Stimmungs- und Zukunftsbild in Deutschland . Psychologische Gestaltungskraft-Studie

Diskurs Platon Akademie 4.0 PA4 Diskurse 1995-2022 > EU-Demokratien . Natur : Kultur II
Gestaltungskraft - Zukunft denken . DE
pa4-if.de21-10zukunft-0-gestaltungskraft-
http://www.identity-foundation.de/zukunft/11022_Ergebnisse%20Zukunftsstudie_final.pdf

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  Stimmungs- und Zukunftsbild in Deutschland . Psychologische Gestaltungskraft-Studie

Wie die Deutschen ihre Zukunft denken
Neue Studie der Identity Foundation in Zusammenarbeit mit dem rheingold institut


»Was empfinden die Deutschen, wenn sie an ihre Zukunft denken?« Es ist eine Frage, die uns alle beschäftigt und angeht und dies nicht erst seit Corona. In einer tiefenpsychologischen Untersuchung in Kombination mit einer repräsentativen Befragung haben wir in Zusammenarbeit mit dem rheingold institut in Köln untersucht, welche Hoffnungen oder auch Ängste die Bevölkerung bewegen, wenn Sie in die Zukunft schaut. Die Ergebnisse sind beeindruckend – oder, je nach Einschätzung, dramatisch.

ÜBERBLICK
Deutschlands Zukunft zwischen No-Future-Modus und Gestaltungskraft im kleinen Kreis
Fast 90 Prozent der Bevölkerung befürchten drastische Veränderungen
Düsseldorf/Köln, 15. Oktober 2021. Zwei Drittel der Deutschen blicken ängstlich auf die gesellschaftliche Zukunft. Mangelndes Vertrauen in Staat und Institutionen sowie die Angst vor gesellschaftlicher Spaltung forcieren den Rückzug in private Nischen. Es wächst aber auch die Bereitschaft, allein oder mit Gleichgesinnten für eine lebenswerte Zukunft tätig zu werden. Das sind zentrale Erkenntnisse einer repräsentativen und tiefenpsychologischen Untersuchung der gemeinnützigen Stiftung für Philosophie Identity Foundation in Düsseldorf in Zusammenarbeit mit dem Kölner rheingold institut.
Durch die Allgegenwart schwerer Krisen ist die Bevölkerung verunsichert, das Vertrauen in eine bessere Zukunft ist fundamental erschüttert: Die Mehrheit der Deutschen befindet sich in einem "No-Future"-Modus. Gesellschaftlichen Herausforderungen und anstehenden Umbrüchen begegnet eine Mehrheit mit einer resignativen Grundhaltung. Sie glaubt nicht daran, dass die großen Probleme unserer Zeit gelöst werden können, die Leistungsfähigkeit des Staates und die Zukunftschancen Deutschlands werden sehr skeptisch beurteilt. Das Vertrauen, dass Staat, Politik, Institutionen und Parteien die Krisen lösen können, ist erodiert: Nur 26 Prozent stimmt das Wirken von Politik und Parteien optimistisch für die Zukunft. Die Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Mehrheit: „Deutschland steht vor einem Niedergang“ (61 Prozent) und „durch Krisen wie Corona und den Klimawandel stehen uns drastische Veränderungen bevor“ (88 Prozent).
Im Kleinen zeigt sich jedoch auch eine hoffnungsstiftende Graswurzel-Mentalität. Im eigenen Schaffen erleben viele Befragte Selbstwirksamkeit und Fortschritte. Aufbruchsstimmung, Zukunftselan und Gestaltungswille zeigt sich bei einem Drittel der Befragten im Anpacken in der eigenen Lebenswelt. Viele entwickeln das Gefühl, selbst etwas beitragen zu können und eine bessere Welt von unten zu fördern. Nachbarschaftliche Initiativen, veränderte Ernährungs- und Konsumgewohnheiten, soziale und ökologische Netzwerke oder post-kapitalistische Geschäftsmodelle finden immer mehr Aufmerksamkeit in der Welt der Befragten.
"Die Aussichtslosigkeit, die viele Menschen empfinden und das mehrheitlich beklagte politische Versagen haben wir bereits in früheren unserer Studien festgestellt", sagt Paul J. Kohtes, Gründer der Philosophie-Stiftung Identity Foundation. "Womöglich stehen wir vor einem sehr grundsätzlichen gesellschaftlichen Perspektivwechsel und die Idee institutioneller Lösungen von oben ist ein Auslaufmodell. Interessant ist, dass inzwischen ein Drittel der Bevölkerung im Spirituellen Ermutigung findet, nicht als Weltflucht, sondern als Antrieb, sich dem Leben und seinen Herausforderungen tatkräftig zuzuwenden", so Kohtes.
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INHALT
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Tiefenpsychologische und repräsentative Studie:
Wie Deutsche in die Zukunft blicken
Deutschlands Zukunft zwischen
No-Future-Modus und Gestaltungskraft
im kleinen Kreis
Fast 90 Prozent der Bevölkerung befürchten drastische
Veränderungen
Köln/Düsseldorf, 14. Oktober 2021. Zwei Drittel der Deutschen blicken
ängstlich auf die gesellschaftliche Zukunft. Mangelndes Vertrauen in
Staat und Institutionen sowie die Angst vor gesellschaftlicher
Spaltung forcieren den Rückzug in private Nischen. Es wächst aber
auch die Bereitschaft, allein oder mit Gleichgesinnten für eine
lebenswerte Zukunft tätig zu werden. Das sind zentrale Erkenntnisse
einer repräsentativen und tiefenpsychologischen Untersuchung des
Kölner rheingold instituts in Zusammenarbeit mit der gemeinnützigen
Stiftung für Philosophie Identity Foundation in Düsseldorf.
„Ich sehe in diesem Jahrhundert die Menschen vor riesigen Problemen. Dürre,
Hunger, Ressourcen-Krieg, Migrationsbewegungen in der ganzen Welt.“
(weiblich, 28 Jahre, Hamburg städtisch)
Durch die Allgegenwart schwerer Krisen ist die Bevölkerung
verunsichert, das Vertrauen in eine bessere Zukunft ist fundamental
erschüttert: Die Mehrheit der Deutschen befindet sich in einem „NoFuture“-Modus.

Gesellschaftlichen Herausforderungen und anstehenden
Umbrüchen begegnet eine Mehrheit mit einer resignativen Grundhaltung.
Sie glaubt nicht daran, dass die großen Probleme unserer Zeit gelöst
werden können, die Leistungsfähigkeit des Staates und die
Zukunftschancen Deutschlands werden sehr skeptisch beurteilt. Das
Vertrauen, dass Staat, Politik, Institutionen und Parteien die Krisen lösen
können, ist erodiert: Nur 26 Prozent stimmt das Wirken von Politik und
Parteien optimistisch für die Zukunft. Die Wahrnehmung einer
gesellschaftlichen Mehrheit: „Deutschland steht vor einem
Niedergang“ (61 Prozent) und „durch Krisen wie Corona und den
Klimawandel stehen uns drastische Veränderungen bevor“ (88 Prozent).
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Viele Bürger*innen befinden sich in einem akuten MachbarkeitsDilemma.
Sie erkennen die großen Zukunftsprobleme, haben aber keine
Idee, wie sich diese Jahrhundert-Herausforderungen bewältigen lassen.
Daher ziehen sie sich zunehmend in ihr privates Schneckenhaus oder
ihre persönlichen Nischen zurück. „Die Menschen verschanzen sich in
kleinen Wirkungskreisen mit Gleichgesinnten und versuchen in ihren
persönlichen Umfeldern zu retten, was noch zu retten ist“, sagt Stephan
Grünewald, Psychologe und Gründer des auf tiefenpsychologische
Forschung spezialisierten rheingold instituts.
Die globale, europäische oder gesamtdeutsche Perspektive wird dabei
ersetzt durch eine neue Selbstbezüglichkeit. Das eigene Ich, die Familie
oder das unmittelbare soziale Umfeld stehen im Fokus. Private „NischenProjekte“, das Kümmern um die eigene Welt und das Streben nach dem
persönlichen kleinen Glück stehen in der Folge hoch im Kurs.
Optimismus für die Zukunft speist sich eher aus dem Glauben an sich
selbst und die eigenen Fähigkeiten (79 Prozent), der eigenen Familie
(79 Prozent) und dem persönlichen Umfeld (81 Prozent).
Der Glaube an den vereinenden Staat und Parteien schwindet. Die
größte Zukunftsangst betrifft den sozialen Klimawandel mit seiner
fortschreitenden Polarisierung und dem Auseinanderdriften der
Gesellschaft.
Das während der Corona- und Klimakrise erlebte Regierungshandeln
wurde als unzulänglich erlebt. Dies trägt zu einem verunsicherten und
teils resignierten Verhältnis zur Politik bei. Zwar sehen viele Befragte
gute Voraussetzungen für eine individuell erfolgreiche Gestaltung des
Lebens in Deutschland (67 Prozent), aber das Vertrauen in den sozialen
Zusammenhalt erodiert zunehmend: 83 Prozent haben Angst vor einer
gesellschaftlichen Spaltung, 90 Prozent beobachten eine immer stärker
werdende soziale Spreizung in Arm und Reich und 91 Prozent nehmen
eine zunehmende Aggressivität in der Gesellschaft wahr.
Die Furcht vor einer Spaltung ist bereits im Jetzt verankert. Die Hälfte
der Bevölkerung fühlt sich in ihrer gegenwärtigen Lebenslage „im Stich
gelassen“. 30 Prozent geben an, dass das Leben aktuell schon
„schwierig und belastend“ ist. Gleichzeitig zeigt sich bei etwa einem
Drittel (31 Prozent) entspannt-zurückgelehnter Wohlstandsgenuss.
Auch im Hinblick auf die konkreten privaten Zukunfts-Strategien zeigen
sich bedeutsame Unterschiede, die sich anhand von sechs ZukunftsTypen differenzieren lassen.
Das Spektrum reicht von den
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Eingekapselten, die Zukunftsfragen am liebsten ausblenden oder die
Vergangenheit verklären, über die Tribalisten, deren Aktionsradius in der
Nachbarschaft oder im Verein endet, bis hin zu den Missionierenden, die
sich einer weltrettenden Ideologie wie zum Beispiel dem Veganismus
verschreiben.
Eine Aufbruchs-Stimmung keimt im Kleinen – ein Drittel arbeitet auf
eine bessere Zukunft hin
Im Kleinen zeigt sich jedoch auch eine hoffnungsstiftende GraswurzelMentalität.
Im eigenen Schaffen erleben viele Befragte
Selbstwirksamkeit und Fortschritte. Aufbruchsstimmung, Zukunftselan
und Gestaltungswille zeigt sich bei einem Drittel der Befragten im
Anpacken in der eigenen Lebenswelt. Viele entwickeln das Gefühl,
selbst etwas beitragen zu können und eine bessere Welt von unten zu
fördern. Nachbarschaftliche Initiativen, veränderte Ernährungs- und
Konsumgewohnheiten, soziale und ökologische Netzwerke oder
postkapitalistische Geschäftsmodelle finden immer mehr Aufmerksamkeit in
der Welt der Befragten.
Die Landschaft dieser „Anpacker“ ist noch sehr heterogen in ihren
Themen, Zielen und ihrem Lifestyle. Obwohl eine signifikante
gesellschaftliche Gesamtströmung noch nicht zu erkennen ist, zeigt sich
Zukunftsoptimismus im partikularen Rahmen und mit nachhaltigen
Perspektiven. Dass diese vielen kleinen Pflänzchen eines neuen
Gestaltungswillens in diesem Jahrzehnt zusammenwachsen könnten,
das ist gegenwärtig die große Hoffnung eines ansonsten ernüchternden
Bildes der Zukunftserwartung der Deutschen.
„Die Aussichtslosigkeit, die viele Menschen empfinden und das
mehrheitlich beklagte politische Versagen haben wir bereits in früheren
unserer Studien festgestellt“, sagt Paul J. Kohtes, Gründer der PhilosophieStiftung Identity Foundation. „Womöglich stehen wir vor einem sehr
grundsätzlichen gesellschaftlichen Perspektivwechsel und die Idee
institutioneller Lösungen von oben ist ein Auslaufmodell. Interessant ist,
dass inzwischen ein Drittel der Bevölkerung im Spirituellen Ermutigung
findet, nicht als Weltflucht, sondern als Antrieb, sich dem Leben und seinen
Herausforderungen tatkräftig zuzuwenden“, so Kohtes.
„Wir erleben eine Zeiten-Wende“, bekräftigt Grünewald. „Diese Studie
beschreibt den Geist, die Unsicherheiten, die Regressions- und
Progressions-Kräfte einer Übergangszeit, in der sich unsere Gesellschaft
massiv verändern wird.“ Dabei sei noch offen, ob die Tendenzen zu
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Rückzug und weiterer Parzellierung gestärkt werden oder die Kräfte des
gesellschaftlichen Zusammen-Wachsens und der Überwindung von
Trennlinien durch das Aufgreifen gemeinsamer Herausforderungen.
Zur Stichprobe und Methode der Studie:
Im Rahmen der qualitativen Zukunfts-Studie wurden jeweils 64 Wähler*innen in
zweistündigen psychologischen Tiefeninterviews befragt. Bei der Auswahl der
Proband*innen wird darauf geachtet, dass Parteipräferenzen und
soziodemographische Strukturen (Geschlechter, regionale Verteilung,
Altersverteilung, Bildung und Beruf) möglichst genau abgebildet werden. Die TiefenExplorationen werden von einem fünfköpfigen Psycholog*innen-Team durchgeführt
und analysiert. Untermauert wurden die Erkenntnisse durch eine deutschlandweit
repräsentative quantitative Befragung (n = 1000).
Über rheingold Institut für qualitative Markt- und Medienanalysen:
rheingold zählt zu den renommiertesten Adressen der qualitativ-psychologischen
Wirkungsforschung. Das Institut hat sich mit seinen rund 50 festen Mitarbeitern und 140
freien Auftragnehmern – überwiegend Diplom-Psychologen – auf tiefenpsychologische
Kultur-, Markt- und Medienforschung spezialisiert. Jahr für Jahr liegen bei rheingold rund
5.000 Frauen und Männer „auf der Couch“. Dabei analysieren die Wissenschaftler auch die
unbewussten seelischen Einflussfaktoren und Sinnzusammenhänge, die das Handeln eines
jeden Menschen mitbestimmen.
Über die Identity Foundation:
Die Identity Foundation ist eine gemeinnützige Stiftung für Philosophie und realisiert Projekte
zu Fragen der Identität. Bisherige Forschungsthemen waren unter anderem die Entwicklung
von Eliten, das Selbstverständnis der Deutschen und Aspekte der persönlichen und
spirituellen Entfaltung des Menschseins. Seit 2014 ist die Stiftung Kooperationspartner der
phil.cologne, dem jährlichen größten deutschen Philosophie-Festival. Hier betreut sie eine
eigene Salon-Reihe unter dem Titel „Grenzgänge der Philosophie“.
Die Ergebnisse im Detail:
Krisenpermanenz bremst Aufbruchs-Stimmung
Spricht man mit Bürgerinnen und Bürgern über ihre Vorstellungen von
der Zukunft, dann ist von Aufbruchs-Stimmung und Zukunfts-Optimismus
wenig zu spüren. Zwei Jahrzehnte Krisenpermanenz haben zu einer
tiefen Verunsicherung der Menschen hierzulande geführt. Viele fühlen
sich in ihren ideellen Grundfesten erschüttert, das Vertrauen in die
Institutionen und die Parteien schwindet, der weltanschauliche
Orientierungsrahmen löst sich auf und die Sorge der Menschen vor einer
weiteren Parzellierung und Polarisierung der Gesellschaft wächst.
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„Ich gehöre zu der Generation, die mit den Entscheidungen von heute leben
muss. Wenn wir so weiter machen, ist es bald vorbei mit uns.“ (weiblich, 26
Jahre, Münchener Umland)
Corona forcierte Zukunftsängste und stärkt Selbstbezüglichkeit
Die Corona-Krise hat die Verunsicherung der Menschen weiter
zugespitzt und die Zukunftsängste noch verstärkt. Denn fast alle haben
die Erfahrung gemacht, dass ihr gewohntes Leben auf den Kopf gestellt
wurde und der Rhythmus ihres Alltags aus dem Takt geraten ist.
Freundschaften oder Beziehungen sind zerbrochen wegen sich
vertiefender ideologischer Gräben im Hinblick auf den
„richtigen“ Umgang mit dem Virus oder der Impfung. Zudem wurden viele
Entscheidungen der Politik in der Corona-Krise als unzulänglich oder
unangemessen erlebt.
„Die Pandemie hat gezeigt, dass unser Staat uns nicht vor allem schützen
kann. Wir sind wieder mehr auf uns selbst angewiesen.“
(männlich, 29 Jahre, München städtisch)
Die Zukunfts- und Weltoffenheit der Menschen ist stark geschrumpft.
Viele denken nicht mehr in globalen oder europäischen Dimensionen.
Selbst die nationale Perspektive ist aus dem Blick geraten, denn der
Fokus der Menschen gilt vor allem dem persönlichen Nahbereich, der
eigenen Familie oder dem eigenen Selbst. Nur 5 Prozent der quantitativ
Befragten engagieren sich selbst aktiv gesellschaftlich (Demos,
Umweltverbände etc.), 41 Prozent konzentrieren sich auf ihren
persönlichen Nahbereich und leisten im Alltag einen Beitrag, zum
Beispiel mit nachhaltigem Konsum oder Nachbarschaftshilfe.
Sinnbildlich haben sich viele Deutsche in ihr privates Schneckenhaus
zurückgezogen. In ihrem kleinen Wirkungskreis umgeben sie sich mit
Gleichgesinnten, hier verspüren sie Sicherheit und Selbstgewissheit.
„Unser Zuhause ist die Arche Noah. Das eigene Heim geht nicht
unter.“ (Proband im Tiefeninterview vor der Flutkatastrophe)
Das spiegelt sich auch in den Zahlen der repräsentativen Erhebung: Die
Mehrheit nimmt eine gestiegene Selbstbezüglichkeit der Menschen
(87 Prozent) wahr und setzt Hoffnungen in eine individuell gute Zukunft
(64 Prozent). Daher steht auch die eigene Zukunftssicherung (Rente und
soziale Absicherung) an erster Stelle der persönlichen Wunschliste
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(70 Prozent), der Wunsch nach einer intakten Umwelt nur auf Platz zwei
(50 Prozent).
Fundamentales Machbarkeits-Dilemma erzeugt Zukunfts-Vakuum
Die Auseinandersetzung mit der Zukunft stürzt die Menschen in ein
fundamentales Machbarkeits-Dilemma. Jenseits ihrer selbstgestalteten
Rückzugsräume begegnen sie in der Welt kaum zu bewältigenden
Problemen: Die Delta-Variante ist auf dem Vormarsch, das Beispiel
Afghanistan zeigt, wie fundamentalistische Weltbilder die Werte des
Westens aushebeln und Flut sowie Waldbrände machen sichtbar, dass
der Klimawandel unerbittlich näher rückt.
„Ich sehe in diesem Jahrhundert die Menschen vor riesigen Problemen. Dürre,
Hunger, Ressourcen-Krieg, Migrationsbewegungen in der ganzen
Welt.“ (weiblich, 28 Jahre, Hamburg städtisch)
Die Menschen haben das Gefühl, dass sie global und national (Rente,
bezahlbarer Wohnraum, Schulden, Pflegenotstand) vor JahrhundertHerausforderungen stehen.
Allerdings haben die meisten keine Idee, wie
sie diese gewaltigen Probleme lösen können und sie erleben auch die
Politik als weitgehend planlos.
Die Zukunft erscheint als ein riesiges Vakuum, das mal mit
paradiesischen Erlösungs-Hoffnungen, mal mit finsteren UntergangsFantasien gefüllt wird:
„Ich sehe viel mehr Grün, bezahlbare Wohnungen, keine Brennpunkte, mehr
Tiere. Wir fliegen nicht mehr. Für jeden ist gesorgt. Vielleicht gibt es ein
Grundeinkommen, weil die Maschinen für uns arbeiten. Jeder kann sein, wie er
ist, es ist allen völlig egal.“ (weiblich, 26 Jahre, München)
„Wenn die Klimakatastrophe eintritt, müssen wir in Europa wie unter einer
Kuppel leben. Eine Käseglocke, damit die Luft zum Atmen noch da ist. Drum
herum herrscht Elend, Dürre, alles ist voller Staub und verdunkelt.“ (männlich,
18 Jahre, Schüler, Köln)
Angst vor dem sozialen Klimawandel: Vertrauen in den sozialen
Zusammenhalt schwindet
Zwar sehen viele Befragte immer noch gute Voraussetzungen für eine
individuell erfolgreiche Gestaltung des Lebens in Deutschland
(67 Prozent), aber das Vertrauen in den sozialen Zusammenhalt erodiert
zunehmend: 83 Prozent haben Angst vor einer gesellschaftlichen
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Spaltung, 90 Prozent beobachten eine immer stärker werdende soziale
Spreizung in Arm und Reich und 91 Prozent nehmen eine zunehmende
Aggressivität in der Gesellschaft wahr. Die Förderung sozialer
Gerechtigkeit und der Gemeinwohlinteressen wurden mit 89 Prozent am
häufigsten genannt, wenn es um die wichtigsten Aufgaben der Politik
geht.
Die Furcht vor einer Spaltung ist bereits im Jetzt verankert. Die Hälfte
der Bevölkerung fühlt sich in ihrer gegenwärtigen Lebenslage „im Stich
gelassen“. 30 Prozent geben an, dass das Leben aktuell schon
„schwierig und belastend“ ist. Gleichzeitig zeigt sich bei etwa einem
Drittel (31 Prozent) entspannt-zurückgelehnter Wohlstandsgenuss. Auch
im Hinblick auf die konkreten privaten Zukunfts-Strategien zeigen sich
bedeutsame Unterschiede, die sich anhand von sechs Zukunfts-Typen
differenzieren lassen.
Sechs Zukunfts-Strategien im Spektrum von Regression und
Progression
Im Hinblick auf konkrete private Zukunfts-Strategien zeigen sich
bedeutsame Unterschiede, die sich anhand von sechs Zukunfts-Typen
differenzieren lassen:
Die Eingekapselten forcieren den Rückzug und verschanzen sich in
Selbstbezüglichkeit oder in symbiotischen Lebensformen, die nicht in
Frage gestellt werden. Die großen Zukunftsfragen blenden sie rigoros
aus, weil sie ihren persönlichen Status quo erhalten wollen. Mitunter
neigen sie zu einer starken Idealisierung der eigenen oder der deutschen
Vergangenheit.
Die Familiären haben in der Krise ihren verwandtschaftlichen Rückhalt
gestärkt. Ihre Zukunftsvorstellungen beziehen sich hauptsächlich auf die
Stabilisierung oder den Ausbau ihrer Kern-Familie. Eine größere
Wohnung, Eigentum, die Bildung der Kinder oder Reisen bestimmen
ihren Lebenshorizont.
Die Tribalisten forcieren ein Zusammenwachsen auf gesellschaftlicher
Ebene und engagieren sich mit Gleichgesinnten lokal. Die Umsetzung
ihrer Projekte auf Vereinsebene oder im Nachbarschaftsverbund gibt
ihnen das Gefühl, im Kleinen die Zukunft gestalten zu können.
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Die Selbst-Ermächtiger verbinden die Zukunft vor allem mit ihrem
persönlichen Werdegang und ihren Entwicklungs- oder KarriereMöglichkeiten. Sie haben in der Vergangenheit (als Migranten oder
Aufsteiger) die Erfahrung gemacht, dass sie durch Ehrgeiz oder das
Vertrauen in ihre Fähigkeiten ihr Schicksal wenden können. An die Stelle
eines Gott- oder Staatsvertrauens tritt das Vertrauen in das eigene
Potential, das sich entfalten lässt, wenn man optimistisch und
veränderungsbereit ist.
Fortschritts-Illusionisten beschwichtigen das Machbarkeits-Dilemma
mit der Hoffnung, dass die technologische Entwicklung die großen
Herausforderungen lösen wird. Das gibt ihnen den (moralischen)
Freiraum, ihr weiteres Leben ungebremst zu genießen. Zukunft bedeutet
daher für sie vor allem die Entfaltung ihrer eigenen Träume.
Die Missionierenden finden einen Anpack an die Zukunft, indem sie
sich einer weltrettenden Idee verschreiben. Sie ernähren sich vegan,
verzichten auf Reisen oder setzen auf Krypto-Währung. Ihnen ist es
wichtig, in diesen originären Bereichen eine Vorbild-Funktion zu
übernehmen und andere von ihrer Haltung zu überzeugen.
Eine Vorform der Missionierenden findet sich zunehmend bei
Jugendlichen im Umgang mit ihren Eltern, zu denen sie meist ein gutes
Verhältnis pflegen. Da die Jugendlichen keine offene Revolte riskieren,
haben sie eine subtile Art der Umerziehung entwickelt – sie setzen neue
Standards in nachhaltiger Lebensweise oder gendergerechter Sprache
und versuchen so im familiären Umfeld Vorrausetzungen für eine
bessere Zukunft zu schaffen. Die Kehrseite des neuen
Erziehungsmodells ist jedoch eine immer stärkere Delegation der
Zukunftsgestaltung von den Eltern an die junge Generation.
Der Umbruch als Chance: Erweiterte Selbst-Wirksamkeit, die Kraft
authentischer Neo-Gemeinschaften und die Lust am ZusammenWachsen
Veränderungs-Druck (88 Prozent) und ein pessimistisches Zukunftsbild
(76 Prozent) zeigen sich zwar deutlich. Dennoch werden die Krisen auch
als Chance wahrgenommen (80 Prozent). Denn Corona und die
Lockdown-Erfahrungen haben auch zu einer neuen Form der SelbstWirksamkeit geführt.
Angespornt durch die äußeren Beschränkungen
sind viele Menschen in Innenräumen aktiv und schöpferisch geworden.
Kochen, Pflanzen, Renovieren – voller Stolz und Zuversicht haben viele
gespürt, dass sie im Kleinen etwas ausrichten und bewegen können.
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Vor dem Hintergrund des Zukunftsvakuums wird Aktivismus im
persönlichen Nahbereich zur gefühlt einzigen Möglichkeit, der
wahrgenommenen Aussichtslosigkeit etwas entgegenzusetzen. Ein
erlebtes Miteinander und Hilfsbereitschaft machen dabei Mut
(51 Prozent), einen Teil der Bevölkerung stimmen spirituelle Bezüge
wieder optimistisch für die Zukunft (32 Prozent).
Auch die Sozial-Bezüge wurden neu geordnet und sortiert. An die Stelle
der digitalen Kontakt-Maximierung trat die Suche nach echten und
tragfähigen Beziehungen: Wer steht mir wirklich nah? Wem kann und will
ich vertrauen? Mit wem kann ich etwas bewegen? Vor allem die FlutKatastrophe hat gezeigt, zu welchen Formen der Solidarität ein
Gemeinwesen fähig ist, das sich nicht einem abstrakten VersorgungsApparat überantwortet, sondern handfesten Aufgaben stellt.
Die Fokussierung auf den Nahbereich hat das Verantwortungs- und
Machbarkeits-Gefühl gestärkt, im Lokalen etwas bewirken und verändern
können. Zukunftsprojekte ergeben sich dann aus den jeweils konkreten
Lebens-Sphären – pragmatisch, praktisch, ganz real und als Kontrapunkt
zu den als leer wahrgenommenen Versprechungen des Politikbetriebes.
Die Einsicht wächst, dass Teilhabe zu einem Mehr an Zufriedenheit und
Gemeinschaftsgeist führt.
Prognose: Wir erleben eine Zeiten-Wende und die Studie beschreibt
den Geist, die Unsicherheiten, die Regressions- und Progressions-Kräfte
dieser Übergangszeit. Offen und zu hoffen bleibt, dass nicht die
Tendenzen zu Rückzug und weiterer Parzellierung gestärkt werden,
sondern die Kräfte des gesellschaftlichen Zusammen-Wachsens. So
kann die gesellschaftliche Brüchigkeit stabilisiert und Trennlinien können
durch das Aufgreifen gemeinsamer Herausforderungen überwunden
werden – der Einzelne kann durch die Rückkopplung und Wertschätzung
der Gemeinschaft über sich hinauswachsen.

Kontakte
rheingold institut:
Ismene Poulakos
Head of Corporate Communications
rheingold GmbH & Co. KG
Kaiser-Wilhelm-Ring 46, 50672 Köln
Telefon +49 221 912777-44
mailto:poulakos@rheingold-online.de
http://www.rheingold-marktforschung.de

Identity Foundation:
Dr. Nadja Rosmann
Wissenschaftliche Projektleitung und Kommunikation
Identity Foundation – Gemeinnützige Stiftung für Philosophie
Arnulfstraße 35a, 40545 Düsseldorf
Telefon +49 6192 2068 258
mailto:nadja.rosmann@identity-foundation.de
http://www.identity-foundation.de

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