SWR2 Wissen: Aula - Sabine Appel: "Verweile doch, du bist so schön ..." Die Bedeutung des Augenblicks"

Diskurs SWR2
 S. Appel: Die Bedeutung des AugenBlicks
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SWR2 Wissen: Aula - Sabine Appel: "Verweile doch, du bist so schön ..." Die Bedeutung des Augenblicks"
Sendung: Freitag, 1. Januar 2016
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2015 http://www.swr.de/swr2/programm/
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Service.

AUTORIN
Sabine Appel studierte Germanistik und Philosophie in Mannheim und Heidelberg, Paris und Cambridge. Promotion 1995. Sie arbeitet heute als freie Buchautorin und schrieb u. a. Biografien über Johann Wolfgang von Goethe (Buch des Jahres 1998), Caroline Schelling und Friedrich Nietzsche.
Bücher (Auswahl):
– Caroline Schlegel-Schelling – Das Wagnis der Freiheit. C.H. Beck-Verlag. 2013.
– Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist. C.H. Beck-Verlag. 2011.
– Im Feengarten. Goethe und die Frauen. Dva. 1998.

ÜBERBLICK
Bei den Griechen ist der Gott des günstigen Augenblicks - Kairos - ein geflügeltes Wesen, das auf Zehenspitzen daherkommt, schnell wie der Wind. An der Stirn trägt Kairos einen lockigen Haarschopf, an dem man ihn packen kann, den günstigen Augenblick - sofern man ihn denn erkennt. Da sein Hinterkopf kahl ist, ist er, wenn die Gelegenheit vorbei ist, auch nicht mehr zu fassen. Er ist flüchtig, er ist bedeutsam, der günstige Augenblick, selten wohl auch. Der Augenblick kann unser Leben umkrempeln: in der Liebesbegegnung, in der spontanen Entscheidung. Dr. Sabine Appel, Germanistin und Buchautorin, reist durch die Kultur- und Literaturgeschichte und zeigt, wie sich dieses Motiv verändert hat.

INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: "Verweile doch, du bist so schön ... – Die Bedeutung des Augenblicks", Teil zwei.
Bei den Griechen ist der Gott des günstigen Augenblicks - Kairos - ein geflügeltes Wesen, das auf Zehenspitzen daherkommt, schnell wie der Wind. An der Stirn trägt Kairos einen lockigen Haarschopf, an dem man ihn packen kann, den günstigen Augenblick - sofern man ihn denn erkennt. Da sein Hinterkopf kahl ist, ist er, wenn die Gelegenheit vorbei ist, auch nicht mehr zu fassen. Er ist flüchtig, er ist bedeutsam, der günstige Augenblick, selten wohl auch. Der Augenblick kann unser Leben umkrempeln: in der Liebesbegegnung, in der spontanen Entscheidung.
Dr. Sabine Appel, Germanistin und Buchautorin, reist durch die Kultur- und Literaturgeschichte und zeigt, wie sich dieses Motiv verändert hat.
Sabine Appel:
Was ist ein Augenblick?
Wie es das Wort sagt: ein Wimpernschlag, eine kurze Sekunde, ein Innehalten, kaum dass man einmal aufgeblickt hat. Die mittelhochdeutsche Verwendung des Wortes – ougenblic – war in der Tat ursprünglich noch ganz wörtlich gemeint. Erst allmählich wurde der Augenblick aufgeladen und bezeichnete schließlich einen aus der gewöhnlichen Zeiterfahrung herausgehobenen, intensiven Moment.
One Moment in Time. Selbst in der Popmusik finden wir ihn. Die Vorstellung vom großen Augenblick als einer besonders intensiven, aber zeitlich verdichteten Lebenserfahrung, in der sich Wünsche, Erwartungen, Träume, Ziele und Weglinien an einem besonders markanten Punkt komprimieren, begleitet uns ziemlich hartnäckig durch diverse Kulturepochen, vor allem aber auch durch unsere eigenen unterschiedlichen Lebensabschnitte. Es ist der Augenblick, der alles verändert, der eine neue Epoche einleitet, der hochbedeutsam ist für den Rest unserer Existenz, unvergesslich und maßgeblich – so glaubt man wenigstens, und darauf kommt es ja letztendlich an –, ein kleines Zeitprisma, von dem man weiß, dass es so nie mehr sein wird, dass es vorüber sein wird, es ja auch bereits ist; was bedeutet, dass wir ihm nachtrauern, dem Augenblick, noch während wir ihn erleben. Somit ist es dann eben auch das Leiden im Angesicht der Vergänglichkeit, das hierin sichtbar wird und das uns den komprimierten Moment auch so kostbar macht, weil er so flüchtig ist – weil alles flüchtig ist, ohne Anspruch auf Dauer.
Anders als die gewöhnliche sukzessive Erfahrung der Zeit blitzt hier ein Stück Ewigkeit aus dem immer gleichen Ablauf heraus. Der bedeutsame Augenblick ist per definitionem ein ekstatischer Augenblick, und dieser transzendiert, philosophisch gesehen, die Zeit.
Die Grundgedanken finden sich, wie so oft, schon bei Platon. In seinem "Parmenides", einem Alterswerk Platons, werden in einem fiktiven Dialog maßgebliche Fragen über Einheit und Vielheit, Sein und Nichtsein erörtert, und hier erhält der Augenblick von dem griechischen Philosophen eine bemerkenswerte

Brückenfunktion. Der "Parmenides" gilt in der Forschung deshalb als problematisch und als ausnehmend rätselhaft, weil hier die platonische Ideenlehre, der Kern des platonischen Denkens, zur Disposition gestellt, zumindest an ihre Grenzen geführt wird, so dass zum Schluss nicht ganz klar ist, ob der Philosoph diese im Alter aufgab oder seinen denkenden Nachkommen nur eine besonders schwierige Aufgabe stellen wollte, um sie intensiv zu erörtern und letzte Klarheit darüber erlangen zu können.
Der Zweifel, so schließlich auch der historische Sokrates, ist der Ausgangspunkt jeder Philosophie. Der literarische Sokrates ist in diesem platonischen Dialog aber erst neunzehn Jahre alt und befindet sich selbst noch in der Rolle des Schülers, der sich vom großen Parmenides in die eleatische Lehre einführen lässt. Alle Vielheit ist Trug, so Parmenides in seinem berühmtesten Lehrgedicht. Es gibt nur eine einzige ungewordene und unvergängliche Substanz, und das ist das Seiende, welches wiederum durch das Denken enthüllt wird.
Unter den Diskutanten entsteht ein beredter Streit über das Seiende und die Vielheit – wie es zum Beispiel sein könne, dass die veränderlichen Erscheinungen in der Lebenswelt dem unvergänglichen Seienden zugleich ähnlich und unähnlich sind, wie es also überhaupt um das Verhältnis zwischen Seiendem und den Erscheinungen bestellt sei. An dieser Stelle des Dialogs kommt indes bereits – unhistorisch – Platons Ideenlehre ins Spiel. Alles Veränderliche, also alle sinnlich wahrnehmbaren Objekte, müssen auf etwas Unveränderliches zurückgeführt werden, die jeweilige Idee des Objekts.
Diese verleihen den Erscheinungen nicht nur die Eigenschaften in einer wechselnden Kombination, sondern sie sind die übersinnlichen Urbilder aller denkbaren Eigenschaften und aller Vielheit: Platons Ideen. Die menschliche Seele besitzt eine Teilhabe an diesen Ideen, ohne sie doch in ihrer Urform erblicken zu können. Diese Teilhabe an den Ideen beweist nach Platon die Unsterblichkeit der menschlichen Seele. So weit kommt es hier aber nicht im fruchtbaren Streitgespräch der Diskutanten, und Parmenides bleibt kritisch. Als Ergebnis des Dialogs fasst er zusammen, dass das Seiende und die Vielheit sich in einem problematischen Verhältnis zueinander befinden, aber auch, jeweils für sich, problematisch sind, sind sie doch zugleich alles und nichts.
Hier tritt der Augenblick auf den Plan, einige Abschnitte vor dem Ende des Dialogs. Der Augenblick ist ein Übergang, ein Übergang von Sein zu Nichtsein oder von Nichtsein zu Sein, schlägt er doch als das Eine von Bewegung in Ruhe und von Ruhe in Bewegung um, wodurch er, zwischen Bewegung und Ruhe befindlich, eigentlich keiner Zeit angehört. Das Eine, also das Ur-Seiende, argumentiert Parmenides, habe zu einer Zeit das Sein an sich und, sofern es nicht ist, habe es auch die Zeit nicht an sich. Andererseits gebe es das Werden und das Vergehen, also Zustände, in denen das Seiende das Sein annimmt beziehungsweise es wieder fahren lässt. In jedem Falle bewege es sich von einer Einheit in eine Vielheit und wieder zurück, befinde sich also auch nicht mehr in einer Zeit. Hier erfolgt nun der Brückenschlag. Ohne Übergang könne es unmöglich sein, dass das zuvor Ruhende hernach bewegt werde und dass das zuvor Bewegte anschließend ruhe, und so gebe es auch keine Zeit, die gleichzeitig bewegt sei und ruhe. "Das Unfassbare" also – Zitat - , "worin es dann ist, wenn es übergeht", sei: der Augenblick. Die Beweiskette läuft also auf folgendes Fazit hinaus: Um die Existenz des Eins, also des Ur-

Seienden zu beweisen, setzt der Philosoph einen Übergangszustand, und das ist der Augenblick. Er steht zwischen noch-nicht und nicht-mehr, Ruhe und Bewegung, Sein und nicht-Sein; er ist gewissermaßen überwundene Zeitlichkeit.
Der dänische Theologe und Philosoph Sören Kierkegaard, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Theorie des Augenblicks entwarf, bezog sich auch auf den platonischen Dialog "Parmenides" und auf die Entwicklung des Begriffs Augenblick als philosophische Kategorie. Er beklagte jedoch, dass der Begriff bei dem Griechen viel zu abstrakt sei, was daran liege, dass der Heide die wahre Bedeutung des Augenblicks im christlichen Kontext noch nicht erfassen konnte. Erst durch den Einbruch der Ewigkeit in die Zeit durch Christi Menschwerdung werde der Augenblick zur erfüllten Gegenwart, so Sören Kierkegaard. "Erst im Augenblick fängt die Geschichte an."1 Im Neuen Testament wird er als "Fülle der Zeit" definiert, und hier ereignet sich eine Verdichtung, eine Verzeitlichung des Ewigen durch die Menschwerdung Gottes, während der platonische Augenblick, wie es Kierkegaard sieht, nur ein Aufglimmen ist, ein kurzes Erinnern der unsterblichen Seele an eine ewige, aber niemals sich konkretisierende Wahrheit im Reich der Ideen. In einer Flugschriftenreihe, die er knapp zwei Jahre vor seinem Tod im Jahre 1855 initiierte, betonte Kierkegaard schließlich besonders den Augenblick im verantwortlichen Handeln als gelebtes und lebendiges Christentum.
Der Denker, der zu dieser Zeit einen offenen Kampf gegen die dänische Volkskirche aufnahm, hatte aber auch schon im philosophischen Hauptwerk einen anthropologischen, einen christologischen und einen existentiellen Augenblick als Augenblick der Entscheidung differenziert. Den lediglich ästhetisch empfundenen Augenblick, in dem man zum Beispiel das sonst als zusammenhanglos empfundene Leben in einem kurzen Zeitmoment auflöste, verwies Kirkegaard allerdings in die heidnische Tradition einer platonischen und daher unauthentischen Lesart. Diverse Kunstdebatten, aber auch die unterschiedlichsten säkularisierten Darstellungen in der Literatur und in der Philosophie, die über ein christlich motiviertes Verständnis hinaus den "hohen Augenblick" zelebrierten, waren dem in der Vergangenheit vielfach vorangegangen.
In den Kunst- und Literaturdebatten der deutschen Klassik gereichte der "fruchtbare Augenblick" zu einem Schöpfungsprinzip in der Malerei und Bildhauerkunst. Gotthold Ephraim Lessing verfasste 1766 eine entsprechende Schrift, in der er sich mit der berühmten Laokoongruppe – heute in den Vatikanischen Museen zu finden –, aber auch mit den kunsttheoretischen Auslassungen seines Zeitgenossen Johann Joachim Winckelmann auseinandersetzte. Die Laokoongruppe ist die Marmorkopie einer vermutlich um 200 vor Christus entstandenen Bronzeplastik aus Pergamon, die nicht erhalten ist.
Die Marmorskulptur wurde 1506, also in der Blütezeit der italienischen Renaissance, bei Ausgrabungen in den Thermen des Kaisers Titus nahe dem Kolosseum in Rom, und zwar im Beisein von Michelangelo, gefunden und sogleich als größtes Kunstwerk aller Zeiten gepriesen. Im Mannheimer Schloss gibt es seit dem 18. Jahrhundert einen Abguss davon – im berühmten Antikensaal des pfälzischen Kurfürsten Karl Theodor –, den auch die deutschen Klassiker für ihre Studien in Augenschein
1 Zitiert nach: M. Theunissen, der aus der dänischen Werkausgabe zitiert. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1972 - 2001, Bd. I, S. 649

nahmen: Winckelmann, Wieland und Herder, Goethe und Schiller. Die Geschichte des Priesters Laokoon, der mit seinen beiden Söhnen gegen die Würgeangriffe zweier gewaltiger Schlangen kämpft, die ihm die Göttin Athene geschickt hat, wird in der Skulpturengruppe eindrucksvoll abgebildet. In der Fassung des Dichters Vergil hat Laokoon seine trojanischen Landsleute davor gewarnt, das hölzerne Pferd, in dem sich auf Rat des Odysseus Griechen versteckt hielten, in ihre Stadt einzulassen. Da aber durch Laokoons Warnung der Plan der Götter durchkreuzt wurde, welche den Untergang Trojas beschlossen hatten, schickte die den Griechen wohlgesonnene Göttin Athene zwei Meeresungeheuer, die Laokoon und seine Söhne erwürgten. Dieser Moment – also der Todeskampf des Priesters gegen die Ungeheuer, der zudem noch seine halbwüchsigen Söhne vor den Schlangen zu schützen versucht – wird in der Marmorgruppe bewegt und bewegend zum Ausdruck gebracht.
Winckelmann schrieb, das alles sei ein vorzügliches Kennzeichen der griechischen Meisterstücke, nämlich "eine edle Einfalt und eine stille Größe", sowohl in der Stellung als auch im Ausdruck. "So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele."2 Diese schildere sich in dem Gesicht des Laokoon, und zwar bei dem heftigsten Leiden. Der Schmerz, den man in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdecken könne, und allein schon im schmerzlich zusammengezogenen Unterleib im Würgegriff der zwei Schlangen, dieser Schmerz äußere sich doch mit keiner Wut im Gesicht und in der Stellung des Helden. Kein Geschrei wie bei Vergil in der Dichtung werde hier abgebildet, sondern vielmehr eine wohlgesetzte Symmetrie zwischen dem Schmerz des Körpers und der Größe der Seele. Laokoon leide wie ein stoischer Philosoph, so die Endaussage. Das ist Winckelmanns Griechenlandbild.
Gotthold Ephraim Lessing widersprach dieser Darstellung in seiner Replik einige Jahre danach, und er gab damit nicht nur der Antikenrezeption der deutschen Klassiker eine Wendung ins Realistische. Die Ausdrucksgestaltung bei der Skulpturengruppe, so Lessing, hänge vielmehr damit zusammen, dass in der Malerei und Bildhauerei keine Handlungen nachgeahmt würden wie in der Dichtung, sondern lediglich Andeutungen von Handlungen im Rahmen eines räumlichen Nebeneinander. Hätte man das – bei Vergil äußerst naturnah beschriebene – Schreien in dieser Skulpturengruppe sichtbar gemacht, so hätte dies in einem Werk der Bildenden Kunst das oberste Gesetz der Schönheit verletzt. Bei näherer Betrachtung würde außerdem der dauernde Ausdruck einer nur vorübergehenden Empfindung als unwahr erscheinen. Als dauernder Ausdruck dürfe aber in der Kunst lediglich das dargestellt werden, was auch in der Natur andauernd ist. Letztlich gehe es in der Malerei und Bildhauerkunst um die Gestaltung des "fruchtbaren Augenblicks", in dem eine ganze Geschichte – in diesem Fall die Geschichte des Priesters Laokoon und seiner Söhne – in einem momentanen Ausdruck zusammengefasst ist. Er müsse, so Lessing, der Einbildungskraft des Betrachtenden freies Spiel lassen.
Auf die Laokoongruppe bezogen, heißt das: Wenn der in Marmor gehauene Laokoon seufzt, kann ihn die Einbildungskraft schreien hören. Wenn er aber schreit, kann sie
2 Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, in: J. J. W.: Kleine Schriften und Briefe, Weimar 1960, S. 44

von dieser Vorstellung aus weder eine Stufe höher noch tiefer steigen, ohne ihn in einem uninteressanteren Zustande zu erblicken. "Sie hört ihn erst ächzen, oder sie sieht ihn schon tot."3 Die Malerei und die Bildhauerkunst sind also auf den prägnantesten Augenblick angewiesen, um ein zeitloses Werk zu schaffen, das einer zeitlosen Betrachtung standhalten kann. Diesen zu finden und zu gestalten, ist die Aufgabe des begnadeten Künstlers, der Künstlerin. Gelingt ihm die Aufgabe, und er schafft in der Tat ein auf diese Weise unsterbliches Werk, so hat er oder sie schon durch das Werk selbst ein Stück Ewigkeit ins vergängliche Leben gesetzt. Der Augenblick, sei´s im Werk, sei´s im Leben, transzendiert immer den gewöhnlichen, mehr oder weniger mechanischen Ablauf der Zeit.
Auch in der frühen Fotografiegeschichte wurde die Bedeutung des Augenblicks künstlerisch diskutiert. Das Allround-Talent William Henry Fox Talbot, der im neunzehnten Jahrhundert das Prinzip des Negativ-Positiv-Verfahrens entwickelte, das die Vervielfältigung eines fotografischen Bildes durch Abzüge vom Negativ ermöglichte – Grundlage der Fotografieentwicklung seit etwa 1860 –, sinnierte 1839 über den Augenblick als das flüchtigste aller Dinge – Zitat: "ein Schatten, das vorsprachliche Sinnbild von allem, das momenthaft dahineilt und das von den Bannkreisen einer natürlichen Magie gefesselt werden kann. Dieser Zauber kann für immer fixiert werden an einem Punkt, der dazu bestimmt ist, nur einen einzigen Augenblick anzudauern. Dies geschieht in der Weise, dass wir auf dem Papier einen dahineilenden Schatten erhalten, ihn festhalten und ihn dann dort im Zeitraum einer einzigen Minute so bannen, dass er sich nie mehr verändern kann."4
Ähnliche Überlegungen gab es Ende des Jahrhunderts bei der impressionistischen Malerei, einer Kunst des transitorischen Eindrucks, die die offene Bildgestalt propagiert, einen übergangsreichen, im Moment gleichsam zerfließenden Ausschnitt aus Raum und Zeit. Der Kunsthistoriker Louis Gillet schrieb 1927 angesichts der Seerosen-Bilder von Claude Monet: "Eine erstaunliche Malerei. Uferlos, ohne Konturen und Grenzen. Lobgesang ohne Worte. [ ] Oder eine Kunst, die die Kontrolle der Formen nicht braucht. Ohne Etikett. Ohne Anekdote. Ohne Geschichte. Ohne Allegorien. Ohne Körper und ohne Gesicht. Einzig getragen von der Kraft der Schattierungen. Das ist Lyrik. Reine Gefühlsäußerung. Das Herz erzählt, offenbart sich, singt seine Gefühle."5
Der hier gebannte Moment zerfließt im Moment des Anschauens mit dem Betrachter, so, wie er eben eine Impression, einen Eindruck, eine Momentaufnahme des Malers abbildete. Nichts hat hier Bestand. Dem sich ständig verändernden Oberflächen-Eindruck entsprechend, verschwimmt auch der Augenblick in einer offenen Perspektive – wie Luft- und Lichtreflexe, denen alle Dinge vom menschlichen Standpunkt aus optisch ausgesetzt sind. Die Flüchtigkeit des Augenblicks, der nicht einmal ephemer und sei es sekundenweise gebannt werden kann, weil er im selben Moment schon vorüber ist, wie man ihn zu erhaschen meint, wird wohl nirgends so sinnfällig wie in der impressionistischen Malerei. Das Gemälde: "La Gare St. Lazare"
3 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Stuttgart 1983 (Einzelausgabe), S. 22 - 23
4 William Henry Fox Talbot, 1839. In: www.photoquotations.com7a/6727William+Henry+Fox+Talbot. Eigene Übersetzung
5 Louis Gillet: Les nympheas. In: Trois variations sur Claude Monet, Paris 1927/Editions Klincksieck 2010 (Réedition), p. 95. Eigene Übersetzung
von Monet wird vom Rauch der ein- und ausfahrenden Lokomotiven getragen – ein Element, das noch flüchtiger ist als Luft. Der Augenblick zerfließt visuell und somit auch im Erleben. Er bleibt dennoch ein Menschheitstraum der Verewigung irdischer Zeit. "Dann ist Vergangenheit beständig. Das Künftige voraus lebendig. Der Augenblick ist Ewigkeit".6 Goethe-Verse aus dem Gedicht: "Vermächtnis".
In der klassischen deutschen Literatur erhält der Augenblick eine existentielle Sinnfälligkeit. Während er bei Meister Eckhart noch "das Fenster" war, "durch das Gott in das Haus meines Lebens schaut", und auch der Barock-Dichter Andreas Gryphius ihn noch eindeutig mit dem in Zusammenhang brachte, der "Zeit und Ewigkeit gemacht" hat, verbinden die Klassiker in ihren Augenblickshuldigungen eine von verschiedenen zeitgenössischen Philosophien gespeiste Weltfrömmigkeit mit antikem Gedankengut, wobei durchaus auch eine Prise Christentum in die Vorstellungen hineinscheinen kann. Die Götter finden allerdings bei den Klassikern deutlich häufiger Erwähnung als Gott.
Dem Weltgeist näher sei der Mensch mitunter in bestimmten großen Augenblicken, so Friedrich Schiller in seinem "Wallenstein", und in diesen habe er eine Frage frei an das Schicksal. In seinem Gedicht mit dem Titel: "Die Gunst des Augenblicks" stellt sich der Dichter aber aufgrund der Vielzahl der griechischen Götter die Frage, welchem man denn am Ende die größte Ehre erweisen soll. Reichlich verwirrend scheinen diese vielen Götter mit den unterschiedlichen Zuständigkeiten zu sein. Da aber das Glück, so der Dichter, aus den Wolken, also aus der Götter Schoß falle, so sei schließlich der mächtigste von allen Herrschern der Augenblick – also Kairos, der Gott des günstigen Augenblicks, wenn er auch namentlich hier nicht erwähnt wird.
In Goethes "Faust" kommt dem Augenblick, und zwar im Kontext des Teufelspakts, eine Schlüsselrolle zu. Szene: Studierzimmer. Gerade erwies sich "des Pudels Kern" als leibhaftiger Teufel, der den Gelehrten in seinem unbändigen Erkenntnisdrang und seiner auch sonst unbefriedigten Liebe zur Welt in eine Konfrontation bringt und in einen zunächst offenen Handel.7 Er sei der Geist, der stets verneint, so Mephisto. Das muss Faust aufhorchen lassen, ist das Fragen, Verneinen und Zweifeln doch der Stachel, der ihn selbst antreibt und der ihn nicht ruhen lässt, auch wenn diese Ruhelosigkeit im Grunde ein Fluch ist, Ausdruck der christlichen Kardinalsünde: Hochmut, Superbia, Streben nach Gottähnlichkeit. Das ist der Grundkonflikt.
So gesehen, kann das Erkenntnisstreben eines einzelnen Menschen sub specie aeternitatis (unter dem Blickpunkt der Ewigkeit) ohnehin nie befriedigt werden, und es ist außerdem sündhaft. Nicht umsonst zitiert Mephistopheles in einer späteren Szene die Schlange im Paradies aus dem Alten Testament, die das erste Menschenpaar warnte, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Einmal probiert von der verbotenen Frucht, ist das Paradies unwiederbringlich verloren, und der Mensch wird ein ruhelos Umherirrender. Es ist seine Unbedingtheit, die Faust zum Getriebenen macht. Den griechischen "logos" hat er als "Tat" übersetzt. Beispielhaft steht der prometheische Tatmensch gegen die geforderte Demut des Christenmenschen.
6 Johann Wolfgang Goethe: Vermächtnis, 5. Strophe. In: J.W. Goethe: Sämtliche Werke, Frankfurter Ausgabe (Deutscher Klassiker-Verlag), I, Abteilung: Sämtliche Werke, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1988, S. 686
7 Faust I, Studierzimmer (1), Frankfurter Goethe-Ausgabe I, Abteilung: Sämtliche Werke, Bd. 7/1, Frankfurt a.M. 1999, S. 64

Bei Faust mischt sich in dieses grenzenlose Streben nach Erkenntnis (und daraus folgenden Taten), das nach menschlichem Maß zum Scheitern verurteilt sein muss, aber auch ein lähmender Lebensüberdruss und Ermüdung. Sein Alter Ego, der Teufel, bietet Faust an, ihm beides zu nehmen, indem er ihm die diesseitige Welt in einer Fülle präsentiert, wie sie "noch kein Mensch gesehn"8. Der Preis dafür: seine Seele. Dass Faust in den Handel einwilligt, mag daran liegen, dass er seine christliche Seele ohnehin nicht sonderlich wertschätzt; es fehlt ihm ja, wie er selbst sagt, der Glaube. Vor allem aber vermag er in der ihm eigenen Überheblichkeit nicht zu glauben, dass der Teufel ihn an einen Lebensmoment bannen kann, der ihn menschlich und endlich macht, der sein Streben aufhebt, der eine Seinsvergessenheit ausdrückt, die auch sein rastloses Streben zur Ruhe bringt. Sollte das doch geschehen, wider Erwarten, so hätte der Teufel die Wette gewonnen. Faust erklärt:
"Werd ich zum Augenblicke sagen.
verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
Dann mag die Totenglocke schallen,
Dann bist du deines Dienstes frei,
Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
Es ist die Zeit für mich vorbei!"9
Als alter Mann, nach einer Erdumrundung, bildlich gesprochen, mit allen Kollateralschäden, die der rastlos tätige Mensch mit seiner Aneignung von Welt hinterlässt, erkennt der ins Unbedingte strebende Faust die Begrenzung – und damit das menschliche Maß.
"Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Äonen untergehn. -
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick."10
Leider ist es der Augenblick seines Todes. Seinsfülle. Reine Gegenwart. Goethes Augenblick ist die Fülle aller Menschheitserfahrungen im Licht der begrenzten irdischen Existenz. Er wird Ewigkeit, nicht nur weil er als intensiver Moment erlebt wird, sondern weil er in einer Haltung der Sorge fürs Ganze steht. Ein reicher und mächtiger Mann ist Faust, Goethes rastloser Protagonist, am Ende seines Lebens geworden, Unternehmer, Fürst, Großgrundbesitzer. Um seinen Plan der Landgewinnung in die Tat umzusetzen, benötigte er Meeresufer, um Dämme zu bauen. Er erwarb sie, indem er sich führend an einem sinnlosen Krieg zwischen Kaiser und Gegenkaiser beteiligte und von Ersterem nach gewonnener Schlacht mit Grundeigentum großzügig ausgestattet wurde, worauf er seine unternehmerischen Aktivitäten entfaltete. Diese machten am Ende auch vor den unschuldigen Opfern eines frommen alten Ehepaares nicht Halt, dessen Hütte seinen Landgewinnungsplänen im Weg stand: den mythologischen Figuren Philemon und
8 Faust I, Studierzimmer (II), a.a.O., S. 75
9 A.a.O., S. 74
10 Faust II, 5. Akt, Großer Vorhof des Palasts, a.a.O., S. 446

Baucis. "Genug bekannt" ist dem Ruhelosen am Ende der Erdenkreis11, ihm, der in seinem rastlosen, ungenügsamen Leben nur eines nicht gekannt hat: die Sorge, Fürsorge für sich und andere, den verweilenden Blick aufs Ganze seines Tuns, die Ehrfurcht vor allem Lebendigen.
In allegorischer Gestalt, als altes, graues Weib sucht die Sorge den ebenfalls alten Faust auf. Als die Sorge ihn anhaucht, erblindet er, was es ihm aber ermöglicht, das "innere Licht" zu erblicken. Mit der Vision vom freien Volk auf freiem Grund und Boden erlebt Faust seinen "höchsten Augenblick". Bei Goethe streben die unbedingten männlichen Helden – meist scheiternd und mehr oder weniger gefangen in sich selbst – zumindest gedanklich in die Richtung eines zu überwindenden Subjektivismus.
Friedrich Nietzsche, der andere Ziele verfolgte, stellte die Vorstellung vom höchsten Augenblick in den Dienst seiner Lebensphilosophie und des Gedankens der ewigen Wiederkehr. Hier entwarf er einen Imperativ der Augenblicksfülle als Ausdruck höchster Lebensbejahung, der gleichsam alles, was wir tun und entscheiden und auch, was wir nicht tun, vermeiden und auslassen, vor die Frage stellt: Kann ich wollen, dass dies für alle Ewigkeit so geschieht – und das wird es ja, vor dem Hintergrund ewiger Wiederkehr. So zu leben, dass ich wollen kann, dieser und jener Augenblick währe ewig, läuft auf eine bewusste und willentliche Intensivierung des Lebens hinaus, in dem die Augenblicke eventuell aufgesucht, vor allem aber gewollt und bejaht werden, verewigt in reiner Diesseitigkeit.
Was bleibt vom Leben? Wenige Augenblicke, durch inneres Festhalten gebannt? Ausdruck von stehender Ewigkeit? Bruchstücke, Ausschnitte, Erinnerungen, die zum Schluss wie ein Film vor uns ablaufen, herausgehoben aus der vermeintlichen Monotonie einer sonst sukzessiv ablaufenden Zeit, deren Einheiten sich aber auch nicht messbar von den vermeintlichen Glanzpunkten unterscheiden? Der Augenblick scheint von Menschen gemacht. Er ist sinnstiftend, konstitutiv. Durch ihn ist das Leben nicht ganz bedeutungslos. Wohl dem, der den "Kairos" erkennt und der ihn ergreift. Wohl dem, der sie sammeln kann, "große Augenblicke". Frei nach Friedrich Schiller am Ende: "Was du dem Augenblicke ausgeschlagen, bringt keine Ewigkeit zurück."12
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