Seelenblind .Von Stephanie Eichler

Gesundheit aktuell
Gesichtsblind . Seelenblind . Agnosie
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Seelenblind .Von Stephanie Eichler
http://www.swr.de/swr2/programm/
http://de.wikipedia.org/wiki/Agnosie

Sendung: Montag, 20. April 2015, 8.30 Uhr
Redaktion: Detlef Clas
Regie: Andrea Leclerque
Produktion: SWR 2015
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:

ÜBERBLICK
Die Spanierin Esther Chumillas kann keine bewegten Objekte unterscheiden und sich nicht orientieren. Chumillas leidet unter Seelenblindheit, oder, wie Hirnforscher das nennen würden, unter visueller Agnosie. Bei diesem Handicap ist das Auge völlig intakt, doch die Eindrücke, die es aufnimmt, verlieren sich auf dem Weg zum Gehirn. Für die Wissenschaft sind Menschen wie die Spanierin ein interessanter Fall. Weil ihr Gehirn nicht richtig sieht, liefern sie der Forschung wertvolle Hinweise zur Aufgabenteilung in unserem Denkapparat. Doch während Esther mit ihren komplexen Symptomen ein seltener Fall ist, gibt es Hunderttausende von Deutschen, die von klein auf keine Gesichter erkennen können. Die Betroffenen können zwar Mimik korrekt deuten und nehmen auch wahr, ob ein Gesicht schön ist, breit oder schmal, männlich oder weiblich, allerdings erkennen sie keine Gesichter wieder.

INHALT
MANUSKRIPT
Musikakzent
Sprecherin:
In Esther Chumillas Wohnung wird es dunkel. Die junge Spanierin macht das Licht trotzdem nicht an. Dabei könnte sie im Hellen durchaus besser sehen – mehr erkennen könnte sie kaum.
Atmo 1: Schritte in der Wohnung
Sprecherin:
Im Halbdunkel läuft Esther zum Spiegel in ihrem Schlafzimmer:
Cut 1: Esther Chumillas
Cuando me veo en el espejo, pues lo primero que veo son las gafas. Despues por el tamano y por la intensidad del color veo las cejas, despues puedo distinguir los ojos, las pestanas, la nariz, la boca. Asi se va formando el puzzle.
Übersetzerin:
Wenn ich mich im Spiegel betrachte, sehe ich zunächst meine Brille, dann die Augenbrauen, weil sie sehr dicht und dunkel sind. Ich kann auch Augen erkennen, die Wimpern, die Nase, den Mund. Aus diesen Puzzleteilen setze ich mein Gesicht zusammen.
Sprecherin:
Ihr Gesicht als Ganzes erkennt Esther nicht, ebenso geht es ihr mit vielen anderen bewegten Objekten. Hirnforscher bezeichnen ihre Wahrnehmungsstörung als visuelle Agnosie. Bei diesem Handicap ist das Auge intakt, doch ein Teil der visuellen Eindrücke, die es aufnimmt, verlieren sich auf dem Weg zum Gehirn. Oder anders: Das Gehirn kann einen Teil der Signale, die der Sehnerv sendet, nicht mehr entschlüsseln.
Mit einer so seltenen Erkrankung zu leben, bedeutet eine große Herausforderung. Für die Hirnforschung sind Menschen wie Esther ein Geschenk.
Ansage: Seelenblind
Eine Sendung von Stephanie Eichler
Atmo 2: Schlüssel dreht sich im Schloss, Tür geht auf, Begrüßung
Sprecherin:
Esthers Freund Manolo kommt von der Arbeit nach Hause und macht das Licht an. Esther erkennt braune Haare, braune Augen und einen Bart. Jeder beliebige Mann mit diesen Merkmalen könnte jetzt vor Esther stehen; sie würde ihn für Manolo halten. Erst wenn ihr Freund zu reden beginnt, kann sie ganz sicher sein, dass er es ist.
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Cut 2: Esther Chumillas
Hay un registro de vozes. Yo que si que tengo es la descripcion. Pero con palabras. No con imagenes. La imagen no esta dentro.
Übersetzerin:
Ich habe ein Verzeichnis von Stimmen im Kopf. Auch Beschreibungen von Menschen sind dort abgespeichert, aber in Form von Worten, nicht als Bild.
Sprecherin:
Der Grund dafür ist eine Hirnhautentzündung, an der Esther als Dreizehnjährige erkrankte. Mehr als ihr halbes Leben lang erkennt die Dreißigjährige nun schon keine Gesichter mehr. Mit der Wahrnehmung von Objekten hat sie seitdem ebenfalls Probleme. Vor allem kann sie sich nicht mehr orientieren, selbst auf engem Raum wie beispielsweise in einer Restauranttoilette hat sie Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Damit sie sich in ihrer kleinen Mietwohnung in Cuenca nicht verläuft, hat sie die Wohnzimmerwände gelb gestrichen, die Küche weiß und das Schlafzimmer violett:
Cut 3: Esther Chumillas
Tengo que dar referencias. Cada habitacion tiene un color diferente, los marcos de la puerta tienen luzes. Las cosas tienen que estar muy en su sitio, para que yo les encuentro. Me memoriso: Los libros estan en la estanteria primera en la habitacion, las camisetas estan en el armario del medio en la estanteria de tal.
Übersetzerin:
Ich brauche Bezugspunkte. Jedes Zimmer hat eine andere Farbe. Die Türrahmen habe ich mit Lampen gekennzeichnet. Aber nicht nur das: Ich muss mir Sätze einprägen wie: „Die Bücher befinden sich im ersten Regal im Schlafzimmer” oder „die T-Shirts liegen im mittleren Schrank in der ersten Schublade.”
Sprecherin:
Esther öffnet ihren Kleiderschrank, in dem ihre Pullover und ihre Wäsche auffallend ordentlich aufeinandergestapelt sind:
Atmo 3: Rolltür eines Kleiderschranks
Cut 4: Esther Chumillas:
Vez. Tengo que tener las cosas muy ubicadas. Yo se cuales son mis jerseys porque estan aqui, pero si Manolo un dia cambaria el orden – yo podria ponerme un jersey de Manolo. Por las noches me tengo que tener mi ropa preparada. Y el me dice: Si, asi esta bien. Sinon iria un dia al colegio con la ropa que no esta mia.
Übersetzerin:
Siehst du, bei mir hat alles seinen Platz. Ich weiß, dass das hier meine Pullover sind, weil sie hier liegen. Aber wenn Manolo einmal seine Sachen dort hinlegen würde, würde ich die anziehen. Es mag merkwürdig klingen: Ich muss mir jeden Abend meine Kleidung zurechtlegen, und Manolo muss noch einmal drüberschauen. Nur so kann ich verhindern, dass ich eines Tages in seiner Kleidung zur Arbeit gehe.
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Sprecherin:
Esther wurde eine 85-prozentige Schwerbehinderung bescheinigt: Sie leidet nicht nur unter visueller Agnosie, sondern nimmt die Welt zusätzlich wie durch zwei enge Röhren wahr, denn seit der Erkrankung an Gehirnhautentzündung ist ihr Gesichtsfeld stark eingeschränkt. Außerdem ist sie seitdem Epileptikerin – und trotzdem bestreitet die junge Spanierin ihren Alltag weitgehend selbstständig. Esther kann problemlos lesen und schreiben sowie Farben und einfache Formen gut unterscheiden. Dank dieser Fähigkeiten kompensiert sie, was ihr fehlt.
Atmo 4: Auto hupt und hält an. Straßenlärm
Sprecherin:
Autos zum Beispiel könnte die junge Frau eigentlich gar nicht unterscheiden – trotzdem weiß sie, wann ihre Familie oder ihre Freunde vorfahren, denn sie hat sich die Kennzeichen auf den Nummernschildern eingeprägt. In ihrer Heimatstadt Cuenca gelingt es Esther mit einem kleinen Trick, sich einigermaßen zu orientieren: Sie hat die Stadt für sich zusammen mit einer Therapeutin auf besondere Weise kartiert:
Cut 5: Esther Chumillas
A cada calle le pusimos el nombre de una tienda, de un bar o de algun sitio. Y ahora sé màs o menos donde estoy por esto.
Übersetzerin:
Jeder Straße haben wir ein Geschäft zugeordnet, dessen Namen gut sichtbar an der Ladenfassade prangt. Deshalb weiß ich inzwischen mehr oder weniger, wo ich mich befinde.
Sprecherin:
Das reicht aus, um sich nicht ganz verloren zu fühlen. Um alleine zur Arbeit zu fahren, reicht es nicht.
Atmo 5: Anschnallen, im Innern eines fahrenden Autos
Sprecherin:
Jeden Morgen bringt Manolo seine Freundin zu einer Grundschule, an der sie Kinder mit Behinderungen unterrichtet. Esther hat therapeutische Pädagogik studiert. In der Schule führen die Kollegen sie von Klassenzimmer zu Klassenzimmer. Vom Parkplatz bis zum Schulgebäude weist ihr Manolo den Weg.
Atmo 6: Manolo weist den Weg. Auto hupt.
Musik
Sprecherin:
Der Sehsinn, auch Gesichtssinn genannt, ist unser wichtigster Sinn, sagt Hans-Otto Karnath, Neurologe und Hochschullehrer am Zentrum für Neurologie der Universität Tübingen. Er erzählt von einem Experiment, das zeigt: Gesunde Personen lassen sich täuschen, wenn man den Gesichtssinn ausschaltet.
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Cut 6: Hans-Otto Karnath
Wenn man den Raum komplett dunkel macht und der Halsmuskulatur zum Beispiel eine falsche Information gibt durch ein Vibrationsgerät, kann man eine scheinbare Kopf-auf-dem-Rumpf-Drehung erzeugen und das ist eine starke Illusion. Und wenn wir dann sagen müssen, wo sich geradeaus befindet von unserem Körper, dann haben wir ein verstelltes Empfinden für das Geradeaus. Man glaubt dann in diese Richtung geradeaus orientiert zu sein, obwohl das 30 Grad zu einer Seite verschoben ist.
Sprecherin:
Sobald das Licht angeht, kann die Versuchsperson links, rechts und geradeaus sofort wieder richtig zuordnen, obwohl die Halsmuskulatur weiter stimuliert wird.
Cut 7: Hans-Otto Karnath
Mit anderen Worten: Der Gesichtssinn überrennt die anderen Informationen.
Sprecherin:
Der Bereich im Gehirn, der sich ausschließlich der Aufgabe widmet, zu erkennen, was wir sehen, ist entsprechend groß – er umfasst mehr als die Hälfte der Großhirnrinde.
Der Neurologe streicht an seinem Hinterkopf mit zwei Fingern über die Kuhle am Ende der Halswirbelsäule. Ein paar Zentimeter oberhalb sitzt im Gehirn das primäre Sehzentrum. Wenn wir etwas sehen, trifft die Information, die das Auge sendet, dort ein und durchwandert dann rund 40 hochspezialisierte Areale.
Atmo 7: Gekritzel mit dem Kugelschreiber auf einem Blatt Papier
Sprecherin:
Hans-Otto Karnath skizziert auf einem Blatt Papier einen Kopf. Am Hinterkopf zeichnet er das primäre Sehzentrum ein und zieht von dort aus zwei Bahnen durchs Gehirn – eine reicht bis zum Scheitel, die andere bis zur Schläfe. Auf diesen Pfaden reihen sich die visuellen Areale aneinander. Die Nervenzellen in diesen Bereichen haben unterschiedliche Formen und reagieren auf verschiedene visuelle Reize. Der Wissenschaftler deutet auf seine Skizze und beschreibt, welche konkreten Reize der Reihe nach verarbeitet werden:
Cut 8: Hans-Otto Karnath
Es geht hier los mit den einfachsten Dingen: Hier geht`s noch um gerade Striche, schräge Striche, dann etwas komplexere Formen und Konturen. Dann baut es aufeinander auf, bis es zu komplexeren Reizerkennungen hier im vorderen Teil des unteren Temporallappens führt.
Sprecherin:
Die beteiligten Neuronen zeigen auf ihrem Weg durch den Kopf immer stärkere Vorlieben für komplexe visuelle Reize. Ganz am Ende des hierarchischen Pfads sprechen bestimmte Neuronengruppen gezielt auf bestimmte Objekte wie bekannte Autos oder Kleidungsstücke an.
Die visuellen Areale sind nicht nur untereinander verknüpft, sondern arbeiten auch mit weiter entfernt gelegenen Bereichen im Gehirn zusammen. Beim Lesen
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beispielsweise befinden sich visuelle Areale in regem Austausch mit dem Sprachzentrum.
Das Gehirn als ein komplexes Netzwerk ist eine Vorstellung, die sich in den vergangenen Jahren in der Forschung durchgesetzt hat. Hochauflösende Messverfahren wie die funktionelle Bildgebung brachten den Durchbruch:
Cut 9: Hans-Otto Karnath
Also funktionelle Bildgebung ist ja die Möglichkeit, mithilfe der Kernspintomographie bei gesunden Menschen die Aktivierung von Gehirnteilen während der Bearbeitung von Aufgaben zu untersuchen.
Sprecherin:
Dabei schieben die Forscher den Probanden zunächst auf einer Untersuchungsliege in die Röhre des Kernspintomographen. Hier scannen sie die gesamte Hirnstruktur und erhalten Aussagen über Aufbau, Größe und Verteilung der Zellen im Hirn. In einem zweiten Schritt betrachtet der Proband im Kernspintomographen Farbpaletten, Buchstaben oder Bilder von Alltagsgegenständen. Die aktivierten Zellen im Gehirn leuchten dabei auf dem Bild, das ein Computer zeigt, bunt auf.
Cut 10: Hans-Otto Karnath
Der Nachteil von diesen funktionellen bildgebenden Studien ist, dass uns durch diese Methode viel mehr an Aktivität im Gehirn gezeigt wird, die mit der zu bearbeitenden Aufgabe nicht unbedingt etwas zu tun haben muss. Und man hat das umgekehrte Problem herauszufinden, was von den vielen bunt angefärbten Arealen die relevanten Areale sind und welche sich nur aktiviert haben weil ich, um es plakativ zu sagen, noch an mein Urlaubserlebnis gedacht habe, während ich untersucht wurde.
Sprecherin:
Um die Hirnstrukturen zu finden, die für die Bearbeitung einer Aufgabe unabdingbar notwendig sind, untersucht man Menschen wie Esther – Patienten also, die aufgrund einer Hinrschädigung unter einer Wahrnehmungsstörung leiden.
So untersuchten Hirnforscher jahrelang Menschen, denen es nicht mehr gelang, Kreise von Dreiecken zu unterscheiden. Die Wissenschaftler wollten so den Ort auf der Großhirnrinde finden, an dem einfache geometrische Formen erkannt werden. Doch die Neurologen mussten sich eine Weile gedulden, bis der geeignete Patient auftauchte:
Cut 11: Hans-Otto Karnath
Das ist sehr eigenartig. Die meisten Fälle, die in der Literatur berichtet worden sind, sind Patienten, die nach einer Vergiftung mit Kohlenmonoxid diese Agnosie davongetragen haben. So eine Vergiftung führt dazu, dass viele Neurone quer durchs Gehirn geschädigt werden und deswegen sind diese Patienten wenig dazu geeignet rückzuschließen, wo denn die sensiblen Zentren sind. Jetzt vor Kurzem gab’s einen Patienten, der dieses Störungsbild zum ersten Mal nach einem beidseitigen Schlaganafall davongetragen hatte …
Sprecherin:
… und nur an einer Stelle auf der Großhirnrinde Schädigungen aufwies.
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Cut 12: Hans-Otto Karnath
Und diese Hirnschädigungen sind sehr genau analysiert worden und dadurch weiß man nun, wo im unteren temporalen Kortex sich das Zentrum befindet, das sich für das Erkennen dieser ganz primären geometrischen Formen interessiert.
Sprecherin:
Welchen Beitrag liefert die Untersuchung an Esther Chumillas für ein besseres Verständnis von unserem Gehirn?
In der Hoffnung, neue Erkenntnisse zu gewinnen und eine geeignete Verhaltenstherapie für Esther zu entwickeln, reiste der Neurowissenschaftler Thomas Schenk von der Uniklinik Erlangen nach Spanien. Nach seinem mehrtägigen Besuch stellte Schenk eine überraschende Diagnose:
Cut 13: Thomas Schenk
Ich habe mit ihr einige Tests durchgeführt, da waren sehr viele Strichzeichnungen von Alltagsobjekten dabei. Da waren viele Tiere, Häuser, Flugzeuge dabei. Das hat sie alles erkannt. Wo sie wirklich Probleme hatte, war immer dann, wenn ich ihr Objekte gezeigt habe und dann das gleiche Objekt aus einer anderen Perspektive. Das konnte sie dann nicht zuordnen. Immer dann, wenn sich durch einen Perspektivwechsel die Form geändert hat, konnte sie diese verschiedenen Bilder nicht mehr dem gleichen Objekt zuordnen. Diese Störung allein scheint zu diesen großen Problemen zu führen, dass sie sich in ihrer Umgebung nicht zurechtfinden kann.
So eine relativ selektive Störung kann also offenbar zu einer relativ schweren Alltagsbehinderung führen. Das finde ich ganz spannend.
Sprecherin:
Schenk zufolge haben Esthers komplexe Probleme wie die fehlende Orientierung und Störungen beim Erkennen von Gesichtern, Kleidungsstücken oder Autos die gleiche Ursache: Nämlich Schwierigkeiten beim Wahrnehmen von Perspektiven.
Tatsächlich gibt es ein Gehirnareal am rechten Schläfenlappen, das für perspektivisches Sehen zuständig ist. Befinden sich Esthers Hirnschädigungen nur dort?
Die Spanierin ist für Untersuchungen im Kernspintomographen ungeeignet. Um die Anzahl ihrer epileptischen Anfälle zu verringern, wurde ihr ein Neurostimulator implantiert. Der ist metallhaltig und würde die Strahlung in der Röhre absorbieren und sich erhitzen.
Ein Computertomograph, der Esthers Hirn gefahrlos abtasten kann, liefert nur Bilder mit geringer räumlicher Auflösung.
Cut 14: Thomas Schenk
Was wir aber sehen auf der computertomographischen Abbildung ist, dass sie eindeutig eine Hirnschädigung hat im Bereich des Hinterhauptslappen. Zusätzlich reicht diese Hirnschädigung bis in den Schläfenlappen hinein und wohl auch bis zum Scheitellappen rein. Also wir haben eine eher ausgedehnte Läsion bei der Esther.
Sprecherin:
Den dunklen Flecken auf dem Tomogramm zufolge, dürfte Esther viel weniger visuelle Eindrücke wahrnehmen als sie es tatsächlich tut. Haben in Esthers Gehirn gesunde Strukturen die Aufgaben einiger geschädigter Areale übernommen?
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Forscher haben herausgefunden, dass in unserem Gehirn eine Umverteilung von Aufgaben möglich ist. So kommen übrigens Geburtsblinde im Alltag gut zurecht, weil sie ein erstaunliches Tast- und Hörvermögen besitzen: Das Sehzentrum der Blinden hat die Aufgabe übernommen, taktile und auditive Informationen zu verarbeiten.
Oder hat Esther gelernt, ihre Handicaps geschickt zu kompensieren? Neurologe Schenk kann darüber nur spekulieren. Was er dank Esther Neues erfahren hat, betrifft unser Verhalten bei der Orientierung in Städten oder im Gelände:
Cut 15: Thomas Schenk
Wir nutzen alle Landmarken, wir nutzen alle bestimmte Gebäude, die wir sehen, kurz bevor wir rechts abbiegen müssen, zum Beispiel. Das würde die Esther auch gerne nutzen.
Sprecherin:
Sie kann es aber nicht. Weil Gebäude, hohe Bäume oder andere markante Objekte je nachdem, ob Esther von rechts oder links aus darauf zuläuft, anders aussehen. Thomas Schenk möchte ihr deshalb bei seinem nächsten Besuch in Spanien vorschlagen, Landmarken zu nutzen, die anhand ihrer Farbe oder Textur hervorstechen.
Cut 16: Thomas Schenk
... da gibt es keinen großen Perspektivenwechsel. Rot bleibt rot, egal ob ich von links oder von rechts komme. Das heißt, wenn sie sich Landmarken aussucht, wo sie primär Texturen oder Farbe verwendet, dann kann sie sich auf diese Landmarken auch verlassen. Mit solchen Unterscheidungen könnte sie sich tatsächlich im Alltag etwas behelfen.
Sprecherin:
Visuelle Agnosien kommen extrem selten vor. Thomas Schenk schätzt, dass die Fachliteratur weniger als 150 Betroffene weltweit nennt. Bis er Esther Chumillas in Spanien besuchte, kannte er nur eine Agnosie-Patientin persönlich. Sie wohnt in Italien.
In seinem Klinikalltag untersucht Schenk häufig Menschen, die ähnliche Symptome wie Esther zeigen. Auch sie verwechseln Gesichter oder verlaufen sich. Doch sind die Störungen der Patienten in der Erlanger Klinik auf Demenzerkrankungen oder Amnesien zurückzuführen. Geschädigt sind dabei nicht die Hirnstrukturen, die die visuelle Wahrnehmung steuern, sondern meist das Gedächtnis.
Musik
Sprecherin:
Esthers Wahrnehmungsstörung betrifft auch Gesichter – weil sie keine bewegten Objekte erkennt. Erschwerend wirkt sich ihr Röhrenblick aus, denn die Spanierin erkennt jeweils nur kleine Ausschnitte eines Gesichts.
Doch während Esther mit ihren komplexen Symptomen ein seltener Fall ist, gibt es Hunderttausende von Deutschen, die von klein auf keine Gesichter erkennen können. Die Betroffenen können zwar Mimik korrekt deuten und nehmen auch wahr, ob ein Gesicht schön ist, breit oder schmal, männlich oder weiblich, allerdings erkennen sie keine Gesichter wieder.
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Martina und Thomas Grüter forschen gemeinsam auf dem Gebiet der Neuropsychologie der Gesichtserkennung. Ihnen gelang der Nachweis, dass die erbliche Form der Gesichtsblindheit sehr viel häufiger vorkommt als bisher angenommen. Etwa 2,5 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind davon betroffen. (siehe http://www.thomasgrueter.de/vitatg.html)
Thomas Grüter will schon aus eigenem Interesse mehr über die Störung wissen:
Cut 17: Thomas Grüter
Ich hatte von Kindheit an das Problem, dass es mir sehr schwer fiel, Leute zu erkennen, die nicht in ihrer gewohnten Umgebung waren. Zum Beispiel Lehrer am Nachmittag in der Stadt – und dann auch noch in der Kleinstadt. Das war schon ein großes Thema. Damals habe ich öfter eine ernsthafte Rüge dafür bekommen. Aber ich habe die Lehrer einfach nicht erkannt. Das war für mich schlichtweg nicht möglich. Für mich war das selbstverständlich.
Sprecherin:
Als Junge fragte sich Thomas Grüter, wie die anderen Menschen es schaffen, Gesichter wiederzuerkennen. Dass mit seiner Wahrnehmung etwas nicht stimmt, ist ihm erst spät bewusst geworden:
Cut 18: Thomas Grüter
Letztlich hat meine Frau das gemerkt: Die hat also gesagt: „Du erkennst doch eigentlich niemanden.” Ist schon richtig. Ich erkenne niemanden. Aber das war einfach immer so. Erst als wir dann in einer Fernsehsendung gesehen haben, dass es eine umschriebene Störung gibt mit dem Namen Prosopagnosie, sind wir dann drauf gekommen: Das passt ganz gut.
Sprecherin:
Bis dahin war Thomas Grüter in unzählige peinliche Situationen geraten, weil er Menschen nicht erkannte. Das Gesicht ist schließlich der herausragende Erkennungsfaktor. Doch heute hat er gelernt, ohne diese entscheidende Fähigkeit auszukommen, indem er das Handicap kompensiert – vielleicht würde er nun sogar im Vorbeilaufen seine alten Lehrer grüßen können:
Cut 19: Thomas Grüter
Ich verlasse mich drauf, die Menschen zu erkennen an ihrem Bewegungsmuster, an ihrer Stimme, an ihrer Silhouette. Damit habe ich inzwischen sehr gute Trefferquoten.
Sprecherin:
Neurowissenschaftler sind sich darüber einig, dass die neuronalen Prozesse bei der Gesichtserkennung etwas Besonderes sind. Doch inwiefern unterscheiden sich die entsprechenden Hirnfunktionen von denjenigen, die für die Wiedererkennung bekannter Objekte verantwortlich sind, zum Beispiel die eigene Haustür oder das Auto der Freundin?
Cut 20: Thomas Grüter
Wenn es ein spezielles Problem bei der Erkennung von Gesichtern gibt, dann dürfen wir annehmen, dass das Gehirn Gesichter auf eine ganz spezielle Weise bearbeitet. Denn wenn dieser Teil speziell gestört sein kann, muss es auch einen speziellen Funktionsblock dafür im Gehirn geben.
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Sprecherin:
Untersuchungen im Kernspintomographen zeigen, dass bei der Gesichtswahrnehmung Hirnregionen aktiv werden, die zwischen dem Hinterhaupts- und dem Seitenlappen liegen. Außerdem wissen die Forscher, dass Gesichtsblindheit meist alleine auftritt, also nicht an andere Agnosien gekoppelt ist: Wer Schwierigkeiten hat, Gesichter auseinanderzuhalten, kann die restliche Welt meist trotzdem problemlos wahrnehmen. Diese Tatsache liefert den Forschern ein weiteres Argument für die These, dass die Wahrnehmung von Gesichtern gesondert verarbeitet wird:
Cut 21: Thomas Grüter
Die Gesichtswahrnehmung zweigt relativ früh ab. Sobald ein Gesicht als Gesicht erkannt wird. Das heißt also zwei Augen, darunter eine Nase und ein Mund, das Ganze in einem Kreis oder Oval. Spätestens an der Stelle zweigt die Wahrnehmung ab. Das heißt, hier hat das Gehirn spezielle Module zur Verfügung, die Gesichter als eine Besonderheit wahrnehmen, weil Gesichter in unserem Leben eben ausgesprochen wichtig sind.
Sprecherin:
In der Forschung geht man davon aus, dass die Gehirnregion „Gyrus fusiformis”, die auf dem rechten Schläfenlappen liegt, die Gesichtswahrnehmung steuert. Deshalb wird das Areal auch als fusiform face area bezeichnet.
So wie bei Esther Hirnstrukturen, die die räumliche Wahrnehmung steuern, geschädigt sind, müssten bei Gesichtsblinden die Module zur Gesichtserkennung nicht mehr funktionieren, doch der Hirnscan zeigt an der fusiform face area keine Auffälligkeiten.
Cut 22: Thomas Grüter
Es haben jetzt schon mehrere Arbeitsgruppen danach gesucht, haben aber nichts gefunden, wo man sagen würde, es ist überzeugend.
Sprecherin:
Die Grüters haben die Internetplattform prosopagnosie.de ins Leben gerufen, benannt nach dem Fachausdruck für diese vererbbare Form der Gesichtsblindheit. Betroffenen und ihren Angehörigen bietet sie eine erste Orientierung.
Musik
Sprecherin:
Warum können Menschen keine Gesichter wahrnehmen, obwohl ihre Augen und Gehirne völlig intakt sind? Das ist nur eine von vielen unbeantworteten Fragen in der Gehirnforschung. Die Prozesse im Gehirn werden längst noch nicht durchschaut. So steht bei den Wissenschaftlern in der Diskussion, wie die verschiedenen Gehirnareale miteinander kommunizieren. Manche Forscher gehen davon aus, dass Areale bei denen sich zur gleichen Zeit das gleiche Aktivierungsmuster messen lässt, gerade in Verbindung stehen. Doch diese These ist stark umstritten.
Überall auf der Welt versuchen Hirnforscher, mehr Einblick in unseren Denkapparat zu bekommen – Thomas Schenk erhofft sich vor allem einen Erkenntnisgewinn, um Patienten mit Hirnschädigungen einmal besser helfen zu können:
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Cut 23: Thomas Schenk
... oder vielleicht später mal Hirnschädigungen effizient reparieren zu können. Das ist sicherlich eine Aufgabe, die zunehmend wichtiger wird. Weil wir mit zunehmender Lebenserwartung davon ausgehen dürfen, dass Hirnschädigungen immer häufiger auftreten werden.
Sprecherin:
Bis auf weiteres sind Menschen wie Esther Chumillas darauf angewiesen, Strategien zu entwickeln, um sich im Alltag zurechtzufinden.
Atmo 8: Schulhof
Sprecherin:
Zur Mittagspause holt Manolo Esther von der Schule ab. Das Paar schlendert durch die Stadt auf der Suche nach einem freien Tisch auf einer Restaurantterrasse. Beim Überqueren einer Straße erkennen Esthers Füße, was sich ihr über das Auge nicht mehr erschließt:
Atmo 9: Schritte auf Kopfsteinpflaster
Cut 24: Esther Chumillas
Ahora estamos en el casco antiguo porque el suelo esta totalmente diferente. La textura es de piedra.
Übersetzerin:
Wir sind jetzt in der Altstadt, der Straßenbelag fühlt sich anders an. Er ist aus Kopfsteinpflaster.
Sprecherin:
Eine Bekannte läuft vorbei. Esther weiß zwar nicht, wie diese Bekannte aussieht, trotzdem gelingt es ihr inzwischen, sie zu erkennen. Sie hat sich gemerkt, dass diese Bekannte sehr große Augen hat. Wenn sie ihr direkt ins Gesicht guckt, nimmt Esther zwei Kreise wahr.
Musik
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