterbehilfe, der
ärztlichen oder pflegerisch assistierten Selbsttötung, der direkten und der
1 Eine Emnid-Umfrage aus dem Jahr 2000 (Emnidhttp://www.hozpize.de/texte/emnid2000.htm.) ergab, dass 81% der Befragten für
den Fall ihrer Entscheidungsunfähigkeit vorsorgen wollen. Nach einer Schätzung der Deutschen Hospiz Stiftung aus dem Jahr 2003
haben bereits ca. 7 Mio. Menschen eine Patientenverfügung verfasst.
passiven Sterbehilfe sowie des Behandlungsabbruches befassen müsse2,
geht fehl. Eine politische Befassung ohne gesetzgeberische Konsequenzen
verfehlt nicht nur generell ihr Ziel, sondern in einem Fall wie diesem, wo
die Politik bisher nur mit den Mitteln des Strafrechts reagiert, setzt sie den
eigentlichen Grund für die gesellschaftliche Tabuisierung. Dabei ist auch
hier der Gesetzgeber nicht frei von den Vorgaben der Verfassung. Er muss
insbesondere die grundrechtlich geschützte Freiheit gewährleisten und
jedes Verbot als Grundrechtseingriff rechtfertigen, auch das strafrechtliche
Verbot der aktiven Sterbehilfe.
Die Legalisierung von Sterbehilfe und die Diskussion um die juristische
Verbindlichkeit von Patientenverfügungen sind inhaltlich insoweit
miteinander verbunden als in der Patientenverfügung für den Fall der
Entscheidungsunfähigkeit vorverfügt wird, und die Verbindlichkeit der
Vorverfügung davon abhängt, welche Art der Sterbehilfe erlaubt bzw.
verboten ist. Zu den strafrechtlichen Problemen der verbotenen
Sterbehilfe kommen angesichts der Tatsache, dass immer weniger
Menschen im familiären Umfeld sterben, zivilrechtliche Probleme der
Bindungen von Ärzten, Pflegern und Betreuern an den vom Sterbenden
geäußerten bzw. in der Patientenverfügung vorverfügten Willen.
Letztlich kann die Diskussion dieser strafrechtlichen und zivilrechtlichen
Probleme in einer pluralistischen Gesellschaft, deren ethische Grundlagen
zunehmend heterogener werden, nur dann gelingen, wenn ein
Verfassungskonsens zum Thema gebildet wird. Zu seiner Bildung ist eine
Diskussion der geltenden Verfassungslage unabdingbar. Dabei kann nicht
ausschließlich aus der Verfassung deduziert werden, was zum Thema
Sterbehilfe und Patientenverfügung geboten ist, aber es muss das
bestimmt werden, was aus den Grundrechten für die Zulässigkeit von
Sterbehilfe und Patientenverfügung folgt und damit als Freiheitssicherung
unhintergehbar auch für den Gesetzgeber ist.
Wir haben die Tagung so organisiert, dass nacheinander die
strafrechtlichen, zivilrechtlichen und verfassungsrechtlichen Probleme der
2 BTDrs. 15/5980
gegenwärtigen Diskussion zum Thema Sterbehilfe/ Patientenverfügung
analysiert und aufgearbeitet werden können.
Weil bisher weitgehend gesetzliche Regelungen zur Sterbehilfe und
Patientenverfügung fehlen, erfolgt die Rechtsentwicklung zum Thema
Sterbehilfe/Patientenverfügung durch Richterrecht im Wege der
höchstrichterlichen Rechtsprechung. Die gesetzgeberischen
Reformbemühungen zum Thema Patientenverfügungen und Sterbehilfe
reagieren in der Regel nur auf die Ergebnisse der Rechtssprechung und
versuchen, diese nachzuvollziehen bzw. zu korrigieren. Beim
Pingpongspiel zwischen der höchstrichterlichen Rechtsprechung und dem
Gesetzgeber, ist die Rechtsprechung noch in der Vorhand, aber der
Gesetzgeber will nun handeln.
Derzeit ist es vor allem die Rechtsprechung des 12. Zivilsenates des
BGH in den Beschlüssen vom 07.03.2003 und 08.06.2005, die für die
juristischen Kontroversen in Sachen Strebehilfe/Patientenverfügung sorgt.
Diese Kontroversen prägten die Gesetzgebungsdiskussion der 15.
Legislaturperiode des Bundestages. Dabei haben sich die
gesetzgeberischen Vorschläge überwiegend mit der Verbindlichkeit von
Patientenverfügungen befasst; die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe
wurde ausdrücklich aus den Reformbemühungen ausgeschlossen.
Die maßgeblichen politischen Reformbemühungen im Kontext
Patientenverfügung/Sterbehilfe sind zum einen die Ergebnisse der von der
Bundesjustizministerin unter Rot/Grün eingesetzten Arbeitsgruppe
„Patientenautonomie am Lebensende“ und dem darauf basierenden
Referentenentwurf des Justizministeriums, zum anderen die
Stellungnahmen der Enquetekommission des letzten Bundestages „Ethik
und Recht der modernen Medizin“. Die Stellungnahmen des nationalen
Ethikrates zu diesen Themen aus der vorherigen3 und der neuen
Legislaturperiode4 sind zwar thematisch breit angelegt, bezogen auf einen
3 Siehe dazu insgesamt www.nationalerethikrat.de, für die vergannene Legislaturperiode: Nationaler Ethikrat, Wortprotokoll des
Forum Bioethik vom 11. Juni 2003, Nationaler Ethikrat, Wortprotokoll der Öffentlichen Tagung vom 31.03.2004 in Augsburg
Nationaler Ethikrat, Wortprotokoll der Öffentlichen Tagung vom 24.11.2004 in Münster.
4 Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, Stellungnahme vom 13. Juli 2006
Gesetzesvorschlag aber weniger konkret als die Vorschläge der BMJArbeitsgruppe.
Zur Verbindlichkeit der Patientenverfügung hat sich auch die
Bundesärztekammer mit ihren Grundsätzen zur ärztlichen
Sterbebegleitung geäußert. Diese haben in der Praxis der Sterbehilfe für
die Haltungen der Ärzte und ihrer Institutionen erhebliche Bedeutung. Die
Bundesärztekammer hat 1998 in den „Grundsätzen zur ärztlichen
Sterbebegleitung“5 Patientenverfügungen als eine wesentliche Hilfe für
den Arzt bezeichnet. 1999 hat die Bundesärztekammer in
„Handreichungen für Ärzte zum Umgang mit Patientenverfügungen“6 auch
zu den möglichen Inhalten Stellung bezogen. In den überarbeiteten
„Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung“ von 20047 hat sie den in
einer Patientenverfügung zum Ausdruck gebrachten Willen zur Ablehnung
einer ärztlichen Behandlung als bindend bezeichnet. Einen
Gesetzgebungsvorschlag der Bundesärztekammer gibt es nicht.
Von besonderem Gewicht sind auch Äußerungen des Deutschen
Juristentages. Dieser hat in den letzten zwanzig Jahren dreimal zum
Thema debattiert und abgestimmt, auf dem 56.DJT 1986 zum „Recht auf
den eigenen Tod“, auf dem 63. DJT 2000 zur Frage „Empfehlen sich
zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am
Ende des Lebens“ und auf dem 66. DJT 2006 zur „Patientenautonomie und
Strafrecht bei der Sterbebegleitung“. Die wichtigsten
Gesetzgebungsvorschläge aus der Wissenschaft sind die strafrechtlichen
Alternativentwürfe von 1986 zur Sterbehilfe8 und von 2005 zur
Sterbebegleitung9.
Die große Koalition will laut Koalitionsvereinbarung „die Diskussion über
eine gesetzliche Absicherung der Patientenverfügung fortführen und
abschließen“.10 Derzeit wird im Deutschen Bundestag über drei
unterschiedliche Gesetzgebungsvorschläge diskutiert. Die von uns
5 Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung, NJW,1998, S. 3406
6 Handreichung für Ärzte zum Umgang mit Patientenverfügungen, in: BtPrax, 2000,S.10f
7 Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, Deutsches Ärzteblatt vom 7.5.2004.
8 Baumann u. a. Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe, Stuttgard, New York 1986.
9 Schöch/Verrell, Alternativ- Entwurf Sterbebegleitung, GA 2005,553ff
10 Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit, Koalitionsvertrag zwischen CDU,CSU und SPD,11.11.2005,
Rdnr.6030-6032
gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung organisierte Tagung will in den
Prozess der nun beginnenden Gesetzgebung hineinwirken. Wir haben
deshalb zum Abschluss der Tagung ein Podium mit den Vertretern der
Gesetzgebungsvorschläge und der Ärzte organisiert.
Die gegenwärtige Gesetzgebungsdebatte zu Sterbehilfe und
Patientenverfügung ist dort angekommen, wo sie in der letzten
Legislaturperiode aufgehört hat.
Der Hauptstreitpunkt ist klar: Soll die Patientenverfügung auch
außerhalb der unmittelbaren Sterbephase gelten? Dabei vertritt die
Humanistische Union den Standpunkt, würde der Gesetzgeber die
Verbindlichkeit der Patientenverfügung auf die unmittelbare Sterbephase
begrenzen, wäre dies kein Akt ihrer Anerkennung, sondern ein Akt ihrer
Entwertung. Bei einer verfassungsrechtlichen Überprüfung hätte das
Gesetz gute Chancen, aufgehoben zu werden.
Zudem ist für eine klare zivilrechtliche Regelung zur Verbindlichkeit der
Patientenverfügung auch die strafrechtliche Zulässigkeit der Sterbehilfe im
Strafgesetzbuch durch Ergänzung des § 216 StGB zu regeln. Der 2005
von Professoren vorgestellte Entwurf eines Sterbebegleitungsgesetzes und
auch das strafrechtliche Gutachten für den Juristentag 2006 hat dies zu
Recht gefordert.
In der Streifrage, ob passive Sterbehilfe außerhalb der unmittelbaren
Sterbephase zulässig ist oder nicht, bekennen sich Entwurf und Gutachten
klar:
„Ebenso abzulehnen ist eine Beschränkung vorausverfügter
Behandlungsbegrenzungen auf Erkrankungen, die bereits einen
irreversiblen tödlichen Verlauf genommen haben. Das
Selbstbestimmungsrecht des Patienten beinhaltet die Rechtsmacht, auf
jede mit einem körperlichen Eingriff verbundene medizinische Maßnahme
zu verzichten... „ 11
11 Torsten Verrel, a.a.O.S.85.
In diesem Sinne wünsche ich unser Tagung einen konstruktiven und guten
Verlauf.

Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht Tel.: 0551/39-7380
und Rechtsvergleichung Fax: 0551/39-12391
Platz der Göttinger Sieben 6 l
37073 Göttingen
Prof. Dr. Volker Lipp
Universität Göttingen
Selbstbestimmung und Vorsorge
BERLIN 27.2.2007
Ø Ärztliche Behandlung am Lebensende
§ Rechtliche Struktur der ärztlichen Behandlung
§ Bedeutung der ärztlichen Indikation
§ Bedeutung der Patientenautonomie
Ø Betreuung, ärztliche Behandlung und „Sterbehilfe“
§ Aufgaben des Betreuers bei der ärztlichen Behandlung
§ Handlungsmaßstab für den Betreuer
§ Aufgaben des Vormundschaftsgerichts
§ Genehmigung für „Sterbehilfe“? - Die Entscheidungen des BGH
(12. Zivilsenat) vom 17.3.2003 und 8.6.2005
Ø Betreuungsverfügung
§ Vertrauensperson als Betreuer
§ Wünsche für die Tätigkeit von Betreuer und Vormundschaftsgericht
§ „Wohlgrenze“
Ø Vorsorgevollmacht
§ Auftrag und Vollmacht
§ Formen des Vertreterhandelns
§ Vollmacht für Behandlungsentscheidungen am Lebensende
Ø Patientenverfügung
§ Erscheinungsformen
§ Verbindlichkeit
§ Patientenverfügung und Vertreter
§ Rechtsgrundlage
Ø Rechtspolitische Diskussionspunkte
§ Behandlungsverzicht nur in bestimmten Fällen?
§ Betreuung
§ Vorsorgevollmacht
§ Patientenverfügung


Die Freiheit zu sterben.
Selbstbestimmung, Sterbehilfe und Patientenverfügungen
Fachtagung der Heinrich-Böll-Stiftung und der Humanistischen Union
Dienstag, 27. Februar 2007
Referentinnen und Referenten
Ralf Fücks amtiert als Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Nach dem
Studium der Sozialwissenschaften, Ökonomie und Politik arbeitete er als
Lehrbeauftragter an der Universität Bremen und als Dozent in der
Erwachsenenbildung. Seit Mitte der Achtziger Jahre war der gebürtige
Pfälzer in der Bremer Politik für die Grünen aktiv. Ralf Fücks wurde 1996
zum Vorstand der neuen Heinrich-Böll-Stiftung gewählt und 2006 für eine
vierte Amtsperiode bestätigt. Er ist verantwortlich für Strategie und
Programmentwicklung in den Bereichen politische Bildung Inland, Europa und
Nordamerika, für die "Grüne Akademie", das Studienwerk der Heinrich-Böll-
Stiftung sowie für das Archiv "Grünes Gedächtnis".
Markus Grübel MdB ist seit 2002 direkt gewählter Bundestagsabgeordneter des
Wahlkreises Esslingen. Im Bundestag ist er Mitglied im Ausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie stellvertretendes Mitglied im
Rechts- und im Verteidigungsausschuss. Vor seiner Tätigkeit als
Bundestagsabgeordneter arbeitete Markus Grübel zuletzt als Notar in
Stuttgart. Seine Ausbildung machte er von 1979 bis 1984 an der
Notarakademie Stuttgart und arbeitete später u.a. als Leiter des
Grundbuchamtes Dresden und als Referent für EDV, Organisation und
Grundbuchwesen im Sächsischen Staatsministerium der Justiz. Markus Grübel
ist seit 1984 Mitglied der CDU und ist ehrenamtlich in der katholischen
Kirche tätig.
Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe wurde 1999 als Präsident der Bundesärztekammer
(BÄK) und des Deutschen Ärztetages gewählt, 2003 wurde er in
seinem Amt bestätigt. Von 1979 bis 1989 war Prof. Hoppe 1. Vorsitzender des
Bundesverbandes Marburger Bund, seit 1993 ist er auch Präsident der
Ärztekammer Nordrhein. Der Arzt für Allgemeinmedizin und Pathologie, der
als Pathologe am Krankenhaus Düren tätig ist, absolvierte sein Studium von
1960 bis 1965 in Köln und 1975 die Weiterbildung in den Fachgebieten
Pathologie und Allgemeinmedizin. Anschließend wurde er Oberarzt für
Pathologie in Solingen und Düren, seit Mai 1982 ist er Chefarzt des
Instituts für Pathologie der Krankenhaus Düren gGmbH. Daneben lehrt Prof.
Hoppe seit vielen Jahren am Institut für Rechtsmedizin und an der
Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln.
Dr. Ulf Kämpfer ist seit 2005 Referent im Leitungsbereich des Ministeriums
für Justiz, Arbeit und Europa des Landes Schleswig-Holstein. Er studierte
von 1993 bis 1998 Rechtswissenschaften und Philosophie an der Universität
Göttingen und verbrachte Studien- und Forschungsaufenthalte am Irish Centre
for Human Rights in Galway, der Hochschule für Verwaltungswissenschaften
Speyer, der Humboldt-Universität Berlin und der Columbia University New
York. Nach dem zweiten Staatsexamen im Jahre 2004 folgte die Promotion an
der Humboldt-Universität Berlin bei Prof. Dr. Bernhard Schlink zum Thema
„Die Selbstbestimmung Sterbewilliger – Sterbehilfe im deutschen und
amerikanischen Verfassungsrecht“.
2
Von 1998 bis 2000 war Dr. Kämpfer als wissenschaftlicher Mitarbeiter im
Deutschen Bundestag tätig, später arbeitete er u.a. im Ministerium für
Umwelt, Naturschutz und Landwirtschaft des Landes Schleswig-Holstein.
Michael Kauch MdB ist Sprecher für Palliativ- und Transplantationsmedizin
der FDP-Fraktion, für die er seit 2003 im Bundestag sitzt. Bis 2005 war er
außerdem Obmann in der Enquete-Kommission "Ethik und Recht der modernen
Medizin". In dieser Wahlperiode ist Michael Kauch zudem umweltpolitischer
Sprecher seiner Fraktion und Obmann im Parlamentarischen Beirat für
Nachhaltige Entwicklung. Er ist Diplom-Volkswirt, das Studium der
Wirtschafts- und Sozialwissenschaften absolvierte er von 1986 bis 1993 in
seiner Geburtsstadt Dortmund. Der FDP beigetreten ist Michael Kauch 1989
und seitdem in verschiedenen Funktionen in der Partei tätig gewesen, u.a.
als Mitglied im Bundesvorstand und seit 2001 als Vorsitzender des
Bundesfachausschusses Soziales der FDP.
Monika Knoche MdB ist parteilose stellvertretende Fraktionsvorsitzende der
Bundestagsfraktion Die Linke. Sie ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und
Drogenpolitische Sprecherin, stellvertretend u.a. im Ausschuss für
Gesundheit. Nach Abschluss der Realschule ging Monika Knoche in den
mittleren Fernmeldedienst und wurde Mitglied in der Deutschen
Postgewerkschaft. Von 1979 an war die Baden-Württembergerin Mitglied der
Grünen, war u.a. Stadträtin in Karlsruhe und saß von 1994 bis 2002 als
Gesundheitsexpertin und Drogenpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis
90/Die Grünen im Bundestag. Für eine weitere Kandidatur stand sie aufgrund
der rot-grünen Zustimmung zum Afghanistaneinsatz 2002 nicht mehr zur
Verfügung und war danach bis zu ihrem Wiedereinzug in den Bundestag 2005
bei der Bundesverwaltung von Ver.di als Gewerkschaftssekretärin angestellt.
Monika Knoche ist Mitglied im Deutschen Komitee für UNICEF.
Renate Künast MdB ist seit Oktober 2005 Fraktionsvorsitzende von Bündnis
90/Die Grünen im Bundestag. Sie ist seit 2002 Abgeordnete und war von 2001
bis 2005 Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft. Davor war sie Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen,
für die sie bereits die unterschiedlichsten Funktionen ausgeübt hat.
Während und nach der rot-grünen Koalition in Berlin in den Jahren 1989/90
ist sie als Fraktionsvorsitzende bis 1993 und von 1998 bis 2000 tätig
gewesen, dazwischen als rechtspolitische Sprecherin der Fraktion. Nach dem
Studium der Sozialarbeit an der Fachhochschule Düsseldorf arbeitete Renate
Künast von 1977 bis 1979 in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel, später
absolvierte sie ein Jura-Studium, das sie 1985 mit dem zweiten Staatsexamen
abschloss. Renate Künast ist Mitglied des Beirates der Humanistischen Union
e.V.
Prof. Dr. Volker Lipp hat seit 2000 den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht,
Zivilprozessrecht und Rechtsvergleichung an der Georg-August-Universität
Göttingen inne und ist Dekan der juristischen Fakultät. Er habilitierte
1999, zuvor studierte er in Mannheim, Heidelberg und Göttingen, war
wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und
Zivilprozessrecht der Universität Mannheim und promovierte 1994. Im
Wintersemester 1999/2000 war er Lehrstuhlvertreter an der Universität
München. Prof. Lipp verbrachte Forschungsaufenthalte u.a. in Tokio, Osaka,
Oslo und Bergen und war Mitglied der "Working Group on Incapacitated
Adults" der Society of Advanced Legal Studies in London. Er ist Beisitzer
im Vorstand des Vormundschaftsgerichtstag e.V. und war in dieser Funktion
Mitglied in der Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“, die sich
mit Fragen der Verbindlichkeit und Reichweite von Patientenverfügungen
befasste.
Andrea Mittelstädt ist Regierungsdirektorin im Bundesministerium der Justiz
und dort tätig im Sonderbereich Patientenverfügungen.
3
Dr. Till Müller-Heidelberg ist Fachanwalt für Steuerrecht und für
Arbeitsrecht in Bingen mit den Tätigkeitsschwerpunkten im Wirtschafts-,
Gesellschafts- und Arbeitsrecht. Seine Ausbildung machte er u.a. in
Frankreich und bei der EG-Kommission in Brüssel. Dr. Müller-Heidelberg
promovierte im europäischen Gemeinschaftsrecht und war zehn Jahre lang in
leitender Funktion in der Wirtschaft tätig. Er war von 1991 bis 2003
Vorstandsmitglied der Humanistischen Union e.V. und ist heute Mitglied im
Beirat des Vereins, für den er auch Beiträge zum verfassungsrechtlichen
Anspruch auf Sterbehilfe publizierte. Dr. Müller-Heidelberg ist außerdem
Gründungsmitglied der deutschen Sektion der International Association Of
Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA).
René Röspel MdB sitzt seit 1998 als direkt gewählter SPD-Abgeordneter des
Hagen-Ennepe-Ruhr-Kreises I im Bundestag. Er ist Mitglied im Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgensabschätzung sowie stellvertretendes
Mitglied im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. René
Röspel übernahm von 2003 bis 2005 den Vorsitz der Enquete-Kommission "Ethik
und Recht der modernen Medizin", in der er seit 2000 Mitglied ist.
Studiert hat der Diplom-Biologe von 1988 bis 1993 an der Ruhr-Universität
Bochum, worauf bis 1994 ein Studium der Ökologie in Essen folgte. Von 1994
bis 1998 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich
Tumorforschung am Universitätsklinikum Essen. Seit 1983 ist René Röspel in
verschiedenen Funktionen Mitglied der SPD.
Joachim Stünker MdB ist rechtspolitischer Sprecher der SPDBundestagsfraktion
und Mitglied im Rechtsauschuss im Bundestag. Der
ausgebildete Jurist hat seit 1998 ein Direktmandat im Deutschen Bundestag
(Wahlkreis Rotenburg/Verden). Studiert hat Joachim Stünker von 1967 bis
1973 in Berlin und Göttingen, bevor er in der ordentlichen Gerichtsbarkeit
des Landes Niedersachsen tätig wurde. Den Richterberuf übte er 23 Jahre
lang aus, ab 1990 als Vorsitzender Richter am Landgericht Verden. 1965 trat
Joachim Stünker der SPD bei, in der er in den unterschiedlichsten
Funktionen tätig gewesen ist.
Dr. Oliver Tolmein ist seit 2005 als Rechtsanwalt in Hamburg tätig, zu
seinen Rechtsgebieten zählt unter anderem das Medizinrecht. Außerdem nimmt
er Lehraufträge für Sozialrecht, Behindertenrecht und Strafrecht an der
Evangelischen Fachhochschule Rheinland Westfalen Lippe, der Universität
Hamburg und der Universität Lüneburg wahr und arbeitet seit 1983 als
Journalist u.a. für WDR, F.A.Z., taz und konkret. Dr. Tolmein studierte als
Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung von 1995 bis 1999
Rechtswissenschaften in Hamburg und promovierte 2004 am Institut für
Kriminalwissenschaften der Universität Hamburg über "Selbstbestimmungsrecht
und Einwilligungsunfähigkeit. Der Abbruch der künstlichen Ernährung bei
Patienten im vegetative state in rechtsvergleichender Sicht." Er ist
außerdem Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht im Deutschen
Anwaltsverein und in der Akademie für Ethik in der Medizin.
Prof. Dr. Torsten Verrel ist seit 2003 Professor für Rechtswissenschaften
und Direktor des Kriminologischen Seminars an der Universität Bonn. Zuvor
war er als wissenschaftlicher Assistent an der LMU München und als
Lehrstuhlvertreter in Bonn und Bielefeld tätig. Zu seinen
Forschungsschwerpunkten zählen u.a. die strafrechtlichen Grenzen und
zivilrechtlichen Aspekte der ärztlichen Sterbehilfe. Auf dem 66. Deutschen
Juristentag im September 2006 war Prof. Verrel Gutachter zum Thema
Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung. Er studierte in
Marburg und Göttingen und promovierte 1994 mit einer empirischen Studie zur
Schuldfähigkeitsbegutachtung bei Tötungsdelikten. Seine Habilitation mit
einer rechtsdogmatischen Arbeit über den Grundsatz der
Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren wurde 2002 mit dem
Habilitationspreis der LMU München ausgezeichnet.
4
Prof. Dr. Rosemarie Will ist Vorsitzende der Humanistischen Union und
Professorin für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Von 1996 bis 2006 war sie Richterin am Verfassungsgericht Brandenburg.
Rosemarie Will ist SPD-Mitglied und dort Mitglied der SPDGrundwertekommission.
Brigitte Zypries ist seit 2002 Bundesministerin der Justiz und seit 2005
auch erstmals Mitglied des Bundestages mit einem Direktmandat für den
Wahlkreis Darmstadt-Dieburg. Bevor sie 2002 in das Kabinett von Gerhard
Schröder berufen wurde, war sie 1997/1998 Staatssekretärin im
Niedersächsischen Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales und von 1998
bis 2002 Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern. Brigitte Zypries
studierte von 1972 bis 1977 Rechtswissenschaften in Gießen und war
anschließend bis 1984 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der
Universität tätig. Danach arbeitete sie als Referentin in der hessischen
Staatskanzlei und war von 1988 bis 1990 wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Bundesverfassungsgericht. 1991 übernahm sie die Referatsleitung für
Verfassungsrecht in der Niedersächsischen Staatskanzlei, wo sie 1995
Abteilungsleiterin wurde. Seit 1991 ist Brigitte Zypries Mitglied der SPD

Sterbegleitung, Sterbehilfe, Euthanasie

.W+B Agentur-Presseaussendung November 2004
<< Nachtod –Künftiges Erdenleben >>
Buchbesprechung
<<Peter Heusser, Björn Riggenbach: Sterbegleitung, Sterbehilfe, Euthanasie>>
Die aktuelle Problematik aus anthroposophisch-medizinischer Sicht
190 Seiten, gebunden; EUR 29,90

Haupt Verlag, Bern, Stuttgart, Wien, 2003 www.haupt.ch  / www.buchcontact.de , Freiburg.

Zunehmend nimmt die Öffentlichkeit Anteil an der Diskussion um das Sterben in Würde.
Die derzeit propagierte aktive Sterbehilfe und der Wunsch nach Legalisierung tangiert jedoch gravierende ehtische-medizinische Fragen.
Das Herausgeberteam lehnt dazu aktive Sterbehilfe rundweg ab. Ethisch befriedigende Lösungen erscheinen ihnen sowohl palliativ-medizinische Massnahmen als auch religiös-spirituelle Aspekte.
Tötung auf Verlangen wirft die Frage auf nach der Weltsicht und der Würde und dem Willen des Menschen.
Heusser und Riggenbach sehen in der Euthanasie die Konsequenz einer einseitig naturwissenschaftlichen Weltanschauung. Zum Thema des wiederholten Erdenlebens führen die Autoren eine Umfrage heran, die bis zu 74% mit Ja beantwortet wird, wenn gefragt wird: Gibt es Ihrer Meinung nach ein Leben nach dem Tod? Für uns deutet die Antwort  nur auf  das sich nicht Vorbereiten-Wollen des eigenen Sterben-Müssen hin, unbewältigte Angst also und Verdrängung, die daraus spricht. Da hilft natürlich die von beiden Autoren verabreichte Verdrängungs- und Überbrückungs-Pille: Nachtodliche und künftiges Erdenleben

Der Tod gehört zum Leben

Online-Publikation: Oktober 2013 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
<< Gian Domenico Borasio : Über das Sterben . >>
dtv : 208 Seiten . Mit 11 Abbildungen und 5 Tabellen; ISBN 978-3-423-34807-2; 9,90 [D] 10,20 [A] sFr 14,90 [CH]
Deutscher Taschenbuch Verlag, München; www.dtv.de;

Inhalt
Gian Domenico gilt als einer der führenden Palliativmediziner Europas. Ihm ist es maßgeblich zu verdanken, dass sich heute jeder Medizinstudent in Deutschland in seiner Ausbildung mit der Begleitung Sterbender und ihrer Familien auseinandersetzen muss. Seit vielen Jahren steht Gian Domenico Borasio für eine Medizin am Lebensende, die das Leiden lebensbedrohlich Erkrankter lindert, ihre Lebensqualität und die ihrer Angehörigen verbessern will - statt künstlich den Sterbeprozess zu verlängern. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde er durch sein engagiertes Eintreten für ein Gesetz über Patientenverfügungen.
Gian Domenico Borasio schreibt mit einer Mischung aus Feingefühl und Nüchternheit über das Thema »Tod«
»Und die Menschen, die wie am Lebensende betreuen dürfen, lehren uns, dass die Vorbereitung auf das Sterben die beste Vorbereitung für das Leben ist «, so Gian Domenico Borasio.
In ›Über das Sterben‹ beschreibt Gian Domenico Borasio, was wir heute über das Sterben wissen und welche Mittel und Möglichkeiten wir haben, unsere Angst vor dem Tod zu verringern sowie uns auf das Lebensende vorzubereiten. Warum haben wir Angst vor dem Tod? Wovor fürchten wir uns? Was ist der »Tod« überhaupt? Was passiert, wenn wir sterben? Was steckt hinter dem Begriff »Sterbehilfe«? All diese Fragen beantwortet Gian Domenico Borasio in ›Über das Sterben‹.
Gian Domenico Borasios Buch ›Über das Sterben‹ informiert und lindert gleichzeitig Angst und Schmerz
Geburt und Tod haben viel gemeinsam, beides sind Ereignisse, für die die Natur bestimmte Programme vorgesehen hat. Sie laufen dann am besten ab, wenn sie möglichst wenig gestört werden. Palliativbetreuung und Sterbebegleitung, wie Gian Domenico Borasio sie versteht, sind deshalb viel mehr als medizinische Symptomkontrolle. Vor allem leben sie von der Kommunikation, dem Gespräch zwischen allen Beteiligten, das die medizinische, psychosoziale und spirituelle Betreuung erst möglich macht. Gian Domenico Borasio setzt sich in ›Über das Sterben‹ auch mit dem Thema »Sterbehilfe« und mit Mythos und Realität der Palliativ- und Hospizarbeit auseinander. Ungeschminkt benennt er zudem die schlimmsten Fehler am Lebensende und sagt, wie man sich am besten davor schützt, einschließlich konkreter Hinweise zu Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung. Aus der Sicht des Arztes, der sich auch für die Seelennöte der Menschen zuständig weiß, leistet ›Über das Sterben‹ dringend notwendige Aufklärung über ein Lebensthema, das wir mit zahlreichen Tabus belegen.

Autor
Gian Domenico Borasio, geb. 1962, ist Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Universität Lausanne (Schweiz) und Lehrbeauftragter für Palliativmedizin an der Technischen Universität München. Er gilt als einer der führenden Palliativmediziner Europas. Ihm ist es maßgeblich zu verdanken, dass sich heute jeder Medizinstudent in Deutschland in seiner Ausbildung mit der Begleitung Sterbender und ihrer Familien auseinandersetzen muss. Von 2006 bis 2011 hat er als Lehrstuhlinhaber für Palliativmedizin an der Universität München ein bisher einzigartiges Netzwerk an Professuren geschaffen, das alle Bereiche der physischen, psychosozialen und spirituellen Sterbebegleitung in die Lehre und Forschung integriert. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde Borasio durch sein engagiertes Eintreten für ein Gesetz über Patientenverfügungen.
http://de.wikipedia.org/wiki/Gian_Domenico_Borasio 
http://archiv.kultur-punkt.ch/lebenswelt/beck12-12borasio-sterben.htm

Stimmen
SWR2 Zeitgenossen-Palliativmedizin-Borasio
ARD-Themenwoche: Leben mit dem Tod
Sendung am Samstag, 24.11. | 17.05 Uhr | SWR2
Gian Domenico Borasio, Palliativmediziner,
im Gespräch mit Doris Maull:
Er wolle die weitverbreitete Angst vor dem Lebensende ein paar Millimeter herunterbringen. Deshalb schrieb der Palliativmediziner Prof. Gian Domenico Borasio ein Sachbuch mit dem Titel "Über das Sterben". Er will die Angst vor Schmerzen und die Angst, an Apparate ausgeliefert zu sein, mindern. Für ihn haben Geburt und Tod viel gemeinsam. Sie sind Ereignisse, die nach Programmen ablaufen, die die Natur vorgibt. Aber: "Liebevolles Unterlassen fällt Ärzten schwer!" – so beschreibt er die Sterbebegleitung vieler seiner Kolleginnen und Kollegen. Doch statt alles zu tun, was technisch möglich ist, sollten die Ärzte ein friedliches Sterben ermöglichen. Man hat Borasio attestiert, dass er in seinem Buch große Fachkenntnis mit einem mitfühlenden Ton verbindet.

Fazit
In der überzeugenden, klar und schlackenfrei formulierten Monographie von Gian Domenico Borasio " Über das Sterben" stellt er in Untertiteln die Thesen voran : Was wir wissen. Was wir tun können. Wie wir uns darauf einstellen. Er erkundet darin Zell-, Organ-, Hirn- und Nahtod sowie den Gesamttod. Betrachtet die Strukturen der Sterbegleitung : ärztlich, palliativ, ambulant und stationär im Hospiz; sowie therapeutisch psychosozial, spirituell und mediativ. Wann man verhungern und verdursten soll als Dementer oder im Wachkoma bis hin zur selbstbestimmten Sterbehilfe. Auch die Fehler bei der psychosozialen Verständigung oder Therapie kommen zur Sprache. Klar, dass Borasio sich mit der Vorsorge gründlich auseinandersetzt mit de Vollmacht und der Patientenverfügung. Er kommt zum aktuellen Schluss: Die Anerkennung der Palliativmedizin ist noch nicht erreicht aber sie ist " angesicht des Todes DAS Geschenk." Ein tiefbewegendes, jedoch umfassend klärendes Buch zum Abschied vom Leben. m+w.p12-12/13-10
Weitere vertiefende Hinweise:
http://archiv.kultur-punkt.ch/lebenswelt/sterben-einueben11-6.htm
http://archiv.kultur-punkt.ch/akademie4/kooperation-swr2/swr2-ridder-sterbekultur10-10.htm
http://archiv.kultur-punkt.ch/akademie4/kooperation-swr2/swr2-eckart-palliativmedizin05-9.htm
http://archiv.kultur-punkt.ch/naturmedizin/haupt04-11-4.htm
http://archiv.kultur-punkt.ch/lebenswelt/droemer-knaur-pattloch13-10schuele-sterbenlernen.htm

Menschenwürde, eine Illusion ?

SWR2 Wissen: Aula - Franz-Josef Wetz*: Die Menschenwürde, eine Illusion? (1) Die Entzauberung eines Ideals ; (2) - Würde als soziale Gestaltung
I Sendung am Sonntag, 13.01.2008, 08.30 bis 9.00 Uhr
II Sendung am Sonntag, 20.01.2008, 08.30 bis 9.00 Uhr
Autor und Sprecher: Professor Franz-Josef Wetz *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 13. Januar 2008, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

* Zum Autor:
Franz Josef Wetz wurde 1958 geboren. Nach dem Studium der Philosophie, Germanistik und Theologie 1989 Promotion im Fach Philosophie, 1992 Habilitation. Von 81 bis 93 war Wetz u.a. beschäftigt am Zentrum für Philosophie in Gießen als wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 1994 ist er Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule im Schwäbisch-Gmünd.
Forschungsschwerpunkte:
Hermeneutik, Ethik, Kultur- und Naturphilosophie mit der Frage, welche Konsequenzen haben die modernen Naturwissenschaften für das Selbst- und Weltbild.

Buchauswahl:
- Hans Blumenberg zur Einführung. Dtv.
- (zus. mit B. Tag): Schöne neue Körperwelten. Verlag Klett Cotta.
Illusion Menschenwürde. Verlag Klett Cotta.
- Edmund Husserl. Eine Einführung. Campus-Verla

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ÜBERBLICK I
Mit dem Konzept der Menschenwürde sind zwei Probleme verbunden: Erstens ist der Begriff ein Passepartoutbegriff geworden, er wird immer dann gerne in den Mund genommen, wenn der Redner eine Position einnehmen will, die man nicht mehr kritisieren darf; zweitens gibt es verschiedene Definitionen, die einander ausschließen. Man kann im Sinne Immanuel Kants sagen, der Mensch hat Würde, weil er ein vernunftbegabtes Wesen ist, das zum sittlichen Handeln aufgerufen ist. Man kann aber auch sagen: Dieser idealistische Ansatz, der auf dem Dualismus von Natur und Geist beruht, ist nicht mehr zeitgemäß, er muss über Bord geworfen werden. In der SWR2 Aula werden in vier Sendungen über Menschenwürde diese beiden Standpunkte und ihre ethischen Konsequenzen diskutiert. Franz-Josef Wetz, Professor für Philosophie an der PH in Schwäbisch-Gmünd, zeigt, wie man Menschenwürde neu bestimmen kann.

ÜBERBLICK II
Franz-Josef Wetz, Professor für Philosophie an der PH in Schwäbisch-Gmünd, zeigte im ersten Teil, warum er das traditionelle Konzept der Menschenwürde, das im Sinne Immanuel Kants auf einer Wesensbestimmung basiert, die davon ausgeht, dass der Mensch einen transzendentalen geistigen Kern hat, für nicht mehr zeitgemäß hält. Aus seiner Sicht lässt sich dieser idealistische Ansatz nicht länger halten, er schlägt deshalb vor, Würde auf sozialen Regeln, Konventionen und Verhaltensweisen zu begründen. Im zweiten Teil zeigt Wetz, welche ethischen Konsequenzen damit verbunden sind.


INHALT I

Mit dem Thema: „Die Menschenwürde- eine Illusion?“

Heute und an den drei folgenden Sonntagen geht es um die Frage, wie lässt sich heute Menschenwürde aus philosophischer Sicht noch definieren, welche ethisch-moralischen Konsequenzen folgen daraus.

Wir haben zwei Philosophen gebeten, ihre Positionen auszuführen. Es handelt sich um zwei konträre Positionen: Der eine heißt Franz-Josef Wetz und ist Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch-Gmünd. Der andere heißt Otfried Höffe, Professor für Philosophie an der Universität in Tübingen.

Die ersten zwei Sendungen bestreitet Franz-Josef Wetz, er hat einen naturalistischen, materialistischen Ansatz, er begreift Menschenwürde als soziale Gestaltungsaufgabe.

In der SWR2 AULA beleuchtet er zuerst die Kultur-Geschichte des Begriffs Menschenwürde, dann geht es um die Rechtsgeschichte, dann problematisiert Wetz den traditionellen Begriff und zieht Konsequenzen aus seiner Kritik.


Franz-Josef Wetz:

Der Mensch hat Würde. Das heißt, allgemein gesprochen, der Mensch hat einen unbedingt Achtung gebietenden Wert, der ihm - unabhängig von seiner Stärke und Schwäche - zukommt. Dieser große Konsens besteht in der Gesellschaft.

Dabei wird dieser Begriff „Menschenwürde“ in zweifacher Weise gebraucht: Zum einen verstehen wir unter ihr ein Wesensmerkmal. Ähnlich wie wir mit Händen, Füßen, Haaren und Augen auf die Welt gekommen sind, so sollen wir auch mit der Menschenwürde auf die Welt gekommen sein. Sie ist sozusagen eine natürliche Anlage, jeder sollte sie Kraft seines Menschseins besitzen. Zum zweiten verstehen wir unter der Menschenwürde aber auch einen Gestaltungsauftrag. Menschenwürde muss realisiert werden, sie ist ein ethisches Anliegen, sie muss durchgeführt und verwirklicht werden.

In der Geschichte wurden beide Bedeutungen oft miteinander verbunden. Man sagte, der Mensch soll sich der Würde, die er hat, im Umgang mit sich und Seinesgleichen als würdig erweisen – eine Formulierung, in der beide Charakteristika, das Wesensmerkmal und der Gestaltungsauftrag, zusammen gedacht werden.

Man könnte vermuten, dass die Idee der Menschenwürde schon bei den antiken Griechen und Römern anzutreffen wäre. Diese Vermutung wird enttäuscht, denn bei den antiken Griechen und Römern gibt es die Menschenwürde nicht als Wesensmerkmal, sondern dort taucht sie immer nur als Gestaltungsauftrag auf, der sich über drei Phänomene definiert: erstens über die Selbstbeherrschung des Einzelnen, ob es ihm gelingt, seine Sinnlichkeit der Vernunft unterzuordnen; zweitens in der Art, wie der Einzelne in der Öffentlichkeit auftritt – konkret bedeutet das, man schreitet, man läuft nicht, man spricht langsam, man ist gewaschen usw.; drittes Bestimmungsmoment ist die soziale Herkunft bzw. die soziale Stellung. Als Senator in Rom war man also von vorneweg ein Würdenträger.

Genauer betrachtet stellt man fest, dass die Würde als Leistungsbegriff definiert wird. Sie hängt letztendlich immer davon ab, wie die Menschen mit sich umgehen und welches Verhalten sie an den Tag legen. Diese Auffassung ändert sich grundlegend mit der Entstehung des Christentums. Im christlichen Spätmittelalter setzt sich eine Vorstellung der Würde als Wesensmerkmal durch. Auch sie wird über drei Phänomene definiert: die Gottebenbildlichkeit der Menschen – alle Menschen sind Gottes Ebenbild, das adelt sie und verleiht ihnen gleich welcher Herkunft eine besondere Würde; hinzu kommt – zweitens – die Menschwerdung Christi. Dadurch dass Gott Mensch geworden ist, macht er deutlich, welchen besonderen Wesensadel er den Menschen zuerkannt hat; als drittes ist Personalität zu nennen – der Mensch als Person, als selbstbewusstes Wesen, das erkennen kann, das über Geist und Vernunft verfügt, das zwischen wahr und falsch, gut und schlecht unterscheiden kann.

Diese Bestimmungen geraten nun in der Neuzeit in eine Krise bzw. es findet eine erneute Verschiebung statt. Von den drei Definitionsmomenten der Würde im christlichen Mittelalter bleibt im Laufe der Neuzeit bei den Philosophen und bei den Rechtsgelehrten nur noch die Personalität, die Vernunft, die Freiheit übrig. Das ist bei einem Rechtsgelehrten wie Samuel Pufendorf der Fall, aber vor allem bei dem berührtem Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant. Kant definiert die Menschenwürde über Vernunft, Freiheit, Sittlichkeit. Der Mensch ist nach Kant ein aus der Natur herausgehobenes Vernunftwesen, das in Freiheit sein Dasein führen soll, indem es seine Sinnlichkeit der Vernunft unterordnet und seine Freiheit dazu gebraucht, sich sittlich zu verhalten. Dabei liefert Kant auch eine sehr griffige Formulierung für Würdeverstöße. Er definiert Würdeverstöße über eine sogenannte Objektformel, die lautet: Die Menschenwürde wird genau dann verletzt, wenn der Mensch seinen Nächsten nicht mehr als Subjekt behandelt, sondern ihn nur noch als Objekt gebraucht. Wir Menschen sollen uns niemals nur als Sache, als Objekte oder auch als Instrumente, als Werkzeuge, als Mittel zum Zweck gebrauchen. Dabei legt Kant speziellen Augenmerk auf das Wort „nur“. Er sagt, wir Menschen sollen uns niemals nur als Mittel zum Zweck, niemals nur als Sachen gebrauchen, wohl erkennend, dass wir gar nicht umhin können, uns auch als Mittel zu Zwecken zu gebrauchen. Der Schüler gebraucht den Lehrer als Mittel zum Zweck des Lernens, der Busfahrer ist ein Mittel zum Zweck für den Busreisenden, oder die Verkäuferin ist ein Mittel zum Zweck für den Konsumenten. Kant ermahnt uns, uns niemals „nur“ als Mittel zum Zweck zu gebrauchen, das heißt, wir sollen, auch wenn wir den anderen instrumentalisieren, mit ihm immer höflich und achtungsvoll umgehen. Soviel zur Kulturgeschichte des Würdebegriffes.

Wie ist es aber nun um die Rechtsgeschichte bestellt? Wenn die Würde schon als Gestaltungsauftrag in der Antike und als Wesensmerkmal im Christentum existiert, dann wird ihr ja wohl auch im Recht eine besondere Bedeutung zukommen. Aber weit gefehlt.

Wir sind es heute gewohnt, die beiden Begriffe „Menschenwürde“ und „Menschenrecht“ in einem Atemzug zu nennen. Und weiter noch ist es sogar üblich, die Idee der Menschenrechte auf die Menschenwürde zu gründen. Das lässt die Annahme aufkommen, wenn schon in der Antike die Menschenwürde nicht als Recht deklariert wurde, so könnte sie doch wenigstens im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Erklärung der Menschenrechte, aufgefunden werden. Ende des 18. Jahrhunderts wurden ja sowohl in Amerika als auch in Frankreich die allgemeinen Menschenrechte verkündet. Es liegt deshalb nahe zu glauben, dass hier auch die Menschenwürde einbezogen wurde. Aber diese Vermutung ist falsch. Tatsächlich taucht die Menschenwürde im Recht erstmals im 20. Jahrhundert auf. Keine Verfassung, keine Erklärung des 19. Jahrhunderts kennt den Begriff der Menschenwürde.

Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Ich möchte nur einen nennen, der – so denke ich – eine hohe Plausibilität besitzt: Die Menschenwürde taucht im Recht erstmals im 20. Jahrhundert auf, weil hier eine Rechtsverwüstung nie gekannten Ausmaßes stattfand. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr die Menschenwürde eine besondere Konjunktur im Recht, 1945 in der UN-Charta, 1948 in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, 1949 im Grundgesetz der Bundesrepublik und in vielen anderen Verfassungen Europas.

Zwar war die Menschenwürde bereits 1937 in der irischen und 1933 in der portugiesischen Verfassung zu finden, aber sie hat eigentlich nie eine besondere Rolle oder Geltung zugewiesen bekommen. Letztendlich startete die Karriere der Menschenwürde im Recht, wie gesagt, nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach dem Gemetzel des Zweiten Weltkrieges wollte man sich neu besinnen auf die Grundlagen der europäischen Zivilisation, die jedem Menschen einen Achtung erbietenden Wert zuerkennen sollte, egal, welcher Nationalität er ist, welcher Rasse er entstammt, wie stark oder schwach er ist. Man vertraute darauf, dass gerade nach dem Krieg jeder damit etwas anfangen könne und ließ entsprechend den Begriff erst einmal uninterpretiert. Das änderte sich in den 50er Jahren. 1951, als das Bundesverfassungsgericht ins Leben gerufen wurde, wurden schon bald Klagen anhängig, die die Menschenwürde betrafen. Man war nun also gezwungen, den Begriff der Menschenwürde zu definieren. Diese Aufgabe fiel dem Bundesverfassungsgericht zu, das ja eigentlich als exekutives Organ nicht dafür ausgerichtet ist. Ohne Immanuel Kant beim Namen zu nennen, berief sich das Bundesverfassungsgericht auf dessen Philosophie. Offiziell definierte man nun den Menschen als ein aus der Natur herausgehobenes Vernunftwesen, ein geistig-sittliches Wesen – wie es auch heißt -, das gemeinschaftsbezogen, aber frei sein Dasein führen können soll – so wie ihn auch Immanuel Kant definiert hat. Auch übernahm man von dem Philosophen die sogenannte Objektformel, indem man festlegte: Die Menschenwürde werde genau dann verletzt, wenn man den Einzelnen, der ein Subjekt ist, als bloßes Objekt gebraucht, wenn man den Einzelnen, der ein Selbstzweck sei, als reines Mittel zum Zweck gebrauche.

Diese Bestimmung der Menschenwürde aus den 50er Jahren ist bis heute offiziell gültig. Also in allen Urteilen des Bundesverfassungsgericht, in denen es um die Menschenwürde geht, beruft man sich immer wieder auf diese Definition aus den 50er Jahren.

Wir kommen nun zum dritten Schritt, zur Kritik an der Menschenwürde, wie sie heute verstanden wird. Meine Kritik knüpft an den Kantischen Gebrauch der Menschenwürde durch das Bundesverfassungsgericht an. Wenn man sagt, der Mensch ist ein aus der Natur herausgehobenes Vernunftwesen, hat man zugleich eine Anthropologie entwickelt, von der gar nicht feststeht, ob sie sich überhaupt heute im 21. Jahrhundert, so wie sie im 18. Jahrhundert gültig ist, durchhalten lässt. Meine These ist, dass alle Versuche, die Menschenwürde als Wesensmerkmal zu definieren, als etwas, das uns durch die Geburt automatisch zukommt, weltanschaulich imprägniert sind. Ein Gemeinwesen, das sich zu weltanschaulicher Neutralität bekennt, wird sich nicht durchhalten lassen können. Es geht dabei nicht darum, was der Einzelne unter Würde verstehen darf. Wir leben ja in einer liberalen Gesellschaft, die streng trennt zwischen dem Privaten und Öffentlichen. Im privaten Bereich darf natürlich jeder unter Würde verstehen, was er möchte. Wenn es aber darum geht, was darf ich meinem Nachbar als verbindlichen vorschreiben, was darf der Staat seinen Bürgern als verbindlich vorschreiben oder die UNO ihren Mitgliedstaaten, dann – so meine These – gehört die Idee der Würde als Wesensmerkmal deshalb nicht dazu, weil dieser Begriff ein weltanschaulich gebundenes Menschenbild voraussetzt, auf das sich nicht jeder verpflichten lassen kann.

In unserer Gesellschaft herrschen ja auch sehr stark religiöse Vorstellungen von der Menschenwürde, da gilt natürlich, dass jede einzelne Gruppe oder Gruppierung an der Idee der Menschenwürde als Gottebenbildlichkeit und dergleichen festhalten kann, auch jeder einzelne Gläubige. Aber der Staat, das Recht, die Politik darf meines Erachtens den Bürger nicht auf eine solche religiös gebundene Vorstellung verpflichten, solange er sich als ein liberales, multikulturelles, pluralistisches Gemeinwesen versteht. Und ein solches sind wir ja hier in Deutschland. Das gleiche gilt – horribile dictu – für die Kantische Vorstellung der Menschenwürde, denn auch sie ist weltanschaulich imprägniert. Der Gedanke vom Menschen als ein aus der Natur herausgehobenes Vernunftwesen zehrt letztendlich – und das kann im Einzelnen nachgewiesen werden - von religiös-metaphysischen Vorstellungen, die sich heute so auf keinen Fall mehr durchhalten lassen. Hinzu kommt noch dass, selbst wenn wir den Menschen als Vernunftwesen sehen, Vernunftbesitz als solches ja noch keine Werteigenschaft ist. Vernunft als die Fähigkeit, denken zu können, kausal denken zu können, als Reflexionsvermögen – das ist ja letztendlich erst einmal nur eine Eigenschaft, die bestimmten Lebewesen zukommt, aus der man nicht ohne weiteres eine höhere, absolute Wertbestimmung ableiten kann. Verschärfend kommt hinzu, dass wir heute nicht über den Menschen reden können, ohne die Naturwissenschaften zu berücksichtigen. Und wenn wir die moderne Kosmologie, die Evolutionsbiologie, die Molekulargenetik, die Neurophysiologie hinzuziehen, dann wird der Schluss geradezu unvermeidlich, dass der Mensch nicht der „vornehmste Buchstabe im Buch der Natur“ ist, (ca. 16.00) sondern dass wir Menschen einem naturhaften Prozess entstammen und endliche Wesen sind. Man könnte es auch biologischer formulieren: Der Mensch – und dafür spricht heute recht viel – ist letztendlich nichts anderes als ein schmalnasiges Säugetier mit übergewichtigem Kopf auf einer für den aufrechten Gang eher ungeeigneten Wirbelsäule.

Wenn das alles stimmt, dann scheinen Philosophen wie Nietzsche und Schopenhauer, die schon im 19. Jahrhundert über die Menschenwürde sagten, sie ist vermutlich eine Seifenblase, sie ist ein Hirngespinst, sie ist ein Phantom, es gibt sie nicht wirklich, Recht zu behalten.

Aber das ist nun wieder beunruhigend. Und damit kommen wir zum vierten und letzten Schritt, bei dem es um die Frage geht: Können wir denn die Menschenwürde retten angesichts ihrer Bedrohung durch die Wissenschaft auf der einen Seite und durch ihre weltanschaulichen Gebundenheiten auf der anderen Seite? Sie hat doch in bestimmten Diskussionen, wenn etwa Amnesty International im Namen der Menschenwürde Folter verurteilt, eine sehr praktische und gut eingeführte Bedeutung, auf die wir nicht ohne weiteres verzichten möchten. Man kann sagen, das Leid in der Welt lässt doch einen Verzicht auf die Würde-Idee sogar als unverantwortlich, als verantwortungslos erscheinen.

Wir stehen als vor einem schwierigen Problem. Die Menschenwürde scheint auf der einen Seite theoretisch unbeweisbar, auf der anderen, praktischen Seite unabweisbar und unverzichtbar zu sein. Sie scheint sich doch überall dort zu Wort zu melden, wo sie verletzt wird, dort wo willkürlicher Freiheitsentzug, grausame Unterdrückung, bittere Armut herrscht, wo die Angstschreie Tausender mit gekrümmten Rücken und nach oben schielenden Augen sich erheben, dort scheint sich doch die Menschenwürde auf eine ganz bestimmte Art und Weise Ausdruck zu verschaffen, die auch dann existiert, wenn wir Menschen nichts weiter als schmalnasige Säugetiere wären, nichts weiter als endliche Lebewesen unter anderen sind. Zugleich muss man aber einräumen, dass die Idee der Menschenwürde als Wesensmerkmal nach meinem Dafürhalten unwiederbringlich dahin ist. Mit dem modernen naturwissenschaftlichen Weltbild auf der einen Seite und der multikulturellen Gesellschaft, auch der Weltgesellschaft und dem liberalen Gemeinwesen auf der anderen Seite, lässt sich die Idee der Wesenswürde nicht vereinbaren. Es gibt sie nicht als etwas, das von selbst da ist, sondern wenn überhaupt, dann als etwas, das sich erst ergibt aus dem Umgang des Einzelnen mit sich und Seinesgleichen sowie des Staates mit seinen Bürgern oder der Weltgemeinschaft mit ihren Mitgliedstaaten.

Wenn sich die Würde als Wesensmerkmal nicht halten lässt, bleibt aber immerhin noch die Würde als Gestaltungsauftrag übrig. In einem ersten Schritt kann man sagen, die Würde als Gestaltungsauftrag hat sicherlich mindestens drei Facetten, die man zwar im einzelnen begründen müsste, die aber auch so auf Anhieb einleuchten dürften: Zu einem menschenwürdigen Leben gehört eine gewisse materielle Sicherheit oder Sicherung nach unten hin, damit zusammenhängend die gegenseitige Achtung der Menschen als Personen mit eigenen Rechten und die Möglichkeit der Selbstachtung, die die Entwicklung und Entfaltung der eigenen Fähigkeiten voraussetzt.

Daran schließt sich die schwierige Frage an: Wie lässt sich eine solche praktische Menschenwürde-Vorstellung, die sie nur noch als Gestaltungsauftrag konzipiert wissen möchte, begründen? Das ist ein wichtiges philosophisch-politisches Thema. Ich denke, man sollte jetzt nicht, wie man es immer in der Geschichte gemacht hat, von oben nach unten gehen, also von der Erhabenheit des Menschen zu seiner Wertbesonderheit, sondern man sollte vielmehr – und das hat, glaube ich, bessere Chancen, anerkannt zu werden – grenzüberschreitend von unten nach oben gehen. Wir müssen also schauen, was verbindet uns Menschen denn unterhalb aller kulturellen Differenzen miteinander. Als ersten Punkt ist die existenzielle Gleichstellung der Menschen zu nennen als verwundbare, schmerzfähige Wesen, hilfsbedürftig, ausgestattet mit bestimmten Interessen, mit Gebrechlichkeiten der unterschiedlichsten Art. Wir alle sind gleich als endliche, sterbliche, verwundbare, leidensfähige Wesen. Der menschenwürdige Schutz, um den es hier geht, den es zu begründen gilt, gründet auf der Evidenz der Vorzugswürdigkeit eines Lebens in Abwesenheit von Mord und Totschlag, von Schmerz und Gewalt, von Folter, Not, Hunger, Unterdrückung und Ausbeutung. Die Menschenwürde dient gewissermaßen auf dieser untersten Ebene den fundamentalen Erhaltungs- und Entwicklungsinteressen der Menschen. Und diese sind ja bei uns allen vernünftigerweise in groben Zügen gleich, so dass es gewissermaßen zur anthropologischen Natur gehört, bestimmte Interessen zu haben, wie sich satt zu essen, sich frei entfalten zu können und seine Talente zu entwickeln. Diese Bedürfnisse sind fundamental und sie müssen meines Erachtens befriedigt werden, um einem Leben in unterschiedlichen kulturellen Kontexten überhaupt das Kennzeichen „menschenwürdig“ zuerkennen zu können.

Für mich als Einzelnen leuchtet das sicherlich ein, aber warum soll ich denn ein Interesse daran haben, dass anderen Menschen auch die Möglichkeit gewährt wird, ihre Interessen und Bedürfnisse erfüllt zu bekommen? Warum soll ich den anderen schützen? Darauf lassen sich verschiedene Antworten finden, ich werde hier nur zwei nennen. Die eine ist noch nicht einmal im strengen Sinne ethisch, sie geht vom wohlverstandenen Eigeninteresse aus: Man sollte wollen, dass dem anderen als Mindestmaß gewährt wird, was man auch für sich selbst beansprucht, weil man selbst dann nur mittelfristig und auf Dauer seine eigenen Wünsche und Interessen erfüllt bekommt. Das ist ein ethisch egoistisches Motiv. Wenn man ein wirklich moralisches Motiv haben möchte, dann muss man sagen, wir Menschen verfügen alle über die grundsätzliche Fähigkeit, einen Schritt zur Seite zu treten und Abstand von uns selbst zu nehmen. Wenn ich von mir Abstand nehme, erkenne ich, dass meine eigenen Interessen, nur weil sie meine eigenen Interessen sind, deshalb nicht mehr wiegen als die anderer Menschen. Meine Bedürfnisse, mich satt essen zu können, ein Dach über dem Kopf zu haben, ist bei anderen Menschen genauso anzutreffen. Daraus folgt geradezu von selbst der moralische Anspruch oder die moralische Aufforderung, sich dafür bei anderen einzusetzen und zu engagieren. Die Begründung eines würdevollen Lebens liegt letztendlich in solch einfachen Überlegungen. Wem diese einfachen Überlegungen jedoch nicht genügen, dem wird sicherlich ein Vernunftgebot, ein Gottesgesetz auch nicht reichen.

Nun befinden wir uns in der schwierigen Situation, dass wir Menschen zwar diese Dinge erkennen, dass wir aber nicht nach ihnen handeln. Der Verstand ist der Held, aber das Herz noch nicht bewegt. Deswegen muss als Drittes hinzukommen so etwas ganz Altmodisches wie das Wohlwollen, was die alten Römer benevolencia nannten, oder die Milde. Ohne Wohlwollen ist jede Ethik zum Scheitern verurteilt. Und ohne Wohlwollen ist im Grunde Achtung und fürsorgliches Verhalten nicht möglich. Leider können wir uns auf das Wohlwollen auch nicht verlassen.

Deswegen brauchen wir im vierten Schritt so etwas wie gute, rechtliche Institutionen, die das, was als Standard für ein menschenwürdiges Leben gilt, garantieren und erzwingbar machen.

Abschließend kann man fragen, worin besteht denn nun ein menschenwürdiges Leben, was ist jetzt Würde? Sehr schön hat das einmal Friedrich Schiller formuliert. Er schrieb:

Die Würde des Menschen, nichts mehr davon, ich bitt Euch,
zu essen gibt ihm, zu wohnen, habt Ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.

Es bleibt nun aber als letztes Problem: Wenn der Mensch an sich keine Würde hat und wenn Würde davon abhängt, wie wir miteinander umgehen, dann ist doch ein Mensch, der von anderen gedemütigt wird, der nicht genug zu essen hat und dem die Selbstachtung abhanden gekommen ist, würdelos. Dann fehlt letztendlich das Korrelat der Achtung. Wer sozusagen in der Gosse liegt, dem hat man ja die Würde entzogen, und es fehlt ihm das, was an ihm geachtet werden soll, nämlich die Würde. So könnte man als Einwand gegen die Idee der Würde als Gestaltungsauftrag argumentieren.

Hiergegen möchte ich aber erwidern, dass man es auch genau umgekehrt sehen kann und sollte und muss. Man sollte nämlich die Menschenwürde gerade dann achten, wenn es sie nicht gibt. Das ist der springende Punkt: Man sollte sie gerade dann achten, wenn es sie nicht gibt, damit es sie gibt. Sie ist vielleicht das Einzige, was uns in der Welt noch Achtung verleiht, wo wir keine Achtung von etwas anderem herbekommen können als von uns selbst.

Ende Teil I

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Anfang Teil II
Die Entzauberung eines Ideals ; (2)

INHALT II
Heute mit dem Thema: „Die Menschenwürde- eine Illusion?“, Teil 2.

Franz-Josef Wetz, Professor für Philosophie an der PH in Schwäbisch-Gmünd, hat letzten Sonntag gezeigt, dass er Menschenwürde nicht mehr im traditionellen idealistischen Sinne versteht, sondern im naturalistischen. Würde hat für ihn nichts mit einer normativen Wesenszuschreibung zu tun, die den Menschen als geistiges göttliches Wesen definiert, das aus der Natur herausgehoben ist. Wetz begreift Würde vielmehr als soziale Gestaltungsaufgabe, die zugleich von rein pragmatischen Erwägungen gelenkt wird.

Im zweiten Teil nun zeigt Wetz die moralisch-ethischen Konsequenzen seines Ansatzes auf: Wenn Würde nicht mehr auf einem bestimmten Menschenbild beruht, also nicht mehr weltanschaulich, metaphysisch imprägniert ist, dann hat das Konsequenzen etwa für unseren Umgang mit dem ungeborenen Leben und für unseren Umgang mit schwerkranken Menschen, die sterben wollen.

In der SWR2 AULA führt Franz-Josef Wetz seine Argumente aus.

Franz-Josef Wetz:

Menschenwürde als Gestaltungsauftrag heißt, die Würde des Menschen gründet auf der Vorstellung des Einzelnen als ein schutzbedürftiges, endliches, leidensfähiges Wesen, das von verschiedenen Bedürfnissen, Interessen und Neigungen bestimmt wird, die den Appell an den Mitmenschen richten, ihn entsprechend zu behandeln. Die Würde des Menschen wäre hiernach nichts weiter als ein Anspruch auf die Achtung des Einzelnen, das beinhaltet die Vermeidung von Unterdrückung, Garantie der materiellen Versorgung, eine freiheitliche Welt, in der man sich selbst entwickeln, entfalten und auch selbst darstellen kann.

Nun muss man die verschiedenen Positionen der Würde gar nicht gegeneinander ausspielen, wenn es um bestimmte Fragen der sozialen Welt heute geht. Das heißt, ob man vom christlich-metaphysischen, vernunftphilosophischen oder dem weltanschauungsneutralen säkularen Würdeverständnis als reinem Gestaltungsauftrag ausgeht, das ist ganz egal, wenn Themen wie die Unterdrückung Andersdenkender oder rassisch oder kulturell andersartiger Personen angesprochen sind. Denn alle Positionen der Würde stimmen hierin überein, dass solche Behandlungen Würdeverstöße darstellen. Über alles Trennende hinweg sind nämlich die verschiedenen Vertreter der Positionen der Meinung, wo immer menschliche Willkür die Existenz des Einzelnen bedroht und dessen freie Entfaltung verhindert oder die materiellen Grundlagen seines Daseins fehlen, dort ist die Menschenwürde zutiefst verletzt.

Aber ob die Würde des Menschen mehr christlich-metaphysisch, stärker vernunftphilosophisch oder gänzlich säkular als Gestaltungsauftrag gedeutet wird, ist keineswegs unerheblich, wenn es um die bio- und medizinethischen Herausforderungen unserer Zeit geht. Und das möchte ich Ihnen anhand von zwei Beispielen demonstrieren. Ein Beispiel vom Anfang des menschlichen Lebens, es geht um embryonenverbrauchende Stammzellforschung, und ein Beispiel vom Ende des Lebens: es geht um Sterbehilfe.


Nach geltendem Recht ist hierzulande die Einfuhr von Stammzellen verboten, die nach dem 1. Januar 2002 gewonnen wurden. Das heißt, das Stammzell-Gesetz gewährt Wissenschaftlern nur den Zugriff auf Stammzellkulturen, die vor dem 1. Januar 2002 bereits gewonnen waren.

Wenn man sich die Praxis heute anschaut, springen einem einige Widersprüche ins Auge. Ich möchte Ihnen erst einmal einen politischen Widerspruch aufzeigen: Deutschland unterstützt finanziell die Forschung mit frisch gewonnenen Stammzelllinien in der EU. Es gibt einen EU-Beschluss, den Deutschland mitträgt und mit Millionen Euro mitfördert. Mit deutscher Zustimmung und deutschen Geldern werden also Forschungen in Schweden, Belgien, Großbritannien an Stammzellen mitfinanziert, die hiesigen Wissenschaftlern verboten sind. Das ist im Grunde ein unerträglicher Widerspruch, wenn man bedenkt, dass hierzulande Forschern untersagt wird, was wir zugleich mit deutschen Steuergeldern in Schweden, Großbritannien oder Belgien bezahlen.

Warum dürfen deutsche Wissenschaftler nicht an Stammzellen, die aus Embryonen gewonnen wurden, forschen? Ein Standardargument lautet, weil Embryonen, aus denen die Stammzellen gewonnen werden, bereits Würde besitzen. Wie können wir diese Würde begründen?

Dazu gibt es ganz viele Positionen. Die einen sagen, der Embryo habe bereits Würde, weil schon mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle der genetische Code festliege und er damit im vollen Sinne des Wortes ein Mensch sei. Andere sind etwas behutsamer, sie sagen, der Embryo habe Würde in dem Augenblick, in dem er in Verbindung mit der Mutter trete. Solange er im Reagenzglas sei und die Einnistung in die Gebärmutter noch nicht erfolgt sei, könne man ihm auch keine Würde zuerkennen. Wieder andere sagen, der Embryo habe erst Würde nach der Ausbildung des sogenannten „Primitivstreifens“, also ungefähr 14 Tage nach der Empfängnis, weil von diesem Zeitpunkt an die Teilung des werdenden Lebens in identische Zwillinge oder Drillinge ausgeschlossen sei. Eine weitere Gruppe ist der Meinung, sobald der Organismus menschliche Gestalt annehme oder zu spontaner Bewegung fähig sei, sei auch der Embryo als schützenswerter Mensch mit eigener Würde anzusehen. Die fünfte Gruppe nimmt den Embryo nach der 6. Woche in die menschliche Solidargemeinschaft auf, weil danach neuronale Strukturen entstehen und die Gehirntätigkeit einsetzt. Manche messen ihm erst Würde zu, wenn er empfindungsfähig ist.

So unterschiedlich diese Positionen sind, sie alle sind problematisch, da biologische Einschnitte eben nichts über den Wert des menschlichen Lebens aussagen. Verallgemeinert ausgedrückt: Lebensform ist nicht in der Lage, Lebensnorm zu begründen. Noch so genaues Wissen über die Entwicklung des Embryo klärt nicht über dessen Würde oder dessen Wertstatus auf. Denn es geht nicht um eine Tatsachenfrage, die sich biologisch klären ließe, sondern um eine Wertfrage, die wertphilosophische Antworten fordert.

Nun hatten wir ja im ersten Vortrag die religiös-christliche, vernunft-philosophische und existenziale säkulare Position der Würde kennengelernt. Sie alle stimmen in einem speziellen Punkt überein, der für die Frage, ob der Embryo Würde hat, von großer Bedeutung ist, nämlich in der sogenannten Objektformel. Nach der traditionellen Kantischen Objektformel widerspricht es der Würde des Menschen, den Einzelnen, der ja Subjekt ist, zu einem bloßen Objekt zu machen. Das heißt, nach der Objektformel widerspricht es der Würde des Menschen, eine Person als Sache oder als Ding zu gebrauchen oder sie zu instrumentalisieren. Für die Frage, ob nun embryonenverbrauchende Stammzellforschung einen Würdeverstoß darstellt, scheint, das merken Sie nun auf Anhieb, die Objektformel von allergrößter Wichtigkeit zu sein. Auf den ersten Blick steht die Antwort bereits fest. Embryonenverbrauchende Stammzellforschung gebraucht ja humanes Leben als ein Werkzeug, als eine Sache. Hier wird humanes Leben herabgestuft zu einem Mittel zum Zweck, es wird verdinglicht zu bloßem Material. Der menschliche Embryo wird nicht mehr als Mensch gesehen. So scheint es auf den ersten Blick.

Allerdings ist – und das muss nun einschränkend als erstes gesagt werden – die Verfremdung menschlichen Lebens zur bloßen Sache natürlich erst dann als Würdeverletzung zu sehen, wenn eine lebende Person oder ein wirkliches Subjekt mit Eigenwert zum bloßen Objekt herabgestuft wird. So einleuchtend die Objektformel ist, so groß ist die Unsicherheit über ihre „Reichweite“. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob sich die Objektformel überhaupt auf Embryonen sinnvoll anwenden lässt, da diese ja noch gar keine Subjekte sind. Sicherlich möchten viele von Ihnen hierauf erwidern, dass sie doch immerhin potentielle Subjekte sind. Das bestreitet niemand. Nur Potentialität für sich genommen sagt noch nichts über Existenzberechtigung aus. Potentialität allein begründet kein Lebensrecht. Erst, wenn man den Menschen zuvor aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit oder Vernunftfähigkeit bereits eine Wesenswürde zuerkannt hätte, könnte man damit dem Embryo eine besondere Würde zuerkennen. Ob Embryonen allerdings eine solch vorgegebene Wesenswürde haben, genau das war ja eine strittige, eine weltanschauliche Frage, bei der sich ein Staat, der sich zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit bekennt, ein Staat also, der ohne metaphysisches Sinnzentrum auszukommen versucht, eigentlich seiner Stimme enthalten sollte. Die Frage nach der Wesenswürde des Embryos wäre dann aus dem öffentlichen Recht auszulagern und in den privaten Bereich zu verlegen, wo jeder Einzelne selbstverständlich daran glauben und sie gegen Andersdenkende verteidigen darf.

Wenn sich nun schon nicht die vorgegebene Wesenswürde auf den Embryo verallgemeinernd übertragen lässt, dann aber vielleicht doch die säkulare Gestaltungswürde, die ja neutraler ausfällt. Dieser Versuch ist jedoch allein schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil solche Vorstellungen elementare Bedürfnisse und die Verletzbarkeit der befruchteten Eizelle voraussetzt, kurz: ein wie auch immer geartetes empfindungsfähiges Wesen, das verwundet, misshandelt, gedemütigt werden kann. Diese Bedingungen sind aber bei Embryonen, die überhaupt nichts spüren und sich auch bei minus 190 Grad einfrieren lassen, keineswegs erfüllt.

Das Argument, dass die verbrauchende Embryonenforschung doch mögliches künftiges Interesse an würdevoller Behandlung verletzt, ist schon deshalb falsch, weil überhaupt noch nichts Verletzbares vorliegt und gerade die Entstehung verletzbaren Lebens verhindert wird. Die weltanschaulich neutrale Würdeidee untersagt lediglich, verwundbares menschliches Leben zu demütigen oder zu erniedrigen. Doch genau das kann mit Embryonen in der Frühphase ihrer Existenz noch nicht geschehen. Dennoch bleibt es – das muss ich betonen -selbstverständlich jedem Einzelnen überlassen, aus Achtung vor der eigenen Würde, vor dem Stoff und der Form, aus der man einst selbst entstand, embryonenverbrauchende Forschung abzulehnen. Dies alles mag eben dem eigenen sittlichen Empfinden widersprechen. Aber es vermag kein kategorisches „Nein“ gegen embryonenverbrauchende Stammzellforschung zu begründen. Der Staat sollte nur gewährleisten, dass niemand zu einer solchen Embryonenspende gezwungen wird.

Natürlich bleibt es jedem Einzelnen überlassen, den „gestaltlosen“ Embryo bereits in den Raum menschlicher Teilnahme aufzunehmen und mit ihm in ein dialogisches Verhältnis zu treten, wie Martin Buber sagen würde: ihn – den Embryo – statt als ein „Es“ als ein „Du“ anzusprechen, dessen Geschichte schon mit der frühesten Entwicklungsphase beginnt, in welcher das ungeborene menschliche Leben noch einseitig auf fürsorgliche Zuwendung und Schutz angewiesen sei. Das alles ist natürlich möglich. Doch auch hier gilt, ob man eine befruchtete Eizelle schon als ehrfurchtgebietendes Du ansprechen möchte, ob man in der embryonenverbrauchenden Stammzellforschung vielleicht eine kosmische Schande sehen möchte, alles das hängt primär von der eigenen weltanschaulichen Einstellung ab, auf die nicht jeder Mensch verpflichtet werden darf und die so Privatangelegenheit bleiben soll.

Somit ergibt sich bezogen auf die Stammzellforschung folgendes Bild: Weltanschaulich neutral betrachtet können embryonenverbrauchende Experimente nicht als Würdeverletzung gelten, auch wenn diese Embryonen hierdurch als Sachen eingestuft werden. Weltanschaulich neutral betrachtet lässt sich bei befruchteten Eizellen im Frühstadium noch überhaupt keine allgemeine Würde nachweisen und logischerweise daraus auch kein Argument ableiten gegen die Zulassung von embryonenverbrauchender Stammzellforschung.

Kommen wir nun zum zweiten Teil, gehen wir an das Ende des menschlichen Lebens: zur Sterbehilfe. Es werden verschiedene Formen unterschieden. Die passive Sterbehilfe beinhaltet die Nichtaufnahme einer das Leben verlängernden Behandlung oder auch den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen, etwa durch das Abstellen künstlicher Beatmungsmaschinen oder Ernährungsapparate. Davon unterschieden wird die indirekte Sterbehilfe, die ausdrücklich Schmerzlinderung verfolgt, aber Schmerzlinderung mit lebensverkürzendem Risiko. Einem todkranken Patienten werden schmerzstillende Medikamente verliehen, von denen der Arzt weiß, dass sie den schnellen Tod zur Folge haben können. Sein Ziel ist die Schmerzlinderung, und dabei nimmt er den Tod des Patienten in Kauf. Deswegen indirekte Sterbehilfe.

Weitere Stichpunkte sind die Beihilfe zur Selbsttötung oder der assistierte Suizid, über die bei uns zur Zeit sehr gestritten wird, nämlich die gezielte Unterstützung eines Schwerstkranken beim Suizid durch Beschaffung und Bereitstellung eines tödlichen Medikaments. Der Tötungswillige muss das Arzneimittel, und das ist der entscheidende Punkt, in freier und aufgeklärter Entscheidung selbständig einnehmen.

Als vierte Form möchte ich noch die aktive Sterbehilfe nennen. Darunter versteht man die schmerzlose gezielte Tötung eines Menschen auf dessen tatsächlichen oder mutmaßlichen Wunsch hin, etwa durch einen schnell wirkenden Gifttrunk oder eine tödliche Injektion.

Hierzulande sind die passive und die indirekte Sterbehilfe zulässig, sofern sie dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen des Sterbenden entsprechen. Die Beihilfe zur Selbsttötung und die aktive Sterbehilfe sind verboten.

Viele Menschen, die von der Heiligkeit des menschlichen Lebens und der Wesenswürde ausgehen, sehen im menschlichen Leben einen unverfügbaren absoluten Wert und lehnen darum fast jede Form von Sterbehilfe ab. Menschliches Leben ist für sie - unabhängig von seiner Qualität und seinem Wert für den Leidenden - ein schützenswertes Gut. Wie ich deutlich gemacht habe, ist aber eine solche Vorstellung der Menschenwürde und der damit verbundenen Unverfügbarkeit des Lebens aus meiner Sicht weltanschauungsgebunden und daher nicht verallgemeinerungsfähig, weshalb es hier gar nicht weiter berücksichtigt zu werden braucht. Es sei zwar dem Belieben jedes Einzelnen überlassen, worauf er seine Argumentation aufbaut; Schlussfolgerungen, die allerdings auf weltanschaulichen Prämissen gründen, können nur diejenigen überzeugen, die auch daran zu glauben bereit sind. Auf alle Fälle darf der weltanschauungsneutrale Staat seinen Bürger keine Lehre von der Heiligkeit menschlichen Lebens vorschreiben, sondern sollte die Beantwortung dieser Frage ihnen selbst überlassen. Weltanschauungsneutral betrachtet, so hart das klingt, stellt das Leben an sich keinen Wert dar, sondern empfängt diesen Wert erst durch uns selbst.

In den hiesigen Diskussion geht es um die Frage nach der Zulässigkeit der Beihilfe zur Selbsttötung und die aktive Sterbehilfe. In Staaten wie Belgien, die Schweiz, die Niederlande oder auch in dem amerikanischen Bundesstaat Oregon ist es erlaubt, tödlich erkrankten Patienten eine letale Dosis eines Barbiturats zu verschreiben, um ihnen dadurch zu ermöglichen, im Falle unerträglicher Leiden sich das Leben nehmen zu können. Also das ist die Beihilfe zur Selbsttötung. Nun ist auch nach deutschem Recht die Beihilfe zur Selbsttötung straffrei. Dennoch ist der ärztlich assistierte Suizid hierzulande bislang keine legale medizinische Option, weil sich ein Arzt hierbei möglicherweise unterlassener Hilfeleistung oder der Tötung durch unterlassene Hilfeleistung strafbar machen könnte. Darüber streiten die Juristen. Außerdem verbietet zudem das ärztliche Standesrecht den Freitod unter ärztlicher Aufsicht.

Tatsächlich folgt aber nun aus dem Recht auf Selbstbestimmung, dem Recht, sein Leben nach eigenen Vorstellungen leben zu dürfen, wie es meiner Idee der Würde als Gestaltungsauftrag zugrunde liegt, zugleich das Recht, in selbstverantwortlicher Entschließung dem eigenen Leben ein Ende setzen zu dürfen. Eine Zulassung des ärztlich assistierten Suizids bedeutet nicht, wie man manchmal hört, Barbarei, sie bedeutet auch nicht Barmherzigkeit, sondern es ist auch und vor allem ein Teil des realisierten Rechts auf Selbstbestimmung. Zwar bezeichnet der ärztlich assistierte Suizid kein Anspruchsrecht, also kein Recht, worauf der Patient einen Anspruch hätte, aber es formuliert so etwas wie ein Erlaubnisrecht, ein Recht, das mir erlaubt, mir das Leben zu nehmen und mir auch Hilfe dabei beschaffen zu dürfen. Mögliche Komplikationen lassen es allerdings ratsam erscheinen, geschulte Ärzte statt medizinische Laien als Freitodhelfer zu bestellen.

Nun ist es schwer nachzuvollziehen, warum das Recht auf Selbstbestimmung, das ja ein Teil der Würde als Gestaltungsauftrag ist, bloß für Patienten gelten soll, die bei Bewusstsein und körperlich handlungsfähig sind, nicht aber für Patienten, die vielleicht durch eine Querschnittlähmung an der Ausübung ihres Willens gehindert werden.

Aktive Sterbehilfe ist unvereinbar mit der europäischen Menschenrechtskonvention und unvereinbar mit dem deutschen Recht. Praktiziert wird sie bekanntlich in den Niederlanden und in Belgien. In Deutschland wird gegen die aktive Sterbehilfe eingewandt, dass sie mit einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat nicht vereinbar sei, weil sie die gültige Grenze des christlich-humanistischen Wertekanons unwiderruflich überschreite. Die Argumente gegen den ärztlich assistierten Suizid und eigentlich auch gegen die aktive Sterbehilfe sind ganz vielfältiger Art. Die einen, vor allem die Mitglieder der Hospiz-Bewegung, weisen immer wieder darauf hin, dass der von einem Patienten geäußerte Wunsch nach ärztlich assistiertem Suizid oder auch aktiver Sterbehilfe eigentlich als Appell und Hilferuf nach besserer Pflege zu verstehen sei.

Andere sagen, dass das Bild einer Gesellschaft doch deutlich werde, in der anscheinend nur Glück, Lust und Spaß zählten, dagegen der Anblick von Schmerz, Verzweiflung und Krankheit tendenziell als unerträgliche Zumutung angesehen würde, weshalb wir wohl auch bereit wären, diesen beiden Formen der Sterbehilfe leichter zuzustimmen.

Ganz wichtig und ernst zu nehmen, sind die Gefahren eventueller Dammbrüche. Darunter fallen verschiedene Aspekte. Ich möchte drei Gefahren unterscheiden: Erstens, so heißt es, könne es zu einer ungewollten Aufweichung des ärztlichen Respekts vor menschlichem Leben kommen mit der Konsequenz, dass künftig bereits leicht Erkrankte „aus dem Wege geräumt“ würden; zweitens könnten auch jene Bürger, die mit der Betreuung Schwerstkranker betraut sind und die physisch, psychisch und materiell sehr viel investieren müssen, auf lange Sicht der Versuchung erliegen, den Patienten zur Einwilligung in die aktive Beendigung des Lebens zu überreden, das doch für die Gemeinschaft eine nutzlose Belastung darstelle; drittens könnten alle Todkranken – das liegt nun auch auf der Hand – auf diese Weise in einen gefährlichen Sog geraten und aus dem Gefühl, anderen zur Last zu fallen sowie unter dem Druck steigender Gesundheitskosten und angesichts zunehmender Überalterung unserer Gesellschaft, sich leicht verpflichtet fühlen, die Möglichkeit aktiver Sterbehilfe zu nutzen, statt neue Zuversicht zu schöpfen.

Ein weiteres Argument gegen Formen des ärztlich assistierten Suizids und der aktiven Sterbehilfe lautet, dass doch zwischen Abbruch medizinischer Maßnahmen und Selbsttötung oder Fremdtötung ein grundsätzlicher Unterschied bestehe. Denn der Abbruch medizinischer Maßnahmen führe nur bei Sterbenskranken zum Tode, hätte bei Gesunden aber keinerlei Auswirkungen, während die Verabreichung einer Spritze sowohl Kranke als auch nicht Kranke sterben lassen würde.

Ich komme nun zu den Argumenten, die für den ärztlich assistierten Suizid sprechen: Das Abstellen lebensverlängernder Maschinen unterscheidet sich gar nicht so sehr von der aktiven Sterbehilfe, wie es auf den ersten Blick aussieht. Denn beiden liegt die gleiche Absicht zugrunde. Außerdem haben sowohl aktive als auch passive Sterbehilfe und der ärztlich assistierte Suizid einen gemeinsamen Nenner: die Verursachung. Alle drei Formen verursachen im Grunde den Tod und haben deswegen die gleiche Qualität.


Wenn wir die passive und die indirekte Sterbehilfe als zulässig ansehen, so haben wir bereits zugegeben, dass der Lebensschutz, der ja über allem stehen soll, der Schmerzlinderung untergeordnet wird, so dass dieses Argument bereits ausgehöhlt ist und nicht mehr gilt. Dann ist natürlich einfach falsch, dass sich das Problem mit mehr Zuwendung und stärkerer Palliativtherapie in den Griff bekommen lasse. So furchtbar es klingt, es gibt eine kleine Gruppe von Patienten, bei denen es human wäre, ihnen zu erlauben, sich vielleicht selbst schmerzfrei zu töten, aber inhuman, sie qualvoll sterben zu lassen.

Für den ärztlich assistierten Suizid hat sich mittlerweile sowohl die Mehrheit des Nationalen Ethikrats als auch der Juristentag ausgesprochen. Und es gibt auch von der Idee der Menschenwürde als Gestaltungsauftrag kein Argument gegen die Zulassung der aktiven Sterbehilfe. Die Dammbruch-Argumente, also beispielsweise, dass der Einzelne sich dazu überredet sehen könnte, sich das Leben nehmen zu wollen, ist zwar ernst zu nehmen, aber es ist in einem Punkt nicht besonders überzeugend: Warum sollten Menschen freiwillig zur Entlastung des Gesundheitssystems aus dem Leben scheiden wollen, nachdem sie es viele Jahre schon häufig bloßer Kleinigkeiten wegen übermäßig und bedenkenlos in Anspruch genommen haben.

Deshalb plädiere ich für die Zulassung des ärztlich assistierten Suizids, halte ihn mit der Idee der Würde als Gestaltungsauftrag vereinbar, ja, halte sogar in bestimmten Fällen, die natürlich genau geprüft werden müssten, auch den Gedanken der aktiven Sterbehilfe für vertretbar.

Abschließend möchte ich anmerken, weil wir diese Diskussion in Deutschland ja sehr grundsätzlich führen: Der berühmte Lichtenberg hat einmal gefragt: „Sagt, ist noch ein Land außer Deutschland, wo man die Nase eher rümpfen lernt als putzen?“ Er ist also überzeugt davon, dass wir Deutschen eine grundsätzliche Nation sind, die diese Fragen sehr prinzipiell behandelt. Das finde ich auch sinnvoll. Aber wir sollten diese Fragen nicht nur prinzipiell, sondern eben außerdem pragmatisch beantworten. Meine Position, die von der Idee der Menschenwürde als Gestaltungsauftrag ausgeht, ordnet Freiheits- und Heilungsinteressen weltanschaulichen und metaphysischen Ideen über. Deshalb bin ich für diese liberale Einstellung sowohl in bezug auf die Stammzellforschung als auch in bezug auf die Sterbehilfe eingetreten.

Wie wollen wir sterben?

Online-Publikation: Mai 2010 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
<< Michael de Ridder: Wie wollen wir sterben? . Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin>>
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 320 Seiten, 13,5 x 21,5 cm; ISBN: 978-3-421-04419-8; € 19,95 [D] | € 20,60 [A] | CHF 34,90
DVA Sachbuch - Verlagsgruppe Random House, München; www.randomhouse.de; www.dva.de

Inhalt
Die Würde des Menschen muss auch und gerade bei unheilbar kranken und alten Menschen respektiert und bewahrt bleiben. Viel zu oft allerdings setzen sich Ärzte über den Willen ihrer Patienten hinweg, tun alles, was medizinisch und technisch möglich ist, und tragen so eher zur qualvollen Sterbeverzögerung als zur sinnvollen Lebensverlängerung bei. Aber Lebensverlängerung, so de Ridder, darf nie zum Selbstzweck werden. Ein leidenschaftliches Plädoyer für Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende.
Der medizinische Fortschritt der letzten Jahrzehnte hilft zahllosen Patienten, verschafft Heilung oder zumindest Linderung, rettet und verlängert Leben. Gleichzeitig hat Hochleistungsmedizin, wie sie in unseren Krankenhäusern praktiziert wird, aber auch ihre Schattenseiten. Michael de Ridder, seit über dreißig Jahren an verschiedenen Kliniken in Hamburg und Berlin als Internist, Rettungs- und Intensivmediziner tätig, plädiert dafür, Sterben wieder als Teil des Lebens wahrzunehmen und anzuerkennen. Er richtet sich damit nicht zuletzt an die eigene Zunft. Vielfach verstehen sich Ärzte in einer medizinisch-technischen Krankenhauswelt, in der alles möglich scheint, ausschließlich als Heilende. Was aber, wenn eine Heilung nicht mehr möglich ist? Wenn ein Patient »austherapiert« ist, wie es im Fachjargon heißt? Statt Todkranke um jeden Preis am Leben zu erhalten, müssen Mediziner lernen, in aussichtslosen Situationen ein friedliches Sterben zu ermöglichen. Gerade hier, so de Ridder, sind Ärzte gefragt, als Begleiter, als Fürsorger.

Autor
Michael de Ridder ist seit dreißig Jahren als Arzt klinisch tätig und heute als Internist Chefarzt der Rettungsstelle eines Berliner Krankenhauses. Er ist Vorsitzender einer Stiftung für Palliativmedizin und erhielt im Jahr 2009 den Ossip K. Flechtheim-Preis für sein gesundheitspolitisches Engagement.

Fazit
Der Arzt , Internist und Palliativmediziner Michael de Ridder plädiert in schlüssiger patientennaher Weise in seinem Selbstbestimmungs-Buch " Wie wollen wir sterben?" für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin. Dabei geht es unter vielen anderem um die "indirekt aktive Sterbehilfe" wozu der Arzt aufgrund einer entsprechenden Patientenverfügung ermächtigt ist (Dolantin-Fall: bei schmerzlindernder Medikation >...als unbeabsichtigte ... Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen... ). Und de Ridder kommt zum Schluss: ...nie waren die Möglichkeiten weitreichender und die Mittel wirksamer - für den ärztlichen Auftrag, wenn Heilung nicht mehr möglich ist. Gut so. w.p.10-5

Frage der Sterbekultur

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SWR2 Wissen: Aula - Michael de Ridder : Eine Frage der Sterbekultur . Warum Ärzte nicht jedes Leben verlängern sollten
Autor und Sprecher: Dr. Michael de Ridder *
Redaktion: Gabor Paal
Sendung: Sonntag, 5. September 2010, 8.30 Uhr, SWR 2
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Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

ÜBERBLICK
Dank des medizinischen Fortschritts sind heute viele einst tödliche Krankheiten heil- oder zumindest beherrschbar. Gleichzeitig hat die Hochleistungsmedizin aber auch das Sterben verändert. Indem Ärzte heute bei unheilbar kranken Menschen alles tun, was medizinisch und technisch möglich ist, sorgen sie oft eher für qualvolle Sterbeverzögerung als für eine sinnvolle Lebensverlängerung, so de Ridder. Er fordert deshalb eine neue Sterbekultur: Das Sterben solle wieder als Teil des Lebens wahrgenommen werden. Niemals, so de Ridder, dürfe die Lebensverlängerung zum Selbstzweck werden. Er plädiert für mehr Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende. Ärzte sollten todgeweihten Menschen lieber ein friedliches Sterben ermöglichen, anstatt den Tod um jeden Preis hinaus zu zögern.

* Zum Autor:
Dr. Michael de Ridder
Der Intensiv- und Notfallmediziner Michael de Ridder ist Chefarzt der Rettungsstelle am Berliner Urban-Krankhaus.
Buch-Tipp:
Dr. Michael de Ridder: Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin.
DVA-Verlag. 2010: 320 Seiten; 978-3-421-04419-8; € 19,95 (D), € 20,60 (A), 33,90 (CH)
Rezensionshinweis:
http://archiv.kultur-punkt.ch/gesundheit/randomhouse-dva10-5ridder-wiesterben.htm

INHALT________________________
Ansage:
Der Tod behandelt die Menschen ungerecht: Die einen sterben zuhause im eigenen Bett, ohne Schmerzen, im Kreis ihrer Angehörigen, mit sich und der Welt im Reinen. Die anderen sterben in Intensivstationen, an Schläuchen, am Ende eines langen Leidensweges.
In diesen Fällen stellt sich die Frage: Wie lange muss dieser Leidensweg sein? Dank des medizinischen Fortschritts sind einerseits heute viele früher tödliche Krankheiten heilbar oder zumindest beherrschbar geworden, gleichzeitig hat die Hochleistungsmedizin auch das Sterben verändert.
Der Intensiv- und Notfallmediziner Michael de Ridder, Chefarzt der Rettungsstelle am Berliner Urban-Krankenhaus, fordert deshalb ein Umdenken: Das Sterben solle wieder als Teil des Lebens wahrgenommen werden. Ärzte sollten totgeweihten Menschen lieber ein friedliches Sterben ermöglichen, anstatt den Tod um jeden Preis hinauszuzögern, so argumentiert er in der heutigen SWR2 Aula mit dem Titel: „Eine Frage der Sterbekultur – Warum Ärzte nicht jedes Leben verlängern sollten.“
Michael de Ridder:
Es war in der Frühzeit meiner ärztlichen Ausbildung: Gerade hatte ich als junger Stationsarzt einer internistischen Station die Oberarztvisite beendet, als mir der Aufnahmearzt telefonisch einen alleinstehenden 64-jährigen Patienten im Endstadium einer Tumorerkrankung ankündigte: „Leg den am besten in ein Einzelzimmer, der stirbt sowieso bald.“ Der Krankentransport übergab mir einen blassen, hüstelnden und vom Tode gezeichneten Mann, der mich aus großen Augen eines ausgezehrten Gesichts anschaute. Über ein freies Einzelzimmer jedoch verfügte ich nicht und auf eine andere Station auszuweichen war wegen fehlender Betten nicht möglich. Aber war da nicht noch ein freies Bett im einzigen Sechsbettzimmer meiner Station? Ich zögerte. Konnte ich den fünf Patienten dieses Zimmers einen zu Tode Erkrankten wirklich zumuten? Ich erschrak vor meiner eigenen Frage und begriff in diesem Moment: Das Sterben gehört ins Leben – unter Menschen! Und nicht in die Verlassenheit eines Einzelzimmers.
Eine halbe Stunde lang sprach ich mit den anderen Patienten, deren anfängliche Beklommenheit und Bedenken ich schließlich zerstreuen konnte. „Stell Dir vor, Du hättest Krebs, im Endstadium, wie er“, sagte einer von ihnen in die Runde; und zu mir gewandt: „Wir nehmen den, Herr Doktor, er kriegt einen Fensterplatz.“ Die anderen nickten zustimmend.
Nie wieder habe ich Ähnliches erlebt: Sie organisierten untereinander für ihn eine 24-Stunden-Sitzwache, sie saßen an seinem Bett, fütterten und wuschen ihn und lasen ihm aus der Zeitung vor. Fünf Tage später starb er, in ihrer aller Anwesenheit. Einer seiner Mitpatienten sagte bei der Entlassung zu mir: „Diese fünf Tage meines Lebens waren wichtig, ich werde sie nie vergessen.“
Sterben – nichts scheuen wir so sehr, nichts erzeugt in uns so viel Unbehagen und Angst, ja Abwehr, wie eben unserer Sterblichkeit, unserer Endlichkeit ins Gesicht zu schauen. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand – ist doch nichts dem „farbigen Abglanz“, an dem wir nach einem Goethe-Wort das Leben haben und an dem wir doch mit all unseren Fasern hängen, so sehr abgewandt wie das Sterben. Widerspricht doch nichts dem Leben in so fundamentaler Weise wie das Sterben. Und doch – beide sind ineinander verschränkt; denn zweifellos: Jeder Sterbende ist ein Lebender, oder sollten wir besser sagen: Wir Lebende sind zu jeder Zeit auch Sterbende?
Sterben – mögen wir das For-ever-young auch noch so sehr beschwören, das Ideal des alters- und faltenlosen Zeitgenossen noch so sehr kultivieren; mag der Nobelpreis auch im letzten Jahr für wissenschaftliche Leistungen am Telomerase-
Gen – von manchen schon als Unsterblichkeitsgen gefeiert – vergeben worden sein; wir können und werden dem Sterben nicht entrinnen. Mag auch die Medizin sich nicht mehr allein ihrem klassischen Auftrag, der Behandlung von Krankheit, sondern zunehmend der Optimierung des Natürlichen und Gesunden annehmen; mögen einige ihrer Protagonisten sich neuerdings gar dazu versteigen, das Sterben als einen Unfall der Evolution zu interpretieren, um damit zu rechtfertigen, das Sterben selbst medizinischen Eingriffen zugänglich zu machen – ich bin sicher, es wird nicht aus der Welt zu schaffen sein.
Was also bleibt uns? Ich meine, sich dem Sterben zuzuwenden, über das Sterben zu sprechen, würde auf einen guten Weg führen: mit sich selbst das Gespräch über die eigenen Sterblichkeit suchen; mit Lebensgefährten und Freunden; mit einem spirituellen Lehrer, einem Geistlichen, einem Arzt. Um letztlich dem Sterben mit Unerschrockenheit und Gelassenheit begegnen zu können. Vielleicht kann uns eine Maxime des großen Essayisten und Arztes Michel Montaigne Orientierung und Hilfe geben. Für ihn bestand unser Menschsein und unser Leben „in der fortwährenden Herausforderung, unser Sterben zu gestalten.“
Wie wollen wir sterben? Wir alle würden sicherlich einander ähnliche, schlichte und einleuchtende Antworten auf diese Frage geben: Leicht sollte es sein, unser Sterben, frei von Angst und Schmerz, im Frieden mit uns selbst, unseren Angehörigen und Freunden.
Doch betrachten wir die Wirklichkeit des Sterbens, dann spricht sie allzu oft eine andere, eine bedrückende Sprache: Er oder sie hatte ein schweres Sterben, ein qualvolles, ein grausames gar, ein nicht enden wollendes, zumal, wenn es sich in einer Klinik vollzog. Ich bin überzeugt, uns allen sind Menschen bekannt, nicht zuletzt wohl nahe Angehörige, die unter solchen Umständen verstarben.
Vor wenigen Wochen erst verhandelte der Bundesgerichtshof einen solchen Fall eines schweren, ja würdelosen Endes einer alten Dame: der Ausgang des Prozesses um ihr Sterben beherrschte Ende Juni dieses Jahres die Schlagzeilen und Kommentare der Tagespresse. An ihrer Leidensgeschichte – und die ist bei weitem kein Einzelfall – lässt sich die ganze Tragik des Sterbens im Zeitalter lebensverlängernder Maßnahmen darstellen. Wann tragen beispielsweise künstliche Ernährung, Wiederbelebung, Beatmung oder Chemotherapie wirklich zur sinnvollen Lebensverlängerung bei – wann hingegen werden sie zur qualvollen Sterbeverzögerung? Wann wird Lebensverlängerung zu einem Akt der Inhumanität, lautet die zentrale, uns alle berührende Frage, die auch das Gericht zu beantworten hatte. Und – gleich bedeutsam: Welche Rolle darf oder muss der Wille eines Menschen spielen, der in einer Patientenverfügung oder in anderer Weise deutlich gemacht hat, was an seinem Lebensende ärztlicherseits zu tun und zu unterlassen ist?
Frau K., eine 76-jährige alte Dame, erleidet im Oktober 2002 eine schwere Hirnblutung. Mehrfach wird sie operiert, jedoch ohne Erfolg. Letztlich diagnostizieren die Ärzte ein Wachkoma, ein Zustand unumkehrbarer Bewusstlosigkeit bei erhaltener Spontanatmung, in dem man auf dauernde Pflege angewiesen ist. Hierüber werden die Angehörigen von den Ärzten aufgeklärt, mit Besserung sei nicht mehr zu rechnen. Ein solches Siechtum mittels künstlicher Ernährung eventuell über Jahre
aufrecht zu erhalten, hatte Frau K. noch Wochen vor ihrer Erkrankung der Tochter gegenüber mit plausiblen Argumenten und unmissverständlich abgelehnt. Sterben wolle sie dann, am liebsten zuhause.
Kann es, so fragt man sich – nicht allein als Arzt – sondern schlicht als mit Empathie und Vernunft ausgestatteter Mensch, irgendeinen plausiblen Grund geben, das natürliche Sterben dieser Frau aufzuhalten? Ist es nicht vielmehr – jenseits aller ärztlichen und juristischen Erwägungen – ein unmittelbares und schlichtes Gebot der Menschlichkeit, dem Willen einer aussichtslos kranken Patientin zu entsprechen und ihr ein friedliches Sterben zu ermöglichen? Wo sollte hier ein Grund dafür liegen, dass ihr Sterben zu Streit und Zerwürfnis, zu Hausverbot und Polizeieinsatz, ja zu einstweiligen Verfügungen und Klageschriften führt, die letztlich, wie schon angedeutet, gar den Bundesgerichtshof auf den Plan rufen?
Weit gefehlt. Frau K. wird nach fehlgeschlagener Rehabilitation von einem Pflegeheim als Wachkomapatientin übernommen. Mehr als fünf lange Jahre vergeht man sich an ihr, indem sie über eine Sonde zwangsernährt wird und ihr Sterben nicht zulässt: Ihr verblendeter Ehemann weigert sich, dem Willen seiner Frau den Ärzten gegenüber Geltung zu verschaffen; ein hasenfüßiger Hausarzt hält die Ernährungssonde zwar für schon lange nicht mehr sinnvoll, traut sich aber nicht, ihre Entfernung dem Pflegeheim gegenüber durchzusetzen; die Heimleitung hält eigenmächtig und entgegen ärztlicher Anordnung die Sondenernährung aufrecht, „weil es dem Leitbild unserer Einrichtung widerspricht, Maßnahmen vorzunehmen, die letztlich zum Tode unserer Bewohner führen würden“. Hier regierte offenbar das Prinzip des unbedingten Lebensschutzes, der weder vor dem Willen des Patienten noch vor qualvoller Sterbeverzögerung Halt macht. Man kann die Heiligkeit des Lebens auch bis zur Unmenschlichkeit pervertieren.
Auch die rechtliche Betreuerin sieht tatenlos zu. Allein Tochter und Sohn sowie der schließlich von ihnen beauftragte Rechtsanwalt kämpfen unbeirrt einen geradezu heroischen Kampf für die Einstellung der Sondenernährung und ein Ende ihres Leidens, das in ihrem beklagenswerten Zustand auch noch die Amputation eines Armes umfasst. Nach schier endlosen Kontroversen zwischen Kindern, Heimleitung, Hausarzt, Betreuungsgericht und Rechtsanwalt – Frau K. liegt inzwischen im Sterben – droht die Heimleitung den Kindern ultimativ die eigenmächtige Zwangsernährung an, falls sie nicht innerhalb kürzester Zeit die zuvor doch noch einvernehmlich beendete Sondenernährung wieder aufnähmen. Als Ultima Ratio gibt deshalb der Anwalt den Kindern die Empfehlung, die Ernährungssonde ihrer Mutter zu durchtrennen, der die Kinder kurz vor Weihnachten im Jahre 2007 nachkommen: Das Entfernen der Sonde sei gebotene Selbsthilfe (und nicht Selbstjustiz!) zur Abwendung der angedrohten erneuten Körperverletzung durch Zwangsernährung, so der Anwalt. Dem folgt das Landgericht Fulda überraschenderweise nicht, vielmehr verurteilt es den Anwalt am 30.4.2009 – Frau K. verstarb zwischenzeitlich bei laufender Sondenernährung eines natürlichen Todes – wegen versuchten Totschlags zu neun Monaten Haft auf Bewährung. Ein Urteil, gegen das der unerschrockene und scharfsichtige Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Revision einlegt.
Der hat nun am 25.06.2010 – der Anwalt wurde in allen Punkten freigesprochen – ein insbesondere für die deutsche Ärzteschaft richtungweisendes Urteil gesprochen, das den Arzt in kritischen Entscheidungssituationen am Lebensende entlastet und die
Palliativmedizin in Deutschland stärken wird : Ärzten, Pflegeeinrichtungen und auch Richtern gegenüber ist endlich von höchstrichterlicher Instanz ins Stammbuch geschrieben worden, dass das Zulassen des natürlichen Sterbens mit lindernden Maßnahmen nichts, aber auch gar nichts mit aktiver Sterbehilfe – sprich „Töten“ – zu tun hat.
Sterben lassen (passive Sterbehilfe) ist – bei fehlender ärztlicher Behandlungsindikation und / oder klar geäußertem oder vorausverfügten Patientenwillen – nicht nur gerechtfertigt, sondern geboten: Ursächlich für das Lebensende des Kranken ist hier seine Krankheit bzw. sein Alter.
Töten eines Patienten – ob von ihm verlangt oder nicht – meint dagegen die direkte gezielte Lebensbeendigung. Sie bleibt nach derzeitiger Rechtslage weiterhin verboten: Ursächlich für den Tod ist in diesem Fall eine ärztliche(r) Handlung oder Eingriff.
Ich erinnere mich an den Fall eines 86-jährigen Pflegeheimbewohners, der in diesem Heim bereits über zwei Jahre lang nach einem schweren Schlaganfall gepflegt wurde. Dieser alte Herr war nicht mehr in der Lage zu kommunizieren, er konnte an nichts mehr teilnehmen, er konnte nicht lesen, er lag im Bett und die Tage vergingen. Man konnte seinen Willen nicht mehr deutlich machen, um daran auch eine Behandlungsentscheidung auszurichten.
Solche Fälle machen die Entscheidung ganz besonders schwer. Aber ein 86-Jähriger in einem solchen Zustand frage ich, was ist in einem solchen Zustand, zum Wohl eines solchen Patienten wirklich indiziert? Denn er kam zu uns mit einer beidseitigen Lungenentzündung, und das Heim erwartete jetzt von uns, dass wir diese Lungenentzündung behandelten, ihn mit Flüssigkeit versorgten usw. und ihn wieder zurückbringen, wenn er die Lungenentzündung überstanden hätte. Ich und unser Team hat das ganz anders gesehen. Wir haben gedacht, was tun wir dem Mann bei dem, was wir von ihm wissen, Gutes, wenn wir ihn jetzt aggressiv behandeln mit Antibiotika, ihn möglicherweise auf die Intensivstation legen, ihn beatmen, ihn mit Kreislauftherapie, weil er bereits eine Blutvergiftung hatte, behandeln – was tun wir ihm Gutes?
Und wir sind zu der Entscheidung gekommen, eine solche Behandlung ist nicht mehr indiziert, eine solche Behandlung tut dem Patienten nichts Gutes, und ein solcher Mann, der in einem solch hohen Lebensalter mit einer solch schweren Krankheit bei so dramatisch Vorerkrankungen ist, darf sterben! Und daran haben wir unsere Behandlung auch ausgerichtet, indem wir alles dafür getan haben, dass er keine Schmerzen hat, dass er keine Luftnot hat, dass er friedlich das Leben verlassen konnte. Und so war es auch: Er ist dann gestorben. Ganz nach der Devise, die ein großer amerikanischer Arzt aus dem 19. Jahrhundert einmal formuliert hat: Die Lungenentzündung kann auch „the old man’s friend“ sein – also eine Krankheit am Ende des Lebens darstellen, die einen wegdämmern lässt, ohne großen Schmerzen, ohne Angst, die auf eine friedliche Weise das Leben beendet.
Nun glauben – neben vielen Laien und manchen Juristen – auch zahlreiche Ärzte immer noch, dass im Zustand einer tödlichen Erkrankung die Einstellung einer künstlichen Ernährung oder Beatmung ärztlich aktives Handeln im Sinne der Todesursächlichkeit sei. „Aktive Sterbehilfe sei das – und die stehe doch unter
Strafe!“, so der unerschütterliche Glaube vieler meiner Kollegen. Welch fataler Irrtum! Die Einstellung einer künstlichen Ernährung ist zwar, rein äußerlich betrachtet, eine bloße Handlung. Allein: Ist nämlich die Einstellung zwingend geboten, weil ihr die ärztliche Indikationsgrundlage entzogen oder der Patientenwille ihr entgegen steht, kann sie nicht zugleich eine Tötungshandlung sein, vielmehr lässt man mit dem Einstellen der Ernährung das Sterben zu. Entsprechendes gilt für die Beendigung einer Beatmung. In seinem Urteil geht der Bundesgerichtshof sogar so weit, selbst das „aktive“ Durchschneiden der Ernährungssonde für rechtens zu erklären, weil es der Beendigung einer von der Patientin nicht gewollten Behandlung diente.
Die Ursächlichkeit einer Handlung sagt indes noch nichts über ihre mögliche Strafbewehrtheit aus. Die Strafbarkeit der Lebensbeendigung hängt nämlich nicht davon ab, ob der Tod durch aktives Handeln oder passives Unterlassen eintritt, sondern ausschließlich von der Willensrichtung des Patienten. Angesichts eines Kranken, der sterben will, ist jedes Verhalten, sei es Tun oder Unterlassen, legal, wenn es den Tod des Patienten zur Folge hat, mit Ausnahme der Herbeiführung des Todes durch seine direkte gezielte Herbeiführung („aktive Sterbehilfe“), die durch die §§ 211, 212 und 216 StGB verboten ist.
An einem einfachen Beispiel möchte ich den Unterschied zwischen Sterbenlassen und Töten noch einmal verdeutlichen:
In Krankenzimmer A liegt ein beatmeter Patient. Jemand betritt den Raum und stellt die Beatmungsmaschine ab. Der Patient stirbt. In Krankenzimmer B liegt ebenfalls ein beatmeter Patient. Auch hier betritt jemand den Raum, stellt die Maschine ab und der Patient stirbt.
In beiden Fällen unterscheiden sich die sichtbaren Handlungsabläufe und ihre Folgen, der Tod des Patienten nämlich, nicht. Im ersten Fall aber war der Handelnde ein Erbschleicher, der mit einer Anklage wegen Mordes rechnen muss; im zweiten Fall war der Handelnde ein Arzt, der dem Willen des Patienten entsprach: Das Abstellen des Beatmungsgerätes war daher in letzterem Fall nicht allein zu billigen, sondern sogar geboten.
Summa summarum gilt: Ein Arzt, der – mit Ausnahme der direkten aktiven Sterbehilfe – dem frei verantwortlichen Willen des Patienten folgt und/oder eine nicht mehr indizierte Behandlung einstellt oder unterlässt, begeht niemals Rechtsbruch. Damit ist den Ärzten Rechtssicherheit gegeben, weil aktive und passive Sterbehilfe klar voneinander unterschieden sind: Sterben lassen ist nicht gleichzusetzen mit töten! Und für den Patienten ist gleichfalls Klarheit geschaffen: Sein Wille ist ausschlaggebend und unbedingt zu respektieren.
Der Wille des Patienten, seine Selbstbestimmung oder Autonomie war es, der im Mittelpunkt der jahrelangen Auseinandersetzungen um das Für und Wider der Verbindlichkeit der Patientenverfügung stand.
Betrachtet man den Konflikt um die Patientenverfügung – und der existiert trotz des seit dem 1. September 2009 auf ein Gesetz zurückgreifen können – aus der Nähe, so fällt auf, dass die verfassungsrechtlich so elementare Figur der Selbstbestimmung unter Druck und in Rechtfertigungsnot geraten ist. Einerseits deshalb, weil ihre
Tragfähigkeit als Grundlage der Patientenverfügung bezweifelt wird, zum anderen, weil sie nach Auffassung mancher ihrer Kritiker in Konflikt mit dem grundgesetzlich ebenfalls garantierten Lebensschutz gerät. Und letztlich, weil sie auf die Gestaltung einer Zukunft zielt, deren Voraussetzungen, da sie doch in der Gegenwart liegen, die Konstruktion der Patientenverfügung an sich hinfällig werden lässt.
Diese Bedenken finden sich ganz konkret in bestimmten „Bereichsethiken“ wieder, also verschiedenen weltanschaulich oder religiös geprägten Vorstellungen vom Lebensende, die sich mehr oder weniger nachdrücklich gegen das Selbstbestimmungsrecht als dominierendes Konzept der Patientenverfügung aussprechen. Dies trifft auch auf Teile der Ärzteschaft zu, wiewohl die ärztliche Standesethik sich offiziell unmissverständlich zur Patientenautonomie bekennt.
Stellvertretend für diejenigen Ärzte, die offen oder verdeckt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten torpedieren, mag hier ein bekannter deutscher Herzchirurg genannt werden, dessen Äußerungen nur als skandalös bewertet werde können. Die Debatte um Patientenverfügungen hält er für „absurd“ und tut sie als „Scheindiskussion“ ab. Im Jahre 2007 ließ er in einem Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEIT verlauten: „Wenn Patienten oder Angehörige von Patienten kommen und sagen, Herr Doktor, hier ist die Patientenverfügung, dann sage ich: Sie können sie ruhig in Ihrem Nachtkästchen liegen lasen. Sie interessiert mich nicht.“
Anmaßender und respektloser kann man sich als Arzt seinen Patienten gegenüber nicht verhalten, ganz zu schweigen davon, dass ein solcher Arzt gegen die ärztliche Berufsordnung und die Charta zur ärztlichen Berufsethik verstößt. Hier mag zwar ein glänzender Mediziner und Herzchirurg sprechen, jedoch nach meinem Verständnis kein guter Arzt.
Nicht nur manche Vertreter der Ärzteschaft stellen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten in Frage. Da wird in Talkshows, Radiomagazinen, Feuilletons und Leitartikeln, in denen das Sterben immer wieder thematisiert wird, das Selbstbestimmungsrecht als eine „Suggestionsvokabel“ charakterisiert, zum „bloßen Generalnenner“ oder zur „Chimäre“ deklassiert. Von einer „am grünen Tisch der Gesunden erdachten Selbstbestimmungsrhetorik“, von der „Zauberformel Patientenautonomie“ ist die Rede; ja, man scheut sich nicht einmal, von der Selbstbestimmung als einem „Götzen“ zu sprechen.
Niemand leugnet, dass die Selbstbestimmung des Individuums immer auch eine soziale Dimension hat, dass sie auch der Formung durch andere Personen und Gruppen unterliegt und eine Fülle von politischen und gesellschaftlichen Kräften auf sie einwirkt. Der dialogische Prozess mit dem Arzt vor der Abfassung einer Patientenverfügung oder die Ermittlung des mutmaßlichen Willens eines einwilligungsunfähigen Patienten im Dialog von Betreuer, Arzt und Angehörigen ist von kaum zu überschätzender Bedeutung. Doch ungeachtet dessen, ja vielleicht gerade im Wissen um dieses Spannungsfeld hat unsere Rechtsordnung die Selbstbestimmung – einschließlich derjenigen zum Tode – als eine eigenverantwortlich zu nutzende Freiheit in ihrem Zentrum verankert, die, wie von Verfassungsjuristen immer wieder betont, klein zu reden oder als menschliche Selbstüberschätzung an den Pranger zu stellen, vollkommen verkennen würde, dass
gerade sie, die Selbstbestimmung, die tragende Säule unseres Grundgesetzes ist und den Kern unseres Grundrechtsverständnisses ausmacht.
Die Selbstbestimmung – und nicht, wie so häufig angenommen der Lebensschutz, so hoch auch der anzusiedeln ist – ist es, die den Kern der Menschenwürde ausmacht! Sie wird von unserer Verfassung garantiert, aus gutem Grund von ihr jedoch nicht definiert. Denn nur der einzelne Mensch als Grundrechtsträger ist befugt, darüber zu befinden, was seine Würde ausmacht, einschließlich der Verfügung darüber, wie weit seine körperliche Unversehrtheit und sein Leben zu schützen sind. Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Die Freiheit des Einzelnen besteht in der Selbstbestimmung eben dieses Einzelnen über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug.“ Als Quintessenz ließe sich sagen: Die Menschenwürde, so wie unsere Verfassung sie versteht, schützt den Menschen eben auch davor, zum Objekt der Menschenwürdedefinitionen anderer zu werden – ein Entwurf, der, wie ich meine, umfassender, überzeugender und unanfechtbarer nicht sein könnte.
Über den hohen Stellenwert der Selbstbestimmung hinaus signalisiert das Urteil des Bundesgerichtshofes vom Juni 2010 insbesondere der Ärzteschaft, im therapeutischen Prozess, gerade bei schwerster Krankheit und im hohen Lebensalter, inne zu halten. Die Frage, die es vor einer therapeutischen Empfehlung oder Entscheidung für den Arzt zu beantworten gilt, darf nicht lauten: Dürfen wir aufhören? Vielmehr muss sie lauten: Dürfen wir noch weitermachen? Ist das, was gestern noch zum Besten unseres Patienten war, auch heute noch zu seinem Besten und, besonders bedeutsam, auch heute noch von seinem Willen gedeckt?
Beatmung, Dialyse, Wiederbelebung, künstliche Ernährung und Chemotherapie sind Beispiele großer Errungenschaften der Medizin, auf die ich, selbst begeisterter Notfall- und Intensivmediziner, stolz bin. Millionen Menschen in aller Welt profitieren tagtäglich von ihr, sind mit ihrer Hilfe von schwerer Krankheit genesen und haben gesunde Lebensjahre gewonnen. Diese Errungenschaften gilt es zu erhalten für alle die Kranken, bei denen es um sinnvolle Lebensverlängerung geht. Halten sie hingegen einen qualvollen Sterbeprozess aufrecht, sollten sie nicht mehr zum Einsatz kommen.
Der Philosoph Hans Jonas hat in einem eben so zutreffenden wie wunderbaren Bild die Herausforderung, der sich ärztliches Handeln am Lebensende stellen muss, auf den Punkt gebracht: Auftrag der Medizin ist es, die Flamme des Lebens am Brennen, nicht aber seine Asche am Glimmen zu halten – so sehr sie auch dieses Glimmen noch zu hüten hat.

Patientenverfügung

+B Agentur-Presseaussendung Dezember 2001
179<<Sterbevorsorge>>
<<Thomas Klie, Johann-Christoph Student: Die Patientenverfügung>>
185 S., Hardcover, gebunden, EUR 9,66
Was Sie tun können, um richtig vorzusorgen
HERDER spectrum Verlag, Freiburg, Basel, Wien, 2001 www.herder.de

Thomas Klie, Dr. jur., Prof. an der Ev. FHS Freiburg, ist seit Jahren mit Fragen der Vorsorge im Alter und der Patientenverfügng befasst.
Johann-Christoph Student, Prof. Dr.med. ist Leiter vom Hospiz Stuttgart. Führend in der deutschen Hospizbewegung.
"Der Tod, so wird gesagt, sei das einzig wirklich Sichere in unserem Leben." So beginnt das Autorenteam. Und setzen sogleich hinzu, dass die Zeit des Sterbens uns aber am meisten versunsichert und ängstigt. Dieses Zweifel werden von Klie und Student Stück für Srück ausgeräumt und geklärt. Sie sprechen uns aus der Seele, wenn sie feststellen , dass wir das Sterben selbst bestimmen lernen, Nahrung verweigern dürfen, aktive Sterbehilfe einleiten, juristische Diskussion führen und lernen wie wir eine Verfügung oder Vollmacht wirksam formulieren.
Darüber hinaus gibt dieses Handbuch zur Sterbevorsorge Orientierung und Perspektive sowie nützliche Literatur und Adressen

Auch Sterben ist Leben

Wolfgang U. Eckart: Auch Sterben ist Leben - Über Palliativmedizin damals und heute>> SWR2 AULA: Redaktion: Ralf Caspary. Susanne Paluch; Ortrud Maske; Sendung: Sonntag, 14. August 2005, 8.30 Uhr, SWR 2Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichenGenehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Überblick

Für Palliativmediziner gehört Sterben zum täglichen Leben. Sie behandeln Menschen, die unheilbar krank sind, und versuchen, ihnen ein möglichst schmerzfreies Leben bis zum Tod zu ermöglichen. Palliativmedizin ist daher Lebensmedizin, und auf Palliativstationen fragt kaum ein Patient nach Sterbehilfe. Das ist die Erfahrung vieler Ärzte.  Professor Wolfgang U. Eckart, Direktor des Instituts für die Geschichte der Medizin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, beleuchtet die historische Dimension des Themas und zeigt, warum die Palliativmedizin ein Ausweg aus der Sterbehilfe-Problematik ist. Ansage:

 

Heute mit dem Thema: „Auch Sterben gehört zum Leben- Palliativmedizin damals und heute“.

 

Die Frage nach einem menschenwürdigen Sterben wird kontrovers diskutiert. Darf dem Leiden und Leben eines Schwerkranken ein Ende gesetzt werden? Ja, sagen dazu Belgien und die Niederlande, die aktive Sterbehilfe unter gewissen Bedingungen erlauben. In den meisten anderen europäischen Ländern, auch in Deutschland, ist nur die passive Sterbehilfe erlaubt, wenn dies der eindeutige Wille des Patienten ist. Allerdings gibt es in Deutschland noch immer keine eindeutigen Regelungen im Umgang mit Patientenverfügungen, die Noch-Bundesregierung plante deshalb ein Gesetz, das jetzt aber wegen der bevorstehenden Neuwahlen vorerst auf Eis liegt.

 

Andererseits gibt es viele, die sagen, wir brauchen gar nicht neue Gesetze, die bestehenden reichen aus, wir brauchen eigentlich nur eine effizientere Palliativmedizin und mehr Hospize, die es Schwerkranken ermöglichen, ihre letzte Lebensphase menschenwürdig gestalten zu können.

 

Professor Wolfgang U. Eckart vertritt diese Position. Er ist Direktor des Instituts für die Geschichte der Medizin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. In der SWR2 AULA beleuchtet Eckart die historische Dimension des Themas und zeigt, warum die Palliativmedizin ein Ausweg aus der Sterbehilfe-Problematik ist.

Wolfgang U. Eckart:

 

Die Palliativmedizin bejaht das Leben und sieht das Sterben als einen normalen Prozess des Lebens an dessen Ende an. Sie will den Tod weder hinauszögern noch beschleunigen oder gar herbeiführen. Am Lebensende in körperlicher und seelischer Ruhe sterben, Wichtiges noch mitteilen und noch erfahren zu können, ist kostbarer Teil humaner Existenz in der Grenzsituation des Lebens.

 

Die Palliativmedizin hat sich aus der modernen Hospizbewegung entwickelt und bildet zusammen mit ihr das derzeit bestehende Modell der umsorgenden Sterbebegleitung, der „rounded care“. Von der Hospizidee überzeugt, hatte der kanadische Onkologe Belfour Mount 1975 am Royal Viktoria Hospital in Montreal die wohl erste Palliativstation überhaupt errichtet und darf daher als der Begründer dieses Gedankens gelten. Mount prägte zugleich den Begriff „Palliativ“, wenngleich die Idee einer Schmerzlinderung und Pflege integrierenden „terminal“ oder „rounded care“ auf die engagierte christlich inspirierte Arbeit der englischen Krankenschwester und späteren Ärztin Cicely Saunders zurückgeht. Saunders hatte als eine rigorose und wortgewaltige Bekämpferin des Euthanasiegedankens in den 1960er Jahren das ganzheitliche Konzept der umfassenden Pflege bei der Begleitung und Betreuung Sterbender entwickelt und mit der Eröffnung des St. Christopher Hospice in London 1967 zugleich das erste moderne Hospiz gegründet. Saunders hielt eine adäquate Schmerztherapie als integrale medizinische Begleitmaßnahme professioneller, einfühlsamer „rounded care“ (umhüllender Sorge) der Sterbenden für unverzichtbar.

 

Palliativmedizin ist im Prinzip nicht auf besondere Einrichtungen beschränkt, sondern kann in vielfältiger Weise, auch in der häuslichen Pflege, realisiert werden, wie das Beispiel Großbritannien zeigt, wo wir eine umfangreiche Integration der Palliativmedizin in das gesamte Gesundheitswesen vorfinden. In Deutschland hat die Palliativmedizin, ähnlich wie die Hospizbewegung, gemessen am britischen Vorbild erst mit Verzögerung in Fach- und Laienkreisen Interesse gefunden. Den entscheidenden Schub scheint sie zu Beginn der 90er Jahre erfahren zu haben: 1983 gab es eine Palliativstation mit nur fünf Betten in Deutschland, 1993 waren es schon 21 mit insgesamt 137 Betten, und im Jahre 2000 gab es dann bereits 65 Stationen mit mehr als 500 Betten für die palliative Versorgung. Derzeit arbeiten in der Bundesrepublik Deutschland über 70 Palliativstationen mit einer Versorgungskapazität von mehr als 700 Betten. Dass dies allerdings eine noch nicht annähernd hinreichende Versorgung darstellt, zeigt der Blick auf die Dichte der verfügbaren Palliativbetten. Sie variiert von Bundesland zu Bundesland zwischen drei Betten in Baden-Württemberg und 26 Betten auf eine Million Einwohner in Bremen. Deutschland ist damit sicher kein palliativmedizinisches Entwicklungsland mehr, von einer flächendeckenden palliativmedizinischen Versorgung sind wir allerdings immer noch weit entfernt.

 

Eine wichtige Wegmarke im Prozess der institutionellen Etablierung der Palliativmedizin war die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin im Jahre 1994. Als ihr satzungsgemäßes Ziel definierte diese Gesellschaft bis heute gültig „die Behandlung und Begleitung von Menschen mit einer nicht heilbaren, progredienten und weit fortgeschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung“. Ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zur disziplinären Etablierung der Palliativmedizin war das Erscheinen des ersten Lehrbuchs, das im Jahre 1997 von Eberhard Aulbert und anderen herausgegeben wurde; ein Jahr später bereits erschien 1998 im Heidelberger Wissenschaftsverlag Springer die „Palliativmedizin“ als „Praktische Einführung in Schmerztherapie, Ethik und Kommunikation“ von Stein Husebø und Eberhard Klaschik. Klaschik ist es auch, der seit 1999 an der Rheinischen Wilhelms-Universität zu Bonn den ersten Lehrstuhl für Palliativmedizin bekleidet. Zu diesem Zeitpunkt war die vorgefundene Situation verglichen mit der heutigen jedoch noch alles andere als befriedigend. Von 220.000 Menschen, die in Deutschland alljährlich an den Folgen einer Krebserkrankung starben, litten damals noch etwa 150.000 auf ihrer letzten Lebensstrecke an kaum zu ertragenden Schmerzen, da die Morphinverschreibung und die angemessene Schmerzbekämpfung überhaupt noch keineswegs hinreichend waren. Diese Situation aber hat sich in den vergangen Jahren im klinischen wie auch im nichtklinischen Bereich wesentlich verbessert. Dies gilt ebenso für das Gebiet der Milderung stark beeinträchtigender körperlicher Begleiterscheinungen, etwa der Chemotherapie, wie Übelkeit und Erbrechen.

 

Ein gewisses Konfliktpotential besteht seit den späten 1990er Jahren in der Koexistenz von Palliativstationen und bereits länger bestehenden Hospizeinrichtungen. So wurden auf der Seite der Hospizbewegung immer wieder Befürchtungen geäußert, dass der schrecklich veraltete, vertikal hierarchische Aufbau des deutschen Gesundheitswesens zur ärztlichen Dominanz und allmählichen Medikalisierung der terminalen Versorgung zuungunsten einer ganzheitlichen Sterbebegleitung im Sinn der „rounded care“ führe, die eben auch spirituelle Elemente einbezieht. Doch scheinen mir solche Sorgen eher weniger begründet. Zu Recht hat Eberhard Klaschik schon 1999 gefordert, das gewachsene Zweisäulen-System der terminalen Pflege und Sorge zugunsten eines integrativen Kooperationssystems von Palliativmedizin und Hospizarbeit aufzugeben. Es sei an der Zeit, dass Hospize „palliativmedizinisch kompetente Ärzte einbinden, ohne die Medizinierung der Hospize zu befürchten“. Ärzte wiederum müssten lernen, den „empathischen Teil der Hospizidee in sich aufzunehmen“. Im Hinblick auf mögliche Konflikte und Kontroversen muss vor allem die Teamarbeit im Vordergrund stehen, die der mehrdimensionalen Bedürfnislage des Palliativpatienten gerecht wird. Der hannoversche Kinderpsychiater und hospizengagierte Arzt, Johann-Christoph Student, ist in seinen Arbeiten zum Hospiz zuerst der „Mehrdimensionalität menschlichen Seins“ nachgegangen; Pfarrer Wolfgang Weiß, Leiter des Berliner Lazarus-Hospizes, hat sie 1999 in seinem „Handbuch der Hospizarbeit“ hinsichtlich der Schmerzspezifität, die jeweils ihre besondere, der Situation angemessene Hilfskompetenz sucht, die ärztliche, die pflegerische oder auch die geistliche auf den Punkt gebracht: „Im Sterbeprozess“, so Wolfgang Weiß, „ fordert jede Dimension Raum ein, indem sie sich in der je entsprechenden Bedürfnisformulierung ausdrückt. Kann dieses nicht befriedigt werden, so drückt sich das entsprechende Defizit als Schmerz aus. Doch es ist nicht so einfach auszumachen, an welcher Stelle dieses Defizit auftritt. Von daher legt sich eine integrale Schmerzanschauung nahe, die sich bemüht, jene Dimension des Menschen aufzuspüren, die der ‚Behandlung’ bedarf“.

 

Im klinischen Alltag bedeutet dies, dass der seelische Abschiedsschmerz einer 45jährigen krebskranken Mutter mit zwei von ihr gern weiter umsorgten Kindern und einem geliebten Mann genauso der Beachtung und Behandlung bedarf, wie der brennende Kopfschmerz einer Hirntumorpatienten, die seelische Einsamkeit einer 90jährigen kinderlosen und schwer herzkranken Witwe oder die permanente Übelkeit eines Kindes unter Zytostatika-Behandlung. Gerade an diesen wenigen Beispielen zeigt sich eben ganz deutlich: Hospize sind nicht einfach - und in der falsch geprägten Öffentlichkeit ebenso falsch wahrgenommene - „Sterbehäuser“, sondern in Wirklichkeit lebendige „Lebensstätten für Sterbende“. Sterben ist eben lebendiger Teil des Lebens und nicht mechanisches Absterben.

 

Die letzte Wegstrecke der lindernden Begleitung unheilbarer Krankheit zum Tode verläuft in der Regel nicht mehr in unseren klinischen Schmerzzentren, sondern entweder in der häuslichen Situation oder im Hospiz. Zur häuslichen Präfinal- und Sterbesituation hier nur wenige Bemerkungen: Sie sollte in erster Linie von fürsorgender, warmer Ehrlichkeit und aufmerksamer Offenheit geprägt sein und auf die gewohnten Lebensumstände und spirituellen Erwartungen des Kranken eingehen. Vorauseilende Trauer und ungehemmtes Klagen um den noch nicht verstorbenen Kranken belasten die Situation, sorgendes Mühen um die körperlichen Bedürfnisse, ungebrochenes Anteilgewähren an den Alltagsproblemen des Moments und auch an denen der Zukunft erleichtern sie. Wichtig erscheint mir insbesondere die Aufmerksamkeit der Begleitenden hinsichtlich offener Wünsche des Sterbenden, die sein Verhältnis zu Partner, Kindern, Freunden, aber auch vermeintlichen Feinden oder Missgesonnenen betreffen. Zwischenmenschliche Schuldkonten noch bereinigen, alte Konflikte endlich beilegen zu können, erleichtert den Sterbenden oft sehr. Das Sterben zuhause hat heute leider nicht mehr die allgemeine Bedeutung, die ihm noch bis zum Beginn des letzten Jahrhunderts zukam. Es findet nur noch vereinzelt statt als Relikt einer guten, aber im entschwinden begriffenen Sterbekultur; wo immer aber heute der Wunsch nach und die Bereitschaft zur häuslichen Begleitung zum Tode auftaucht, sollten wir diese Chance nutzen und stützen. Gutes Sterben in der Familie oder im Kreise von Freunden ist für den Sterbenden und die ihn Umgebenden ein wertvolles Gut, dessen Bedeutung wir allerdings im Sinne einer Ars bene moriendi erst wieder erlernen müssen. Die Ars bene moriendi meint buchstäblich übersetzt die „Kunst des guten Sterbens“, so wie es eben auch die Kunst des guten Lebens, die Ars bene vivendi, gab. Beides aber ist Kunst des Lebens.

 

Um die heutige Sterbebegleitung und Palliativmedizin der abendländischen-christlichen Kultur zu verstehen, ist ein Blick auf ihre historische Entwicklung angebracht. Obwohl ein direkter Bezug zur Sorge um den Sterbenden im neuen Testament nicht explizit enthalten ist, deuten doch einige Episoden aus dem Leben Jesu eine solche Sterbebegleitung zumindest an. So wird berichtet, dass Jesus zu manchen gerufen wurde, um helfend in das letzte Geschehen einzugreifen. Er selbst bittet im Garten Gethsemane seine Jünger um Beistand im Gebet in seiner letzten Stunde, damit er allen damit zusammenhängenden Versuchungen und Bedrängnissen widerstehen könne. Das vordergründige Thema der Alten Kirche war die Sorge um die ewige Rettung. Bei Todesgefahr halfen Diakone und Presbyter, indem sie den Sterbenden die Sakramente der Buße und des Abendmahles brachten. Die christlich geleitete Sterbeseelsorge nahm damit sakramentale und episkopale Strukturen an, während die karitative Fürsorge für die Todgeweihten weiterhin Angehörigen und Nahestehenden oblag. In der Zeit des Mittelalters bildeten sich drei Formen der Sterbevorbereitung heraus: Die sakramentale Praxis (Eucharistie, Absolution, Letzte Ölung), Gebetsrituale für die sterbende Seele (commendationes animae) mit der Bitte um Befreiung und Aufnahme bei Gott und schließlich die Sterbe- und Trostbüchlein mit der Anregung, sich innerlich auf den Tod vorzubereiten. Das Sterben selbst fand in der häuslichen, familiären Umgebung oder im christlichen Hospital und den ihm angeschlossenen Pfründnereinrichtungen statt. Von der mittelalterlichen Einrichtung des „Hospitals“, das ja mehr war als nur ein Krankenhaus, sondern darüber hinaus auch Herberge für durchreisende Pilger und Bedürftige, für Alte, Gebrechliche, körperlich und geistig Schwache, leitet sich auch der Name „Hospiz“ ab. Auch das Hospiz ist eine Herberge, heute für hilfe- und sorgebedürftige ‚Reisende’ auf dem Weg vom Leben in den Tod.

 

Die moderne Hospizbewegung greift zwar traditionelle und historische Elemente aus der Gastfreundschaft und der Pilgerbeherbergung aus dem Umfeld des mittelalterlichen Hospitals auf, zwingt aber in einer aufgeklärten, pluralistischen und zu großen Teilen säkularen Welt den Sterbenden nicht mehr in eine unbedingt religiös geprägte Sterbekultur. In der modernen Industriegesellschaft richtet sie sich vielmehr auf die ganzheitliche Bewältigung eines Phänomens, das die Ausmaße einer Tragödie erreicht hat: das vereinsamte Sterben inmitten einer durchtechnisierten Apparatemedizin, die das Versprechen, den Tod zu besiegen, doch nicht einlösen wird. Die wohl bereits antike Weisheit „mors vera, hora incerta“ (Der Tod ist sicher, seine Stunde ungewiss) gilt immer noch, und die Hospizbewegung gibt der Gesellschaft Anstöße, eine neue Ars bene moriendi zu entwickeln.

 

Die moderne Hospizbewegung in Deutschland hatte noch in den 1970er Jahren einen schweren Stand und wurde in ihrer Entwicklung mehrfach gebremst. Sowohl die Etikettierung von Hospizen als „Sterbekliniken“ als auch die anfangs fehlende Auseinandersetzung mit Hospiz-Positionen führte zu einem regelrechten Negativ-Image. Unberechtigterweise geriet die moderne Hospizbewegung sogar in die Nähe der nationalsozialistischen Euthanasiepraxis. Vor dem Hintergrund der Euthanasieverbrechen während des Nationalsozialismus traf die Vorstellung, Sterbende in spezielle Abteilungen der Krankenhäuser "abzuschieben", vor allem bei den Kirchen, aber auch in der öffentlichen Diskussion in Deutschland auf Ablehnung. Die Sterbebegleitung zu Hause oder im Krankenhaus nahmen seit je kirchliche und karitative Gruppen unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit wahr. Erst Mitte der 80er Jahre erfolgte ein Umdenken in den beiden großen deutschen Kirchen. Die Erkenntnis griff, dass Sterbende einer besonderen medizinischen, aber auch therapeutischen Betreuung bedürfen. Nun wurde auch von der breiten Öffentlichkeit der enorme Bedarf an Institutionen für die Sterbebegleitung erkannt. Der Weg der modernen Hospizbewegung ins öffentliche Bewusstsein verlief in mehreren Etappen: Das erste Jahrzehnt ihrer Entwicklung in den 1970er Jahren kann als Phase des Informationsdefizits und der Ablehnung gekennzeichnet werden. Die 1980er Jahre sahen Pionierleistungen einzelner und den allmählichen Aufschwung des Hospizgedankens, während es im letzten Jahrzehnt des 20. Jahnhunderts schließlich zur Etablierung der Hospizidee als Bürgerbewegung und zu einer breiten Akzeptanz für das Konzept der multikompetenten Versorgung Sterbender im Sinne der „rounded care“ kam.

 

Eine große Chance der modernen Hospizbewegung liegt sicher darin, den notwendigen Wertewandel in der heutigen Gesellschaft – weg von der ich-bezogenen „Raffgesellschaft“ hin zu einer „caring society“ – positiv zu beeinflussen. Allerdings kann dies nur gelingen, wenn die Hospizbewegung ihre ehrenamtliche Komponente behauptet. Sie darf nicht zum bloßen Element des staatlichen Gesundheitswesens oder zum Spielball von Funktionärsinteressen und -querelen werden, die als praxisferne Laien um die konkreten Anforderungen der Hospiz- und Palliativarbeit nichts wissen. Die Chance der Hospizbewegung liegt wohl darin, in einer säkularisierten und individualisierten Gesellschaft den bezeichneten Wertewandel zu befördern. Dazu ist es freilich notwendig, dass sie nicht nur an bislang Bewährtem (Integration von Palliativmedizin und Hospizarbeit, Ablehnung der aktiven Sterbehilfe) festhält, sondern auch Visionen und Konzepte, etwa ihre Ausweitung auf Kinder- und Waisenhospize, entwickelt, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein.

 

Ein großes Problem allerdings erwächst der Hospizbewegung aus dem immer wieder erstarkenden Gedanken der Sterbehilfe im Sinne eines - vorsichtig formuliert - ‚selbstbestimmten Todes’, bei dem es sich, hart auf den Punkt gebracht, doch eigentlich eher um einen ärztlich assistierten Selbstmord handelt. Hierfür wird häufig und vielerorts - so etwa in den Niederlanden, in Belgien oder in der Schweiz -, allerdings sinnentstellt, der Begriff der „Euthanasie“ verwendet. "Euthanasie" stand in der Antike für einen "guten", schnellen und ehrenvollen Tod. Der Begriff beschrieb damit vorwiegend die Qualität des Sterbens, nicht aber die Fremdhilfe beim Sterben. Auch in der frühen Neuzeit bedeutete "Euthanasia medica", so wie sie etwa Francis Bacon (1605) gefordert hat, nur den ärztlichen Beistand durch die Verabreichung von schmerzlindernden Medikamenten. Eine Begriffsausweitung erfolgte allerdings in der frühen Neuzeit. So beschrieb Thomas Morus in seiner "Utopia" 1517 die aktive Sterbehilfe auf Verlangen. Wenn eine qualvolle und schmerzhafte Krankheit "dauernd" und "unheilbar" sei, der Betroffene "den Mitmenschen zur Last" falle und "sich selber unerträglich" werde, dann dürfe er sich entweder selbst "aus diesem bitteren Leben wie aus einem Kerker oder aus der Folterkammer befreien oder sich willig von anderen herausreißen lassen". Es beende der leidend Todkranke sein Leben daher "freiwillig durch Enthaltung von Nahrung" oder er werde "eingeschläfert" und finde so "Erlösung", ohne den Tod zu bemerken. Gegen seinen Willen aber" dürfe niemand getötet oder schlechter gepflegt werden.

 

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wird das Problem der Selbsttötung oder der Tötung auf Verlangen in aussichtslosen Krankheitsfällen erneut diskutiert. Der Patient besitze ein Recht, unheilbares Leiden durch "den raschen und schmerzlosen Tod" zu beenden, ein "Recht auf den Tod" also. Die letzte Entscheidung bleibe jedoch dem Patienten; anders bei unheilbar "geistig Kranken", hier entscheide der Staat und sei berechtigt, Tötung zu vollziehen. Weitergehende Ideen entwickelte 1895 Alfred Ploetz in seiner Utopie, die dem Staat das Recht gab, unheilbar krank geborene Kinder zum Schutz einer rassisch makellosen Fortpflanzung unmittelbar nach der Geburt zu töten. Ähnlich radikal hatte sich Ernst Haeckel 1904 in den "Lebenswundern" geäußert. Für Haeckel stand die ärztliche Moral, die Ethik der uneingeschränkten Lebenserhaltung, der Notwendigkeit einer biologischen Auslese entgegen. In den frühen 20er Jahren des letzten Jahrhunderts setzte die Diskussion um die Euthanasie vehement ein. Grell wurde das Menetekel zunehmender "Volksdegeneration" nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs entworfen. Eugenische Gegenmaßnahmen (Sterilisation oder Euthanasie) fanden in allen Lagern offene Diskussionsforen. Angestoßen wurde die Debatte durch die Schrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" (Binding/Hoche, 1920). Es war dieser Gedanke, der letztlich in den als „Euthanasie“ verbrämten, hunderttausendfachen Krankenmord im Nationalsozialismus führte.

 

Es gibt vor diesem Hintergrund heute gute Gründe, gegen jede Form aktiver Sterbehilfe einzutreten. Entscheidend ist wohl in erster Linie die christlich-moralische Normsetzung des ‚Nicht- Menschen- töten- Sollens’. Man kann angesichts der Fortschritte moderner Palliativmedizin aber auch ins Feld führen, dass ein würdevolles Sterben, ein humaner Tod, auch ohne die verwerflichen Mittel der Beihilfe zur Selbsttötung oder gar der Tötung auf Verlangen, möglich und realisierbar ist. Leider wird in den Medien die Problematik gelegentlich zu einseitig, das heißt im Sinne einer Wertedominanz des ‚selbstbestimmten Sterbens’ dargestellt. Es sind dies Berichte, die zeigen, wie durch Tötung auf Verlangen ein qualvolles Sterben verhindert wurde. Seltener hingegen wird über die guten neuen Möglichkeiten berichtet, durch die Palliativmedizin ein erfülltes und selbst auf der letzten Wegstrecke noch wichtiges und befriedigendes oder doch zumindest ruhiges und schmerzfreies Verabschieden von der Welt zu realisieren.

 

Ich will versuchen, dies an der Behandlung des spektakulären Falls der Britin Diane Pretty klarzumachen, die an der unheilbaren Nervenkrankheit ALS (amyotrophe Lateralsklerose) litt und an deren Folgen sie am 12. Mai 2002 in Luton bei London starb. Die amyotrophe Lateralsklerose ist eine schwere neuromuskuläre Erkrankung, die sich zuerst meist als Schwäche in den Händen oder Füßen bemerkbar macht. Dann greift die Muskelschwäche auch auf andere Muskelgruppen über. Im Durchschnitt sterben die Patienten drei Jahre nach Erkrankungsbeginn an einem allmählichen Ausfall der Atemmuskulatur. Einer großen Öffentlichkeit war die 43-jährige Trägerin dieser Krankheit bekannt geworden, weil sie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenige Tage vor ihrem Tod mit ihrem Begehren unterlag, dass ihr Ehemann sie ungestraft töten dürfe.

 

Das Bild der fast vollständig gelähmten Frau im Rollstuhl, wie sie von ihrem Mann nach dem Spruch der Straßburger Richter vor die Fernseh-Kameras geschoben wurde, rührte alle an. Manche machte es sogar ausgesprochen zornig. Warum verweigerten kaltherzige Juristen der Kranken ein friedvolles, selbstbestimmtes Ende? Warum zwangen sie die Frau, qualvoll zu sterben, sobald ihre Nervenlähmung das Atmungszentrum erreichen würde? Das Lesepublikum der Printmedien reagierte emotionalisiert bis wütend. Doch es war nicht so, wie ein Teil der Sensationspresse dies einer interessierten Öffentlichkeit wochenlang präsentierte: Diane Pretty ist nicht qualvoll einen fürchterlichen Erstickungstod gestorben, sondern friedlich in ihren Tod geschlafen. Sie wählte als Ort ihres Sterbens ein Hospiz, also ein Haus, das auf die Begleitung Todkranker und auf die massive Eindämmung ihrer Schmerzen spezialisiert ist. Diane Pretty starb anders, als sie es befürchtet hatte, – sie starb in Würde. Und sie bildet damit keine Ausnahme. Palliativ-Mediziner – Experten der Schmerzmilderung – sagen, dass auch ALS-Kranke bei richtiger Behandlung keinen qualvollen Todeskampf zu befürchten haben.

 

Aber es ist richtig, Diane Pretty, ihre Familie und ihr Anwalt hatten vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg die Möglichkeit einer straffreien Tötung auf Verlangen gefordert, um sich so, wenn wir der Argumentation der Klägerin folgen, „einen Tod in Würde“ zu ermöglichen. Diese fragwürdige Argumentation des Anliegens war es, die der Presse suggerierte, ein würdevolles Sterben in auswegloser Situation sei eben nur durch selbstbestimmtes Sterben auf Verlangen möglich. Versehen mit der zu Unrecht entfalteten Horrorvision vom qualvollen Erstickungstod, wie er früher durchaus die Regel gewesen sein mag, erreichte diese Meldung ihr empörtes Publikum. Hintangestellt wurde der Umstand, dass mehr als 90 Prozent aller palliativ behandelten ALS-Patienten inzwischen ruhig und ohne Erstickungsangst sterben und die Angehörigen die hierzu erforderlichen palliativmedizinischen Maßnahmen überaus zu schätzen wissen. Auch Diane Pretty glitt zwei Tage vor ihrem Tod in ein Koma, und ihr Sterben wurde vom behandelnden Chefarzt des Hospizes als „völlig natürlich und friedlich“ beschrieben.

 

Das Fazit, das aus dem geschilderten Fall gezogen werden kann, ist bedrückend und zeigt doch zugleich, dass die Palliativmedizin in Deutschland auch weiterhin einer nachhaltigen Unterstützung bedarf. Bedeutung und Chancen einer adäquaten palliativmedizinischen und palliativpflegerischen Versorgung am Lebensende als wesentliche Voraussetzung eines Sterbens in Würde werden zwar grundsätzlich bejaht, in der medialen Berichterstattung und in der Gesundheitspolitik jedoch noch viel zu wenig thematisiert.

 

Hier allerdings scheint sich ein Umdenken zumindest in der Politik anzubahnen: So hat jüngst die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages neue Akzente gesetzt, als sie am 28. Juni 2005 ihren Zwischenbericht zur „Verbesserung der Versorgung Schwerstkranker und Sterbender in Deutschland durch Palliativmedizin und Hospizarbeit“ vorstellte. Darin wurden endlich ein Gesetz und durchaus wesentlich mehr Geld für die Palliativmedizin und Hospiz-Einrichtungen gefordert.

 

So sollen nahe Angehörige durch eine „Karenzregelung“ bis zu sechs Monate von ihren Beschäftigungsverhältnissen freigestellt werden, Kündigungsschutz genießen und in dieser Zeit Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe erhalten. Die häusliche Betreuung von Schwerstkranken und Sterbenden soll flächendeckend durch ambulante „Palliative-Care-Teams“ gesichert werden. Die Pflicht der Krankenkassen zum Abschluss solcher Verträge soll gesetzlich verankert werden. Zudem will die Kommission Schmerztherapie und Palliativmedizin als Pflichtfach in der Ausbildung von Ärzten und Pflegekräften an Universitäten und Fachhochschulen verankert wissen. Aber, so muss gefragt werden, wie sollen diese guten Forderungen bezahlt werden? Und wird die neue Bundesregierung den sicher kostenträchtigen Forderungen der Enquete-Kommission überhaupt weiter nachgehen wollen und können? Tatsächlich ist die Kostenfrage wichtig, moralisch aber doch zugleich nachgeordnet. Wäre es nicht beschämend für ein so hochentwickeltes Land wie das unsere, innovative Vorschläge für ein humaneres Sterben mit dem Kostenargument ad acta zu legen, und dies angesichts der unbestrittenen Tatsache, dass in unserem Land oft genug schwerkranke Menschen zwar hochtechnisiert versorgt werden können, aber dann doch einsam, ohne Trost und Begleitung, sterben müssen?

 

Die Zielvorgaben der Enquete-Kommission sind hoffentlich richtungsweisend, aber sie beschreiben zugleich den noch bedrückenden Ist-Zustand: Weder in der ärztlichen Fort- und Weiterbildung noch im Medizinstudium gehören palliativmedizinische Inhalte derzeit zum Unterrichtspflichtprogramm. In der Gesundheitspolitik und in den Medien bedürfte es eines noch nachhaltigeren Plädoyers für bessere Versorgungsstrukturen für Schwerstkranke und Sterbende, um ein „Recht auf würdiges Sterben“ für die meisten Menschen in unserer immer noch wohlhabenden Gesellschaft auch tatsächlich zu realisieren. Es muss in Deutschland noch mehr als bisher über die Problematik der aktiven Sterbehilfe berichtet, und es müssen stärker als bisher die positiven Alternativen der Palliativmedizin in medizinischer, seelischer, spiritueller und auch sozialer Hinsicht herausgestellt werden. Sterben ist Leben in seiner letzten Phase; und wenn wir dem menschlichen und verfassungsmäßigen Gebot des Lebensschutzes in seiner letzten Konsequenz gerecht werden wollen, dann müssen wir eben auch das Sterben als Teil des Lebens anerkennen, es als solchen beforschen, vor allem aber schützen und umsorgend begleiten.

* Zum Autor:

Geboren 1952, Studium der Medizin, Geschichte und Philosophie in Münster; 1977 Approbation als Arzt, 1978 Promotion zum Dr. med.; 1986 Habilitation für Geschichte der Medizin; 1988 - 92 Professor für die Geschichte der Medizin und Direktor der Abteilung Geschichte der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, seit 1992 Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Heidelberg. Eckarts Forschungsschwerpunkte sind: Das Entstehen der neuzeitlichen Medizin im 16. und 17. Jahrhundert, Medizin in der Literatur, Medizin und Krieg, Ärztliche Mission.

Bücher (Auswahl):

- Geschichte der Medizin. Springer.

- Medizin und Kolonialimperialismus. Schöningh.

- Die Medizin und der Erste Weltkrieg (mit Christoph Gradmann). Centaurus.

Sterben im Hospiz

 

SWR2 Aula - Das andere Krankenhaus – Sterben im Hospiz Autor: Prof. Reimer Gronemeyer.

 

Redaktion: Ralf Caspary. Sendung: Karfreitag, 9. April 2004, 8.30 Uhr, SWR 2.  Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen. Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. e-mail: hschneider@lmz-bw.de

 

Vor kurzem bin ich in Estland gewesen, um mir dort ein Hospiz anzuschauen. Als ich das Gebäude betreten habe, habe ich eine Stimme gehört, jemanden, der gesungen hat. Ich bin dieser Stimme nachgegangen, bin im zweiten Stock dieses Gebäudes angekommen. Und da lag in einem Gitterbett eine uralte Frau, 92 Jahre alt, zahnlos, mit wirrem Haar. Sie sang eine Arie aus „Carmen“. Sie sang mit einer wunderbaren Stimme die Liebesarie aus der Oper „Carmen“ und hat mich darüber belehrt, dass auch in dieser Situation am Rande des Lebens das Leben noch eine Stimme haben kann.

Das Gebäude selber war heruntergekommen, ein richtig schauriges Krankenhaus, ein ehemaliges Krankenhaus, das nun nur noch sterbende Personen beherbergt: abgerissene Tapeten, durchgetretenes Linoleum, ein Ort der Armut, der Dürftigkeit. Aber wenn man an die Art und Weise der Menschen denkt, die dort als Krankenschwestern oder Ärzte mit dieser Patientin und anderen Patienten umgingen, da hatte man das Gefühl einer großen Wärme.

Auf der anderen Seite habe ich ein Hospiz in Brescia in Italien besucht. Das ist nun das ganze Gegenteil gewesen: eine großartiger, an eine Luxusherberge erinnernde Konstruktion, oval wie das Colosseum mit einem wunderbaren Garten in der Mitte, alle Zimmer in italienischem Design. Das ist ein Hospiz mit fünf Sternen gewissermaßen, in dem 38 Patienten auf eine sehr perfekte, vollkommene und natürlich auch sehr teure Weise die letzten Tage und Wochen ihres Lebens verbringen.

Wenn ich an diese beiden Besuche denke, bin ich mir nicht so ganz sicher, ob der Weg in das Luxus-Hospiz eigentlich der bessere ist. Und damit sind wir bei einer Frage, die uns in Zukunft wohl in Europa immer deutlicher beschäftigen wird, nämlich der Frage, wie wir denn die letzte Zeit unseres Lebens verbringen wollen und wie wir mit den Menschen, die am Ende ihres Lebens angekommen sind, umgehen wollen. Die Hospizbewegung ist in kurzer Zeit in Deutschland, aber auch in Europa überhaupt sehr aufgeblüht. Begonnen hat das mit einem ganz konkreten Datum: 1967 hat eine englische Krankenschwester, Cicely Saunders, das erste Hospiz in London gegründet, weil sie die Erfahrung gemacht hat, dass ein Sterben im Krankenhaus schon eine manchmal sehr kalte und menschenunwürdige Sache sein kann. Im Gespräch mit einem Patienten, der dann gestorben ist, hat sie von diesem sterbenden jungen Mann den Auftrag bekommen, ein Haus zu gründen, in dem man sterben kann, ohne ins Badezimmer oder auf den Flur abgeschoben zu werden. So ist das erste Hospiz entstanden. Von da aus hat sich diese Idee unter dem Namen Hospizbewegung sehr schnell in Europa verbreitet und hat heute in Deutschland z. B. 40.000 freiwillige ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.

Wenn man zum Thema Hospiz Vorträge hält, ist etwas ganz Überraschendes festzustellen, es kommen unglaublich viele Menschen, vor allen Dingen auch junge Menschen, die bereit sind, in diesem Bereich tätig zu werden, obwohl in anderen Bereichen unserer Gesellschaft, z. B. bei der Feuerwehr oder im Sportverein, viele Klagen zu hören sind, dass die Bereitschaft freiwilliger Mitarbeiter so sehr zurück geht. In dem Bereich Hospiz ist das sehr vital und man findet eine sehr große Unterstützungsbereitschaft. Da muss man sich fragen: warum ist das so?

Dazu muss man sich vielleicht über die Hintergründe der Bewegung ein wenig Gedanken machen. Zunächst ist es so, dass der klassische Ort des Sterbens, also die Familie und die eigene Wohnung immer häufiger nicht die Orte sind, wo das möglich ist. Familien zerbröckeln, die Menschen, die pflegen könnten, sind berufstätig, die Wohnungen sind zu klein, oder man traut es sich ganz einfach nicht zu, einen Menschen zu pflegen, der im Sterben liegt. Es ist natürlich auch so, dass wir heute oft die Vorstellung haben, dass wenn Jemand im Sterben liegt, muss alles professionell, medizinisch perfekt organisiert sein. Deswegen ist wohl diese Entwicklung gekommen, dass die Menschen immer häufiger in Institutionen sterben. Das ist ein merkwürdiger Widerspruch, weil die meisten Menschen sagen, ich möchte natürlich zu Hause sterben. Aber die Realität ist, dass 80 Prozent der Menschen heute in einer Institution, im Krankenhaus, im Pflegeheim, im Hospiz oder im Altenheim mit dem Tod konfrontiert werden.

In den letzten Jahrzehnten hat sich das Krankenhaus zunächst einmal als der Ort entwickelt, an dem gestorben worden ist. Gleichzeitig ist das Unbehagen darüber, die Vorstellung, dass das eigentlich nicht richtig ist, gewachsen. Das liegt natürlich auch daran, dass das Krankenhaus, das ja künftig Gesundheitszentrum heißen soll, schon deswegen nicht der richtige Ort sein kann, weil man dort ja eigentlich jemanden gesund machen will. Wenn nun ein Punkt erreicht ist im Leben, wo die Ärzte sagen müssen, wir können nichts mehr für dich tun, dann ist eigentlich klar, dass das Krankenhaus nicht mehr so der richtige Ort ist.

Daraus ist einerseits eben die Idee des Hospizes entstanden und andererseits sind aber auch viele Krankenhäuser inzwischen dabei, sogenannte Palliativ-Stationen einzurichten, also bestimmte Abteilungen, in denen Menschen untergebracht werden, von denen man weiß, dass sie nicht mehr heilbar sind, wo dann auch die Behandlung abgebrochen wird und wo man sich darauf beschränkt, was am Ende des Lebens vielleicht als das Wichtigste erscheint, nämlich eine Schmerzbehandlung, manchmal auch eine psychologische Betreuung und vor allen Dingen aber auch eine Organisation eines Ortes, an dem man so gut wie möglich diese letzte Phase des Lebens bewältigen kann.

Ich habe gesagt, wir werden künftig mehr mit diesem Thema zu tun haben werden. Das natürlich auch, weil wir in Deutschland eine alternde Gesellschaft sind, und das nicht nur in Deutschland, sondern in Europa überhaupt. Wenn man sich mal vorstellt, im Jahre 2050 wird jeder zehnte Europäer älter als 80 Jahre sein, dann kann man sich vorstellen, dass die Frage, was geschieht denn mit denen, die am Ende ihres Lebens angekommen sind, eine ganz wichtige Frage wird. Nicht nur in einzelnen Fällen, sondern auch im Hinblick auf die Tatsache, dass es einfach sehr sehr Viele sind, die sterben.

Vielleicht kann man sich die Frage, wie wir damit umgehen wollen, zunächst einmal daran klar machen, dass sich das, was Sterben ist, was der Umgang mit Sterben ist, bei uns ja sehr deutlich verändert hat. Es sind drei Dinge, denke ich, die man zu bedenken hat:

Einmal ist das Sterben unter das Diktat der Medikalisierung geraten. Hippokrates, der griechische Arzt, hat noch die Auffassung vertreten, dass in dem Augenblick, wo die Zeichen des Todes auf dem Gesicht eines Menschen erkennbar sind, der Arzt den Raum zu verlassen habe und statt dessen die Freunde, die Verwandten, vielleicht in moderneren Zeiten der Geistliche den Raum zu betreten haben, aber nicht mehr der Arzt. Das hat sich völlig verändert. Wir können uns heute den Tod und das Sterben vielfach nicht mehr anders vorstellen als als Etwas, was medizinischer Betreuung bedarf. Das mag man ja für richtig halten. Auf jeden Fall hat es den Umgang mit Sterben und Tod sehr nachdrücklich verändert.

Das zweite ist, dass wir das Sterben institutionalisiert haben, dass es immer weniger in der Familie stattfindet und immer mehr in Institutionen. Das dritte ist natürlich ein Zug zur Ökonomisierung, d. h. die Frage, wer bezahlt das eigentlich und wie ist das mit den Kosten des Sterbens. Eine Frage, die man vielleicht fast etwas zynisch finden kann, aber die dann doch ganz wichtig wird, wenn man sich z. B. klar macht, dass die meisten Gesundheitskosten, die heute in einem Menschenleben anfallen, in den letzten sechs Monaten des Lebens fällig werden. Da ahnen wir, dass da etwas passiert, was man vielleicht gar nicht unbedingt will, nämlich dass da mit Medizinischem etwas gemacht wird, was gar nicht den Wünschen dessen entspricht, der im Sterben liegt; also die Frage, wie geht man mit den medizinischen Möglichkeiten um, aber auch die Frage in einer Zeit knapper werdender Gesundheitsdienstleistungen und Kosten, die anfallen, wie machen wir das so, dass da nicht plötzlich Jemand auftritt und sagt „das ist aber alles viel zu teuer“.

Ein ganz wichtiger weiterer Themenkomplex, den man betritt, wenn man sich dem Thema Hospiz, Hospizbewegung zuwendet, ist die Unterscheidung, die inzwischen überall in Europa getroffen wird, zwischen Sterbehilfe und Sterbebegleitung. Was ist der Unterschied?

Sterbebegleitung ist das, was aus der Hospizbewegung gekommen ist, als die Idee, wenn das Krankenhaus nicht der richtige Ort ist und wenn die Familie es nicht mehr kann, dass es dann eine neue bürgerschaftliche freiwillige Tätigkeit geben muss, bei der Menschen begleitet werden auf ihrem letzten Weg: Sterbebegleitung. Auf der anderen Seite gibt es eine Entwicklung in Europa, die unter dem Begriff Sterbehilfe gefasst wird. Das ist die ärztlich unterstützte Begleitung in den Tod, die den Namen Euthanasie trägt. Sie wissen ja vielleicht, dass es in den Niederlanden und inzwischen auch in Belgien ein Gesetz gibt, nach dem Menschen, die den Tod wünschen, unter ganz bestimmten Bedingungen von Ärzten mit medikamentöser Hilfe in den Tod geleitet werden können. Man kann sehen, dass diese Auseinandersetzung um die Frage Sterbebegleitung oder Sterbehilfe in Europa zu einer großen, wichtigen Frage wird. Wenn wir das niederländische Modell der Euthanasie, der Sterbehilfe also, auf Europa übertragen würden, dann würde das bedeuten, dass wir künftig in Europa in jedem Jahr 250.000 Fälle von Euthanasie haben würden, von denen 60.000 ohne Einwilligung stattfinden würden. Denn in solchen Fällen, wo ein Patient nicht mehr Lebensäußerungen machen kann, kann in den Niederlanden auch die Verwandtschaft oder die Frau, der Mann die Entscheidung für die Euthanasie fällen. Und das scheint mir persönlich eine sehr gefährliche Entwicklung zu sein. Man könnte den Eindruck haben, wenn man sich fragt, wer will da eigentlich was, dass man da auf die religiösen Wurzeln im europäischen Kontinent trifft, nämlich einerseits auf einen stärker katholisch geprägten Bereich, denn die Hospizbewegung ist z. B. in Bayern und in Österreich besonders stark; während auf der anderen Seite in den besonders deutlich protestantisch-calvinistisch geprägten Ländern, wie den Niederlanden z. B., eben die Idee der Euthanasie, der Sterbehilfe, besonders leicht sich durchsetzt. Und daraus könnte man die Frage entwickeln, die wir vor uns haben: Wie wird den ein geeintes Europa in Zukunft mit dieser Frage umgehen

Es ist interessant zu sehen, dass die Europäische Kommission schon drei Mal auf ihrer Tagesordnung die Debatte eines Euthanasie-Gesetzes gesetzt hatte, aber mehrfach diese Debatte wieder abgesetzt hat, weil offensichtlich die Befürchtung steht, dass es eine Mehrheit für ein Euthanasie-Gesetz in Europa gibt. Ich denke, dass das etwas ist, was man zu Recht befürchten muss. In Frankreich hat es im vorigen Jahr einen Fall gegeben, der die Öffentlichkeit ungeheuer erregt hat. Ein junger Mann, der nach einem Unfall gelähmt, taub und stumm war, hat über sehr schwierige Kommunikationsmittel seiner Mutter mitgeteilt, dass er sterben möchte. Er hat sogar einen Brief an den Präsidenten Chirac geschrieben. Und seine Mutter hat ihn dann auch getötet. Sie ist verhaftet worden, aber die Bevölkerung Frankreichs hat mit einer Mehrheit von 70 Prozent nach Umfragen der Tat der Mutter zugestimmt. Und das, denke ich, lässt uns noch mal mit großer Intensität die Frage nach der Hospizbewegung stellen, weil sie eben die Alternative ist zur Euthanasie.

In Deutschland gibt es inzwischen über 100 Stationäre und Hospize und zahllose Hospizdienste. Inzwischen sind wir in der Situation, dass mehr Hospizdienste da sind als nachgefragt werden. Aber ich denke, das wird sich in den nächsten Jahren auch noch ändern. Da gibt es eben ehrenamtliche Helfer, vor allen Dingen sind es Frauen, muss man sagen, und das gibt es im übrigen fast überall in Europa, in Westeuropa etwas mehr als in Osteuropa, wo die Freiwilligkeit nach so vielen Jahren sozialistischer Diktatur eigentlich ausradiert zu sein scheint. Aber in Frankreich, in Italien, in Großbritannien, in Deutschland und in skandinavischen Ländern gibt es eine Fülle von ehrenamtlichen Helfern und Helferinnen, die zuhause oder in stationären Hospizen mit den Menschen, die im Sterben liegen, sprechen, ihnen Wünsche erfüllen, soweit es möglich ist, die Verwandten unterstützen und kleine Dienste erledigen: Vorlesen oder einfach nur da sind, wenn Jemand in Angst oder allein ist. Es ist eigentlich sehr erstaunlich, dass es eine so breite soziale bürgerschaftliche Bewegung in diesem Bereich gibt, wo man doch generell immer wieder hören kann, dass gesagt wird, der Tod ist ein Tabu, da will keiner dran rühren, davon will keiner etwas wissen. Ich glaube, dass das gar nicht so sehr stimmt, sondern dass es eben interessant ist, dass so viele Menschen bereit sind, sich an dem Bett eines Sterbenden nieder zu lassen und dabei zu sein, wie Jemand diese letzte Grenze überschreitet.

Aber es gibt da natürlich auch Gefahren. Die Gefahren sind, dass aus der Bürgerbewegung heute vielleicht auch ein Stück Institution im schlechten Sinne des Wortes werden kann. Ich gehe dazu noch einmal aus Deutschland heraus und schaue nach Italien, wo es Hospizgesetze gibt – in jeder Region gibt es unterschiedliche Gesetze – und wo mit einen Mal Menschen anfangen zu entdecken, dass man möglicherweise auch mit Hospizen Geschäfte machen kann, dass man ein Angebot an Menschen machen kann, ihre sterbenden Angehörigen gut unterzubringen und dass man dann dafür auch entsprechende Gebühren nimmt. Das ist eine Entwicklung, die vielleicht genauso gefährlich ist wie die, die in Richtung Euthanasie zeigt. Weil in beiden Fällen die Idee entsteht, dass wir in Europa so etwas entstehen sehen könnten wie eine Entsorgungsstruktur. Wir haben zu viele Alte, wir haben teure Sterbende, also brauchen wir Einrichtungen, in denen die billig entsorgt werden. Dann wird aus dem Hospiz, wie Jemand es einmal böse genannt hat, ein Sterbeknast.

Das kann und muss um jeden Preis verhindert werden, aber wir können nicht außer Acht lassen, dass die Entwicklung in Europa diese Möglichkeiten jedenfalls nicht ausschließen. Wir leben in einem Zeitalter der Globalisierung und der Vermarktung von Allem und Jedem. Und in dem Zusammenhang ist natürlich auch zu sehen, dass Gesundheitsdienstleistung entlokalisiert werden und grenzüberschreitend angeboten werden. Eine Frage, um die man sich auch im Augenblick in der Hospizbewegung streitet in einem produktiven Sinne, ist die Frage nach der Professionalisierung und den Qualitätsstandards. Das sind ja beliebte Worte. Qualitätskontrolle gibt es heute in der Universität, in der Schule, in der Justizvollzugsanstalt und natürlich auch im Pflegeheim. Man hat manchmal den Eindruck, dass das, was früher aus dem Menschen selber kam, was ihre Moral war, was ihre Ethik war, ersetzt wird durch steuernde Apparaturen, die unter dem Begriff Qualitätskontrolle daher kommen.

Ich finde die Idee, dass wir auf so etwas wie ein qualitätskontrolliertes Sterben zusteuern könnten, schrecklich. Aber es gibt schon Leute, die diesen Begriff „qualitätskontrolliertes Sterben“ in den Mund nehmen. Ich denke, dass am Ende des Lebens die Frage nach der Perfektion der Versorgung weniger wichtig ist, als die Frage nach der Menschenwürde, nach der Wärme, die man ganz bestimmt nicht in Punktesysteme fassen kann.

Das Gleiche gilt für die Frage, was müssen Ehrenamtliche eigentlich können? Inzwischen ist es ganz üblich, dass Ehrenamtliche im Hospizbereich eine Ausbildung machen. Das ist sicher auch etwas ganz Sinnvolles. Aber ich würde auch da davor warnen, das zu überziehen und daraus etwas zu machen, was dann gewissermaßen in die Richtung eines Sterbetherapeuten geht, der seine Kompetenz und Kenntnisse im Kopf hat, aber vielleicht dafür die Unmittelbarkeit und Menschlichkeit verliert.

Ich habe vor kurzem mit einer Frau, die schon lange Hospizarbeit macht, gesprochen, die eine wunderbare Anekdote erzählt hat. Als ich sagte, wenn ich mir vorstelle, ich bin in der Situation des Sterbens, ich weiß gar nicht, ob es mir so sehr wichtig wäre, dass da Jemand sitzt und meine Hand hält. Vielleicht möchte ich lieber ein gekühltes Bier trinken als von jemandem berührt zu werden, den ich gar nicht kenne. Ich weiß es nicht, ob es so ist, aber es könnte so sein. Da sagte diese Dame, ja das ist gar nicht so selten. Und da es dann oft Menschen sind, die nicht mehr schlucken können, haben wir kleine tiefgefrorene Bierwürfel, die wir dann diesen Menschen geben. Das, finde ich, ist menschenwürdige Kompetenz auf einer sehr einfachen Ebene.

Nun sage ich nicht, dass dieses das ist, worum es am Ende des Lebens gehen muss. Aber wissen Sie, ich bin inzwischen in so vielen Hospizen in Europa gewesen, dass ich sagen kann: Von Tallin bis Paris, von Rom bis Oslo gibt es eine Tendenz, dass die Orte des Sterbens allmählich überall gleich aussehen. Es ist überall derselbe Raum mit einem Krankenbett, einem Beatmungsschlauch etc. Und das kann man natürlich noch eine ganze Ecke weiter treiben hin zu einer Standardisierung, wo wir dann im Endeffekt wissen, dass wir überall in der gleichen Weise sterben werden. Wir haben in Europa eine Kultur des Sterbens, die unendlich vielfältig ist. In jedem hessischen Dorf gibt es eine Tradition, was man macht, wenn ein Mensch stirbt. Und so gibt es in ganz Europa eine Tradition des familiären, des kulturellen und des religiösen Umgangs mit Sterben und Tod. Natürlich wissen wir, dass alle diese lokalen Lebens- und Sterbensformen ebenso bedroht sind wie die lokalen Dialekte. Ich denke schon, dass es ein Erschrecken darüber geben muss, dass wir vielleicht in Europa vor einer Entwicklung stehen, in der es eine Egalisierung des Sterbens gibt. Von da aus muss man einerseits warnen vor einer Richtung, die Hospizbewegung unter das Diktat von Qualitätskontrolle, von Standardisierung und Professionalisierung alleine stellt, und zum anderen natürlich auch warnen muss vor den ökonomischen Gefährdungen, die mit diesem Prozess einher gehen.

Ich erinnere mich an eine Situation in einem französischen Hospiz, wo ich sah, wie eine ältere Dame, sehr elegant, sehr gut gekleidet, eine Freiwillige, einen uralten Mann in einem Rollstuhl an die frische Luft fuhr, der offensichtlich den Wunsch verspürte, noch einmal eine Zigarette zu rauchen. Die Beiden saßen da, und es war eine durchaus heitere Situation des Abschiednehmens, etwas, was vielleicht nur ein Mensch bieten kann, der als Freiwilliger, als Ehrenamtlicher in einer solchen Situation da ist, während der Arzt eben etwas Anderes darstellt.

Ich möchte noch zwei Dinge erzählen: Das eine ist die Geschichte eines jungen Mannes, der Banker in Frankfurt war, fantastisch verdient hat und der sich über Nacht entschlossen hat, in dem berühmten Hospiz in Kalkutta in Indien, das von der Mutter Teresa gegründet worden ist, zu arbeiten. In einem Gespräch hat er gesagt, ich verstehe gar nicht, was ich da in Frankfurt gemacht habe. Hier kratze ich den Obdachlosen, die wir von der Straße aufsammeln, den Kot mit einem Rasiermesser vom Körper und habe mit einem Mal das Gefühl, dass mein Leben einen Sinn hat. Das andere ist, dass ich aus Gesprächen mit Menschen in Afrika, die an Aids erkrankt sind, weiß, dass es offensichtlich in anderen Kulturen eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem Ende des Lebens gibt, die den Menschen den Abschied vom Leben vielleicht sehr viel eher möglich macht, als es uns in unserer hochmodernen, luxuriösen, wohl ausgestatten Lebenswelt möglich ist

Endlichkeit? Philosophieren heißt Sterben lernen

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SWR2 Wissen: Aula Professor Wilhelm Schmid: Wie umgehen mit der Endlichkeit? Philosophieren heißt Sterben lernen

Autor und Sprecher: Professor Wilhelm Schmid *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 19. Mai 2013, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Zum Autor:
Wilhelm Schmid, geb. 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Homepage: www.lebenskunstphilosophie.de
Jüngste Buchpublikationen:
Dem Leben Sinn geben. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen und der Welt. Suhrkamp Verlag. 2013.
Unglücklich sein – Eine Ermutigung. Insel Verlag. 2012.

Links
www.kultur-punkt.ch/akademie4/diskurs/sterbenlernen-schmid13-5.htm
www.kultur-punkt.ch/lebenswelt/sterben-einueben11-6.htm
www.kultur-punkt.ch/akademie4/diskurs/sterbenlernen-schmid-degen-prankls13-5.htm 


ÜBERBLICK
Der Mensch ist sich seiner Sterblichkeit bewusstIn der Gesellschaft gibt es eine neue Sichtbarkeit des Todes, kaum ein Tatort im Fernsehen kommt ohne Leichensezierung aus, viele medizinische Debatten drehen sich um den Hirntod oder um aktive Sterbehilfe, der philosophische Diskurs thematisiert die Endlichkeit des Daseins. Gleichzeitig ist immer noch unklar, wie jeder Einzelne mit Sterben und Tod umgehen soll? Wilhelm Schmid, Lebensphilosoph aus Berlin, gibt Antworten.

INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: „Wie umgehen mit der Endlichkeit? Philosophieren heißt Sterbenlernen.“
Vor einigen Wochen kam in der Aula der Kulturwissenschaftler Thomas Macho zu Wort, der von einer neuen Sichtbarkeit des Todes gesprochen hatte: Der Tod werde nicht mehr verdrängt oder tabuisiert, im Gegenteil, er sei permanent präsent, in den Medien, in öffentlichen Diskussionen etwa über Hirntod oder Sterbehilfe, im philosophischen Diskurs über die Endlichkeit oder Unendlichkeit menschlichen Seins. Gleichzeitig herrscht Unsicherheit: Wie soll der Einzelne, wie die Gesellschaft mit Tod und Sterben umgehen, was könnte es eigentlich bedeuten, tot zu sein, markiert der Tod die absolute Grenze? Wilhelm Schmid, Philosoph aus Berlin, gibt Antworten.

Wilhelm Schmid:
„Was ist eigentlich mein Leben?“ Das ist die Frage, die Menschen sich manchmal stellen. Meist gibt es einen Anlass dafür: Eine Beziehung ist nicht mehr so erfüllend, wie sie mal war. Etwas zerbricht. Eine Arbeitsstelle ist weg. Eine Krankheit bricht herein. Oder es ist einfach nur das Älterwerden. „Where are we now?“ – Wo stehen wir jetzt? fragt David Bowie in seinem jüngsten Popsong mit solcher Melancholie, dass viele Radiosender das Lied gar nicht spielen wollen. So viel Negatives wollen sie ihrem Publikum nicht zumuten. Bowie erinnert sich wehmütig an frühere Zeiten in Berlin, wo er von 1976-78 wohnte. Und nun, realisiert der 66jährige Popstar, geht die Reise des Lebens unweigerlich in Richtung Tod, „just walking the dead“. Aber das gilt für alle Menschen: Am Ende des Älterwerdens steht der Tod. Und die Frage stellt sich: Was ist darüber hinaus? Das beschäftigt ebenfalls alle Menschen, die ja nicht immer nur positiv denken und sich mit leichter Musik betäuben können. Keine Scheu vor dem Nachdenken: Es tut dem Leben gut, sich über Dinge klarer zu werden, die sonst nur ein unheimlicher Unruheherd bleiben. Wenn das Bedürfnis danach wach wird, sollten Menschen dem auch nachgeben.
Dass es ein Mysterium des menschlichen Lebens gibt, wird spätestens mit dem Tod plötzlich erfahrbar. Im Laufe des Lebens ist es erst einmal der Tod Anderer, der Menschen zutiefst irritiert. Bricht der Tod plötzlich herein, bleibt nur noch der Abschied vom Toten. Wo aber der Tod sich Zeit lässt, geht ihm ein Sterben voraus, das eine sehr große Herausforderung sein kann. Es kann eine erfüllte, aber auch eine quälend lange Zeit sein, eine Zwischenzeit mit einem unentschiedenen Hin und Her zwischen der bestimmten Wirklichkeit, zu der dieses Leben in seiner Gesamtheit jetzt wird, und der unbestimmten Möglichkeit des Todes, von dem unklar ist, wann und wie er eintreffen wird. Das Leben hängt in der Luft, nicht nur das Leben des Sterbenden, sondern auch derer, die bei ihm sind, mit ihm in irgendeiner Weise zu tun haben und in dieser Zeit den Boden unter den Füßen verlieren können.
Und wenn der geliebte Mensch nicht mehr da ist, ergibt sich daraus eine abgrundtiefe Traurigkeit. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass sich in diesem Moment die Menschheitsgeschichte wiederholt, denn das gesamte Werden des Menschen ging wohl mit dem Erschrecken über den Tod einher und mit der Unruhe darüber, wohin ein Mensch dann geht. Plötzlich wird klar, dass das Wesentliche des

Lebens, das einen Menschen von klein auf durchdringt, mit dem Tod entschwunden ist. Aber wohin? Was ist mit dem Menschen, der „gegangen ist“? Welche Beziehung zu ihm ist noch möglich? Was kommt nach dem Tod? Was bleibt? Die Seele? Was ist die Seele? Ein göttlicher Hauch? Wie ist das vorstellbar?
Kann ein Toter wirklich tot sein? Was geschieht mit ihm? Körperlich, nüchtern, materiell gesehen, gehen die Atome und Moleküle früher oder später in andere Atom- und Molekülverbände über, kein einziges Atom oder Molekül geht verloren. Der Körper hört in der gegebenen Form zu existieren auf, seine Bestandteile erleben jedoch eine Verwandlung in andere Formen. Die Annahme liegt nahe, dass sich dies mit Seele und Geist ganz ähnlich verhält. Denn was liegt ihnen zugrunde? Es können doch wohl nur Energien sein, denn das ist es, was den toten Körper vom lebenden unterscheidet: Die Energien sind nicht mehr in ihm, Wärmeenergie, elektrische Energie, Bewegungsenergie. Wenn aber das Wesentliche eines Wesens die Energien sind, die es beleben, dann gilt: Energie stirbt nicht. Das besagt der Energieerhaltungssatz, den Hermann von Helmholtz 1847 für die Physik formulierte und der auch für die Energieformen gelten könnte, die dem Körper, der Seele und dem Geist eines Menschen zugrundeliegen, für die bekannten – und die unbekannten.
Die Energie des Lebens, die mit dem Tod entschwindet, ist dann weiterhin „da“, ohne genau lokalisierbar zu sein. Sie bleibt im Raum, unsichtbar und doch spürbar, kein Quantum geht verloren. Vorstellbar ist jedoch, dass nun andere Formen des Lebens damit aufleben, andere Menschen, Wesen und Dinge durchpulst werden und der Tote auf diese Weise weiterlebt. Die Lebenden, die den Tod nicht fliehen, können die Energie wahrnehmen, aufnehmen und mit ihr ins Leben zurückkehren. Der neue Mut, der sie überkommt, verdankt sich womöglich der Energie, die der Tote nicht mehr für sich beansprucht, sondern dem überlässt, der in Beziehung zu ihm bleibt. Die Zuwendung, die einem Menschen vor dem Tod gewährt worden ist, schenkt dieser nach seinem Tod den Lebenden. Es ist, als trage er mit seiner Präsenz, die sich vom Körper gelöst hat, ihre Ichs, geleite sie auf allen Wegen und halte schützend die Hand über sie. So lebt das Wesentliche eines Menschen vielleicht weiter in den Lebenden und trägt zu ihrem inneren Reichtum bei. Der Umgang mit dem Tod ist der Schlüssel zum Leben.
Dass es keinen wirklichen Tod gibt, dass da noch ein anderes Leben ist, auch wenn sich ein Mensch in dieser Gestalt auflöst, ist freilich nicht nachweisbar, nur annehmbar. Entscheidend dafür ist nicht die Wahrheit, die wohl nie zweifelsfrei ausfindig zu machen ist, sondern die Lebenswahrheit, mit der sich leben lässt. Sie hängt ab von der Deutung, die jeder selbst vornimmt und für die er, wenn er Beliebigkeit vermeiden will, nach der Plausibilität der Zusammenhänge fragt und im Übrigen danach, was ihm schön und bejahenswert erscheint. Auch die Wahrheit, auf die manche Individuen und ganze Kulturen sich kaprizieren, kann nur eine Deutung sein. Veränderungen der Deutung aber sorgen im Laufe der Zeit dafür, dass der Tod eine Geschichte hat, die von Menschen geschrieben wird.
Den vormodernen Tod sandte ein Gott, sobald es ihm gefiel, einen Menschen, dem er das Leben geschenkt hatte, wieder zu sich „heimzurufen“. Dieser Tod konnte in den langen Zeiten der Geschichte, in denen es charakteristisch für das menschliche Leben war, nichts als harte, nackte Wirklichkeit vorzufinden und über wenige oder
gar keine Möglichkeiten zu verfügen, als Erlösung empfunden werden. Ein besseres Leben folgte ihm in jedem Fall, sofern nicht Fegefeuer oder Hölle drohten: Eine große Unruhe empfanden vormoderne Menschen das ganze Leben hindurch bei der Frage, in welcher Weise Gott sie für all ihr Tun und Lassen am Ende noch zur Rechenschaft ziehen würde.
Der moderne Tod hingegen durchkreuzt eine hoffnungsvolle Wirklichkeit des Lebens mit einer Rücksichtslosigkeit, die viele Möglichkeiten zerstört und Projekte abbricht. Selten erscheint er als Erlösung, häufiger als Zumutung: Immer bleibt etwas ungelebt. Wo Menschen selbst Einfluss auf ihr Leben nehmen können und sich nicht mehr als Marionetten eines blinden Schicksals oder einer weisen Vorsehung verstehen müssen, kommt dem Tod die Rolle zu, Wünsche und Träume zunichte zu machen, sodass die Frage aufbricht: Warum? Schon zu Lebzeiten bedrängt der Tod die Lebenden mit den Fragen: Lebst du wirklich? Was hast du noch vor? Der moderne Glaube, dass das Leben mit dem Tod zu Ende sei, verstärkt bei vielen Menschen die Angst vor dem Tod, der für immer gestorben wird, sodass sie schon im Leben zu Tode betrübt sein können. Was einst der ritualisierte Übergang zu einer anderen Ebene der Existenz war, mit detailreichen Vorstellungen von einer jenseitigen Welt, kann für moderne Menschen nur noch ein Fallen ins Undenkbare und Unvorstellbare, ins Nichts sein. Dieser Tod hat kein Recht auf Leben, mit aller Macht muss er, solange er sich nicht abschaffen lässt, vor den eigenen Augen und den Augen Anderer verborgen werden.
Wenn es gelingen sollte, die Moderne zu verändern, steht es in einer andersmodernen Kultur dem Einzelnen frei, auch ohne Berufung auf einen Gott und auch ohne letzte Wahrheit nicht mehr das Ende des Lebens im Tod zu sehen. Dieser Deutung zufolge gehen Menschen, wie alle Wesen, aus einem allumfassenden Meer von Energie hervor, leben aus ihm heraus und kehren zu ihm zurück. Die Konturen von Menschen, des Menschen überhaupt, zeichnen sich für eine kleine Weile am Meeresufer der wirklichen Welt ab und werden wie das „Gesicht im Sand“, von dem der Philosoph Michel Foucault einmal sprach, von einem Wellenschlag wieder ausgelöscht. Was für einen Moment die Lebensenergie und Seele eines menschlichen Selbst war, geht wieder in die kosmische Energie und Weltseele über, die alles erfüllt und allem zugrunde liegt. Schon zu Lebzeiten spürt ein Mensch in seinem tiefsten Innersten diese namenlose, grenzenlose eigentliche Seele, die Energie, die auch dann bleibt, wenn keine Person mehr da ist, während die persönliche Seele mit ihren charakteristischen Ausprägungen von Energien in Gefühlen, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Sehnsüchten in dieser Form nur diesem Menschen eigen und an sein körperliches Dasein gebunden ist.
Aus der Binnensicht des Todes fühlt sich die äußerste Erfahrung daher womöglich auch ganz anders an als von außen. Sie könnte der Erfahrung ähneln, nach der die Liebenden sich sehnen und die sie in manchen Augenblicken auch erlangen: Wie die Liebe könnte der Tod eine Rückkehr zum energetischen Zustand sein, um auf dieser Ebene miteinander und mit allem zu verschmelzen, nur noch Energie zu sein, reine Möglichkeit, denn Energie ist Möglichkeit – je mehr Energie, desto mehr Möglichkeiten. Was in einzelnen Momenten beim Einswerden mit einem Anderen erfahrbar ist, wird zur unio mystica mit dieser anderen Dimension: Der „kleine Tod“ der Liebesekstase könnte eine Vorahnung des großen Aktes sein, der der Tod selbst ist, der gewaltigste Moment des Lebens mit einem Hinausströmen des Selbst aus
sich, einer rauschhaften Auflösung, einer Zerlegung des Lebens in dieser Gestalt. Diese ultimative Ekstase hat nicht mehr nur ein „Hinausstehen“ (ekstasis im Griechischen), sondern ein völliges Hinausgehen aus sich und diesem Leben zur Folge. „Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen“, sagt Rilke in der ersten seiner Duineser Elegien.
Dass die Abwesenheit des geliebten Anderen nach seinem Tod so unwirklich erscheint, wäre dann erklärbar: Er lebt nicht mehr in dieser Wirklichkeit, sehr wohl jedoch in einer anderen. Etwa „im Himmel“, wie den Kindern gesagt wird? Ja, wenn unter Himmel die Unendlichkeit der Möglichkeiten verstanden wird, ein unfassbarer Raum. Daher kann der, der zurückbleibt, sich hin- und hergerissen fühlen zwischen dem unendlichen Schmerz über den Verlust, der nicht mehr rückgängig zu machen ist, und der unendlichen Euphorie über das Sein, in dem das gemeinsame Leben geborgen ist: Novalis machte am Grab seiner jungen Geliebten Sophie von Kühn diese Erfahrung. Das Erschaudern vor der Wucht des metaphysischen Abschieds ist verständlich, aber zugleich ist die subjektive Gewissheit möglich, dass es ein Zusammensein über den Tod hinaus gibt, sodass es nicht mehr unsinnig erscheint, sich leichten Herzens für eine Weile Adieu zu sagen bis zur immerwährenden Vereinigung im Kontinuum der Energie.
Inmitten der wirklichen Endlichkeit tut sich ein Fenster zur möglichen Unendlichkeit auf, in der selbst dann, wenn der geliebte Andere „nicht mehr da ist“, eine Gemeinschaft mit ihm möglich erscheint, in welcher Form auch immer. „Bis dass der Tod euch scheidet“: Das war schon immer eine wunderliche Formulierung, zumal in christlichem Kontext, in dessen Rahmen doch angenommen wird, dass der Tod nichts scheidet, dass es vielmehr ein Leben über den Tod hinaus gibt. Die Wahrheit selbst ist unzugänglich, aber die Lebenswahrheit, die der Einzelne für sich gewinnt, ermöglicht die Annahme, dass die Lebenden und die Toten ein und dieselbe Welt bewohnen, wenngleich auf unterschiedlichen ontologischen Ebenen: Ebene der Materie und ihrer jeweils begrenzten, endlichen Wirklichkeit, Ebene der Energie und ihrer unbegrenzten, unendlichen Möglichkeiten. Die reale Gestalt stirbt, nicht jedoch die Seele und der Geist, die im Grunde reine Energie, reine Potenz sind.
Niemand kann definitiv wissen, in welchem Status ein Toter lebt, Annahmen sind jedoch möglich: Tot ist ein Mensch nur in Bezug auf dieses Leben, das er gelebt hat. Vergangen ist lediglich die einmalige Zusammensetzung der materiellen und immateriellen Bestandteile dieses Menschen, die Integrität, die ihn als Person charakterisierte. Dann gilt: Es gibt keinen wirklichen Tod außer dem Tod der Person. Die Person in dieser Komposition, die ihre begrenzte Zeit hat, löst sich auf, aber alle Bestandteile leben in anderen Zusammenhängen weiter, körperlich, seelisch, geistig. Nichts von dem, was durch diesen Menschen geprägt wurde, verschwindet jemals wieder, es sei denn auf lange Sicht der Name, der für diese Prägung steht, und das Wissen Anderer, dass überhaupt eine Prägung stattgefunden hat. Jeder Mensch, der aus der energetischen Möglichkeit kommt und in sie zurückkehrt, hinterlässt eine Spur in der materiellen Wirklichkeit. „Warum habe ich überhaupt gelebt?“ schreit eine 17Jährige verzweifelt in ihrer Todesstunde. Aber sie hat geatmet, also hat sie die Welt verändert, und was rein chemisch kaum zu bestreiten ist, verhält sich wohl auch seelisch und geistig so. Die Ich-Konstellation wird verwischt und ausgelöscht, aber einige Moleküle, Gefühle und Gedanken haben sich anders bewegt, als sie sich
ansonsten bewegt hätten. Mag es sich auch nur um eine Winzigkeit handeln, aber etwas bleibt übrig, das unauslöschlich ist.
Über den Tod hinaus kann im Gespräch mit den Toten die Beziehung zu ihnen weiterleben, vielleicht in ähnlicher Weise wie in dem Sketch für zwei Personen von Lauri Wylie aus den 1920er Jahren, Dinner For One, nach großen Erfolgen in England in vielen anderen Ländern seit den 1960er Jahren als TV-Produktion bekannt geworden durch den Schauspieler Freddie Frinton als Butler James. Die 90jährige Miss Sophie (May Warden) feiert darin, wie alle Jahre, anlässlich ihres Geburtstags die Anwesenheit ihrer lange schon verstorbenen Freunde Sir Toby, Admiral von Schneider, Mister Pommeroy und Mister Winterbottom, und sie treibt ihren Butler dazu an, dieses Setting ernst zu nehmen: „Just to please me!“
Kann es wirklich solche Gespräche geben? Zumindest kann es die lebhafte Vorstellung geben, wie sie verlaufen würden, könnte es sie geben. Sollten sie tatsächlich stattfinden, fehlt es an Methoden, dies zu bewahrheiten; umgekehrt lässt sich die Möglichkeit solcher Gespräche nicht gänzlich ausschließen. In jedem Fall kann der Tote als imaginärer Gesprächspartner eine immense Bereicherung für das Leben sein: Mit dem Blick von außen, der ihm eigen ist, trägt er zur Orientierung der Lebenden bei, jedenfalls dann, wenn sie bereit sind, diesen Blick von ihm zu übernehmen. Unter anderen Bedingungen kann er jedoch zur Belastung für sie werden, vor allem in der modernen Kultur, die davon ausgeht, dass der Tote tot ist und kein Gespräch mehr mit ihm möglich ist, auch sonst kein irgendwie gearteter Austausch, sodass alles, was noch zu sagen wäre, zu Lebzeiten hätte gesagt werden müssen, um nicht für immer im kosmischen Nichts zu verhallen. Was ungesagt und ungelebt bleibt, kann zur Last werden, die nicht aufhört, einen Menschen zu bedrücken. Ungeklärte Fragen bleiben über den Tod hinaus offen und hinterlassen eine traumatische Erfahrung, die nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann.
Unweigerlich sind Phasen des Umgangs mit dem Tod zu durchlaufen, wenn ein Mensch gestorben ist, zu dem eine enge Beziehung bestand. Nach der ersten Weigerung, den Tod wahrhaben zu wollen, tut sich das Chaos der Gefühle auf, das Wanken zwischen Wut, Enttäuschung, Empörung, Bitterkeit, Leiden an der Sinnlosigkeit, Mitleid, Selbstmitleid, tiefer Trauer, bevor der Tod akzeptiert werden kann und eine große Ruhe sich einstellt. Die Trauer kann ein Ausdruck von Liebe sein, manchmal von nachgetragener Liebe, die zu Lebzeiten keinen rechten Ausdruck zu finden vermochte. In moderner Zeit wurde die Trauer dynamisiert zur „Trauerarbeit“, um zu signalisieren, dass der Zustand aktiv angegangen wird, statt ihn passiv geschehen zu lassen. Manche wollen rasch mit dem Tod „fertig werden“, um die Unruhe, die von ihm ausgeht, nicht länger aushalten zu müssen. Aber die Trauer braucht Zeit, sie kann lange währen, abzukürzen nur um den Preis ihrer unvermuteten Wiederkehr. In Erinnerungen und an gemeinsam frequentierten Orten kann die Nähe zum Toten gesucht und wieder gefunden werden, um so viel wie möglich von ihm in sich zu bewahren, ihm einen festen Platz im eigenen Selbst zu geben und weiter mit ihm zu leben. Es ist die ausgehaltene Nähe zum Tod, zu diesem radikalen Anderssein, die dazu führt, das Leben mehr als je zuvor bejahen zu können.
Auf die Zeiten der Ungewissheit und Verzweiflung folgen Zeiten der Gelassenheit und Heiterkeit. Sie ergeben sich aus dem Eindruck, dass das Leben weit umfassender ist als das individuelle Leben hier und jetzt, ja, dass es sogar seinen Gegensatz noch mit umgreift, den Tod, der selbst ein Leben ist, wenngleich er nicht die Form eines Daseins annimmt. Inmitten der Trauer wird dies zur Gewissheit: Dass da ein Sein ist, das von alledem unberührt bleibt, ein ewiges Sein durch alle kommenden und gehenden Ichs hindurch, an dem jedoch jedes Ich teilhat. Die Endlichkeit erscheint dann als Ende des Lebens in seiner jeweiligen Gestalt und in dieser Person, die Unendlichkeit als nicht endendes Sein über alle Gestalten und Personen hinaus. In jedem Augenblick und mit jedem Tun und Lassen wird Unendlichkeit zur Endlichkeit, Möglichkeit zur Wirklichkeit. In jedem Augenblick geht Wirklichkeit zugleich vorbei und wird wieder zur Möglichkeit. Über alle Traurigkeit hinaus ist Heiterkeit das Gefühl und der Gedanke, mit der Endlichkeit versöhnt zu sein und sich in einer Unendlichkeit geborgen zu wissen, unabhängig davon, welcher Name ihr gegeben wird.
Vielleicht kann der Aufenthalt in der surrealen Dimension des Seins als ontologischer Schlaf verstanden werden, der dem allnächtlichen Schlaf ähnelt, dem Übergang aus der alltäglichen Wirklichkeit in die Traumwelt der Nacht. Auch für den Seinsschlaf könnte Erholung ein Grund sein, die aber anders als beim gewöhnlichen Schlaf nicht nur Körper, Seele und Geist in momentaner Verfassung, sondern dem gesamten Wesen zuteil wird. Mit der Auflösung seiner festen Gestalt erholt und verjüngt es sich und kehrt vermutlich nicht als dasselbe aus dem Möglichsein ins Wirklichsein zurück. Handelt es sich um eine Wiedergeburt? Vielleicht, aber wohl in veränderter Gestalt. Zumindest ist es denkbar, dass aus dem Energiefeld heraus eine Gestalt reinkarniert, also wieder zu Fleisch, zu einem Körper wird. Ähnlich wie beim Erwachen aus einem Traum könnten dabei bruchstückhafte Erinnerungen an ein früheres Leben wach werden, wie manche Menschen dies an sich beobachten, sodass sie glauben, in anderer Zeit „schon einmal da gewesen zu sein“. Erklärbar wäre mir selbst auch die gelegentliche merkwürdige Empfindung, mich zwar in dieser Wirklichkeit aufzuhalten, die mich umgibt, mich aber fremd in ihr zu fühlen, da ich meine Heimat anderswo sehe, nicht in der Bestimmtheit dieser wirklichen Welt, sondern in der Unbestimmtheit einer anderen. Das wäre dann kein Spuk, der wieder vergeht. Ein Spuk wäre eher das Hier und Jetzt, dem gewöhnlich so viel Bedeutung zugemessen wird und das doch morgen schon von gestern ist.
Dass viele Menschen sich ein anderes Leben über das gegebene hinaus nicht vorstellen können, ist kein Beweis dafür, dass es dieses Leben nicht gibt. Aber auch die, die es sich vorstellen können, können es nicht beweisen, nur annehmen. Wird ein anderes Leben jenseits des Todes angenommen, kann der Tod als ein Hinübergehen von einem Leben zum anderen verstanden werden. Es lässt sich sogar von einem „Heimgehen“ sprechen, wie es angesichts des Todes auf der Zunge liegt, und dies nicht nur aus religiösen Gründen: Wenn Menschen heimgehen, so kann das heißen, dass sie zurück zur ewigen Welt der Möglichkeiten gehen, aus der sie gekommen sind, da Möglichkeiten aller zeitlichen Wirklichkeit zugrundeliegen, denn woher sonst sollte eine Wirklichkeit kommen? Der Einzelne geht zugrunde, aber damit kehrt das Wesentliche an ihm, das ihn leben ließ, zum Grund des großen Potenzials zurück. Vom energiegeladenen Pol, aus dem jedes Leben anfänglich hervorgeht, wandert es zum entgegengesetzten Pol des Energieverlusts, bevor mit dem Tod der Zustand reiner Energie wieder hergestellt wird, der ein neues Werden
ermöglicht. So kreist das Leben zwischen Materialisierung, Entmaterialisierung und neuerlicher Materialisierung; es vollendet sich immer wieder dort, wo alle Möglichkeiten schlummern, bevor die Wirklichkeit eines anderen Lebens daraus hervorgehen kann. In der gesamten Natur ist dieser Kreislauf von Werden und Vergehen zu sehen, also kann es sich damit beim Menschen, der doch Teil der Natur ist, wohl kaum anders verhalten. Kann das angesichts des Todes ein Trost sein?
Den übergroßen metaphysischen Schmerz, der entsteht, wenn Menschen mit dem Tod konfrontiert sind und sich ihrer eigenen Sterblichkeit bewusst werden, kann am besten ein metaphysischer Trost auffangen, der nicht „jenseits der Natur“ (griechisch meta-physis) sein muss: Trösten kann das Aufgehobensein in der Geschichte der Menschheit und der Welt, die nicht mit dem Einzelnen zu Ende geht; kein Mensch fällt mit seinem Tod aus ihr heraus. Trösten kann die Einbettung der irdischen in die kosmische Natur. Der Tod ist nur ein Detail des Lebens in der übermächtigen Natur des Universums. Der kosmische Horizont führt die begrenzte Bedeutung des Irdischen vor Augen und macht eine andere Dimension sichtbar, in deren unendlicher Weite sich alles verliert, was im Leben jetzt schmerzt. Seit uralten Zeiten haben Menschen im Kosmischen, im unendlichen Universum die Freiheit gesucht, die den Blick über die momentane Situation, die gegenwärtige Wirklichkeit, das gesamte Leben hinaus weitet, um einem abgrundtiefen Schmerz zu entfliehen und in einer aussichtslosen Situation neue Perspektiven zu erschließen. Um nichts Anderes geht es auch in den Trostschriften der Philosophie. Alles Menschliche sei kurz und hinfällig und mache nur einen verschwindend geringen Teil der unendlichen Zeit aus, führt beispielsweise Seneca in seiner Trostschrift an Marcia in einer großartigen Kosmologie vor Augen. Und im 6. Jahrhundert n. Chr. tröstet der neuplatonische Philosoph Boethius sich selbst, als er, wegen des Verdachts der Teilnahme an einer Verschwörung zum Tode verurteilt, auf seine Hinrichtung wartet. In seiner Schrift Vom Trost der Philosophie zeigt er sich von den unantastbaren Eigenschaften der unsterblichen Seele überzeugt, die mit dem Tod in ihre göttliche Heimat und somit zur vollkommenen Glückseligkeit zurückkehrt.
Trösten können alle transzendenten Fähigkeiten, die der Seele und dem Geist eines Menschen zur Verfügung stehen, denn sie ermöglichen ein Denken, Fühlen und Handeln über die Gegenwart hinaus, und ihre vorsätzliche Kultivierung macht eine energetische Intensität erfahrbar, die aus subjektiver Sicht dem Leben Sinn geben kann. Einige dieser Fähigkeiten fanden als Kardinaltugenden (cardo im Lateinischen für Türangel), also als Dreh- und Angelpunkte des menschlichen Lebens, Eingang in die abendländische Kultur, etwa mit der Trias von Glaube, Liebe, Hoffnung, die seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. von christlichen Autoren tradiert wurde, aber nicht allein von ihrer Wertschätzung abhängt: Jeder Mensch kann sich für den Glauben entscheiden, dass ein Leben und Zusammenleben über das menschliche Leben hinaus möglich ist und dass etwas oder jemand in diesem Darüber hinaus dem Ganzen einen Sinn gibt. Auf einer Entscheidung beruht auch die Liebe über das eigene Selbst hinaus zu anderen Menschen, zum Leben, zur Welt überhaupt und zu etwas Größerem jenseits aller Endlichkeit und Wirklichkeit: Jede dieser Lieben hält so viel Intensität bereit, dass sich die Frage nach dem Sinn nicht mehr stellt. Und mit seiner Hoffnung vertraut ein Mensch darauf, dass es sinnvolle Zusammenhänge gibt und dass etwas, das aus dem Lot geraten ist, wieder gut wird, wenngleich nicht schon jetzt.
Nicht immer ist klar, warum etwas geschieht, denn das Geflecht kausaler Zusammenhänge ist kaum je vollständig zu entwirren. Fast immer aber lässt sich klären, wozu etwas gut sein kann, denn unabhängig von wirklichen können Menschen sich alle möglichen Zusammenhänge ausdenken, um daraus Kraft zu schöpfen. Trösten kann die Deutung, dass letztlich alles in einem großen Ganzen geborgen ist, dass jetzt eine Herausforderung zu bestehen ist, dass aber das schicksalhafte Geschehen „für irgendetwas gut sein wird“ und wenn schon nicht dem Betroffenen, so doch Anderen zugutekommt. Trösten kann, dass von Grund auf nicht nur positiven, sondern auch negativen Erfahrungen Sinn zukommt, denn nur zwischen diesen Gegensätzen kann es Leben geben. Wer glaubt, das Leben könne immer nur positiv, toll und glücklich sein, wird umso bitterer leiden, wenn es anders ausfällt. Und eine Möglichkeit ist, sich schlicht dem Leben zu fügen und sich zu sagen: „Das ist mein Schicksal, ich habe es mir nicht ausgesucht, aber ich will damit leben, statt vergeblich dagegen anzuleben.“
Aber das sind nur Anregungen und Überlegungen. Der einzelne Mensch selbst entscheidet, was er tun und lassen, glauben und nicht glauben will. Sicher ist lediglich, dass es auch in der modernen Zeit, die so viel zu wissen glaubt, kein Wissen über die letzten Dinge gibt. Und dass dennoch viele vom Nachdenken darüber umgetrieben werden. „Where are we now?“ Wo stehen wir jetzt? Der Horizont eines möglichen Lebens nach dem Tod, den die Moderne mutwillig verschlossen hat, steht wieder offen

Das animal rationale – was ist der Mensch

SWR2 Wissen - Aula - Wilhelm Vossenkuhl: Das Animal rationale I; Willensfreiheit ade II; Gemeinnutz geht vor Eigennutz III
Aus der Reihe: Das Wesen des Menschen
Autor und Sprecher: Prof. Wilhelm Vossenkuhl *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 24. Dezember 2006, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

* Zum Autor:
Wilhelm Vossenkuhl, geboren 1945, studierte Philosophie, Neuere Geschichte und Politikwissenschaft in München. 1972 Promotion zum Dr. phil. an der Universität München;1980 Habilitation. Seit 1993 hat Vossenkuhl den Lehrstuhl für Philosophie 1 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München inne.
Schwerpunkte: Praktische Philosophie und Handlungstheorie, Grundlagen der
Ethik, Philosophie der Sozialwissenschaften.

Buchauswahl:
- Philosophie für die Westentasche. Piper-Verlag.
- Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21. Jahrhundert. Beck-Verlag.
- Ludwig Wittgenstein. Becksche Reihe Denker.
- Stammzellenforschung und therapeutisches Klonen (zusammen m. Oduncu u.a.). Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.

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SWR2 Wissen - Aula - Wilhelm Vossenkuhl: „Das animal rationale – was ist der Mensch“.
Aus der Reihe: Das Wesen des Menschen (1)
Sendung am Sonntag, 24.12.2006, 08.30 bis 9.00 Uhr


ÜBERBLICK 1

Philosophen und Theologen haben seit der Antike über das Wesen des Menschen nachgedacht. Als dessen Kern erkannte etwa Plato die unsterbliche Seele, Aristoteles die Sozialnatur, die sich vor allem durch und in der Sprache zeigt. Im Mittelalter wurden diese Konzepte durch die Lehre von der Vernunftnatur des Menschen und von der Person als einer Substanz vertieft. Selbst Immanuel Kant versucht noch, die Einheit der Person in seiner Ethik zu retten.

Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der Universität in München, beschreibt im ersten Teil seiner Reihe die Kernpunkte dieses traditionellen Menschenbildes, das heute noch unser Denken und Handeln zu bestimmen scheint.

INHALT I
Ansage:

Heute mit dem Thema: „Das animal rationale – was ist der Mensch“.

Wir beginnen heute in der SWR2 AULA eine dreiteilige Reihe über unser Menschenbild oder, wir sollten besser sagen, über die Menschenbilder. Denn es gibt allein schon in unserem Kulturbereich eine Vielzahl von Traditionen, Motiven, Hypothesen, die diese Definition maßgeblich bestimmen. In der Aufklärung etwa wurde der Mensch in erster Linie als ein vernünftiges freies und autonomes Wesen betrachtet, die emotionalen Aspekte wurden vernachlässigt. In der Romantik wurde der Mensch wiederum primär über seine poetische Schöpfungskraft definiert, die garantierte – so die These etwa von Friedrich Schlegel – seine Gottähnlichkeit. Und heute, also im Jahr 2006, hat sich die Hirnforschung in diesen philosophischen Bereich hineingedrängt, sie begreift den Menschen als einen neuronalen Bioautomaten, der den Impulsen seiner Nervenzellen folgt, von Freiheit im metaphysischen Sinne ist keine Spur mehr.

Wilhelm Vossenkuhl ist Professor für Philosophie an der LMU in München, und er ist der Fachmann für die Frage: Was ist eigentlich der Mensch, worin besteht sein Wesen? Im ersten Teil reist Vossenkuhl in die Antike, zu Sokrates und Platon, dann ins Mittelalter und schließlich in die Epoche der Aufklärung, zu Kant und zu seiner Theorie der menschlichen Autonomie.

Wilhelm Vossenkuhl:

Was ist der Mensch? Wer sind wir selbst? Sind wir als Personen Einheiten, oder sind wir quasi gesplittet, bestehen wir aus verschiedenen Teilen? Wie identifizieren wir uns selbst? All diese Fragen sind nicht neu. Sie werden seit der Antike zumindest in den Texten, die uns überliefert sind, gestellt und sie haben immer wieder andere Antworten.

Aber warum diese Fragen heute, warum jetzt? Wer sind wir selbst – heute? Was ist der Mensch – heute?

Es gibt viele Gründe, diese Frage nach der Identität, nach dem Wesen zu stellen, denn in jeder Epoche, in jeder Generation vielleicht sogar, musste die Frage gestellt werden, weil es Gefährdungen für die Einheit, für die Identität des Menschen gab.

Aber zunächst einmal: Warum ist das überhaupt eine philosophische und nicht eine naturwissenschaftliche Frage? Das ist natürlich auch ein naturwissenschaftliches Thema, und das ist ja gerade das Irritierende, dass nicht nur eine, sondern viele Naturwissenschaften und auch die Sozialwissenschaften, die Politikwissenschaft, also viele Wissenschaften dieser Frage nachgehen. Und es erstaunt überhaupt nicht, dass diese Wissenschaften allesamt verschiedene Antworten haben.

Die Philosophie kann mit den Wissenschaften nicht konkurrieren. Sie schafft keine eigenen, wissenschaftlich nachprüfbaren Ergebnisse, sondern sie versucht Vergewisserungen, Gedankengänge zu liefern, anhand derer man sehen kann, wie die Frage überhaupt zu verstehen ist: Welche Probleme gibt es, wie sind sie lösbar, wie können wir uns Lösungen denken. Das ist die philosophische Aufgabe. Aber sie geht noch weit darüber hinaus in Richtungen, die für die Wissenschaften so nicht erschließbar sind. Es gibt vor allem vier, fünf, sechs verschiedene Probleme, die uns heute auf den Nägeln brennen, wenn es um die Frage „Was ist der Mensch“ geht.

Das erste können wir das Freiheitsproblem nennen. Was bedeutet das? Die moderne Hirnforschung hat festgestellt, dass unsere Hirnteile oder auch das Gehirn insgesamt Leistungen erbringt, die etwas mit dem zu tun haben, was wir an körperlichen Bewegungen vollziehen. Und diese Leistungen finden statt, bevor wir überhaupt wollen, dass wir uns bewegen. Das Freiheitsproblem bei diesen Einsichten besteht nun darin, dass die Hirnforscher uns sagen, Freiheit sei eine Illusion, also etwas, was wir uns einbilden, was aber nicht tatsächlich existiert, wenn wir eine Handlung ausführen, wird die eben nicht vom bewussten Willen gesteuert.

Ein ganz anderes Problem ist mit der Frage verbunden, wie wird das menschliche Leben geschützt. Ist es schützenswert in allen seinen Phasen? Was passiert am Anfang des Lebens, wann beginnt es überhaupt? Und wann beginnt der Lebensschutz? Ganz analog dazu gibt es Fragen zum Ende des Lebens: Wie lange sollen wir eigentlich leben? Soll derjenige, der sterben will, nicht sterben dürfen? Wir haben also hier ein offenes Problem, auch verbunden mit der Frage, was der Mensch ist, wann sein Leben beginnt, wann es endet. Nennen wir es einfach das Problem des Lebensschutzes.

Eng mit dem Lebensschutz zusammen hängt die Frage: Was ist eigentlich Menschenwürde, was ist menschenwürdig? Wie können wir die Menschenwürde heute verstehen? Immerhin ist sie in Artikel 1 des Grundgesetzes verankert und steht vielleicht nicht nur zufällig ganz oben an erster Stelle, sondern ist vielleicht auch der wichtigste Anspruch in unserer Verfassung. Die Mütter und Väter der Verfassung wollten nach dem Zweiten Weltkrieg vermeiden, dass jemals in Deutschland wieder so etwas passiert wie zwischen 1933 und 1945. Sie meinten, dass der Anspruch auf Menschenwürde wichtiger als alles andere sei. Das gilt heute noch, nur wie verteidigen wir die Menschenwürde heute? Wenn wir schon Probleme mit dem Lebensschutz haben, und die haben wir offenbar, dann gibt es vielleicht auch Probleme, wie die Würde zu sichern ist.

Das ist ein ganzer Fragenkomplex, der wirklich „ans Eingemachte“ geht und den Kern der Frage trifft: Wer sind wir eigentlich.

Aber es gibt auch Probleme, die mit dem Anfang und dem Ende des Lebens gar nichts zu tun haben. Nehmen wir z. B. die Genetik, die Entschlüsselung des Humangenoms, die – zwar jetzt noch in der Fantasie, aber vielleicht schon bald in der Realität – Möglichkeiten bietet zur genetischen Selbstbestimmung des Menschen. Es geht nicht nur um die Heilung von schweren Krankheiten, Erbkrankheiten durch Eingriffe in die Keimbahn, sondern auch um die Idee, wie wir einen Menschen erschaffen könnten, den wir vielleicht gerne hätten. Also Fantasiemenschen, Menschen, die vielleicht groß, kräftig, intelligent, schön usw. sind. Auch hier haben wir es mit einem Würdeproblem zu tun. Und mit dem werden wir uns beschäftigen müssen.

Das führt uns wiederum zu der Frage: Was macht eigentlich den Menschen aus? Ist es seine Intelligenz, seine Körperlichkeit, das Bewusstsein, ist es die Freiheit? Wir scheinen die Wahl zu haben, aber letztlich müssen wir sehen, wie all diese wichtigen, interessanten Ansprüche miteinander zusammen hängen, wie sie verbunden sind.

Es ist erstaunlich und doch eine Tatsache: Wir wissen immer mehr über den Menschen und verstehen uns selbst dabei eigentlich immer weniger. Was ist z. B. mit unserem Gehirn? Agiert unser Hirn mit uns, sind wir determiniert durch das, was im Gehirn passiert? Sind wir überhaupt irgendwo noch frei genug, um zu handeln, zu entscheiden, was wir tun wollen? Wir wissen immer mehr und scheinen immer mehr Schwierigkeiten zu haben, mit unserem Wissen zurecht zu kommen, es mit uns selbst zu verbinden.

Schauen wir eimmal zurück in die Geschichte, in die Tradition, die uns überliefert ist. Es ist immer ratsam, das zu tun, weil man da etwas erfährt darüber, was andere dachten, Modelle, die uns vielleicht auch heute wichtig erscheinen.

Nach dem, was man wohl zu Recht das mythische Zeitalter in der europäischen Antike nannte, entwickelte sich im alten Griechenland die Philosophie, parallel zur Ablösung von den Mythen. Und in der Philosophie kam sehr bald der Gedanke auf, dass das Entscheidende am menschlichen Dasein die Vernunft ist. Man sprach zwar nicht im modernen Sinne von Vernunft, aber doch von dem vernünftigen Teil der Seele.

Unter Seele verstand man damals allgemein die Kraft, die uns bewegt, die aber nicht nur unsere Kraft ist, sondern die überall in der Natur anzutreffen ist. Auch wenn der Grashalm wächst, ist das Ausdruck einer Seele, einer vegetativen Seele. Und wenn wir Begierden haben, das haben nicht nur Menschen, sondern auch andere Lebewesen, Tiere, die uns ähnlich sind, dann ist das der mittlere Seelenteil, der da agiert. Manche nannten das den irrationalen Seelenteil, aber immerhin ist es auch bei uns der Seelenteil, den man formen kann. Das Allerbeste – und das haben nach Meinung der Antike nur wir Menschen – ist der vernünftige Seelenteil. Der ist, ohne dass wir darauf Einfluss hätten oder haben könnten, da oder nicht da. Das ist also so ungefähr die grobe Vorstellung von der Seele in der Antike. Die Seele, an der wir allesamt teilhaben, die gewissermaßen – wie es Jahrhunderte lang gesagt wurde – alles ist, was wir sind, diese Seele wurde von unterschiedlichen, bedeutenden Denkern auch unterschiedlich verstanden. An erster Stelle stehen Platon und sein Lehrer Sokrates.

Warum gerade diese beiden? Weil Platon im Andenken an seinen Lehrer Sokrates wohl auch das Meiste über die Seele gesagt hat. Einer der schönsten Dialoge, der „Phaidon“, erzählt die Geschichte vom Tode des Sokrates. Warum musste Sokrates sterben? Weil er in seiner Zeit etwas Ähnliches tat wie heute die Wissenschaft mit uns: Er verunsicherte die Menschen, er stellte Fragen, die die Menschen aus dem Konzept brachten: Warum tust du das? Wer bist du eigentlich? Wo gehörst du eigentlich hin? Was willst du denn wirklich? Das sind Fragen, die die Menschen irritierten, und diese Irritationen wurden ihm nicht verziehen. Er wurde zum Tode verurteilt. Der Tod des Sokrates, der übrigens nicht nur im „Phaidon“, sondern auch in der „Apologie“, einem anderen Text von Platon, geschildert und analysiert wird, ist eine Art Lackmus-Test für die antike Seelenauffassung. Denn nach der antiken Seelenauffassung bleibt die Seele nach dem Tod nicht einfach im Körper. Es gibt eine körperliche Seele, die mit dem Körper stirbt, und einen anderen Seelenteil, der unsterblich ist. Dieser Seelenteil tritt eine Reise an, so die Meinung der Pythagoräer, von denen Platon viel gelernt hat. D. h. es gab damals Philosophen, die an die Wiedergeburt glaubten, weil das durch die Ewigkeit der Seele auch denkbar war.

Sokrates musste also sterben. Am letzten Abend seines Lebens saß er mit seinen Schülern zusammen - es waren nicht alle da, Platon fehlte, er sei krank gewesen, wie er selbst später schrieb -, aber die anwesenden Schüler schilderten genau, was Sokrates mit ihnen besprach, dass er sich z. B. gefreut hat, nun endlich dahin zu kommen, wo all die Sorgen des hiesigen Lebens nicht mehr vorhanden sind: keinen Hunger, keinen Durst, keine Begierden, keine Schwächen. Er sprach von der Vorstellung, dass die eigene Seele fähig war, alle Tode zu überleben. Seine Schüler hörten ihm gespannt zu und glaubten das, was er sagte.

Der Tod des Sokrates ist nicht so zu verstehen, als hätte hier ein alt gewordener, etwas kränklicher und von seiner Frau immer wieder auch fürchterlich behandelter Mensch den Freitod gesucht. Nein, es ist kein Selbstmord, kein Freitod, sondern es ist der Übertritt in ein anderes Leben, in ein Leben, das eigentlich der menschlichen Seele gemäß ist. Wir haben also mit dieser Seelenlehre eine Botschaft, die uns, wenn wir das historisch nachvollziehen, in etwa Folgendes sagt:

Nicht das, was wir im Diesseits erleben, nicht die Wünsche, die wir hier haben, sind entscheidend für die Frage, was wir sind, wer wir sind, sondern das, was nach dem Leben kommt.

Jahrhunderte lang haben Menschen diese Botschaft ernst genommen. Sie ist nicht von allen Philosophen richtig übernommen worden, manche haben daraus ein Bekenntnis zur Selbsttötung abgeleitet, und es gab bis in die späte Antike hinein immer wieder Philosophen, die sich tatsächlich selbst getötet haben.

Aber wenn man von diesen Deviationen, diesen falschen Wegen der Interpretation des Todes von Sokrates absieht, dann lautet doch die Botschaft: Die Seele ist das Eigentliche, die Seele ist das, was uns ausmacht, sie formt die Einheit, die für uns maßgeblich ist. Wenn wir also wissen wollen, wer wir sind, müssen wir nur unsere Seele betrachten.

In der römischen Antike gab es ebenfalls ein tiefes Nachdenken über die Frage, wer wir eigentlich sind. Einer der interessantesten und wichtigsten Zeugen für diesen Prozess war Cicero. Cicero hat neben seinen politischen Ämtern, seiner Anwaltstätigkeit – er war einer der bedeutendsten Politiker seiner Zeit – über die Frage, wer wir selbst sind, nachgedacht. Sein Interesse galt in der Tradition der Stoa vor allem der Frage, wie kommen wir mit dem Leben zurecht, einem Leben, das irgendwann einmal zu Ende geht, das gekennzeichnet, man könnte sogar sagen „durchfurcht“ ist von Schmerzen und Entbehrungen. Wie kommen wir damit zurecht? Cicero bot uns die vielleicht erste philosophische Therapie an. Er sagte: Schmerzen, die Angst vor dem Tod oder die Angst vor Krankheiten resultieren aus dem Glauben an falsche Sätze. Wir müssen diese falschen Sätze aus unserem Denken entfernen. Wir müssen lernen, nur wahre, richtige Sätze zu denken. Dann werden wir die Schmerzen los.

Natürlich hat er nicht geglaubt, dass wir dann plötzlich schmerzfrei sind, als hätte man ein Schmerzmittel genommen. Nein, die Schmerzen verschwinden nicht sofort, aber man lernt, mit ihnen zu leben. Auch die Angst vor dem Tod wird man nicht wirklich ganz los, aber man hat doch ein anderes Verhältnis zum Tod. Also: Falsche Sätze aus dem Denken entfernen. Das ist ein sehr interessanter therapeutischer Vorschlag!

Ein weiterer Zeuge aus der klassischen Antike, aber schon im Übergang zum Mittelalter, ist Aurelius Augustinus. Kein anderer ist wie er durch die Wechselbäder des Denkens und der Glaubensrichtungen gegangen. Er hatte mindestens drei große Konversionen in seinem Leben, aber die müssen uns hier nicht interessieren.

Sein Beitrag zur Frage, wer wir sind, ist für das Mittelalter vielleicht einer der wichtigsten gewesen, einer der größten, in ihm zeigt sich deutlich das mittelalterliche Denken. Er hat die Botschaft, die wir vor allem im Neuen Testament finden, wieder aufgegriffen und philosophisch interpretiert. Die Botschaft besteht darin, dass wir Menschen Abbilder Gottes sind, Gott hat uns nach seinem Ebenbild geformt. Augustinus blieb bei diesem Gedanken nicht einfach stehen, sondern er meinte, wenn wir tatsächlich Abbilder von Gott sind, dann haben wir mit ihm etwas, und sei es noch so klein und gering, gemein. Etwas, was uns die Möglichkeit verschafft, die Wahrheit zu erkennen, die Wahrheit, die Er uns mitgeteilt hat, aber auch alle anderen Wahrheiten.

Sie sehen, Augustinus war sehr interessiert daran, die Frage zu klären, zu welcher Art von Erkenntnis wir eigentlich fähig sind. Er glaubte also, dass die Frage, wer wir selbst sind, etwas mit der Fähigkeit zu denken, zu wissen, aber natürlich auch zu glauben zu tun hat. Ohne die Glaubensgewissheit, das ist die vielleicht wichtigste Botschaft hierbei, ist auch sonst nichts erkennbar von uns, jedenfalls nichts Wichtiges. Wir können vielleicht fühlen, so wie die Tiere Begierden haben, aber nichts wirklich erkennen.

Augustinus’ Gedanken wurden später eifrig aufgegriffen. Augustinus sagte nämlich nicht nur, dass wir Menschen als Ebenbilder Gottes Teil an göttlicher Erkenntnis und an göttlicher Wahrheit haben, sondern dass wir uns auch als Personen so auffassen sollten wie die drei göttlichen Personen, die ja in einer einzigen Person vereint sind. Das ist ein sehr schwieriges, spekulatives Modell, das die Philosophen dazu zwang zu überlegen, was ist nun eigentlich der Kern dieser Person. Was ist der Kern der göttlichen Person?

In Bezug auf Gott war die Frage schon durch das Neue Testament beantwortet: Der Kern ist die Substanz, die das Göttliche ausmacht. Also haben wir Menschen wohl auch eine Substanz. Substanzen sind nun etwas Allgemeines, Umfassendes, Totales. Wir Menschen sind aber Individuen. Wie kann das zusammengehen? Ein großes Problem, das Thomas von Aquin wie Weiland Alexander den Gordischen Knoten löste, er sagte einfach: Wir sind individuelle Substanzen, wir sind individuelle vernünftige Substanzen, das ist unsere Natur. Es gibt allgemeine, aber es gibt eben uns auch als individuelle Subtanzen.

Was trägt die Einsicht von Substanzen oder der eigenen Substantialität zum Verständnis des menschlichen Wesens bei? Nicht alle Antworten auf die Frage, wer wir sind oder was uns im Kern ausmacht, sind heute ohne weiteres nachvollziehbar. Was verstehen wir heute unter einer Substanz? Wahrscheinlich denken wir an so etwas wie Salz und Zucker, das man in Wasser geben kann und das sich darin auflöst. Oder wir denken an Metalle, an lösliche oder nichtlösliche Dinge, wir haben heute eine eher chemische Vorstellung von Substanzen.

Das war früher überhaupt nicht der Fall. Wie genau die Menschen damals Substanz gedacht haben, können wir zwar nicht mehr so einfach verstehen, aber wir können die einzelnen Ansprüche, die mit dem Wort Substanz einhergehen, noch nachvollziehen: Substanzen sind einfach, unteilbar, unzerstörbar und sie sind uns in dieser Weise so wie die Seele zurechenbar. Genau das haben in der Moderne doch viele Philosophen bezweifelt. Trotzdem finden wir noch bei Immanuel Kant, also im 18. Jahrhundert, einen Begriff der Substanz, der - zumindest hinsichtlich der allgemeinen Bestimmungen - noch immer mit dem von Thomas von Aquin übereinstimmt. Und vor allem finden wir bei Kant die Frage beantwortet, die uns hier am meisten beschäftigt, nämlich: Was macht denn nun den Menschen aus? Was ist seine Substantialität, sein eigentlicher Kern?

Kants große und bis heute tragende Antwort lautet: Die Einheit der Person besteht nicht in seiner äußeren Natur, nicht in Leistungen, die einen gewissen Gewinn bringen können. Die Einheit der Person ist durch die Ethik, die Autonomie, die Selbstherstellung gegeben. Wir Menschen machen uns zu Einheiten. Wir kommen nicht einfach als Einheiten auf die Welt, sondern wir müssen uns selbst zu solchen formen. Autonomie ist hier der Kerngedanke, Selbstbestimmung, Selbstgesetzgebung. So lautet Kants Antwort. Die Einheit der Person ist also nur durch Ethik, durch die eigene Moralität möglich. Der Kern von Kants Antwort ist der, dass wir Menschen als Zwecke an sich selbst, als Selbstzwecke existieren. Wir sind, so sagt er, nicht bloß Mittel für beliebige Zwecke, für beliebigen Gebrauch, obwohl wir das natürlich auch sind: Wir sind ja oftmals Mittel für andere, wenn wir anderen helfen; wir sind Mittel für die Nachkommen, wenn wir überhaupt Nachkommen haben wollen. Trotzdem sind wir immer primär Zwecke an uns selbst.

Nach Kant sind die Selbstzwecke – ähnlich wie die Substanz im Mittelalter und der Antike – unauflöslich, unzerstörbar. Diesen Gedanken jedoch in unser heutiges Leben zu übertragen, ist für uns mit großen Schwierigkeiten verbunden. Das Prinzip der Autonomie können wir gut begreifen, wir wissen, was damit gemeint ist, wir können uns klar werden über unsere eigene moralische Natur. Aber mit einem Aspekt dieses Gedankens kommen wir nicht zurecht: Kant hat die Autonomie sehr stark an die Leistungen unserer Vernunft gebunden. Was macht aber jemand, der nicht vernünftig ist, also z. B. ein geistig behinderter Mensch? Hat der etwa keine Würde?

Man findet bei Kant nicht immer die richtigen Antworten auf diese Problematik. Wir wollen doch heute auch einem behinderten Menschen die Würde nicht absprechen. Das ist ja gerade der Grund, warum wir uns heute überlegen, wer wir Menschen eigentlich sind. Wir wollen doch nicht nur über die Gesunden nachdenken, sondern auch über die Kranken, über die Behinderten, über die Schwachen. Da beginnt das Problem mit dem Autonomiegedanken. Wenn die Würde des Menschen an seinen intellektuellen Leistungen hängt oder sogar an sie gebunden ist, dann sagen wir heute, das ist uns zu wenig.

Außerdem taucht noch ein weiteres Problem auf in Bezug auf die Einheiten: Kant versuchte, den Determinismus der Natur zu verbinden mit der Freiheit. Freiheit und Determinismus, sagte er, lassen sich verbinden. In Kants Denken gibt es zwei verschiedene Arten der Verursachung: die Verursachung durch die Freiheit, die für die Autonomie entscheidend ist, und die Naturursachen, die für uns genau wie für andere Lebewesen bestimmend sind. Wie können wir diese beiden Arten der Verursachung miteinander verbinden? Das bereitet uns heute im Gegensatz zu Kant große Schwierigkeiten.

Aber immerhin, wir haben gesehen, es gibt eine ganze Reihe von Fragen und Antworten von der Antike bis in die Neuzeit hinein, die uns interessante Modelle anbieten, an denen wir uns orientieren können, wenn wir wissen wollen, wer wir selbst sind. Wir möchten vielleicht nicht allen Modellen heute in gleicher Weise nachgehen. Aber wir kennen doch jetzt Wege, wie wir zu uns selbst kommen.

Angefangen habe ich mit den Problemen, die sich heute stellen. Einige Antworten haben wir uns - rasch und in großen Sprüngen - angeschaut. Aber wir haben noch keine Antwort auf die Fragen gefunden, die mit dem Freiheitsproblem zusammenhängen.

Auch der Lebensschutz ist z. B. durch die Antworten, die Kant gegeben hat, nicht so ohne weiteres garantiert. Und selbst das Würdeproblem, das durch Kant einen wesentlichen Grundimpuls erhalten hat, ist immer noch offen. Ganz abgesehen von der Frage, was das Bewusstsein ist und wie sehr es das ausmacht, was wir selbst sind.

Wir sind also mit Kant nicht ans Ende gekommen. Wir müssen weiterdenken, wenn uns die Fragen, die wir gestellt haben, wichtig sind.


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SWR2 Aula - Wilhelm Vossenkuhl: Willensfreiheit ade
Aus der Reihe: Das Wesen des Menschen (2)
Sendung am Montag, 25.12.2006, 08.30 bis 9.00 Uhr

ÜBERBLICK 2

Nicht nur Darwin und Freud trugen dazu bei, dass das Bild vom Menschen als einem vernünftigen Wesen, das mit einem geistigen metaphysischen Kern und einem freien Willen ausgestattet ist, obsolet geworden ist. In unserer Gegenwart sind es vor allem die Gefährdung der Willensfreiheit durch die Hirnforschung, der extreme Individualismus, der das Wirtschaftsleben beherrscht, sowie die modernen Biotechnologien, die den Eindruck erwecken, dass es kein einheitliches Menschenbild mehr gibt, dass die Fixierung auf Vernunft und Geist nicht mehr trägt.

INHALT 2
Ansage:

Heute mit dem Thema: „Willensfreiheit ade – das Wesen des Menschen Teil 2“.

Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der LMU in München, beschäftigt sich heute im zweiten Teil mit der Moderne, die das traditionelle Menschenbild der Aufklärung ins Wanken gebracht hat. Verantwortlich sind dafür einerseits Darwin und Freud, die Theorien dieser beiden haben den Menschen –salopp gesagt- vom Sockel geholt und ihm gezeigt, dass man das mit der Vernunft und der Gottähnlichkeit nicht mehr so stehen lassen kann. Andererseits hat die aktuelle Hirnforschung diese Kränkungen fortgesetzt. Sie behauptet, der Mensch sei kein freies Wesen, das mit einem transzendentalen Kern ausgestattet sei.

Vossenkuhl zeigt nun im zweiten Teil, wie man das Prinzip der Freiheit trotz dieser Konzepte in unsere Zeit hinüberretten kann.

Wilhelm Vossenkuhl:

Die Frage, wer wir sind, wurde in der Geschichte der Menschheit immer wieder anders gestellt und auch unterschiedlich beantwortet. Aber sie wurde auch aufgrund von großen Gefährdungen, von Irritationen, von denen wir uns heute gar kein klares Bild mehr machen können, immer wieder neu gestellt.

Über die Sokratische Verunsicherung habe ich schon im ersten Teil gesprochen. Sokrates musste sterben, weil er die Menschen verunsichert hat. Es gab große Brüche im Weltverständnis der Menschen. Denken Sie an Kopernikus und wie sich durch ihn das Selbstverständnis des Menschen geändert hat in einer Welt, die nun nicht mehr im Zentrum des Weltalls steht, sondern die sich einfach um eine der vielen Sonnen dreht. Heute können wir die Verunsicherung der Menschen von damals kaum nachvollziehen. Im 15. Jahrhundert gab es keine allgemeine Schulbildung und deshalb konnte diese Botschaft nicht gleich alle Menschen erreichen. Das dauerte sogar ziemlich lange. Eigentlich kam sie auch erst in den Köpfen an, als im 19. Jahrhundert die allgemeine Schulbildung verpflichtend geworden ist.

Erneut ins Wanken kam das Selbstbildnis des Menschen im 19. Jahrhundert mit den Entdeckungen Charles Darwins. Charles Darwin hatte festgestellt, dass die Entwicklung allen Lebens auf unserem Planeten nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten abläuft. Selektion und Mutation sind die Stichworte. Also das bestimmende Prinzip ist nicht etwa ein göttliches Design oder eine andere vernünftige Kraft, nein, es ist das Überleben der Besten, die Selektion der Gene, wie wir heute sagen, die den Entwicklungsprozess bestimmen. Man hat die Prinzipien, die Darwin entwickelt hat, begierig aufgenommen, und es entstand sofort ein Streit sondergleichen. Natürlich haben die christlichen Kirchen gleich gemerkt, woher der Wind weht, und sie haben versucht, Darwin und den Darwinismus zu bekämpfen. Dieser Kampf ist übrigens bis zur Gegenwart nicht ganz beendet, so merkwürdig das klingen mag. Aber die aufgeklärten Theologen heute wissen natürlich, dass der Darwinismus kein wirklicher Angriff auf theologische Grundwahrheiten ist. Das göttliche Schöpfertum lässt sich nach wie vor vereinigen mit dem Darwinismus.

Darwin war nicht der Einzige, der das Selbstbild des Menschen auf den Kopf gestellt hat, der die Menschen gezwungen hat, über die Frage nachzudenken, wer sind wir nun eigentlich? Sind wir nur eine Art von Hominiden mit wenig Unterschieden zu dem, was vielleicht die nächsten Verwandten auf der Evolutionsleiter, die Schimpansen, sind? Es gab darauf ärgerliche Antworten, in denen bestritten wurde, dass der Mensch auch nur eine Art von Affe ist oder gar vom Affen abstammt.

Kaum war das Jahrhundert Darwins zu Ende, hat Sigmund Freud die Seelenlehre revolutioniert und uns Menschen erklärt, dass unsere Seele von Prägungen in der frühen Kindheit gebildet wird und dass diese Prägungen allesamt etwas mit der Sexualität zu tun haben. Ist das so? Die Frage ist bis heute unbeantwortet. Sie ist für uns heute zwar nicht mehr so wichtig, aber damals bedeutete sie doch ebenfalls eine enorme Verunsicherung unter den denkenden Menschen.

All diese Beispiele können Zeugnis dafür sein, dass frühere Selbstbilder des Menschen diese Angriffe nicht überlebten, dass sie nicht gefeit waren gegen diese Attacken. Das wäre die negative Lesart.

Man kann aber auch als moderner Rationalist argumentieren: Durch die Entwicklung der Wissenschaften – bei Darwin war es die Biologie, bei Freud die Psychologie – wurden frühere Menschenbilder entzaubert, ihnen wurde das Unerklärliche, Rätselhafte genommen, das bis dahin immer noch einen Teil ihres Wertes ausmachte.

Schon in der Antike wusste man, dass der Übergang vom mythischen zum vernünftigen Weltbild oder zu einem Weltbild, in dem die Begriffe, die von uns selbst formuliert und expliziert werden, eine Art von Entzauberung ist. Und die modernen Wissenschaften bedeuten allesamt die Entzauberung von früheren Weltbildern und Begriffsmustern.

Nun könnte man anmerken, ja, ist das nicht ein unvermeidlicher Zerfallsprozess, eine irreversible Entzauberung? Bedeutet diese Entzauberung nicht den Totalverlust des Selbstbildes? Zerfallen wir oder sind wir nicht schon zerfallen in lauter wissenschaftlich explizierbare Teilstücke? In Psychologie, Biologie, Physik? Gibt es nicht ein psychologisches, ein biologisches, ein psychologisches Menschenbild?

Die heutige Neurowissenschaft untersucht die kleinsten Einheiten des Gehirns, die Neuronen, von denen es über 200 Milliarden in unserem Gehirn geben soll, in einem so kleinen Raum, einer so kleinen Kapsel - eine unvorstellbare Zahl! Aber das sind die kleinsten Einheiten. Hinzu kommt noch die Vorstellung, dass diese Neuronen nicht wie Neutronen im Weltall einfach dahinschweben, sondern sie sind mit den andern Neuronen verkoppelt und bilden große Netzwerke. Über diese Netzwerke wissen wir zwar noch wenig, trotzdem können wir uns die Frage stellen: Ist das nicht eigentlich der Kern dessen, was wir sind? Ist nicht unser Gehirn das Beste an uns? Müssen wir nicht alle Kraft darauf verwenden, das Hirn zu verstehen, um uns selbst verstehen zu können? Es braucht niemanden zu wundern, wenn ein Experte anmerkt: Ja, genauso ist es, das ist das eigentliche Problem. Wie können wir unser Hirn verstehen? Das ist der Schlüssel.

Wenn es wirklich so wäre, dann sollte ich am besten an dieser Stelle abbrechen und jemand anderer sollte weitersprechen, ein Hirnforscher. Aber ich überzeugt, das ist nicht die Botschaft, das ist nicht das letzte Wort. Wir sind diejenigen, die Hirnforschung betreiben. Nicht ich persönlich – zugegebenermaßen-, ich meine, wir als Menschen. Wir sind diejenigen, die mit dem Gehirn arbeiten, so wie wir mit unseren Händen und Füßen arbeiten können. Wir stellen und steuern auch die Fragen, die mit der Hirnforschung verbunden sind.

Begeben wir uns gleich in das Zentrum des Problems: Was hat das Freiheitsproblem mit Hirnforschung zu tun? Vor wenigen Jahrzehnten wurden Versuche durchgeführt in der Psychologie, die zeigten, dass menschliche Körperbewegungen selbst dann, wenn sie beabsichtigt waren, im Gehirn vorbereitet werden. Es findet im Hirn ein messbarer physiologischer Prozess statt – man spricht vom Bereitschaftspotential. Dieser Prozess beginnt, bevor der Mensch absichtlich z. B. mit den Fingern schnippen will. 300 bis 200 msec bevor ich will, dass meine Finger schnippen, ist da im Hirn schon ein Bereitschaftspotential aktiv, das die Handlung vorbereitet.

Die Versuche dazu wurden von dem amerikanischen Wissenschaftler Benjamin Libet durchgeführt – man nennt sie deshalb auch Libet-Experimente. Benjamin Libet wusste nicht so recht, was er mit seinen Ergebnissen anfangen sollte. Auf keinen Fall wollte er die menschliche Freiheit gefährden. Trotzdem gibt es auch heute noch viele Wissenschaftler, die diese Versuche machen und zu dem Schluss kommen, dass die Freiheit eine Illusion ist. Denn wenn unser Handeln frei wäre, würde das bedeuten, dass unser Handeln einzig und allein durch unsere Absichten verursacht würde, nicht etwa durch etwas, was vorher schon stattfindet. Wenn aber die Absicht nicht die unmittelbare Ursache unseres Tuns ist, ist sie demnach nicht entscheidend. Und wenn die Absicht nicht entscheidend ist, ist die Freiheit tatsächlich gefährdet. Ein großes Problem, das heute kontrovers diskutiert wird.

Damit zusammenhängend taucht auch das uralte Determinismus-Problem wieder auf. Philosophen der Neuzeit sagten: Wenn die Welt physikalisch zu verstehen ist, nach physikalischen Grundsätzen, so wie Newton sie formulierte, muss wohl auch alles Handeln des Menschen determiniert sein, d. h. wir folgen einem Plan, ohne ihn zu kennen.

Wir erinnern uns: Schon Immanuel Kant hatte das Problem behandelt. Er war der Ansicht, dass wir als vernünftige Wesen ja auch die Naturgesetze formulieren, d. h. wir bestimmen die deterministischen Gesetze, und wenn wir sie benennen und bestimmen, bedeutet das, wir sind nicht Teil dieser Gesetze, sondern wir haben sie ausgedacht. Natürlich nicht in dem Sinne, dass wir sie in jeder Hinsicht einfach nur machen, aber wir haben sie doch formuliert, wir haben das mitgebracht, was zur Einsicht in diese Gesetze unabdingbar notwendig ist. Wie können wir da Teil dieser Naturgesetze sein? Kant glaubte also nicht, dass unser Denken, das was im Hirn passiert, von den Gesetzen, die wir selbst bestimmt haben, bestimmt wird. Er nahm das Denken also quasi heraus aus der Natur, nicht das Empfinden, nicht die Begierden, nicht das Handeln, sondern nur das Denken. Für Kant war die Ursache der Freiheit nur im Denken zu finden. Übrigens meinte er, dass diese Ursache nicht nachgewiesen werden könne. Es gibt also keine natürliche Evidenz für diese Freiheit. Es gibt nur eine Evidenz in unserem Selbstverständnis.

Das klingt nun wieder sehr interessant. Damit kann man zumindest den empirischen Psychologen gegenüber treten und sagen: Überlegt Euch doch mal genau, was meint Ihr eigentlich mit Denken, mit Bewusstsein? Ist das, was Ihr beobachtet im menschlichen Gehirn, etwa das Denken?

Schon Gottfried Wilhelm Leibniz meinte fast ein Jahrhundert vor Kant: Wenn man in das Gehirn hineingucken könne, würde man alles mögliche sehen können, nur nicht einen Gedanken. Und ähnlich hat auch Kant gedacht.

Sind das Gedanken, die man da im Gehirn entdecken kann? Oder ist Denken doch etwas anderes?

Mancher Psychologe würde sagen: Wenn wir nicht so ganz genau wissen, was Denken ist, nehmen wir einfach an, Denken ist so eine Art von emergierendem Etwas im Hirn. Es steigt etwas aus dem Hirn herauf, so ähnlich wie der Nebel aus den Tälern in dieser Jahreszeit. Das würde uns zwar bildlich etwas weiterhelfen, aber inhaltlich nicht wirklich.

Was ist eigentlich Freiheit? Was hat das mit unserem Gehirn zu tun? Freiheit ist ein Können. Freiheit ist ein Vermögen, das wir uns mühselig aneignen müssen im Laufe unseres Lebens. Das ist das eine. Und dieses Können ist natürlich verbunden mit unserer Natur. Es ist überhaupt nicht überraschend, dass das Können auch mit unbewussten Funktionen und Leistungen, auch denen des Gehirns zu tun hat. Denken Sie z. B. an die Fingerübungen, die ein Klavierspieler am Anfang machen muss. Das hört sich erst sehr unbeholfen an. Man muss an den Fingersatz denken, man muss alle Bewegungen ganz bewusst vollziehen. Erst wenn sich das Gelernte so als Können konsolidiert hat, dass wir es unbewusst ausüben können, erst dann haben wir doch die Freiheit, gut zu spielen auf einem Klavier. Und so ist es eigentlich mit allem: mit dem Gehen, aber auch mit dem Denken. Auch das Denken will geübt sein. Am besten erkennt man das an dem Spracherwerb. Wir erlernen eine Sprache und beherrschen sie erst dann, wenn die Regeln und die Bedeutung der Wörter uns so in Fleisch und Blut übergegangen sind, dass wir sie unbewusst, wann immer wir wollen, selbst im Traum benutzen können.

Freiheit ist also ein Können. Freiheit hängt nicht an der Frage, soll ich das jetzt so tun oder so tun. Man darf Freiheit nicht auf Wahlfreiheit verkürzen. Das tun wir sehr gerne, weil wir uns das sehr gut vorstellen können. Die Wahl zwischen Alternativen: Gehe ich ins Kino, gehe ich ins Theater, trinke ich Wasser, trinke ich Bier? Mit Freiheit haben diese Wahlakte relativ wenig zu tun. Wirkliche Entscheidungen, die Freiheit voraussetzen, kommen sehr selten vor. Wir denken an Dinge, die wirklich wichtig sind: die Wahl des Berufs, die Wahl des Lebenspartners usw.

Freiheit hat natürlich in moralischer Hinsicht auch etwas mit der Wahl zu tun. Aber wir wären völlig auf dem Holzweg, wenn wir glauben würden, dass in moralischen Entscheidung die Wahl immer ad hoc, hier und jetzt zu treffen ist. Nein, wir bereiten uns in der moralischen Entwicklung unseres Lebens auf die Wahlentscheidungen vor. Sie kommen nicht einfach von jetzt auf nachher. Wenn jemand einen Menschen vorsätzlich tötet, dann ist die Wahl, die er vor diesem Tötungsdelikt hatte, nicht erst entschieden worden, als er diesen Akt, für den er hoffentlich verurteilt wird, vollzogen hat. Nein, die Entscheidung liegt weit davor. Derjenige, der zum Mörder wird, wird das nicht in einer Sekunde. Er hat eine lange Geschichte.

Und das gleiche gilt für alle Menschen, die unter einer Sucht leiden. Die Entwicklung dahin ist lang, und die Wahlentscheidung wird nicht singulär an einem bestimmten Gabelungspunkt getroffen, sondern viele Entscheidungen sind dazu nötig. Es ist ja nicht das eine Glas Bier, das man zu irgendeinem Zeitpunkt zuviel getrunken hat, das einen zum Alkoholiker werden lässt. Nein, es sind die vielen Gläser davor, die Entscheidungen, die wir davor nicht oder falsch getroffen haben.

Also was wir tun, wenn wir mit unserem Gehirn arbeiten, ist sehr stark davon abhängig, dass uns Bereitschaftspotentiale in großer Menge zur Verfügung stehen. Hinzu kommt, dass wir Menschen von unserer Zukunft - Gott sei Dank - nichts wissen, wir sind sozusagen nicht belastet. Man nennt das heute Libertarismus. Auch das ist ein wesentlicher Aspekt unserer Freiheit. Stellen Sie sich vor, Sie wüssten, was in der nächsten Stunde alles passieren wird. Natürlich ist unser Leben nicht so aufregend, dass das unbedingt etwas Gewaltiges sein muss. Aber es ist doch möglich, dass ab und zu, vielleicht in der nächsten Stunde, im nächsten Monat oder im nächsten Jahr, etwas sein wird, wovon wir bis dahin keine Ahnung hatten, wovon wir uns im Moment gar keine Vorstellung machen können. Es wäre doch viel zu beängstigend, wenn wir alles wüssten. Wir würden uns wahrscheinlich gar nicht mehr trauen, das Haus, die Wohnung oder gar das eigene Bett zu verlassen. Das Unwissen über unsere Zukunft ist ein wesentlicher Teil unserer Freiheit. Wir sind in dieser Hinsicht glücklicherweise unvollkommen.

Also löst sich bei der Überprüfung der Frage, was ist Freiheit oder was verstehen wir unter dem Denken, dieser Vorwurf einiger Hirnforscher, die Freiheit sei ein Hirngespinst – im wahrsten Sinn des Wortes – so langsam in Wohlgefallen auf. Wir müssen einsehen, Freiheit ist ein Können, das meistens einen langen Lernprozess voraussetzt. Und dieser Prozess kann auch wieder rückgängig gemacht werden. Wer nicht mehr Klavier spielt, verlernt es wieder. Nicht ganz natürlich, man kommt leichter rein, wenn man es mal konnte, aber je älter wir werden, desto weniger Leistungen können wir erbringen. Wir können uns nicht mehr soviel merken. Als Jugendlicher lernen wir leicht eine Sprache, als Älterer schon nicht mehr. Jede und Jeder, die/der versucht, sich als Seniorin oder Senior noch eine Fremdsprache anzueignen, wird das schmerzlich erfahren. Ich spreche aus eigener Erfahrung. Wir müssen Freiheit so verstehen, dass zwischen den Einsichten der Psychologie und dem, was wir in unserem eigenen Denken, vor unserem eigenen Gewissen unter Freiheit verstehen, kein Widerspruch herrscht.

Wir können deshalb getrost den vielleicht wichtigsten Gedanken von Kant wieder aufgreifen: die Grundidee der Selbstbestimmung, der Selbstgestaltung. Es ist doch eine Sache, die uns dankbar stimmt, dass Kant uns sagte, wir Menschen sind für uns selbst verantwortlich, wir sind Selbstgestalter, wir müssen versuchen, autonom zu sein. Wir müssen aber bedenken, die reine vernünftige Autonomie, die Kant im Auge hatte, lässt sich so nicht realisieren. Dennoch verfügen wir über eine beschränkte Autonomie, über einen Spielraum, und den müssen wir ausloten und versuchen, ihn zu erweitern. Wir müssen sehen, dass wir auch die unbewussten Fähigkeiten beeinflussen können, dass wir etwas, was wir jetzt wollen, wenn wir es nur gut und lang genug wollen, tatsächlich auch realisieren können.

Was hat das nun zu bedeuten im Hinblick auf die Frage des Lebensschutzes und der Menschenwürde? Wir sehen, dass wir frei sind zu bestimmen, welches Leben geschützt wird, unter welchen Bedingungen es geschützt wird und wie wir es schützen können. Der Beginn des Lebens ist keine wissenschaftliche, empirische Tatsache. Nein, wenn wir den Gedanken der Selbstgestaltung ernst nehmen, müssen wir die Verantwortung für den Zeitpunkt übernehmen. Ist es die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle? Ist es die Einnistung des Embryos in einen Uterus? Ist es die Geburt? All das sind Möglichkeiten. Bei uns in Deutschland gilt qua Gesetz die erste Variante. Überzeugte Juden sind der Meinung, der Lebensschutz beginnt erst mit der Einnistung. Andere Völker, andere Kulturen haben wieder andere Entscheidungen getroffen. Wir gestalten uns also in unterschiedlichen Kulturen auf unterschiedliche Weise. Das ist ein wichtiger Punkt. Wir haben je nach Kultur unterschiedliche religiöse weltanschauliche Voraussetzungen. Die können wir nicht einfach ignorieren. Das gleiche trifft natürlich für das Ende des Lebens zu. Auch in dieser Hinsicht sind wir Selbstgestalter, auch da sind wir aufgerufen, uns zu entscheiden, wer wir sein wollen. Wann und wie soll z. B. die Hilfe beim Sterben erfolgen? In Deutschland ist aktive Sterbehilfe mit guten Gründen verboten. Aber es gibt die Möglichkeit der passiven Sterbehilfe. Menschen dürfen – und das ist sogar durch das höchste Gericht entschieden – ein Testament machen, in dem festgehalten wird, was sie nicht mehr wollen, wenn sie nicht mehr gefragt werden können. Dazu gehört z. B. Abschalten der lebenserhaltenden Maschinen auf Intensivstationen. Auch das ist ein Menschenrecht. Es gehört zur menschlichen Würde, darüber eine Entscheidung treffen zu können.

Wie wir Freiheit vernünftig, im Rahmen unserer Möglichkeiten verstehen können, führt uns zu einem realistischen Bild von uns selbst. Wir begreifen besser, wie wir uns selbst gestalten können und worauf es ankommt. Es kommt auf solche Fragen an. Natürlich nicht nur. Wir haben im Leben noch viele andere Probleme, und nicht jedes davon hat etwas mit dem Menschenschutz oder der Würde zu tun. Gott sei Dank, kann man nur sagen. Aber was immer wir für Probleme haben, letztlich haben sie alle zu tun mit der Frage, wer wollen wir sein. Auch die Berufswahl gehört dazu. Oder die Wahl des Lebenspartners. Oder die Überlegung, welche Kultur ist eigentlich die unsrige.

Wir werden noch sehen, es gibt weitere Probleme, für die der Hinweis auf die Selbstgestaltung nicht ausreicht. Sie betreffen z. B. unsere Existenz in der Wirtschaftswelt. Darüber muss gesprochen werden.

Aber zunächst einmal erkennen wir: Wir können uns entscheiden für die richtigen Möglichkeiten. Wir können ethisch wählen, diese Freiheit haben wir. Und wir sollten diese Freiheit nutzen. Wenn wir das nicht tun, verurteilen wir uns selbst zur Passivität und machen uns selbst ohne Not zu unfreien Wesen. Das wäre das Letzte, was wir mit unserer Freiheit tun sollten.


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SWR2 Aula - Wilhelm Vossenkuhl: Gemeinnutz geht vor Eigennutz
Aus der Reihe: Das Wesen des Menschen (3)
Sendung am Dienstag, 26.12.2006, 08.30 bis 9.00 Uhr

ÜBERBLICK 3

Für das menschliche Selbstverständnis ist ein einheitliches Selbstbild unverzichtbar. Anders lassen sich die Probleme des extremen Individualismus und der Multioptionsgesellschaft nicht lösen. Wo es ständig darauf ankommt, sich selbst zu verwirklichen und - je nach Kontext - neue Identitäten auszubilden, mündet die Freiheit schnell in Einsamkeit und Leere. Demgegenüber käme es darauf an, ein neues Selbstbild zu gewinnen, das dem Gemeinwohl wieder Vorrang vor dem Individualismus einräumt.

INHALT 3
Ansage:
Heute mit dem Thema: „Gemeinnutz geht vor Eigennutz- Das Wesen des Menschen, Teil 3“.

Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der LMU in München, reflektiert heute im dritten Teil seiner Reihe über unsere Zeit und unsere Gesellschaft, in der das Menschenbild vor allem von zwei Bereichen stark beeinflusst wird: Zum einen von den modernen Biotechnologien, die suggerieren, der Mensch könne sein körperliches und geistiges Design in Zukunft zum Teil selbst bestimmen, zum anderen durch die Idee des Individualismus, der Selbstverwirklichung propagiert und damit alternative Lebenskonzepte des Gemeinsinns ins Abseits drängt.

Vossenkuhl macht auf diese Gefahren aufmerksam und plädiert gleichzeitig für ein neues Menschenbild, das dem Gemeinwohl wieder Vorrang vor dem Eigennutz einräumt.

Wilhelm Vossenkuhl:

Wir Menschen sind geschichtliche Wesen. Jeder von uns hat eine Geschichte, und wir leben alle zusammen in Geschichten. Dieser Gedanke ist natürlich nicht neu. Augustinus hat sich in seinen „Confessiones“, in seinen Bekenntnissen, als erster, jedenfalls soweit wir das aus Dokumenten wissen, Gedanken über die Frage gemacht, wie wir in der Zeit stehen, wie wir Zeit denken, was für ein Zeitbewusstsein wir haben. Vor ihm hat schon Aristoteles über die Zeit nachgedacht. Für ihn bestand die Zeit aus den zählbaren Vorhers und Nachhers.

Augustinus teilte diese Ansicht nicht. Er meinte - und er hatte wohl recht -, dass unser Zeitbewusstsein darin besteht, dass wir Menschen, und nur wir Menschen, von der Vergangenheit wissen, an die Zukunft denken können und eine Gegenwart haben. Doch Augustinus ging noch weiter: Er hat eingesehen, dass wir diese drei Zeiten, die wir nur individuell denken können, auch zusammenfassen können in einem ganzen Zeitbewusstsein. Also: die Retentio (das Denken an die Vergangenheit), die Attentio (die Wahrnehmung des Gegenwärtigen) und die Protentio (die Gedanken an die Zukunft) sind versammelt in der Intentio, das, was wir als Gegenwart denken und erleben. Gegenwart ist also nicht der Jetzt-Zeitpunkt. Augustinus hat erstmals eine Struktur vorgestellt, die eine interessante und tiefgehende Antwort auf die Frage nach dem Zeitbewusstsein gibt.

Ich sagte, wir Menschen sind geschichtliche Wesen. Das bedeutet, wir sind Wesen, die mit diesem Bewusstsein leben, wir müssen sogar sagen, wir können nur mit diesem Bewusstsein leben und vor allem gut leben - unter entsprechenden Bedingungen. Denn wir können uns nur als geschichtliche Wesen wahrnehmen. Wir können uns nur durch die eigene Geschichte als einzelne Person erkennbar machen, für uns selbst, aber auch für andere. Wenn ich also frage, wer bin ich, dann schaue ich auf meine eigene Geschichte.

Nun ist aber die Geschichte nicht einfach der Prozess, in dem wir stehen und in dem der heutige Tag morgen und gestern ist. Sondern die Geschichte beinhaltet auch die geschriebene Geschichte, die Erinnerung, die von Historikern zu Papier gebracht worden ist. Historiografie ist das Stichwort. Das ist quasi eine Geschichte für sich und nicht die, die wir gerade erleben. Deswegen hat man seit der Antike einen sinnvollen Unterschied gemacht zwischen der Historiografie, also dem Schreiben der Geschichte, und dem Erleben und Machen der Geschichte. Die Res Gestae ist das, was jetzt passiert, was die Regierung tut, was wir selbst machen, die Dinge, die jetzt zu tun sind, die wir jetzt anpacken. Und die Historia Rerum Gestarum ist das, was Experten nach entsprechendem Studium der Quellen und Dokumente aufschreiben.

Wir brauchen beides und sind als geschichtliche Wesen von beidem abhängig. Ohne die Geschichtsschreibung wissen wir herzlich wenig über uns selbst. Natürlich gibt es über die eigene Lebensgeschichte keine Historiografie, jedenfalls ist das bei den meisten von uns so. Es sei denn, man ist berühmt, dann erscheint eine Biografie, noch bevor man das Zeitliche gesegnet hat. Glücklicherweise trifft das auf die Mehrzahl von uns nicht zu. Sehr beruhigend! Dennoch: Wir wissen von uns selbst gar nichts, wenn wir keine Kenntnis darüber haben, in welche Kultur, in welches Land, in welche Gesellschaft wir eigentlich gehören. D. h. wir müssen, wenn man es ernst betrachtet, Geschichte lesen, Geschichte betreiben, um zu verstehen, wer wir sind.

Wenn ich sage, wir Menschen sind geschichtliche Wesen, beinhaltet das eine große Doppelbödigkeit. Dazu folgende Überlegung: Derjenige, der zum ersten Mal hört oder liest, dass er als Deutscher Teil einer Geschichte und einer Diktatur ist, die in den Jahren 1933 bis 1945 für die bisher größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte verantwortlich ist, der wird wohl ein anderes Bild von sich haben als z. B. ein Schweizer, der sich überlegt, wie steht eigentlich die Schweizer Geschichte zu mir oder wie stehe ich zu ihr. Wir erkennen daran, die Frage hat eine Doppelbödigkeit, der wir nicht ausweichen können. Die menschliche Identität ist wandelbar, je nach dem, welchen geschichtlichen Kontext man heranzieht.

Aber ich will noch eine weitere Doppelbödigkeit aufgreifen: Es gibt immer neue Antworten. Und das ist wirklich irritierend. Während meines eigenen Geschichtsstudiums las ich zuerst einmal die Geschichte des 19. Jahrhunderts von einem großen Historiker aus München namens Schnabel. Er ist längst tot. Diese Geschichte ist heute nicht falsch, aber 30 Jahre später kam ein anderer Historiker namens Nipperdey. Auch er hat ein Buch über die Geschichte des 19. Jahrhunderts geschrieben, aber er hat etwas getan, was für uns heute von erstaunlicher Aktualität ist. Er hat uns die Geschichte viel näher gebracht, als Schnabel das in den 50-er Jahren tun konnte. Also auch die Geschichtsschreibung muss immer wieder neu ansetzen, neue Aspekte herausgreifen.

Ich erzähle das deswegen, weil ich Ihnen verdeutlichen möchte, wie schwer es ist, irgendetwas zu finden an unserem eigenen geschichtlichen Wesen und an der Geschichtlichkeit unseres Lebens und Daseins, was absolut ist, statisch verankert werden kann und auf Ewigkeit Gültigkeit besitzt.

Das ist ein bisschen beängstigend, finde ich, denn man würde doch annehmen, was übrigens der eine oder andere Historiker auch getan hat, dass irgendwann einmal das letzte Wort gesprochen ist zu einer geschichtlichen Epoche. Offenbar stimmt das nicht. Geschichte muss anscheinend immer wieder neu geschrieben werden, auch die des Nationalsozialismus. Aber vor allem – und das ist wichtig für uns – wir können diese Geschichte nicht einfach ignorieren. Natürlich sind wir in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus heute nicht Täter, wir sind meistens nicht mal verwandt mit irgendwelchen Tätern. Aber das spielt keine Rolle. Wenn wir wissen wollen, aus welcher Geschichte wir stammen, aus welche Konstellationen unser jetziges Dasein resultiert, dann kommen wir nicht umhin, uns dieser Erinnerung und ihrer Problematik zu stellen. Wir dürfen nicht einfach unsere Augen vor der Vergangenheit schließen. Wer das tut, hat wirklich keine Zukunft.

Zurück zu Augustinus: Die Strukturierung des Zeitbewusstsein, die uns erstmals durch Augustinus angeboten wurde, eröffnet uns einen unverzichtbaren Zugang zu uns selbst. Wir können uns nicht vorstellen, dass es irgendeine Zeit geben könnte, in der Menschen sich ihrer Geschichte, aus der sie individuell oder als Volk und Gesellschaft stammen, nicht stellen wollen oder können. Geschichte ist wichtig für die Identität des Einzelnen und des Kollektivs.

Aber es gibt andere Fragen, die uns heute beschäftigen, die scheinbar nichts mit der Geschichte bzw. der menschlichen Fähigkeit zur Geschichte zu tun haben. Diese Fragen knüpfen an das an oder gefährden es sogar, was wir im letzten Vortrag unter dem Thema „Freiheit“ besprochen haben. Sie alle haben vermutlich von der Entschlüsselung des Humangenoms gehört. Eine unvorstellbare große Fülle von Kombinationen menschlicher Gene wurde analysiert und dokumentiert. Es gibt sogar Plakate zu kaufen, auf denen diese Auflistung des Genoms illustriert wird. Die meisten von uns haben zwar keinerlei Verständnis für das, was man darauf sieht. Aber man kann doch ungefähr erkennen, aha, das ist das Ergebnis der Analyse.

Wozu wurde diese Analyse überhaupt gemacht? Zum einen, weil man natürlich verstehen will, wie die Kombinationsmöglichkeiten der Gene aussehen, um z. B. zu untersuchen, welche Gene für welche Krankheiten verantwortlich sind, um diesen Krankheiten besser auf die Spur zu kommen, sie vielleicht sogar zu heilen.

Heißt das, wir sind auf dem Weg zur genetischen Selbstbestimmung? Viele Kranke, die keine Aussicht auf ein gutes Leben haben, die keine Freiheit haben, werden das hoffen. Umstritten ist die Genetik dennoch, denn die Forschung geht über viele Straßen, eine davon ist die Forschung mit Stammzellen, die aus menschlichen Embryonen gewonnen werden. Stammzellen lassen sich nur durch den Prozess der Entkernung gewinnen. Entkernte Eizellen können sich aber nicht weiterentwickeln, das heißt, die Embryonen sterben. In Deutschland ist diese Forschung, wie im zweiten Teil der Reihe schon gesagt, sehr umstritten. Das wäre nicht so, wenn für uns der Lebensschutz – wie das z. B. in Israel der Fall ist – erst mit der Nidation, mit der Einnistung der Eizelle in der Gebärmutter beginnen würde. Aber das ist eine Frage, die im Moment jedenfalls für uns müßig ist, denn unser Gesetzgeber hat nun mal anders entschieden.

Jedenfalls sehen wir, der Weg zur genetischen Selbstbestimmung bringt uns unweigerlich auch zum Thema, wie und ob man mit embryonalen Stammzellen arbeiten kann. Genetische Selbstbestimmung, Sieg über Erbkrankheiten, Entlastung von den Geiseln der Menschheit, den vielen Krebsarten – ist das nicht etwas, was wir uns zutiefst wünschen müssen? Wir hoffen im medizinischen Bereich auf hilfreiche und positive Lösungen, aber es wäre naiv, sich nicht auch die Kehrseite der Medaille zu vergegenwärtigen:

Genetische Selbstbestimmung beinhaltet ja nicht notwendigerweise nur den Sieg über Erbkrankheiten, sondern man könnte sich auch vorstellen, wie z. B. äußere Merkmale des Menschen veränderbar wären. Vielleicht wäre man selbst oder wären unsere Kinder dann besser dran? Wer wollte nicht, dass seine Kinder schön, intelligent, erfolgreich, gesund sind? Der eine oder andere möchte gar zu gerne mal ein blondes Kind haben. Oder einen Jungen. Oder ein Mädchen. Kann man solche Wünsche nicht auch inzwischen unter die Rubrik „genetische Selbstbestimmung“ einordnen?

Leider muss man sagen, hat sich diese Art der genetischen Selbstbestimmung in manchen Kulturen schon etabliert. Es gibt Länder, in denen in sogenannten Abtreibungskliniken nur weibliche Föten abgetrieben werden. Das ist ein schreckliches Vorgehen, das wirklich verboten sein sollte!

Aber wie verhält es sich mit dem Wunsch nach blonden Kindern? Ist das nicht ein einfacher, moralisch unumstrittener Wunsch? Ich glaube nicht. Diese Art von Versuch am Menschen ist für meine Begriffe nicht nur fragwürdig, sondern sogar verwerflich. Denn ein Schritt in diese Richtung öffnet Tür und Tor für ganz andere gefährliche Wege. Man könnte sich ja auch vorstellen, dass man Menschen braucht, die resistent und robust genug sind, um in strahlenverseuchten Umgebungen zu arbeiten. Wäre so ein Mensch nicht genetisch herstellbar?

Es gäbe also sicherlich einige Möglichkeiten, die wir besser nicht versuchen zu realisieren. Trotzdem müssen wir anerkennen, dass die Entschlüsselung des menschlichen Genoms diese Art von genetischer Selbstbestimmung zumindest denkbar gemacht hat. Und sie hat noch weitere Probleme aufgeworfen. Denken Sie nur an die Frage, was muss eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer in einer chemischen Fabrik an Voraussetzungen mitbringen, um dem Unternehmen möglichst wenig Kopfzerbrechen zu bereiten? Ist es nicht sinnvoll, in einer Chemiefabrik nur diejenigen Bewerber einzustellen, die nicht anfällig sind für bestimmte chemische Substanzen, die keine Allergien haben? Es wird bald vielleicht einen genetischen Test geben. Wäre es nicht sinnvoll, vielleicht sogar vernünftig, jeden potentiellen Kandidaten, der sich für eine Arbeitsstelle in gesundheitsgefährdenden Umgebung interessiert, erst entsprechend zu testen?

Nein. Ich glaube, dass das die Selbstbestimmung des Menschen, die ich im zweiten Teil ausgeführt habe, erheblich beschneiden würde. Die freie Berufswahl etwa, die zu dieser Selbstbestimmung gehört, wäre sicherlich nicht mehr möglich. Die Person, die Pilot oder Stewardess werden möchte, könnte aufgrund ihrer genetischen Disposition diesen Beruf nicht mehr ergreifen. Wollen wir das wirklich? Ich glaube das nicht. Wir sollten vielmehr daran festhalten, dass für uns die freie Selbstbestimmung Gültigkeit hat: Wir können uns frei entscheiden, welchen Beruf wir wollen.

Wir stellen also fest, die Gewinnmöglichkeiten, die durch die Entschlüsselung des Humangenoms entstanden sind, sind gekoppelt an potentielle Verluste unserer Freiheit. Und weil das so ist, sind wir mehr als zu irgendeiner Zeit vorher dazu aufgerufen, die Grenzen der Freiheit zu überprüfen. In welcher Gesellschaft, in welcher Welt wollen wir eigentlich leben? Wollen wir in einer Welt leben, in der die genetischen Dispositionen verfügbar sind, in der wir instrumentalisiert werden können? Wollen wir uns von genetisch veränderten Pflanzen ernähren? Es ist ja heute schon möglich, dass Pflanzen durch genetische Veränderung resistenter gegenüber Schädlingen gemacht werden. In manchen Ländern werden diese Pflanzen angebaut, ohne dass getestet wurde, ob sie eine Gesundheitsgefahr für den Menschen darstellen oder nicht. Es gibt interessante Experimente mit Mäusen und Ratten, die zeigten, dass gentechnisch veränderte Erbsen durchaus gesundheitsgefährdend sein können. Wollen wir in einer Welt leben, in der aus wirtschaftlichen Gründen gentechnisch veränderte Pflanzen im Supermarkt verkauft werden, ohne dass wir es wissen? Bedeutet das nicht auch eine Einschränkung unserer Freiheit? Wir sehen, der Weg von der Gentechnik zur Beschneidung unserer Freiheit ist ein gerader Weg, ebenso gerade wie der Weg von der Entschlüsselung des Humangenoms zur Beseitigung von Erbkrankheiten.

Wir sind noch nicht soweit, Erbkrankheiten heilen zu können. Wir hoffen noch darauf. Ähnlich wie die Menschen, die an Parkinson leiden, hoffen, dass die Forschung an embryonalen Stammzellen auch dieses Problem einmal lösen wird. Natürlich dürfen wir hoffen, und wir sollten das auch. Und die Forschung soll auch die Freiheit haben, neue Therapieformen zu entwickeln.

Als ich die Überlegungen zu unserer geschichtlichen Existenz, zu unserem geschichtlichen Selbstverständnis vorbereitete, sprach ich davon, dass wir Menschen keine Zukunft ohne Vergangenheit haben. Ein Gedanke übrigens, der u. a. von Heidegger geäußert wurde. Wir müssen uns durch die Geschichte selbst verstehen, und ich habe dazu Beispiele erläutert. Aber das geschichtliche Verständnis unserer selbst hat auch mit der Frage zu tun: Was ist unsere Gegenwart? Was ist die Zeit, in der wir leben, was ist unsere Zeit? Wir leben in einer Zeit, in der der Erfolg und die Gesundheit das A und O sind. Wir denken nicht so gerne an die Schwachen. Das belastet uns. Wir erleben eine Art zentrifugaler Bewegung, eine Art Beschleunigung der Zeit, in der die Schwachen an den Rand gedrängt werden. Natürlich ist das auch ein Effekt unserer Technologien. Aber wir sollten diese Auswirkung nicht einfach hinnehmen. Die Vergewisserung der eigenen Gegenwart hängt mit der Frage zusammen, welche Gesellschaft wir wollen, welches Leben wir führen wollen.

Die Beispiele aus der Gentechnik, über die ich vorhin sprach, sind nicht die einzigen. Wenn man den gesellschaftlichen Hintergrund betrachtet, der für uns Menschen heute so wichtig geworden ist, dann gibt es da ein leitendes Stichwort: den Individualismus. Der zeigt sich darin, dass wir uns, wenn wir krank werden, selbst bestimmen wollen, wir wollen etwa detailliert über die therapeutischen Möglichkeiten aufgeklärt werden. Aber der Individualismus geht sehr viel weiter. Wir wollen nämlich immer mehr. Es wird uns sogar in den Bildungsprozessen vermittelt, dass Leistung zählt, dass Leistung das Primäre ist, denn sie ist die Basis für das eigene Fortkommen. Ist das die Lösung der Probleme der Gegenwart? Ist es das, was wir anstreben sollten, geht es nur um Selbststeigerung, Selbstausbeutung?

Der moderne Individualismus drückt sich vor allem im Marktgebaren der Menschen aus. Es gilt als eine Art von Naturgesetz, dass wir Menschen immer mehr wollen. Ist das wahr?

Schon Karl Marx hat sich mit dieser Frage beschäftigt und ihr eine eindeutige und klare Absage erteilt. Ich glaube, wir sollten uns zumindest an dieser Einsicht von Marx heute wieder neu orientieren. Ist der Individualismus, ist der Einzelne das A und O? Oder ist es nicht die Gemeinschaft, das Ganze? Ist der Gewinn, den ich mache, wichtiger als das Gemeinwohl? Wohl kaum, wir können gar nicht Individualisten sein, ohne dass es eine Gesellschaft gibt, die uns das erlaubt. Also müssen wir uns doch jetzt, was die Vergewisserung über die eigene Gegenwart angeht, ernsthaft neu der Frage zuwenden, wie steht es um das Gemeinwohl? Es ist doch seit Aristoteles so, dass das Ganze in vieler Hinsicht einen Vorrang haben muss vor den einzelnen Teilen. Natürlich müssen auch die Teile, die Individuen, ihr Recht haben, ihren Freiraum – aber doch nicht zu jedem Preis.

Mein Thema war heute, wie wir uns selbst verstehen können, wer wir selbst sind. Wir sind geschichtliche Wesen, die nur in Gemeinschaft sinnvoll und gut leben können. Natürlich nicht in jeder Gemeinschaft, aber in der, die wir selbst wählen und vor allem auch gestalten können.

***Das Leben in der Gemeinschaft bietet uns allein nur eine Chance zur Selbstgestaltung. Nur da gibt es Freiheit. Sonst nirgendwo.***

.. wenn es um Patientenautonomie, Sterbehilfe, Organspende geht..

Ethik-Paternalismus (Vossenkuhl)

SWR2 Wissen: Aula-Wilhelm Vossenkuhl: Gegen den eigenen Willen . Die Ethik des Paternalismus (1-2)
Autor: Professor Wilhelm Vossenkuhl*
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 23. August 2009, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

* Zum Autor:
Wilhelm Vossenkuhl, geboren 1945, studierte Philosophie, Neuere Geschichte und
Politikwissenschaft in München. 1972 Promotion zum Dr. phil. an der Universität
München;1980 Habilitation. Seit 1993 hat Vossenkuhl den Lehrstuhl für Philosophie
1 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München inne. 2004-08 Mitglied des
Beraterkreises „Hochschulentwicklung 2020“ der Landesregierung Baden-
Württemberg, seit 2009 Ehrenmitglied der Sokratischen Gesellschaft.
Forschungsschwerpunkte: Praktische Philosophie und Handlungstheorie,
Grundlagen der Ethik, Philosophie der Sozialwissenschaften.
Buchauswahl:
- Philosophie für die Westentasche. Piper-Verlag.
- Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21. Jahrhundert. Beck-Verlag.
- Ludwig Wittgenstein. Becksche Reihe Denker.
- Stammzellenforschung und therapeutisches Klonen (zusammen m. Oduncu u.a.).
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.

ÜBERBLICK
Als paternalistisch wird eine Handlung bezeichnet, die gegen den Willen, aber auf das Wohl eines Anderen gerichtet ist, wenn sie also die Freiheit dieser Person einschränkt, um diese vor sich selbst zu schützen. In diesem Sinne wäre das Rauchverbot ein paternalistisches, weil es die Raucher vor sich selbst schützt. Paternalistische Normen und Probleme gibt es besonders im medizinischen Bereich, wenn es um Patientenautonomie, Sterbehilfe, Organspende geht. Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der Universität in München, erläutert in zwei Teilen Grundlagen und Probleme der paternalistischen Ethik.

INHALT
Thema: „Gegen den eigenen Willen - Die Ethik des Paternalismus“,

TEIL 1 - 2
Ansage:
Wilhelm Vossenkuhl ist Professor für Philosophie an der Maximilians-Universität in
München und er wird heute und am nächsten Sonntag das Prinzip und die Probleme
des Paternalismus behandeln. Als paternalistisch gilt eine Handlung, die gegen den
Willen, aber zugleich auf das Wohl eines Anderen gerichtet ist, also wenn man etwa
Freiheitsrechte einer Person einschränkt, um diese gegen sich selbst zu schützen.
Das Rauchverbot ist in diesem Sinn ein paternalistisches.
Paternalismus ist nun kein Thema, an dem man sich wunderbar im akademischen
Elfenbeinturm abarbeiten kann, es betrifft alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche,
das Arzt-Patient-Verhältnis, das Bürger-Staat-Verhältnis, das Eltern-Kind-Verhältnis.
Hören Sie nun also den ersten Teil von Wilhelm Vossenkuhl, in dem er beschreibt,
welche Arten es von Paternalismus gibt und warum dabei das Vertrauen eine
zentrale Rolle spielt-
Wilhelm Vossenkuhl:
Seit vielen Jahren wird, teilweise heftig und engagiert, über die Frage diskutiert, wie
das Verhältnis zwischen Ärztinnen und Ärzten auf der einen und Patientinnen und
Patienten auf der anderen Seite eigentlich aussehen sollte. Sie werden denken,
eigentlich ist das doch längst geregelt: Wir Patienten – ich zähle mich dazu- gehen
zum Arzt und der Arzt tut das, was er tun soll, nämlich uns helfen, möglichst heilen
usw.
So einfach ist es leider nicht, denn mir als Laien ist häufig unklar, was der Arzt
macht, welche Therapie er mir vorgeschlagen hat und wie das zu verstehen ist; auf
der anderen Seite ist natürlich die Ärztin oder der Arzt gehalten, mir die bestmögliche
Behandlung zukommen zu lassen. Das Bestmögliche schließt jedoch auch ein, was
der Arzt für das Beste hält. Das ist also eine recht komplizierte Angelegenheit. Man
spricht in diesem Zusammenhang häufig von „Paternalismus“.
Was bedeutet dieser Begriff? „Pater“ heißt Vater. Es handelt sich offenbar auch um
ein väterliches oder mütterliches Verhältnis zu Erwachsenen. Sie erinnern sich
vielleicht, als Sie noch klein waren, dass Ihre Mutter oder Ihr Vater sagte: „Zieh dich
doch warm an“, vor allem im Winter, „damit du nicht krank wirst.“ Oder: „Zieh deine
Handschuhe an, du frierst bestimmt an den Händen.“ Naja, man hat dann die
Handschuhe angezogen, ist rausgegangen und hat sie sich trotzig wieder
ausgezogen, nach dem Prinzip, „das geschieht der Mutter ganz recht, wenn ich
friere“.
So ähnlich verhält es sich bei der Arzt-Patienten-Beziehung. Das ist ein
asymmetrisches Verhältnis, ein Verhältnis zwischen einem gut informierten
Menschen – dem Arzt, der Ärztin auf der einen Seite, während wir Laien meist
weniger gut informiert sind, wir verstehen vieles einfach nicht richtig
Worum geht es nun eigentlich beim Paternalismus? Per definitionem ist
paternalistisches Verhalten, wenn es das Wohl einer Person, z. B. eines Patienten,
fördert, unabhängig davon, was diese Person selbst will. Das ist also so ähnlich wie
bei dem Kind mit den Handschuhen im Winter. Dahinter verbergen sich ganz
problematische Aspekte. Darf man denn überhaupt jemandem zumuten, dass man
etwas für eine Person entscheidet, unabhängig davon, was diese Person selbst will?
Die Philosophen stehen natürlich sofort auf den Barrikaden. Sie sagen, hier wird
doch die Wahlfreiheit, vielleicht sogar die Willensfreiheit und Autonomie der Person
eingeschränkt – oder zumindest wird diese Einschränkung in Kauf genommen. Sie
sehen schon, da gibt es Abstufungen, Grade. Es ist gar nicht so einfach, diese Grade
genau zu unterscheiden, aber grob können wir zwei Gruppen von Fällen
unterscheiden: starken und schwachen Paternalismus.
Was ist schwacher Paternalismus? Viele Menschen, die im Krankenhaus liegen und
ärztliche Hilfe dringend benötigen, sind bewusstlos. Sie werden bewusstlos
eingeliefert, sind vielleicht schon lange bewusstlos und können selbst nichts mehr
entscheiden. In solchen Fällen ist es doch ganz klar und scheinbar ohne Probleme,
wenn ein Arzt über die Behandlung entscheidet. Man geht vom „mutmaßlichen
Willen“ einer Person aus.
Was ist denn nun „mutmaßlicher Wille“? Ursprünglich stammt dieser Begriff aus der
Jurisprudenz und bedeutet: Der mutmaßliche Wille einer Person ist das, was eine
rationale Person (also eine Person, die bei Verstand ist, die Bewusstsein hat, die in
der Lage ist, ihre Zukunft zu planen, die entscheidungsfähig ist) gewollt hätte, wenn
sie gefragt worden wäre. Wir kennen das aus den Debatten über
Patientenverfügungen. Man kann sich übrigens streiten, ob das paternalistisch ist
oder nicht – der Bundestag hat kürzlich entschieden, dass Patientenverfügungen
gelten. Das heißt, wenn Sie oder ich eine Patientenverfügung unterschreiben, in der
geregelt wird, was passieren würde, wenn wir verunfallen, nicht mehr bei
Bewusstsein sind, auch nicht mehr auf die Frage „was sollen wir denn nun anfangen
mit Ihnen?“ antworten können- dann wird das gemacht, was in der Verfügung drin
steht, koste es, was es wolle, egal was das menschliche Empfinden oder die
ärztlicher Seite oder Angehörige einbringen könnten. Es wird das gemacht, was die
Patientenverfügung sagt.
Es ist auch eine Art von Paternalismus, wenn ich als betroffene Person, die nicht
mehr reden kann, einfach so behandelt wird, als hätte ich eine Art von mutmaßlichem
Willen. Man nimmt an, mein mutmaßlicher Wille besteht darin, ich würde auf jeden
Fall an meiner Patientenverfügung festhalten – auch wenn ein Arzt sagen würde,
wenn die Verfügung missachtet würde und der Patient beispielsweise nicht im Sinne
der Verfügung behandelt wird, so könnte er vielleicht überleben. Das ist also kein
einfaches Thema.
Was ist nun aber der starke Paternalismus? Dabei wird ausdrücklich gegen den
Willen einer Person entschieden, zum Beispiel von Erziehungsberechtigten. Es gibt
Fälle, die in der Rechtsprechung nachlesbar sind. Zum Beispiel ein berühmter Fall,
den alle Studentinnen und Studenten der Rechtswissenschaften irgendwann im
Laufe ihres Studium zu Gehör bekommen, nämlich das Problem der Blutspende bei
den Zeugen Jehovas. Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas ist der
Überzeugung, dass Blutspenden von fremden Personen für die eigenen Kinder aus
religiösen Gründen nicht richtig sind. Nun kann es sein, dass Kinder von Zeugen
Jehovas eine Blutspende dringend benötigen. Was passiert dann? Dürfen die Eltern,
also die Erziehungsberechtigten für diese Kinder, also paternalistisch, entscheiden,
dass ihre Kinder keine Blutspende bekommen? Unsere Rechtsprechung sagt ganz
klar: Nein. In diesem Falle übernimmt der Staat die Haftung bzw. anstelle des
Staates die Ärztinnen und Ärzte, die sagen, dieses Kind braucht unbedingt eine
Blutspende, und egal was die Eltern sagen, es bekommt diese Blutspende. Hier
haben wir es mit einem starken Paternalismus zu tun. Der Staat interveniert, egal
was die Personen, in dem Fall die Zeugen Jehovas, will oder nicht will.
Ein weiterer Fall betrifft alle Autofahrer: die Anschnallpflicht im Auto. Das ist starker
Paternalismus. Zu Beginn wollten viele der Gurtpflicht nicht nachkommen, denn sie
waren der Ansicht, sie seien sehr viel mehr gefährdet durch den Gurt. Einige haben
Unfälle tatsächlich überlebt, weil sie keinen Gurt anhatten, andere haben genau aus
dem gleichen Grund nicht überlebt. Wir wollen darüber nicht streiten, jedenfalls ist
das ein Beispiel für starken Paternalismus. Ein drittes Beispiel: das Rauchverbot.
Was heißt diesbezüglich starker Paternalismus? Wird der Raucher vor den
gesundheitlichen Schäden bewahrt? Nein, natürlich nicht, denn der Raucher darf
sich frei entscheiden, er darf sich selber schädigen, das wird ihm nicht verboten.
Aber es wird Nichtrauchern quasi verboten, dass sie den Rauch einatmen, egal ob
sie wollen oder nicht. Es kann ja sein, dass Leute – zum Beispiel, weil sie mit
Rauchern befreundet sind – sagen, ich nehme das in Kauf, ich möchte gerne mit
meinem Freund oder Freundin in die Kneipe gehen, ich bin zwar selber Nichtraucher
und gezwungenermaßen Mit-Raucher, aber das macht mir nichts aus. Gegenüber
diesen Personen gibt es in diesem Fall einen starken Paternalismus.
Oder ein anderes, etwas illustres Beispiel für starken Paternalismus: Am 15.
Dezember 1981 hat das Bundesverwaltungsgericht Peep Shows verboten. Eine
Peep Show ist eine Show, bei der der Zuschauer, fast immer sind es Männer, in
kleinen Kabinen einer nackten Frau zuschauen, die sich räkelt oder tanzt oder was
auch immer. Das wurde verboten mit dem Argument, dass die Frauen gegen ihre
Würdepflicht verstoßen. Wir haben natürlich eine Menschenwürde, aber haben wir
auch eine Würdepflicht? Ich bin mir nicht sicher, ob das Bundesverwaltungsgericht in
dem Urteil so richtig entschieden hat, zumindest muss man ein großes Fragezeichen
dahintersetzen, immerhin haben diese Frauen ja freiwillig gehandelt, und wenn man
schon Peep Shows verbietet, was ist dann mit Prostitution? Müsste man nicht
Frauen, die sich prostituieren, auch davor schützen, dass sie ihre Würde in dieser
Weise missbrauchen oder ihr nicht gerecht werden?
Das sind ziemlich viele Fragen, aber konzentrieren wir uns wieder auf das Arzt-
/Patienten-Verhältnis, darum ging es ja von Anfang an. Wie sollte das eigentlich
geregelt sein? Es gibt mehrere Prinzipien, eines davon ist die Autonomie
(Selbstbestimmung) des Patienten. Unter Patientenautonomie ist zu verstehen, wenn
ich als Patient eine bestimmte Behandlung, eine Injektion oder eine Transfusion zum
Beispiel, nicht möchte, dann bekomme ich sie auch nicht. Patientenautonomie
bedeutet also einfach das, was ich will. Demgegenüber stehen Prinzipien, die die
Pflichten des Arztes betreffen: Er soll mich vor Schaden bewahren, er soll mich
möglichst heilen, er soll mir nützen usw. Diese zwei Gruppen von Prinzipien stehen
sich gegenüber. Welche Gruppe hat nun mehr Gewicht?
Viele Menschen – auch Kollegen der Rechtswissenschaften – denken, die
Patientenautonomie trumpft alles andere. Wenn der Patient sagt: „Das will ich nicht“,
und der Arzt meint: „Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie sich selbst schaden
und dass Sie mich in Gewissenskonflikte bringen, weil ich als Arzt Ihnen rate, lassen
Sie sich unbedingt operieren oder nehmen Sie unbedingt dieses Mittel“, dann gibt es
keine andere Lösung: Die Patientenautonomie setzt sich durch. Ist das wirklich in
Ordnung? Eigentlich ist es doch das Ziel der ganzen Überlegungen zum
Paternalismus, dass wir in der Lage sind, mit einem einzigen Prinzip klar und deutlich
zu sagen, wie man diesen Paternalismus verhindert, wie man also verhindert, dass
Ärzte „über meinen Verstand hinaus“ für mich, zu meinem Wohl entscheiden, was ich
gar nicht verstehe und vielleicht auch gar nicht will.
Um die Patientenautonomie zu „verbriefen“, wurde die sogenannte „informierte
Zustimmung“ eingeführt. Was heißt das? Sie werden das alle schon einmal erlebt
haben: Sie kommen zum Arzt oder in eine Klinik und bekommen ein Schriftstück
vorgelegt, das Sie unterschreiben sollen und in dem Sie allem zustimmen, was
darauf steht, was Sie wahrscheinlich bei dem schnellen Lesen gar nicht richtig
verstanden haben. Ich verstehe es jedenfalls meistens nicht, ich unterschreibe aber
trotzdem. Ich willige also in ein noch schwaches paternalistisches Verhältnis ein,
aber ich weiß nicht genau, worum es geht. Die informierte Zustimmung ist für mich
als Laien eigentlich eher eine Floskel, eine Art Feigenblatt, das die Möglichkeit einer
Entscheidung über meinen Kopf hinweg, zumindest was die Rechtsverhältnisse
angeht, vermeiden soll. Informierte Zustimmung ist also Vermeidung eines
paternalistischen Verhältnisses, zumindest im rechtlichen Sinne.
Ist damit das Arzt-Patienten-Verhältnis geklärt? Wird Paternalismus dadurch
vermieden? Wir wissen nun, es geht um ein paar Prinzipien. Prinzipien sind für uns ja
meist etwas mühselig zu bewältigen. Was also tun? Als Philosoph empfehle ich,
nach einem gemeinsamen Nenner der verschiedenen Prinzipien zu suchen. Ich will
einen Versuch wagen und schlage als gemeinsamen Nenner „Gerechtigkeit“ vor. Wie
komme ich darauf? Es geht nicht um ein Gleichheitsprinzip oder um übersetzte
Gleichheit oder etwas ähnliches. In diesem Fall definiere ich Gerechtigkeit
folgendermaßen: Gerecht ist das, was ich mir als Person und anderen schulde; was
bin ich mir schuldig, was sollte ich im Hinblick auf meine Würde usw. tun und was
sollte ich anderen gegenüber tun, was schulde ich ihnen – Aufmerksamkeit, Hilfe
usw. Das ist eine sehr sehr allgemeine, nicht besonders scharfe, dafür aber auf viele
Fälle schön anwendbare Definition von Gerechtigkeit.
Wenn wir nun diese Gerechtigkeit als gemeinsamen Nenner setzen, dann sieht man,
dass man diese Art der Auffassung von Gerechtigkeit sowohl im Hinblick auf die
Patienten und Patientinnen anwenden kann als auch im Hinblick auf den Arzt. Wenn
wir gerecht sind, dann tun wir das, was wir uns selber schulden und was wir anderen
schulden. Der Arzt schuldet mir Aufmerksamkeit, er schuldet mir die Einhaltung des
Prinzips der Schadensvermeidung, des Wohlförderns usw., und ich schulde mir
selbst natürlich die Selbstbestimmung. Man könnte doch sagen, das klingt wie eine
schöne Übereinkunft, wie ein guter gemeinsamer Nenner. All das sind ja
Gerechtigkeitsverhältnisse.
Aber natürlich ist die Sache damit nicht gelöst. Der Konflikt besteht weiterhin, und der
Vorschlag, Gerechtigkeit als gemeinsamen Nenner zu nehmen, ist ein Versuch, den
Konflikt besser in den Griff zu bekommen. Natürlich kann man sich fragen, wozu wir
das überhaupt tun sollen. Ist es nicht viel wichtiger, darüber zu reden, worum es
konkret geht: Gesundheitsvorsorge, das Vermeiden von Schäden usw.? Sicher,
eigentlich wäre das der erste Schritt, aber wir können uns nicht einfach in eine Klinik
begeben und sehen, was in der Intensivstation passiert. Wir müssen statt dessen
über Prinzipien reden.
Wir machen es jetzt mal ganz einfach: Wir haben zwei Prinzipien – die
Schadensvermeidung (das Wohl lassen wir beiseite, weil das ziemlich schwierig ist)
und die Selbstbestimmung (des Patienten). Legen wir diesen beiden Prinzipien
Gerechtigkeit als gemeinsamen Nenner zugrunde, würde das den Konflikt lösen?
Zunächst einmal wird der Konflikt überhaupt erst richtig sichtbar. Denn was gerecht
aus Sicht des Arztes ist, ist nicht identisch mit dem, was ich als Patient als gerecht
erachte. Gerechtigkeit kann also unterschiedlich betrachtet werden. Auf der einen
Seite steht der Arzt, der mich vielleicht nachdrücklich darauf aufmerksam macht,
dass ich Schaden nehmen könnte, wenn ich eine bestimmte Therapie nicht mache,
auf der anderen Seite stehe ich als Patient und überlege, ob ich dieser Behandlung
zustimmen soll oder nicht. Wenn ich meinen Arzt kenne und ihm vertraue, werde ich
seinem Rat sicherlich eher folgen. Und hier kommt eine neue Perspektive ins Spiel:
Vertrauen. Darauf haben Sie vielleicht schon gewartet, denn Vertrauen ist das A und
O, es verbindet die beiden Seiten: also Arzt und Patient. Die Gerechtigkeit selbst tut
das nicht, denn sie wird ja je nach Sichtweise unterschiedlich definiert. Wenden wir
uns also dem Vertrauen zu.
Jeder von uns, der schon einmal in einer Klinik war, wird sich stirnrunzelnd
überlegen, wie es eigentlich möglich ist, mit den Klinikärzten ein Vertrauensverhältnis
aufzubauen, zumal der Patient die Klinik in der Regel so schnell wie möglich wieder
verlassen will. Außerdem gibt es genaue Untersuchungen darüber, wie viele
verschiedene Ärztinnen und Ärzte der normale Patient, vor allem derjenige, der auf
der Intensivstation liegt, an nur einem einzigen Tag sieht! Wie soll da ein
Vertrauensverhältnis entstehen? Besser sieht es beim Hausarzt oder der Hausärztin
aus. Es gibt also prinzipiell ein Vertrauensverhältnis. Und das ist eigentlich des
Pudels Kern in der ganzen Problematik: Wie können wir das Vertrauen herstellen?
Die Leute, die die informierte Zustimmung erfunden haben, waren der Ansicht, auf
diese Weise würde – zumindest auf dem Papier – eine Art Vertrauensverhältnis
hergestellt. Heute weiß man aufgrund mehrerer Untersuchungen, das ist nur
vermeintlich so. Vertrauen ist durch informierte Zustimmung nicht herstellbar.
Lassen Sie uns nochmal zurückgehen zu den Prinzipien. Ich habe Ihnen die
Gerechtigkeit als gemeinsamen Nenner für die Ärzte- und Patientenprinzipien
vorgestellt und bin dann recht schnell zum Vertrauen übergegangen. Gehen wir noch
einen Schritt zurück. Meistens wird, das hatte ich vorhin schon angesprochen,
zugunsten der Patientenautonomie entschieden – so als wäre sie eine Art
Trumpfkarte, ein Oberprinzip. Wenn wir aber Gerechtigkeit als Prinzip für beide
Seiten anerkennen, dann kann Patientenautonomie nicht länger als Trumpfkarte
gelten. Dennoch bleibt natürlich das Prinzip erhalten. Was meine ich damit?
Wenn wir Vertrauen haben wollen, dann kann es nicht sein, dass ein Prinzip das
andere trumpft. Es kann auch nicht sein, dass die Ärzteschaft, die in dem Fall ja
potentieller Gegner ist, immer bestimmt. Genauso wenig kann es sein, dass die
Patientenautonomie immer trumpfen darf. Also wird wohl das Vertrauensverhältnis
nur einher gehen können mit einer Art Balance zwischen den beiden
Prinzipiengruppen. Wie könnte man diese Balance denn herstellen? Natürlich nur
durch wechselseitiges Vertrauen. Aber wie kann man das herstellen?
In Großbritannien, und da gibt es eine ganze Menge Untersuchungen dazu, hat man
sogenannte „hearings“ durchgeführt, in denen beide Seiten zusammengebracht
wurden zu Gesprächen. So hat man herausgefunden, warum das gegenseitige
Vertrauen so schwierig ist. Aber Vertrauen ist eigentlich etwas, über das man per
defintionem gar nicht reden kann. Denn Vertrauen ist so ähnlich wie Sympathie oder
Liebe – man bekommt es geschenkt, das bietet man an, das sind freie Akte. Und
eine ganze Menge von diesem Vertrauen ist ja gar nicht bewusst. Manchmal
vertrauen wir sogar Menschen, die wir kaum kennen, aber in der Regel braucht es
Zeit.
Ohne die Gewissheit, dass Arzt und Patienten einander vertrauen können – und das
ist die Quintessenz –, ist das Verhältnis nicht in Balance, auch die Prinzipien nicht.
Wenn wir Vertrauen herstellen – durch bessere Kenntnis, durch Austausch, durch
Kommunikation –, dann merken wir so langsam, es ist durchaus möglich, dass wir
uns selbst und einander gerecht werden im Arzt-Patienten-Verhältnis.
Klar ist, wenn das nicht möglich ist, wenn wir uns nicht in dieser Weise gerecht
verhalten, wenn wir kein Vertrauen zueinander aufbauen können, dann ist echte
Gerechtigkeit nicht denkbar, dann sind letztlich die ganzen Prinzipien unwichtig, denn
die allein bewirken gar nichts. Sie sehen, das A und O bei der Lösung des
Paternalismus-Problems, vor allem des schwachen Paternalismus, ist das Vertrauen.
Ohne das geht es nicht.

*****
TEIL 2

Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der Universität in München,
erklärte im ersten Teil seines Vortrags, was Paternalismus genau ist, wie er unser
gesellschaftliches Leben bestimmt und wo die Probleme liegen. Paternalistisch sind
prinzipiell solche Handlungen, die die Freiheit einer Person einschränken, um diese
letztlich vor sich selbst zu schützen.
Im zweiten Teil geht es um die völkerrechtlichen Aspekte, etwa um die Frage, ist es
gerechtfertigt, wenn ein Staat in eine Diktatur eingreift, den Diktator tötet, um dann –
eventuell gegen den Willen der Bevölkerung – eine Demokratie einzuführen.
Vorbilder aus der Realität für solches Handeln sind der Irak oder Serbien.
Hören Sie also nun den zweiten Teil von Vossenkuhl über den Paternalismus und
das Völkerrecht.
Wilhelm Vossenkuhl:
Vielleicht erinnern Sie sich noch an dieses merkwürdige Wort „Paternalismus“, der
Begriff leitet sich vom vaterschaftlichen Verhältnis zu Kindern ab, meistens prägen
jedoch die Mütter dieses Verhältnis. Ein solches Verhältnis existiert auch zwischen
Patienten und Ärzten und genauso zwischen Völkern und Staaten. Es geht hier um
das Wohl eines Volkes, unabhängig davon, was dieses Volk selber will. Also: andere,
dritte Staaten beschließen, dieses Volk braucht das und das und bekommt es jetzt
auch, ob es will oder nicht. Das betroffene Volk hat keine Wahl. Es wird die
Wahlfreiheit eingeschränkt.
Man kann sich fragen, ob der Wille des Volkes nicht unerheblich ist, solange nur zu
seinem Wohl entschieden wird. Allerdings gibt es dabei einige Aspekte zu
berücksichtigen, z. B. die Souveränität des Volkes, die ja damit in Frage gestellt wird.
Souveränität heißt, die Integrität, die Unberührbarkeit eines Volkes wird in allen
Punkten gewahrt, Grenzen werden nicht überschritten, es werden keine
Zwangsmaßnahmen gegen dieses Volk eingeleitet usw. Es soll nicht gegen den
Willen eines Volkes gehandelt werden, das ist die Idee einer Volkssouveränität, eine
Idee, die sich über Jahrhunderte entwickelt hat. Inzwischen, das muss man leider
feststellen, wird die Idee der Volkssouveränität in Frage gestellt.
Lassen Sie uns zunächst wieder zwischen schwachem und starkem Paternalismus
unterscheiden. Gibt es das überhaupt, auch im Verhältnis der Völker untereinander?
Ja, das gibt es. Man kann das Wohl eines Volkes, unabhängig von seinem eigenen
Willen, fördern, dann nämlich, wenn das Volk selbst nicht in der Lage ist, selber zu
entscheiden, wenn es zum Beispiel in Agonie ist durch ein Ereignis, ein Naturereignis
wie ein Tsunami oder ein Erdbeben.
Man hat auch angenommen, dass Völker nicht so genau wissen können, was zu
ihrem Wohle gut wäre und deshalb gibt man ihnen dies und jenes. Das ist die Idee
der Entwicklungshilfe. Da gibt es einige köstliche Beispiele: etwa die Lieferung von
Schneefahrzeugen durch die damalige Sowjetunion an das afrikanische Ghana.
Ghana liegt ziemlich nah am Äquator. Solche Auswüchse kann Entwicklungshilfe
auch annehmen. Das ist jedenfalls eine schwache Form des Paternalismus – wenn
auch eine ziemlich unsinnige.
Starken Paternalismus finden wir beim Stichpunkt: Kolonialisation. Um den starken
Paternalismus soll es bei unseren heutigen Überlegungen gehen. Er liegt zum
Beispiel dann vor, wenn aufgrund von bestimmten Ereignissen in einem Land ein
anderes oder vielleicht sogar eine Gemeinschaft von anderen Ländern interveniert,
direkt militärisch oder indirekt durch Sanktionen. Sie werden sofort an die
entsprechenden Fälle denken, denn von denen gibt es ja wahrlich genug.
Als stark paternalistisch ist das Verhalten der intervenierenden Staaten zu
bezeichnen, weil sie davon ausgehen, ihr Handeln diene dem Wohle der Menschen.
Gleichzeitig wissen sie, dass sie gegen die Regierungen dieser Länder agieren, denn
diese Regierungen unterdrücken ja die Bevölkerung. Und sie wollen doch diese
armen Menschen von dem Unrechtsregime befreien.
Bevor eine Intervention stattfindet, wird das geplante Vorgehen meist erst in der
Staatengemeinschaft, in der Regel bei den Vereinten Nationen in New York,
diskutiert. Es geht dabei um Fragen wie: Was ist denn das Wohl, ist das Wohl
wirklich gefährdet, handelt es sich tatsächlich um einen Unrechtsstaat, was will die
Bevölkerung. Der mutmaßliche Wille eines Volkes ist also auch maßgeblich,
allerdings nicht in einem streng rechtlichen Sinne, aber man könnte doch annehmen,
alle Menschen, egal wo sie leben – ob in Alaska, im Iran oder in Deutschland – legen
großen Wert darauf, dass ihre Menschenrechte eingehalten werden. Manche
Menschen kennen gar keine Menschenrechte; wir jedoch wissen zum Beispiel, wie
unsere Würde verletzt wird. Wir wissen nie so ganz genau, wie Würde eingehalten
wird, aber wir wissen ganz genau, wann die Würde verletzt ist. In den internationalen
Verhältnissen sind die Menschenrechte das A und O.
Überall auf der Welt werden Menschenrechte verletzt, übrigens bei uns auch. Wir
dürfen also nicht immer nur auf die anderen zeigen. Nehmen wir ein paar Beispiele,
die direkt deutlich machen, worum es geht. Im folgenden Fall wird die
paternalistische Seite nicht so recht griffig. Ich werde Ihnen gleich erklären, warum.
Ich rede von der Frauenbeschneidung in Afrika. Es gibt im ganzen nord-, west- und
östlichen Bereich, sowohl in muslimischen wie auch in christlichen Staaten
(Äthiopien), die Frauenbeschneidung. Meistens werden diese Rituale von Frauen an
jungen Mädchen durchgeführt, ohne jegliche hygienischen Maßnahmen werden den
Mädchen die sekundären Geschlechtsmerkmale, die Schamlippen mit Glasscherben
oder ähnlichem entfernt. Warum? Diese Frauen sollen davor bewahrt werden – quasi
zu ihrem Wohl –, dass sie sexuell interessiert sind am Geschlechtsverkehr. Die
Kinder, die sie auf die Welt bringen, sollen möglichst nur von ihrem eigenen
Ehemann sein, das Kinderkriegen sollte im Clan stattfinden, kein fremder Mann sollte
in der Lage sein, eine Frau zu schwängern. Oft werden noch die Schamlippen
vernäht usw., aber wir wollen nicht in die Einzelheiten gehen. Warum ist das nun ein
Thema für Paternalismus? Denn die Frauen stimmen der Beschneidung zu, das
heißt, die Mütter für ihre Töchter. Was soll daran nun problematisch sein?
Wir haben es hier wahrlich mit einer ganzen Fülle von Menschenrechtsverstößen zu
tun. Erstens geht es um nicht zustimmungsfähige Kinder, zweitens wird der
Lebensschutz missachtet dadurch, dass keine hygienischen Maßnahmen ergriffen
werden. Das sind schon zwei gravierende Verstöße gegen die Menschenrechte.
Frauenbeschneidung ist, egal wie viele der Frauen dafür sind, ein Verstoß gegen die
Menschenrechte. Niemand wird natürlich dafür argumentieren, dass aus diesem
Grunde direkt interveniert wird. Aber es gibt Möglichkeiten, indirekt einzugreifen,
indem man die Regierungen dieser Länder dazu bringt, dass sie per Gesetz die
Frauenbeschneidung verbieten. Inzwischen ist das teilweise auch geschehen durch
Druck, vor allem wirtschaftlichen Druck. Trotzdem werden Frauenbeschneidungen
nach wie vor vorgenommen. Es gibt sogar Frauenbeschneidungen in der
Bundesrepublik Deutschland. Es gibt Ärzte, die Mädchen – allerdings unter den
notwendigen hygienischen Maßnahmen und nicht lebensgefährdent – beschneiden.
Natürlich ist das strengstens verboten, aus den Gründen, die ich bereits geschildert
habe.
Hier haben wir es mit einem negativen Paternalismus und mit einem Verstoß gegen
Menschenrechte zu tun. Es verbluten jährlich viele Frauen, die genaue Zahl ist nicht
bekannt. Andere sind lebenslang verstümmelt, sie leiden unter Schmerzen, sie
können viele Dinge, die zu unserem Leben gehören, nicht genießen, vor allem nicht
die Sexualität. Wir haben es hier also mit einem wirklich gravierenden Problem zu
tun.
Aber normalerweise, wenn es um militärische Intervention geht, die verhindern soll,
das etwas zum Nachteil einer Bevölkerung passiert, haben wir es mit Ansprüchen
der Demokratie zu tun. Die Argumente lauten: Die Demokratie in Ländern wie etwa
im Irak, in Afghanistan, auf dem Balkan, in Nordkorea, in Birma bzw. Myanmar ist
gefährdet oder verhindert oder es gibt Unrechtsregime, und man muss überlegen,
was man dagegen tun kann.
Im Fall des Irak hat man offenbar nicht lange überlegen müssen. Die Vereinigten
Staaten haben gemeinsam mit Großbritannien und einigen anderen Ländern –
glücklicherweise haben nicht alle europäischen Staaten mitgewirkt – beschlossen zu
intervenieren. Sie haben den zweiten Irak-Krieg begonnen. Was daraus geworden
ist, wissen wir inzwischen: eine ziemlich üble Geschichte, ein Unrecht wurde quasi
mit einem anderen Unrecht abgegolten bzw., Hunderttausende von Toten sind die
Folge. Die Frage ist: War das wirklich berechtigt? Das Morden setzt sich immer noch
fort. Inzwischen ist klar, dass es sich um einen Religionskrieg handelt zwischen zwei
Gruppen von Muslimen. Hat sich das in irgendeinem Sinne, der auch nur in die Nähe
der Ansprüche von Demokratie gebracht werden kann, gelohnt?
Manche mutmaßen, dass die Vereinigten Staaten vor allem ihr Interesse am
Erdölvorkommen in der Region sichern wollten. Das ist nicht ganz unwahrscheinlich,
denn man hat im Irak mit Militär interveniert, während in Nordkorea, wo die
Unterdrückung flächendeckend ist und wahrscheinlich nicht unmenschlicher als im
Irak, bisher nicht eingegriffen. Dort gibt es offensichtlich kein Öl. Nun könnte man
etwas zynisch fragen, warum wohl im Irak, aber nicht in Nordkorea interveniert wird.
Aber lassen wir das beiseite.
Es gibt weitere Beispiele: Afghanistan. Hier sind wir selbst betroffen, weil unsere
jungen Soldaten dort sterben. Ich will den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan
nicht in Frage stellen, nein, ich bin überzeugt, dass die Soldaten, nicht nur die
deutschen, genauso auch die amerikanischen, dort zum Wohle des Landes agieren.
Dennoch muss man sich fragen dürfen, welche Gründe eigentlich für diesen Einsatz
sprechen. Welche Gründe sprechen dafür, dass wir dort eine militärische Präsenz
unterhalten? Ist diese Art Paternalismus wirklich berechtigt? Dient er dem Wohle des
Volkes?
Wir werden am Schluss nochmal überlegen müssen, wie das Wohl eines Volkes
überhaupt gefördert werden kann. Es gibt andere Beispiele, die mindestens genauso
schwierig sind wie die, die ich gerade angesprochen habe. Denken Sie an den
Balkankrieg. Das war das erste problematische Beispiel einer militärischen
Intervention. Man wollte den Krieg zwischen zwei Nachbarn verhindern bzw. man
wollte die weitere Eskalation verhindern, weil ganz offensichtlich immenses Unrecht
geschehen ist von Serben an Kroaten und an muslimischen Bewohnern in der
Region und umgekehrt. Man wollte dem einen Riegel vorschieben und vor allem die
muslimische Minderheit in Serbien schützen vor Übergriffen von Serben.
Es ist bis heute eine rechtlich offene Frage, ob diese Art von militärischer Intervention
wirklich berechtigt war. Auch da, ähnlich wie im Irak, gibt es Folgeprobleme. Es
befinden sich immer noch Soldaten vor Ort. Experten sind der Ansicht, dass sich
ohne die militärische Präsenz von Staaten wie dem unsrigen das Morden fortsetzen
würde. Das Ziel der militärischen Intervention, nämlich die Herstellung
demokratischer Verhältnisse, wird also offenbar nicht erreicht.
Ein weiteres Beispiel müsste uns eigentlich die Schamröte ins Gesicht treiben: der
Völkermord in Darfur im Sudan. Nicht weniger als 400.000 Tote sind dort inzwischen
zu beklagen, die die sudanesische Regierung zu verantworten hat. 2,5 Millionen
Menschen sind bisher vertrieben worden. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
in New York konnten sich noch nicht dazu durchringen zu intervenieren. Ein
Zusammenschluss afrikanischer Staaten hat zwar eine kleine Schutztruppe in den
Sudan geschickt, aber die ist nicht wirklich in der Lage, das Töten zu stoppen. Die
mordende Junta ist weiter aktiv, und die Soldaten der Schutztruppe sterben, weil sie
nicht ausreichend versorgt werden. Eigentlich ein Skandal, ein Skandal nicht ohne
doppelten Boden. Denn es gibt eine Nation, die bisher verhindert hat, dass der
Sicherheitsrat eine Resolution gegen den Sudan beschlossen hat, nämlich China.
Man muss annehmen, dass China Interesse an dem Öl im Sudan hat. Das ist also
eine analoge Situation zum Irak.
Wie können wir nun das Problem des Paternalismus angesichts der genannten
Beispiele lösen? Einerseits wünschte man sich im Hinblick auf den Sudan
paternalistische Intervention, um das Morden zu stoppen, denn offensichtlich wahrt
dort niemand die Interessen der Menschen. In anderen Fällen würde man gerne
rückgängig machen, was im paternalistischen Sinne, je nach dem, wie man
argumentiert, schwach oder stark paternalistisch, passiert ist. Natürlich werden die
Amerikaner sagen, das war schwach paternalistisch, denn die Mehrheit der
Bevölkerung im Irak wollte die Intervention. Die Iraker würden wahrscheinlich
argumentieren, das ist stark paternalistisch, denn von uns hat niemand die
Vereinigten Staaten gerufen – was wahrscheinlich auch so ist.
Gibt es überhaupt gute vertretbare Gründe für militärische Interventionen, also für
stark oder schwach paternalistische Handlungen von einer Völkergemeinschaft
gegenüber einer anderen? Welches Volk hat überhaupt das Recht, das Wohl eines
Volkes unabhängig von dessen eigenem Willen zu fördern? Die Völkergemeinschaft,
die Vereinten Nationen und dort vor allem der Sicherheitsrat, hat eine Art
völkerrechtliche Regelung, die sagt, wenn Völkermord geschieht, dann muss
militärisch interveniert werden. Das heißt, starker Paternalismus ist dann auf jeden
Fall vonnöten, selbst wenn die Mehrheit der Bevölkerung dagegen wäre. Gleiches gilt
bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nun, man weiß nicht so ganz genau, was
eigentlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind. Mit einer Ausnahme: Die
massenhafte Ermordung von Juden, Sinthi, Roma, Kriegsgefangener usw. im
Zweiten Weltkrieg sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das ist klar. Das sind
übrigens Verbrechen, die niemals verjähren. Deswegen kann man heute auch noch
ziemlich alte Verbrecher der damaligen Zeit aburteilen. Darüber ist man sich einig. In
einem solchen Fall sind Interventionen erlaubt oder sogar geboten. Offenbar hat man
im Zweiten Weltkrieg diese Regelung noch nicht verbindlich gesehen. Die
Konzentrationslager, die unsere deutsche Geschichte für immer belasten, wurden
nicht aufgehoben, es wurde nicht interveniert.
Also was berechtigt ein Volk, bei einem anderen zu intervenieren. Man könnte auch
sagen, jedes Volk hat die Regierung, die es verdient. Das klingt verdammt zynisch.
Würde man wirklich sagen wollen, die Nordkoreaner haben ihr Regime verdient? Wie
soll denn das verstanden werden? Ist das nicht blanker Zynismus? – Ja, ich glaube
schon. So kann man das nicht stehen lassen. Heißt das dann, dort dürfte man
intervenieren? Ein bisschen langsam, bitte, so schnell geht das nicht. Das
Völkerrecht sagt ganz eindeutig, man darf nicht einfach eingreifen; auch wenn man
Beweise dafür hat, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden, ist
das noch kein Grund, um die Souveränität eines Landes zu ignorieren. So einfach ist
das nicht.
Vielleicht vermuten Sie, ich bin schon wieder auf dem Weg zu einer Art von Balance.
Das vermuten Sie zurecht, aber es ist nicht so leicht, diese Balance genau zu
beschreiben. Doch dazu später. Lassen Sie uns erst überlegen, ob es überhaupt
durchschlagende Gründe gibt. Ich glaube, es gibt keine besseren als die, die die
Vereinten Nationen schon als solche akzeptiert haben, nämlich Völkermord und
Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Was noch? Für schwachen Paternalismus
habe ich schon ein paar Beispiele genannt: Wenn zum Beispiel ein Tsunami mit
Tausenden von Toten ein Land heimsucht und die Regierung nicht in der Lage ist,
der Bevölkerung zu helfen, dann muss die internationale Gemeinschaft helfen. Das
ist schwach paternalistisch, das heißt, die Mittel, mit denen geholfen wird, müssen
nicht unbedingt dem Willen derer, denen geholfen wird, entsprechen.
Wir haben aber mehr Beispiele von starkem Paternalismus diskutiert, mit
militärischer Intervention. Gibt es nicht eine Art von Ungleichheit zwischen
demokratischen und nicht-demokratischen Staaten? Wir haben ja die interessante
Situation, dass niemand die Volksrepublik China international kritisiert, weil zum
Beispiel in Tibet, Zhejiang oder in anderen Teilen dieses Riesenreiches
Menschenrechte unterdrückt werden. Das ist doch eigentlich merkwürdig, dass wir im
Westen nicht die Moralkeule schwingen und sagen, wir machen mit Euch keine
Geschäfte mehr, bis Ihr nicht die Rechte der Menschen in Tibet und Zhejiang
respektiert. Die Chinesen sagen nämlich folgendes: „Was ihr unter Menschenrechten
versteht, ist nicht das gleiche wie das, was wir unter Menschenrechten verstehen.
Und dazu haben wir das Recht.“
Wir haben es also mit einem kulturellen Relativismus zu tun. Relativismus ist zwar für
viele ein Schimpfwort, aber es ist nicht in jedem Fall etwas Schlechtes. Kulturelle
Relativität ist eine ganz klare Sache, man trägt halt nicht überall auf der Welt
Lederhosen. Es gibt also Relativitäten, die völlig in Ordnung sind. Aber gibt es bei
Menschenrechten tatsächlich Relativismus? Wenn es das gäbe, wenn also die
chinesischen Argumente stimmen würden, wenn sie sagen würden, was in Tibet
passiert ist kein Menschenrechtsverstoß, sondern die Menschenrechte werden dort
bewahrt nach dem Motto, die Tibetaner werden davor bewahrt – zu ihrem Wohle
natürlich – , dass sie einen Fehler machen und zum Beispiel das chinesische Reich
verlassen. Nein, so kann man nicht argumentieren. Menschenrechte sind
Menschenrechte, da gibt es nichts zu relativieren.
Aber ist das ausreichend Grund, um die Souveränität zu verletzen? Ähnlich bei der
Frauenbeschneidung. Da gibt es keine Relativität , das ist nicht so etwas wie
Lederhosen tragen. Es werden Menschenrechte verletzt, also kann man das nicht
einfach ignorieren. Und wenn man mit Staaten, in denen Menschenrechte nicht
respektiert werden, Geschäfte macht, begeht man selber einen schweren Fehler,
zumindest in moralischer Hinsicht, rechtlich kann man das natürlich niemandem
ankreiden.
Lassen Sie uns auf die Balance zu sprechen kommen. Ähnlich wie bei der
paternalistischen Situation zwischen Arzt und Patient haben wir es hier mit einer
Situation zu tun, in der es eigentlich, wie zum Beispiel im Irak, nicht wirklich sinnvoll
ist zu ignorieren, was die Menschen selbst, denen man doch so gerne etwas zu
ihrem eigenen Wohl angedeihen lassen würde, wollen. Wenn man die Souveränität
eines Volkes nicht wirklich achtet, auch wenn es schwer fällt, kann man wohl kaum
annehmen, dass man irgendwann einmal mit diesem Volk ein gleichgestelltes
Verhältnis haben wird. Wir müssen doch davon ausgehen, ähnlich wie wir das im
Hinblick auf die kolonialisierten Völker gelernt haben, dass es eigentlich besser
gewesen wäre, man hätte sie nicht kolonialisiert, sondern ihnen die Chance
gegeben, sich langsam selber auf das Niveau der Moderne zu entwickeln – wenn sie
das gewollt hätten. Man hätte ihnen also eigentlich die Möglichkeit geben sollen zu
tun, was sie selbst wollen. Nicht überall, wo interveniert wurde und vielleicht werden
wird, ist die Gefahr für die Menschen so groß, dass man wirklich berechtigt
interveniert. Ist es nicht ein höheres Gut, erst einmal nach dem Willen der Menschen
zu fragen, nach Möglichkeiten zu suchen, wie sie selbst aus einem Unrechtssystem
herauskommen können. Geht es den Irakern heute wirklich besser als vor dem
ersten oder zweiten Krieg? Der erste wurde wegen des Einmarschs der Iraker in
Kuwait begonnen, und ein Angriffskrieg ist auch ein berechtigter Grund für eine
Intervention. Der zweite Krieg gehört aber nicht dazu. Geht es den Irakern besser?
Wir hoffen es jedenfalls, immerhin gibt es jetzt eine gewählte Regierung. Aber ist
diese Regierung in der Lage, die Menschen zu schützen und ihnen zu helfen?
Die Balance, die ich meine, bedeutet, dass wir lernen müssen, andere Staaten auch
dann zu achten, wenn in ihnen nicht alles genauso zugeht wie bei uns. Wir dürfen
nicht die großen Rechthaber sein. Wenn wir das nämlich wären, würden wir uns und
unsere eigene Position in Frage stellen. Wir können nur vertrauensvoll mit einem
anderen Staat kooperieren, wir können nur den Respekt des anderen Staates
erwarten, wenn wir selbst ihm Respekt zollen.
Der Liberalismus hat da also zwei Gesichter. Das eine ist, man versucht, die
Demokratie durchzusetzen, andere von etwas zu befreien, von denen man gar nicht
so genau weiß, ob sie überhaupt befreit werden wollen. Auf der anderen Seite gibt es
den Liberalismus, der sagt, was da passiert, ist mir völlig egal, wir machen unser
eigenes Ding und vor allem machen wir Geschäfte.
Man muss also die Balance finden, Menschenrechte anerkennen sowohl im eigenen
Land als auch in anderen, und man muss überlegen, was man tun kann, um anderen
zu helfen. Und trotzdem – und das ist die Balance, die gefordert ist – muss man die
Souveränität des anderen Landes achten. Auch natürlich die fremde Kultur, die
andere Religion. International gibt es eben keine Gleichheit, es gibt nur
Unterschiede, und die machen es uns so schwer, Interventionen nicht zu wollen. Wir
wollen doch so gerne, dass alle genauso glücklich sind wie wir. Und das ist genau
der Kern: Wir sollten erst einmal lernen, mit anderen Völkern auf der Basis
wechselseitiger Achtung umzugehen. Dann können wir die Probleme, die unter dem
Stichwort Paternalismus genannt werden können, vielleicht lösen

Sterben einüben

sterben-einueben11-6

Online-Publikation: April 2013 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>> Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung << Sterben einüben - mit Margit Ostern . Ein Seminar, stichwortartig dokumentiert 11-6 m+w.p >><MargitOstern@web.de>
Übersicht Teil I Tod bedenken Teil II Sterben begleiten Teil III Sterben einüben: Tod – Trauer / -Arbeit
INHALT* Teil I Tod bedenken
-Befindlichkeit wahrnehmen: sterben - mitten im Leben vorbereiten -Dem Tod näher kommen -Tod-Trauer-Trauerarbeit Sterben als die grösste Lebensleistung erkennen Die Angst davor schmerzt mich weniger als das end-gültige Abschiednehmen von ....die Kostbarkeit des Verlorenen, Gesammelten, der Erinnerungen ... Inventur beinahe täglich, Ausmisten - Archivkonzentrat optimieren Genügend Schlaf: bewusst wahrnehmen, Fasten, Feinfühlen und Achtsamkeit üben Die grosse Meditation (Dr.Dr. Becker, Konstanz), die Unumkehrbare, Letzte, in den aktuellen Alltag einüben Statt Vergeben (was das Modell TäterIn : Opfer vorsieht ? Schuld-Sühne?) einen überblickenden Abstand einüben, um sich dem Energie-Gleichgewicht zu nähern, Narben bilden..
Teilnehmer-Aussagen (in Klammer eigene Anmerkungen): 1 Freude für..? Tod ? Unheimliche Freude, eine unendliche Bereicherung . in eine andere Welt hineingehen können (ein Plazebo? vegetativer Schutzmechanismus !).. 2 Sterbende lächen manchmal, sind schön, Glücksgefühl kein Traurigsein... 3 Nach dem Tod wie tamtam, auf See... 4 Vergeben? Nein, aber nicht hassen, kein Haben wollen (nicht wie die unerbittliche Täterin). Tod hat etwas Sinnliches, Glanz, Licht, Seele scheint aus geöffnetem Fenster fliegen zu können, so Besitz losslassen ... 5 Verlust des Lebens ist schrecklich, aber macht nicht traurig . ... ( Aber die erarbeitete Trauermenge ist zugleich Kapital für das weitere Leben; Verweigerung macht krank, verursacht Seelenweh , Seelenwahn (zu dem ein Fallbeispiel vorgetragen wurde - zur Hilfestellung? wir sind da nicht kompetent und ist thematisch nicht relevant! -). 6 Spirituelles Dasein > 5. Dimension ?. ( 5. Dimension: kosmisch-terrestrische Energie "Engel") 4. Dimension: Raum Zeit 3. Dimension: Raum 2. Dimension: Fläche; 1. Dimension: Punkt - Linie ?) 7 Der Jugend ist der Tod fremd... 8 Sterben ist stets bei/mit uns, Daher gilt "abschiedlich" leben 9 Ein Medium spricht: Ihr Sohn war froh tot zu sein ( Reflektierte kosmisch-terrestrische Energiea ) 10 Ich muss ihn loslassen, Erinnerung bleibt, ein Teil bleibt immer da , auf der Erde (?) 11 Loslassen, Vergeben ? > Lebenden weniger, Toten einfacher (Hier wird eine verurteilender Aspekt wahrnehmbar, Tod sühnt, ? Todesstrafe ?) 12 Ins Reine bringen mittels Hypnose ? (Nein, eher mit einer "Wahrheits-kommission" in Richtung Weisheit ...) * 13 Erdenleben als Film? (Leben von wem gedreht ? Das Leben zeugt eine Peronal-Akte, die es lebenszeitlich zu beackern/konzentrieren gilt.. Wiederkunft? Nein (aber ein terrestrisch-kosmischer Energiestrom zwischen "drüben" und hier macht es wahrscheinlich, aber nicht als Individuelle Person. personare = durchtönen / sphärisch hindurch wirkender Energiestrom auf Alles in diesem Bereich...) ... Lernen, lernen, lernen und immer wachsen...
Teil II Sterben begleiten
*) Weisheit gilt als eine ideale menschliche Grundhaltung. Diese beruhe auf Lebenserfahrung, umfassendem Wissen und Verstehen um Ursprung, Sinn und Ziel des Lebens sowie um die letzten Dinge. Brockhaus Weisheit heißt auf griechisch sophia. Und Philosophie heißt wörtlich übersetzt: Liebe zur Weisheit. Also ist der Philosoph ein Freund der Weisheit. Weisheit gilt seit jeher als eine der wichtigsten menschlichen Tugenden. Der biblische König Salomon, Sokrates, Konfuzius oder auch Buddha gelten als weise. Es ist ein uralter Traum, dass die Weisheit uns Menschen dahin bringen möge, innerlich zu wachsen und zu reifen. Weisheit. Dalai Lama wirkt durch grenzenloses Mitgefühl, durch großen Weitblick, eine bedingungslose Friedfertigkeit, eine tiefe Bescheidenheit, eine kindliche Fröhlichkeit und Offenheit. So über gesellschaftliche, politische und kulturelle Grenzen hinweg. Im Buddhismus ist Weisheit eine wichtige geistige Kraft. Buddhisten sind der Auffassung, dass es nur mit Hilfe der Weisheit möglich ist, sich vom Leiden zu befreien, verbunden mit Liebe und Mitgefühl.
** Sterben einüben II m+w.p11-7 Begleiten
Nachtrag zu I Vorsorgevollmacht - persönlich laut Patientenverfügung - Vernögensangelegenheiten: ausser-/gerichtlich, geschäftsähnliche und alle Verfahrenshandlungen - Alleinsterben, ohne Begleitung/smöglichkeit : Selbstdurchführende - / Alleinige Selbst-Sterbegleitung bis zum äussersten …. Gefühle sind zeitlos: Meditation /Atem, Fantasie, Wärme, Erinnerungen an Beziehungen und aktuelle, Vertrauen ,,, Gelebte Emotionalität vergleichbar mit dem Wunsch eines Glas Champagner „Ruinart“, den Umgebende mit/trinken… - Beachtung von Fetischen aller Art von Erinnerungsobjekten (Ahnender Animist - Annahme von Natur-Seele( Beseeltheit / Chi ) und Existenz von Energiewesen , Transzendentaler Patchworker ..)
II Begleiten Vorgänge werden erkennbar - Blutdruck sinkt, Glieder kälter / Schweiss, Atem schneller / langsam, Husten, Rasseln, oft tagelang…. - Auf den eigenen Atem achten, niemals einstimmen in den Atem der Sterbenden… Erdung halten - Orale Schmerztherapie, Haut eincremen, wechselnde gute Hoch-Lagerung, dünnere Laken, Hämatome im unteren Körperbereich, üble Ausdünstungen, Auswürfe ergeben sich - Koma: Hörsinn ist bis zuletzt intakt, „Schlafhören“; Augen: offen/halboffen, Pupillen starr; Mund: offen - Im Stadium Wandlung/WegGehen: oft ein Staunen / Erlöstheit nach furchtbaren Schmerztagen - AlleinGehen: nutzen die gerade abwesende Begleitung, sterben zuallerletzt gerne ohne diese?! - Utensilien der Begleitung: Kerze, Zündhölzer, Lieblingsmusik, Bilder, Erzählen von Episoden, Schweigen, Hand, Hautberührung .. Wichtig ist da bei sich zu bleiben – Erdung halten. - Segen? Günstige Umstände? Glück zur Reise? Ein Glas *Ruinart* für alle Anwesende und mich?! vielleicht: „Alles Liebe“ ? Du wunderbarer, einmaliger, unwiederbringlicher Mensch… m+w.p - Reki /Chi geben - periodisch Auftanken um geben zu können - Annahme von mehreren Seins/Weltebenen - Feinfühlig bleiben ohne selbst mitzugehen - Sterbende sind die wahren Meister - Sich bereithalten, Stille aushalten, eigenen Atem gestalten - Segen, Zuwendung sichtbar, nicht (chi) oder - berührend geben - zwischen Sagen und Tun besteht oft eine Diskrepanz - Angst vor dem und beim Sterben = Angst vor Neuem, das Schlimmste zu erwarten (Endspiel …, Beckett ) - Demenz als Fluchtort ? - Sterben als eine zielfreie Reise und als Vorbereitung darauf… Sterben ist eine Reise ins Molekulare, m+w.p
*** Sterben einüben III : Tod – Trauer / -Arbeit
Tod = viele haben Lichterfahrung, Naht oder fahrung, Strahlen reine Liebesenergie, Heim at, Geborgenheit, Ruhe, wir treffen intelligente Wesen, telepathisch… Gott !/? verschmelzen, lösen in es auf .. Wiedergeburt !? Trauer = Trauertiefe und Erkennen von einem grossen Geist Äther- Leib – Astral (R. Steiner )oder Tod als Ende …Beginn der molekularen Reise (m+w.p) Wichtig: Respektvoller Umgang unmittelbar nach dem Tod 1. Ruhe, es ist ein kraftvoller Moment 2. Arzt rufen 3. Pflegen, Lieblingspflege, Prothetik, Unterkiefer hochbinden 4. Meditation 5. Bestattung veranlassen, Leichenwäsche ..Lieblingskleid 6. Den Übergang schützen, wachen / Totenwache 7. Danach vorbesprochene Geschenke des Toten verteilen (Testament…)
Trauerarbeit = Selbst nicht hängen bleiben Bestattungsinstitut „Horzionte“ http://www.horizonte-bestattungen.de/ Mögliche Zustände: Hilflosigkeit , Bodenverlust, Depression, Abgrundtiefes Alleinsein, Verletzungen werden wach sowohl aktive als passive, diese vergeben und weg-geben lernen für die eigene Gesundheit, Schmerz zulassen Zum Abschied mit der/m Verstorbenen reden, ihr/ihm schreiben, kleine Zeichen (Fetische) setzen, gestalten, Vorälle beachten (z. B. Schmetterling erinnert an …) Licht, Gutes und Liebe neu aufnehmen. Die telefonische Sterbegleitung mit Ruth und Vera gibt in der Erinnerungsarbeit „im „Hör-Gang“ des Lebens“ ein gutes Gleichgewicht im weiteren Lebensweg …
Schliesslich: Die Verstorbenen hinterlassen Spuren fürs weitere Leben, wichtig ist die eigenbestimmte Lebensaufgabe mehr und mehr wieder erkennen, authentisch, selbstbestimmt und achtsam – jeden Tag – liebevoll mit sich selbst umgehen Ohne Selbstliebe geht gar nichts (Fromm „Ichliebe und Weltliebe gleichermassen pflegen“, Frankl „Sinn des Lebens fördern“) ….
*** Nachtrag swr2wissen11-7nachtigall-planetensuche.txt Zur Beleuchtung der „ Arroganz“ einer Wiederkehr als individuelles Wesen
„Vor rund 14 Mio Jahren ist das Eisen in unserem Körper aus einer Supernova entstanden ….“: Stimmt daher bloss molekular, wenn wir als „verblichendes“ Wesen unsere molekulare Rückreise nach unserem Tod optimiert beginnen….
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