Und - Welches Europa nicht! Die Natur des „Brexismus" (R. Görner)

Diskurs Platon Akademie 4
 PA4 Diskurse (1995-2018) Europa - Demokratie denken > Der schmale Grat der Hoffnung
Und - Welches Europa nicht!
Die Natur des „Brexismus" (R. Görner)
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SWR2 Wissen: Aula - Rüdiger Görner: Die Natur des „Brexismus“ . Nationale Gebärden im heutigen
Sendung: Sonntag, 19. November 2017, 8.30 Uhr .Redaktion: Ralf Caspary Produktion:
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AUTOR
Der Literaturwissenschaftler und Essay Professor Rüdiger Görner lehrt und forscht an der Queen Mary University of London. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. die Geschichte der britisch-deutschen kulturellen Beziehungen und die Europäische Romantik.

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ÜBERBLICK
Wieder einmal suggeriert der politisch jederzeit abrufbare Mythos: Wir gegen den Rest der Welt. Auf welchen Wurzeln basiert das Nationalgefühl der Briten?
Das im Zuge des Brexit wiedererstarkte ethnische Nationalbewusstsein in England orientiert sich in vielen kulturell geprägten Vorstellungen an einer Wiedergeburt einstiger Größe, an einer Rückkehr zu vermeintlich zeitlosen Ursprüngen. Die Lied-gewordene englische Landschaft dürfte dabei ein dauerhafter politisch-kultureller Mythos sein, der den Inselnationalismus speist.
So verwundert es kaum, dass seit dem EU-Referendum 2016 nicht nur verstärkt diese genannten Lieder zu hören sind, sondern auch - vor allem im Rundfunk - Melodien aus den 30er- und 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Wieder einmal suggeriert der politisch jederzeit abrufbare Mythos: Wir gegen den Rest der Welt. Und das ist nur ein Beispiel von vielen, das zeigt, auf welchen Wurzeln das Nationalgefühl der Briten basiert. Professor Rüdiger Görner, Literaturwissenschaftler und Essayist in London, beschreibt die kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Wurzeln der Brexit-Ideologie.
Der Literaturwissenschaftler und Essayist Professor Rüdiger Görner lehrt und forscht an der Queen Mary University of London. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. die Geschichte der britisch-deutschen kulturellen Beziehungen und die Europäische Romantik.
Stand: 30.10.2017, 15.21 Uhr

MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: „Die Natur des ‚Brexismus‘ – Nationale Gebärden im heutigen Britannien“.
Im Zuge des Brexit ist das Nationalbewusstsein in England deutlich größer geworden. Viele Brexit-Befürworter feiern kulturell geprägte Vorstellungen einer fast mythischen starken Nation von zeitloser Größe. Was dabei auffällt, ist eine Verschmelzung von Musik und Landschaft, die dann auf grandiose Weise den spezifischen Inselnationalismus thematisiert und speist. Das zeigt sich sich sehr anschaulich während der legendär gewordenen ‚last night’ der Henry Wood Promenade Concerts in Londons Royal Albert Hall in Kensington. Dabei singt man bis heute, mit geschwellter Choristenbrust, „Rule Britannia“.
Professor Rüdiger Görner, Literaturwissenschaftler und Essyaist in London, beschreibt die kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Wurzeln dieser Brexit-Ideologie.
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Rüdiger Görner:
Man hat sie zu lange unterschätzt, die psychologische Wirkung der Musik auf den britischen Inseln. Und damit ist nicht die seit den Beatles global vermarktbare Klangproduktion des Britpop gemeint von Sting bis Amy Winehouse, von Oasis, Coldplay, One Direction bis Adele.1 Die Rede ist von einer Klangwelt, die das Unterbewusste speist; man denke allein an die Symphonik eines Ralph Vaughan Williams, des Jean Sibelius Englands, höre etwa seine Norfolk Rhapsody, seine Romanze für Violine nach einem Gedicht von George Meredith: The Lark Ascending (‚Die aufsteigende Lerche’) oder an seine Fantasia nach einem Motiv von Thomas Tallis.
Einst, genauer im Jahre 1904, hatte der sehr deutsche Oskar Adolf Hermann Schmitz die propagandistisch-denunziatorische Formel von den britischen Inseln als dem „Land ohne Musik“ geprägt.2 Selbst der gesangsfreudige Karl Marx hatte dies bereits um 1850 in seinem englischen Exil so empfunden. Hatte man dabei die ausgeprägte Chor-Kultur, die lange Gesangstradition in Wales überhört oder die für England und Schottland so charakteristische Fusion von Landschaft, Poesie und Musik, ein Phänomen, das seit den Heinrich VIII zugeschriebenen Greensleeves bekannt ist?
Bereits Shakespeares Falstaff ruft in The Merry Wives of Windsor (1597/1602) aus: „Lasst den Himmel Kartoffeln regnen. Lasst ihn donnern nach der Melodie von ‚Greensleeves’!“ Vergessen ist jedoch längst, dass ‚grün’ zur damaligen Zeit eine sexuelle Konnotation hatte, bezog es sich doch auf die grünen Flecken auf dem Kleid einer Dame oder eher Dirne, die auf Verkehr in freier Natur deuteten – und damit aber auch auf eine sehr intime Beziehung zur Landschaft.
Noch in Thomas Hardys frühem Roman Under the Greenwood Tree (1872) sollte dieser Zusammenhang eine Rolle spielen, handelt er doch auch von den Stimmen der Landschaft Dorsets, Hardys „Wessex“, den Stimmen der Bäume („jede Baumart hat ihre Stimme“) und der Erinnerung an ländlich-klerikale Musiktraditionen. In dieses Register gehört denn auch Alfred E. Housmans dreiundsechzigteiliger lyrischer Zyklus A Shrophsire Lad (1896), dessen wichtigste Teilvertonung von George Butterworth stammt (1911/12), dieser großen Hoffnung in der englischen Musik, die aber in der Schlacht an der Somme im August 1916 allzu früh endete.
In der englischen Psyche findet sich diese Symbiose von Landschaft und Musik tief verwurzelt. Das zeigt sich selten anschaulicher als während der legendär gewordenen ‚last night’ der Henry Wood Promenade Concerts in Londons Royal Albert Hall in Kensingston. Und dabei singt man sie bis heute, inzwischen wieder mit geschwellter Choristenbrust, „Rule Britannia“. In Thomas Arnes Fanalhymne von 1740 erklingt die appropriierte, hemmungslos politisierte Meereslandschaft mit ihrem imperativischen und imperialen Refrain: „Rule Britannia, Britannia rule the waves: / Britons never shall be slaves“.
1 Vgl. Roy Shuker, Understanding popular music. 4. Aufl. London 2017.
2 Dazu: Rüdiger Görner, ‚Britain – Land without Music’. In: Ders., Dover im Harz. Studien zu britisch-deutschen Kulturbeziehungen. Heidelberg 2012, S. 214-221.
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Im sechsstrophigen Gedicht von James Thompson sind es die Schutzengel, die diesen Refrain anstimmen, nachdem Britannia „erstmals auf Geheiß des Himmels“ der „blauen See entstieg“. „Rule Britannia“ wird in diesem Gedicht als die einzige „Satzung des Landes“ (charter of the land) bezeichnet. „Britons never shall be slaves“ entstand als Leitwort zu einer Zeit, als sich die führenden Familien des Landes durch Sklavenhandel maßlos bereicherten. „Blest Isle! With matchless beauty crown’d“, gesegnete Insel, von unvergleichlicher Schönheit gekrönt – heißt es in der Schlussstrophe, in der er wieder aufscheint, der Landschaftsbezug.
Sein eigentliches Echo hat er jedoch in einem anderen Lied gefunden, das gleichfalls in der ‚Last Night of the Proms’ regelmäßig zu hören ist und im Grunde die eigentliche Nationalhymne England ist (folgt doch die Melodie von ‚God save the Queen’ pikanter Weise der deutschen Kaiserhymne ‚Heil dir im Siegerkranz’!): Jerusalem von William Blake – der Vorspann zu seinem Werk Milton (1804-1810) in der Vertonung von Hubert Parry (1916) – und man muss das auf Englisch zitieren, um den Klang im Ohr zu haben: „And did those feet in ancient time / Walk upon England’s mountains green? / And was the holy Lamb of God / On England’s pleasant pastures seen?“ (und auf Deutsch: ‚Beschritten diese Füße in frühreren Zeiten Englands grüne Hügel nicht? Und sah man nicht das heilige Lamm Gottes auf Englands anmut’ger Landschaft?)
Und hiermit sieht sie sich denn vollzogen, die Sakralisierung der englischen Landschaft, dort wo das ‚neue Jerusalem’ errichtet werden soll „in England’s green and pleasant land.“ Das sich im – auch spontan zustande kommenden – Chorgesang artikulierende Gemeinschaftsbewusstsein findet sich neuerdings in den britischen Medien ebenso hervorgehoben wie auch der immer etwas verloren klingende Bariton in einem Lied von Benjamin Britten.
Mythos Natur und Mythos Landschaft: In Thomas Hardys fiktiver Grafschaft Wessex, im realen Dorset, Somerset und Wiltshire zeichnet sich diese Landschaft durch hügelige Weiden und Felder aus, die oftmals tatsächlich erstarrten Meereswogen zu gleichen scheinen. Doch prägt sie ein Weiteres, das dem freien Blick zu widersprechen scheint: die Umsäumung der Weiden durch niedrige Hecken oder niedrige Mauern aus Feuersteinen. Eingrenzung des Besitzes und Entgrenzung der Sicht vereinigen sich in diesem landschaftlichen Erscheinungsbild. In den Randzonen des Landes ist es die Küste, die Steilküstenabschnitte zumal, die als natürlicher Schutzwall gelten dürfen. Gerade in diesen Landschaftsbereichen war das Votum für einen Brexit am stärksten, paradoxerweise selbst dort, wo ihre Infrastruktur am meisten von Fördergeldern des europäischen Regionalfonds profitiert hat.
In der Zeit der von Napoleon verhängten Kontinentalsperre, die auch das Reisen der englischen Oberschicht auf dem europäischen Festland zunächst verunmöglichte, entdeckte sie zusammen mit Poeten und bildenden Künstlern – von John Knox bis John Constable und William Dyce – die Tiefen und Reize der Landschaft vor allem in England und Schottland. Die „countryside“ wurde zum mythenreichen
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Rückzugsgebiet, diente aber auch der Selbstfindung und neuen Bewusstwerdung dessen, was man an Britannien hatte oder zu haben glaubte.3
Die Landschaftsmalerei eines John Crome, James Ward und William Turner ließen sich nationalpatriotisch interpretieren. Und der romantische Nationaldichter Englands, William Wordsworth wurde in einem Porträtgemälde von Benjamin Robert Haydon 1842 versonnenen Blickes, mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen inmitten einer dunklen Landschaftsszene, mitten im Lake District, als Heros der Naturpoesie dargestellt. Eben gerade der Lake District wurde als das Feuchtgebiet nationalen Empfindens entdeckt und ästhetisiert.
Das nunmehr im Zuge des Brexit wiedererstarkte ethnische Nationalbewusstsein in England orientiert sich an der Vorstellung einer Wiedergeburt einstiger Größe, an einer Rückkehr zu vermeintlich zeitlosen Ursprüngen.4
Die Lied-gewordene englische Landschaft dürfte dabei der dauerhafteste und psychologisch wirksamste politisch-kulturelle Mythos sein, der den Inselnationalismus speist. Und so verwundert es kaum, dass seit dem EU-Referendum am 23. Juni 2016 nicht nur verstärkt diese genannten Lieder zu hören sind, sondern auch – vor allem im Rundfunk – Melodien aus den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts, eine Mischung aus Unbeschwertheit und Durchhaltewillen. Wieder einmal suggeriert der politisch jederzeit abrufbare Mythos: Wir gegen den Rest der Welt, und das bis dieses ‚Wir’ möglichst wieder mit ‚Welt’ gleichbedeutend sein wird.
Dass ‚England’ in dieser Hinsicht einmal mehr die vielschichtige nationale Problematik auf den eigenen britischen Inseln übersieht, man denke besonders an die Verhältnisse in Schottland und Nordirland, gehört zu jenen Anomalien, die man sich seit Jahrhunderten glaubt leisten zu können. Aus dem Unterbewussten steigt sie aber einmal mehr auf: die Vorstellung von der ‚Nation’ als quasi natürlichem Körper – und das auf den britischen Inseln gleich vierfach: in England, Schottland, Wales und in Irland.
Diese Inseln verstehen sich zunehmend wieder – vor allem in ländlichen Gebieten – als ein Archipel, den eine uralte Psychoökologie prägt, bestehend aus den umfriedeten Landschaften, die Harold John Massingham (1888-1952) mit dem Begriff des „spirituellen Materialismus“ kennzeichnete. Im Rückblick gilt er als der Blut-und-Boden-Theoretiker Englands. Sein Buch England and the Farmer (1941) gilt in rechtskonservativen bis reaktionären Kreisen als Manifest einer bodenverhafteten ‚Englishness’5. „The love of countryside“ wurde in einer Studie von John Lewis Stempel als ein unterschwelliges Propagandainstrument im Ersten Weltkrieg
3 Vgl. David Dimbleby, A Picture of Britain. With Essays by David Blayney Brown, Richard Humphreys, Christine Riding. Tate Publishing/BBC. London 1996. Darin bes. Der Aufsatz von Christine Riding, The Home Front. War and Peace. Ebd., S. 61-83.
4 „The Brexitist thinks that national peoples and their states are no longer the effective agants of history that they should be […].“ Alan Finlayson, Brexitism. In: London Review of Books v. 18. Mai 2017, S. 22-23, hier: S. 22.
5 Vgl die Webseite: www.ruralhistory.org sowie: http://www.collectionsgateway.org.uk/collections/8/massingham_collection.pdf
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inzwischen identifiziert.6
In Schottland entdeckt man derweilen den Liedermacher und Romanschriftsteller Stuart MacGregor (1935-1973) neu, der mit Gedichten wie „Scottish Soil“ (Erde Schottlands) auftrat.7 Dass sich freilich der schottische Patriotismus europäisch gebärdet, ist eine besondere Note, die zeigt, wie wenig sinnvoll es ist, von einem gesamtbritischen Nationalbewusstsein zu sprechen.8 Roger Deakin, einer der namhaftesten Ökologen unter Englands Publizisten, wandte sich in seinem posthum veröffentlichten Buch Wildwood (2007) programmatisch dem ‚Gehölz’ zu (nicht zu verwechseln mit der Schwere, Tiefe und Dunkelheit des ‚deutschen’ Waldes). Er sprach von der „greenwood liberty“ des sogenannten „woodlanders“. Dessen bevorzugter Aufenthaltsort, das lichte, weitgehend tannenfreie Unterholz, birgt, was er die „merriness of Merry England“ nannte (die Frohgestimmtheit des frohen Englands).9 Eiche, Walnussbaum, Eibe und vor allem der (Berg-)Ahorn belauben gleichsam den englischen Landschafts-und Naturmythos. Von Wordsworth, Matthew Arnold bis Hardy ist etwa der Ahorn („sycamore“) ein bedeutsames Motiv in der Naturlyrik des Landes. Der Schriftsteller und Sachbuchautor Richard Smyth befindet über den geistigen Zustand der englischen Nation nach dem Brexit: „Jetzt werden unsere Vorstellungen über die Natur unseres Landes durch eine rückwärts gewandte Mythologie und einer nach Kampfer riechenden Nostalgie gelenkt.“10
Was Smyth hier aufspürt, ist halb Diagnose, halb Prognose. Es artikuliert ein Unbehagen an der paradoxen Situation, in die sich England durch das EU-Referendum selbst hinein manövriert hat: selbstsicher wirken zu wollen und das angesichts größter Unsicherheitsfaktoren über die politischen, ökonomisch-ökologischen, aber auch gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen dieser hauchdünnen Mehrheitsentscheidung für den Brexit. Gerade deswegen erweist sich der verstärkte Bezug auf Landschaft und Natur als archaische Konstante wie der Versuch einer Selbstvergewisserung im Grünen.
Die andere offenkundig politische ‚Natur’ des Brexismus ist sein quasi ideologischer Charakter. Patriotische Gefühle, die sich nicht am ubi bene ibi patria-Prinzip orientieren sondern national kodiert und konditioniert sind, nähren diese entsprechend nationalistisch wirkende Ideologie. Sie konnte gerade deswegen in England (anders als in Schottland oder Nordirland) so wirksam werden, weil sie auf eine seit Jahrzehnten schwelende Selbstverunsicherung reagierte; denn gerade die Frage nach dem, was das ‚Englische’ in unserer Zeit (noch) sei, beschäftigte die
6 John Lewis Stempel, Where Poppies Blow. The British Soldier. Weidenfeld & Nicolson: London 2016.
7 Stuart MacGregor, Poems and Songs. Loanhead: Macdonald Publishers 1974.
8 Vgl. Richard Smyth, How British is it? ‚Our’ nature writers may be unique, but nature itself knows few borders. In: Times Literary Supplement v. 19. Mai 2017, S. 15-16.
9 Roger Deakin, Wildwood: A Journey Through Trees. Hamish Hamilton: London 2007. Vgl. das gleichfalls posthum erschienene Buch von Deakins: Notes From the Walnut Tree Farm. Hamish Hamilton: London 2008. Dass es ‚natürlich’ poetische Baumdiskurse gibt, die fernab jeglicher nationalpatriotischer Konnotationen Eigenwerte schafft, belegte zum Beispiel Michael Hamburger, Baumgedichte. In einer Übersetzung von Peter Waterhouse. Mit Zeichnungen von Gotthard Bonell. Zweisprachige Ausgabe. Folio: Wien/Bozen 1997. Bemerkenswert ist dabei jedoch, dass Hamburgers Auswahl bedichteter Bäume sich an der Vegetation seines Exillandes England (Grafschaft Suffolk) orientiert. Nadelbäume fehlen in seiner Sammlung!
10 Smyth, a.a.O., S. 16 (m. Übers.).
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Publizistik nahezu unausgesetzt und auffallend intensiv während der Regierungszeit von Tony Blair.
Tragischer Katalysator war der Terroranschlag in London vom 7. Juli 2005, verübt von vier britischen Staatsbürgern muslimischen Hintergrunds, der 52 Todesopfer forderte. Signalisierte dieser Anschlag einen Bruch innerhalb der britischen Gesellschaft? Das war die Frage, die sich damals viele stellten. Gab es noch eine Art britischer Wertegemeinschaft, und welche Rolle spielte dabei ‚England’. Brite könne man werden, Engländer nie – das war die Formel, die längst vor 2005 in Umlauf war und es bis heute ist.
Wer gehört dazu, wer bleibt ‚draußen’? Diese Frage entschied auch den Ausgang des EU-Referendums, wobei bemerkenswert ist, dass asiatische Briten sich in ihrer Mehrheit für den Brexit aussprachen; vermutlich bekundeten sie damit ihren Wunsch, auch weiterhin vorrangig als ‚zum britischen Königreich gehörig’ angesehen zu werden. Zu ‚Engländern’ wurden sie deswegen freilich nicht. Dass EU-Bürger in Britannien nicht am Referendum teilnehmen durften, obgleich sie zu den Europa-Wahlen zugelassen waren, gehört dagegen zu jenen Anomalien oder Inkonsequenzen, an denen die britische Demokratie inzwischen bedenklich reich ist.
Der über Jahrzehnte einflussreichste englische Historiker und Geschichtsphilosoph Arnold J. Toynbee gab noch wenige Jahre vor seinem Tod zu Protokoll, dass er glaube, der Nationalismus sei die eigentliche Religion für eine Mehrheit der Menschen.11 Bereits mitten im Ersten Weltkrieg hatte der junge Toynbee seine Gedanken zum Problem der ‚nationality’ in einer umfangreichen Studie vorgelegt.12 Eigentümlich ist, dass Toynbee darin bis nach Thrakien, Armenien, Anatolien ausgreift, das „neue Arabien“ bedenkt, das „Alldeutsche“ und den Panslawismus als Bewegungen, durch welche die Nationalitätenfrage und der Nationalismus zu einem ethnisch, um nicht zu sagen rassistisch begründeten Nationalismus umgewertet wurde; nur eines ließ Toynbee trotz seines hier bereits erkennbaren Hangs zum Enzyklopädischen unberücksichtigt: die Nationalitätenfrage in Britannien und mithin den Zusammenhang zwischen englischem Nationalismus oder genauer: britischen Nationalismen und britischem Imperialismus.
Bezeichnend ist aber auch, dass die Binnendifferenzierung der britischen Inseln nach Nationalitäten eine geopolitische Begrifflichkeit eigener Art ausgebildet hat; spricht man doch sehr emphatisch von „The Welsh Border“ als einer landschaftlich und historisch reizvollen geographischen Einheit, die auch als Sprachgrenze zwischen dem Englischen und Gälischen zu verstehen ist und das nahezu unverändert seit dem achten nachchristlichen Jahrhundert. Vergleichbares gilt für die sogenannten Scottish Borders – wohlgemerkt im Plural –, die gleichfalls primär als eine landschaftliche Einheit wahrgenommen und entsprechend touristisch vermarktet werden. Dass es für sie ein eigenständiges Scottish Border Council als Verwaltungseinheit gibt und sie sogar eine besondere Hunderasse hervorgebracht hat, den Border Collie, sei nur am Rande vermerkt.
In diesen Regionen des (noch) Vereinigten Königreiches halten sich Stolz auf die jeweiligen Traditionen und Verunsicherung, was die Zukunft angeht, die Waage. Ian
11 Zit. nach: Karl Menninger, Whatever Became of Sin. New York 1973, S. 34.
12 Arnold J. Toynbee, Nationality and the War. London and Toronto 1915.
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Sinclair, der scharfsichtige Analytiker der Metropolis London, erinnerte in einem seiner jüngsten Beiträge zur mehr und mehr von Spekulanten dominierten Stadtkultur Londons an den verstörenden Film des einstigen Kultregisseurs Derek Jarman The Last of England (1988), der aus Bildern vom Falkland-Krieg, Szenen königlicher Hochzeiten, heruntergekommenen Straßenzügen und Punks, die auf Boote verbannt werden und themseabwärts driften, besteht. Sinclair spricht von The Last London13, was sich auf das Planungschaos in dieser Metropolis bezieht, das wiederum die Richtungslosigkeit des Landes – sein lange verdrängtes, aber inzwischen offenkundiges Identitätsproblem spiegelt. Ist der neue Nationalismus in England dazu angetan, dieses Identitätsproblem zu lösen?
Zuweilen gewinnt man den Eindruck als sei dieses Anti-Europa-Nationalbewusstsein mehr eine, paradox gesagt, kollektiv-exzentrische Geste als ein wirklicher Ismus. Sie enthüllt einmal mehr den Unabhängigkeitsdrang dieses Inselverbundes sowie seinen bizarr-anachronistischen Souveränitätsmythos. Varianten oder differente Ausprägungen dieser exzentrischen Politikauffassung finden sich in allen Landesteilen, wobei Schottland dadurch auffällt, dass ausgerechnet eine emphatisch national ausgerichtete politische Gruppierung, die schottische Nationalpartei (SNP), weiterhin glaubt, ihr Nationalbewusstsein in eine engere Anbindung an die Europäische Union auch nach vollzogenem Brexit einbringen zu können.
Whitehall dagegen scheint ernsthaft davon auszugehen, das ‚neue Nationalbewusstsein’ auf die Staaten des Commonwealth umlenken zu können, wobei es geflissentlich außer Acht lässt, dass gegenwärtig zumindest etwa die Beziehungen Deutschlands zu Indien deutlich zukunftsoffener sind als jene zwischen New Dehli und London. Dieses regionalistisch inspirierte Nationalempfinden, das sich bei Gelegenheit umgehend mobilisieren und ideologisieren lässt, ist seit dem EG-Beitrittsreferendum im Vereinigten Königreich (1974) in der globalisierten Schaltzentrale der politischen und wirtschaftlichen Macht, in London also, ein zumeist überhörter Grundbass gewesen.
Doch kehren wir zu unserem Hauptproblem zurück: Um auch nur annähernd die polit-psychologische Disposition zu erfassen, die sich hinter dem Brexit als einer Spielart britischer Nationalismen verbirgt, gilt es sich des englischen Ideals der Bindungsabstinenz zu erinnern. Sie kam selbst in Churchills Zürcher Rede von 1946 zum Ausdruck, in der er ein vereinigtes Europa als Vereinigung von Interessen zwar ins Auge fasste, Großbritannien allenfalls tangential zu diesem Kreis sah, aber keineswegs als Teil dieser unebenen Kreisfläche.
Europäische Integration steht im englischen Denken unter einem gegen die eigenen Inseln gerichteten Hegemonieverdacht. So verspricht sich die politische Rechte mehr Prosperität für das eigene Land, wenn die Taue zum europäischen Festland erst einmal vollständig gekappt sind. Vorgetragen wird dergleichen im Ton postimperialer Arroganz, gepaart mit einer Durchhalterhetorik im Stile Churchills, wobei es natürlich kein Zufall ist, dass die Erinnerung an Churchill und das Churchilleske in der Politik im Sinne des eingangs besagten ‚Rule-Britannia’-Patriotismus (‚Britons shall never be slaves’) einmal mehr Konjunktur hat.
13 Ian Sinclair, The Last London. In: London Review of Books v. 30. März 2017, S. 7-11.
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So spielt der neueste Churchill-Film von Jonathan Teplitzky – mit Brian Cox in der Hauptrolle – im Juni 1944 während der letzten 48 Stunden vor dem D-Day, auch wenn eine der kurz nach dem EU-Referendum in Umlauf gebrachte neue Fünf-Pfundnote mit Churchills Konterfei für den Kinoeintritt nicht ausreicht. Bedrückend bleibt, wie unkritisch die Rhetorik des Zweiten Weltkrieges während und nach dem Brexit-Referendum aktiviert werden konnte (‚wir gegen den Rest der uns missverstehenden Welt’) und der Geist von Dünkirchen (Selbstrettung von über 300.000 britischen Soldaten über den Ärmelkanal Ende Mai/Anfang Juni 1940) als der moderne Britannien-Mythos schlechthin von fanatischen Brexit-Befürwortern beschworen wurde.14
Nur verschwindend wenige Intellektuelle halten weiterhin dagegen, allein voran der Schriftsteller Ian McEwan, der sich weigert, die Brexit-Realität anzuerkennen und Anfang Mai 2017 in einer in Central Hall (Westminster) gehaltenen Rede ein zweites Referendum forderte wie inzwischen auch Vince Cable, den die Liberalen in fortgeschrittenem Alter inzwischen zu ihrem Vorsitzenden gewählt haben.15
Erlauben wir uns ein diese Überlegungen beschließendes Abschweifen, um dadurch jedoch das Kernproblem Nationalismus und Brexismus als einer Form von kollektivem Narzissmus noch genauer zu benennen – und zwar in Form einer durchaus polemischen Diagnose:
Im Jahre 1650 beschrieb ein englischer Arzt, Francis Glisson mit Namen (1597-1677) erstmals Rachitis; nach ihm sind übrigens auch Glisson’sche Kapsel, eine Bindegewebskapsel der Leber, und die Glisson’sche Schlinge, eine Vorrichtung zur Streckung der oberen Wirbelsäule benannt. Fortan nannte man die Rachitis ‚die englische Krankheit’. Zwar wusste Glisson noch nicht, dass sie auf Vitamin-D-Mangel beruhte und auf falscher Ernährung in der ‚dunklen Jahreszeit’. Er beschrieb sie aber genau als die Verkrümmungen der Beine und der Wirbelsäule, der Verunstaltung des Brustkorbes und des Beckens als eine Verunmöglichung des für den Menschen typischen ‚aufrechten Ganges’.
In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte die ‚englische Krankheit’ oder ‚le mal anglais’ eine ökonomische Note: Absinken des Lebensstandards, steigende Inflations- und Arbeitslosenraten, Vertrauensschwund gegenüber dem Sterling, wie übrigens auch jetzt. Innerhalb von 15 Wochen im Jahre 1976 verlor das Pfund fünfzehn Prozent seines Kurswertes, das war ironischer Weise genau 200 Jahre nach Adam Smith Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes, die erstmals das Prinzip der Arbeitsteilung als Grundlage wirtschaftlicher Prosperität etablierte.
Von der Anatomie zur Ökonomie zur Psychopathologie: Seit dem 23. Juni 2016 hat die ‚englische Krankheit’ einen neuen Namen: Brexitis. Sie mag inzwischen sogar als Epidemie registrierbar sein. Ihre schizoide Dimension besteht darin, dass diese Krankheit von denjenigen, die von ihr befallen sind, als ein Gesundbrunnen gepriesen wird. Mithin gehört sie zu den besonders heimtückischen Gebrechen.
14 Vgl. Daniel Todman, Britain, Europe and the dangerous legacy of the Dunkirk spirit. In: The Guardian v. 3. Juni 2017, S. 29.
15 Ian McEwan, Let the people speak – again! In: The Guardian (Saturday Review) v. 3. Juni 2017, S. 5.
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Unklar ist gegenwärtig noch, ob sie genetisch bedingt ist oder von Viren übertragen wird. Womöglich verhalten sich die Dinge ohnehin komplexer; denn die Brexitis weist zwar eindeutig verhaltensgestörte Dimensionen auf (grassierender Fremdenhass bei gleichzeitig wachsender Abhängigkeit von ausländischen Investoren!), scheint aber in bestimmten vor allem mittleren und nördlichen Regionen des Inselstaates weiterhin wie eine Infektion hochgradig ansteckend zu sein.
Nun ist bekannt, dass die Pathologisierung von nicht im strengen Sinne medizinischen Phänomenen mehr als problematisch ist. Man denke allein an die Art, wie mit Max Nordaus ursprünglich kulturkritischem, die Phase des europäischen ‚fin-de-siècle’ und der ‚Décadence’ analysierenden Befund der ‚Entartung’ (1892) später umgegangen wurde.16 Im Falle zur Brexitis gewordenen Brexismus freilich handelt es sich nicht um eine Variante der in der ‚Décadence’ in Künstler- und Intellektuellenkreisen so beliebten Modekrankheit Neurasthenie, die sich auch in den vereinigten Staaten, vornehmlich an der Ostküste, epidemisch ausbreitete und von William James um 1890 als ‚Americanitis’ beschrieben wurde (allgegenwärtig wurde sie dann wieder in den New York-Filmen Woody Allens).
Die Symptome der Brexitis sind unzweifelhaft. Sie ist keine vorübergehende Unpässlichkeit, sondern womöglich der erste Fall eines medizinischen Paradoxons, nämlich einer national codierten ansteckenden Erbkrankheit. Über die Brexitis in dieser Weise zu reden ist daher, auch wenn es schmerzt, keine unlautere Pathologisierung einer psychopolitischen Befindlichkeit, sondern das Beim-Namen-Nennen einer gefährlichen und das größere Ganze gefährdenden Disposition. Denn es ist schlicht festzuhalten, dass die ‚Natur’ des Brexismus, ihr postimperiales Erscheinungsbild unstreitig krankhafte Züge trägt.
Wir wollen es ja nicht zu weit treiben mit dem auch ironisch gemeinten Aufzeichnen dieses Krankheitsbildes; denn die Lage ist mittlerweile, was schon seit geraumer Zeit absehbar war, zu ernst für bloße Ironie. Zuviel steht auf dem Spiel. Dass sich England mit diesem Referendum, der amateurhaften oder schlicht leichtsinnigen Art seiner Vorbereitung und Durchführung, völlig verrannt hat, steht mittlerweile Vielen mehr als deutlich vor Augen, auch wenn sie nicht jene Zivilcourage besitzen mögen, die John Major in Chatham House bei seiner – paradox gesagt – maßvollen Brandrede gegen das Vollziehen des Austritts aus der EU unter Beweis gestellt hat.
Nie war das englische Unvermögen, wirklich zur europäischen Idee zu stehen, augenscheinlicher und verhängnisvoller als jetzt. Nie war das englische Verhalten in Fragen der Europapolitik beschämender, fahrlässiger ja, selbstentlarvender. Allein dass das House of Lords überhaupt den Sachverhalt erst anmahnen musste, die ungesicherten Rechte der in Britannien lebenden EU-Bürger nach vollzogenem Brexit zu gewährleisten, weil das Unterhaus diese vermeintliche ‚Bagatelle’ schlicht übersehen hatte, spricht Bände. Es ist bedrückend zu sehen, dass die britische Diplomatie noch immer nicht begriffen zu haben scheint, dass sie weder fordern noch die zu erwartenden Einbußen durch den Verlust der Handelspräferenzen innerhalb der EU durch vorzeitig geschlossene und damit EU-rechtswidrige Handelsabkommen mit Drittstaaten ausgleichen kann.17 In den Augen der Europäischen Union, so sehr
16 Dazu grundlegend: Karin Tebben (Hrsg.), Max Nordau: Entartung. Berlin/Boston 2013.
17 Vgl. Rüdiger Görner, Illusionspolitik. Der Brexit als Offenbarungseid des ‚Systems Whitehall’. In: Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen (2017) – im Druck.
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auch sie optischer Behandlung bedürfen, steht England derweilen doch wieder als ‚perfides Albion’ da, die zweifelhaftesten Vorurteile gegen den Inselstaat von Napoleon bis de Gaulle peinlich bestätigend.
Wie eng der Spielraum für die Briten in Sachen Brexit tatsächlich geworden ist, wollen in Britannien nur wenige wahrhaben, obgleich etwa die internen Nöte mit Schottland eines zeigen: Die Identitäts- und Strukturkrise Britanniens ist hausgemacht und lässt sich nicht auf den Brexit abwälzen oder durch national(-istische) Emotionspolitik beheben; denn sie wird unweigerlich die internen Probleme des Inselstaates mit seinen diversen Nationalismen verschärfen. Schottland wird alles versuchen, die neue englische Krankheit nicht zu einer gesamtbritischen werden zu lassen; und es tut gut daran.
Wenn Britannien insgesamt nicht die Kraft zu einer grundlegenden politischen Strukturreform aufbringt, wird die Brexitis tatsächlich zu einem chronischen Zustand werden – mit nur zu deutlich absehbaren Folgen, deren noch mildeste, in welcher Tonlage auch immer, die Selbstmarginalisierung Britanniens sein wird.
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