SWR2 Wissen: Das Unvorhersehbare – Wenn das Schicksal zuschlägt . Von Tilman Allert

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Unvorhersehbares - Evidenzen . T. Allert
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SWR2 Wissen: Das Unvorhersehbare – Wenn das Schicksal zuschlägt . Von Tilman Allert
Sendung: Ostermontag, 5. April 2021, 8.30 Uhr Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2021
https://www.swr.de/swr2/wissen/210405-das-unvorhersehbare-100.pdf;

https://de.wikipedia.org/wiki/Tilman_Allert


Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
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Urhebers bzw. des SWR.
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Kernaussagen ( Fazit :: k. )
Wie sieht eine Evidenzprüfung* aus?
Und das geht blitzschnell, meistens unbemerkt. Jemand sagt
irgendetwas, und wir sagen "Aha". Oder wir sagen: "Was Du nicht sagst.“ Oder wir
sagen: "Spinnst Du?" oder wir sagen: "Wo steht das denn?" Oder wir sagen, mit
Loriot: "Ach, was." "Nicht wahr", das *Oder (in CH)" , "isn´t it?" (EN) das gern hinter
alles gesetzt wurde, was man so im small talk sagt...

*)Evidenz
unumstößliche Tatsache, faktische Gegebenheit "aller empirischen Evidenz zum Trotz hält er an dieser Theorie fest"..
Evidenz bezeichnet in der Philosophie das aufgrund von Augenschein oder zwingender Schlussfolgerung unbezweifelbar Erkennbare oder die dadurch erreichte unmittelbare Einsicht.
Aktuell: In Zweigen der Wissenschaft eine andere, teils gegensätzliche Wortbedeutung etabliert; in Medizin, Pharmazie und Wissenschaftstheorie wird unter Evidenz der empirische Nachweis für einen Sachverhalt oder eine Behauptung verstanden..
https://de.wikipedia.org/wiki/Evidenz

*
3 Denkmodelle.
1. Instanz
Aberglaube
Beim Aberglauben wird die Evidenz
bemüht, durch Rekurs auf Wirkungszusammenhänge, die in kosmischen oder
terrestrischen Vorgängen ihren Anfang nehmen.
2. Instanz.
Glaube
Der Glaube sieht eine im Einzelnen unterschiedlich gedachte,
aber systematisch stets wirksame Handlungsautonomie des gläubigen Menschen
Mit dem Zusatz: Die Sicht der Welt wirkt dabei folgenreich kompliziert.
3. Instanz.
Rationalisierung
Die Rationalisierung des Lebensvollzugs unter der Leitidee wissenschaftlicher Rationalität (Max Weber):
Auf die Suche nach Kausalitäten gehen, die das Schicksalhafte als eine grundlegend beherrschbare Einflussgröße sieht...
zurückführen.
4. Instanz.
Alltagswissen
Das Alltagswissen ist der Schatz des Antihelden..Menschen, die eine erfahrene
Imperfektion des eigenen Lebens nicht als eine Zumutung oder eine Strafe erfahren.
- "Et kütt wie et kütt".Lebensgefühl des Rheinländers
- „inschallah“, Lebensklugheit
***

3 Denkmodelle.
1. Instanz / Denkmodell.
Aberglaube
Beim Aberglauben wird die Evidenz
bemüht, durch Rekurs auf Wirkungszusammenhänge, die in kosmischen oder
terrestrischen Vorgängen ihren Anfang nehmen.
2. Instanz.
Glaube
Der Glaube sieht eine im Einzelnen unterschiedlich gedachte,
aber systematisch stets wirksame Handlungsautonomie des gläubigen Menschen
Mit dem Zusatz: Die Sicht der Welt wirkt dabei folgenreich kompliziert.
3. Instanz.
Rationalisierung
Die Rationalisierung des Lebensvollzugs unter der Leitidee wissenschaftlicher Rationalität (Max Weber):
Auf die Suche nach Kausalitäten gehen, die das Schicksalhafte als eine grundlegend beherrschbare Einflussgröße sieht...
zurückführen.
4. Instanz.
Alltagswissen
Das Alltagswissen ist der Schatz des Antihelden..Menschen, die eine erfahrene
Imperfektion des eigenen Lebens nicht als eine Zumutung oder eine Strafe erfahren.
- "Et kütt wie et kütt".Lebensgefühl des Rheinländers
- „inschallah“, Lebensklugheit
***

ÜBERBLICK
Der moderne Mensch versteht sich als Macher, als Meister seines Schicksals. Umso
dramatischer, wenn das Unvorhersehbare zuschlägt. Das Ende einer Liebe, ein Unfall
oder der plötzliche Tod eines lieben Menschen kann uns völlig aus der Bahn werfen.
Und doch müssen wir lernen, mit dem Schicksal umgehen.

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MANUSKRIPT
Anmoderation:
Mit dem Thema: „Das Unvorhersehbare – Wenn das Schicksal zuschlägt“. Am
Mikrofon: Ralf Caspary.
Auf das Schicksal ist die moderne Gesellschaft nicht vorbereitet. Ihr
Selbstverständnis leitet sich aus der Idee der Weltbeherrschung, nicht der
Weltanpassung ab. Da hat das Schicksal keinen Platz. Auch im individuellen Leben
ist die Idee einer nicht zurechenbaren, doch gleichwohl wirksamen Kraft
verschwunden. Die meisten Menschen lassen den lieben Gott einen guten Mann
sein und stellen sich ein auf das, was situativ opportun und zu bewältigen ist. Wir
sind die Macher, nicht das Schicksal.
Doch dem Schicksal kann man nicht ausweichen. Wie begegnen wir der
Konfrontation mit einer Heimsuchung, mit dem Schicksalhaften, dem
Unkontrollierbaren? Antworten gibt der Soziologe Professor em. Tilman Allert.
Tilman Allert:
"Und nun die Lottozahlen", diese Ankündigung werden vermutlich manche von Ihnen
schon einmal gehört haben – es ist mittwochs und samstags, das Fanal zu Sekunden
hoher seelischer Erregtheit. Die einen stürzt es in bodenloses Glück, anderen
beschert es einen verhaltenen Ärger und vielen Menschen, die sich am Lotteriespiel
nicht beteiligen, verschafft es eine winzige Genugtuung. Haben diese mit einem
Hauch von Selbstbetrug etwas Humor, so könnten sie sogar mit einem
Augenzwinkern sagen: „Schon wieder gewonnen“.
Sie haben es schon gemerkt, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer: Obwohl eine erste
Assoziation zu unserem Thema es nahelegt, ich verspreche Ihnen zu Beginn: Kein
Wort zu dem, was uns Zeitgenossen seit mehr als einem Jahr das Herz beschwert –
und den Mund verschließt. Auch Beethovens Fünfte Sinfonie, in deren erstem Satz ja
angeblich unser Thema vertont sein soll, wollen wir für heute einmal im
Plattenschrank lassen. Und all denen, die der Programmplanung des Senders einen
Aktualitätsbezug unterstellen, sage ich: Mitnichten, wir gehen anders vor und widmen
uns der Frage, mit welcher Lebenssituation wir es zu tun haben, wenn vom Schicksal
die Rede ist.
Wir sagen schon jetzt, ein leichtfertiger Gebrauch des Wortes verbietet sich. Nicht
alles, was Menschen widerfährt, verdient die Bezeichnung Schicksal, aber
gleichermaßen schräg, ja geradezu vermessen und hochmütig wäre es, wenn
jemand sein Leben von vornherein als vom Schicksal erfasst bezeichnen wollte.
Wer auch nur ganz kursorisch den Assoziationsraum des Wortes abfährt, stößt auf
die Frage, wie denken wir Menschen der Moderne über Vorgänge und Ereignisse,
von denen wir kalt erwischt werden, die uns überwältigen. Ereignisse, die unser
Rationalitätsverständnis in Frage stellen, mit dem wir gewohnt sind, unser eigenes
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Leben als irgendwie stimmig zu begreifen. Dazu gehört die Idee von einem Anfang
und Ende, einem "erst dies", "dann das", mithin eine Perspektivierung des eigenen
Tuns und Unterlassens über die Zeitstruktur von Gegenwart, Vergangenheit und
Zukunft. Eine Zeitstruktur die als eine Trivialphilosophie unseres Lebens vertraut ist,
und eine Zeitstruktur, in die das, was wir Schicksal nennen, auf eine noch zu
bestimmende Weise einbricht. Man kann es auf die paradoxe Frage bringen, wie sind
wir eigentlich vorbereitet auf das, was uns unvorbereitet trifft? Wir werden noch
sehen, unserer Reflexion zugänglich wird das Schicksal über die Dimension der
Nachträglichkeit. Im Nachhinein erkennen wir das Schicksal als Schicksal, in der
unmittelbaren Erfahrungssituation wissen wir gar nicht, wie uns geschieht, wir stehen
auf dem Schlauch, sind von Panik erfasst, erschüttert, jauchzen oder sind zu Tode
betrübt – oder/und mit praktischen Dingen der Situationsbewältigung beschäftigt,
retten, was zu retten ist oder flüchten uns in ein Tun, wie wir es schon immer getan
haben.
Erfahrungen treffen den Menschen nicht unmittelbar. Sie erscheinen über
Gewohnheiten gefiltert. Von Lebensgeschichte zu Lebensgeschichte, und wiederum
von sozialem Milieu zu sozialem Milieu stellt sich das unterschiedlich dar. Wie
arbeitet demnach unsere Wirklichkeitsauffassung, welche Fühler sind ausgestreckt,
um zu verstehen, was in der Welt geschieht und was mit uns in dieser Welt
geschieht?
Diesen Fühlern wollen wir uns im Folgenden widmen – und halten eingangs einmal
im Sinne einer Definition nur fest, dass wir mit Schicksal eine Erfahrungssituation
bezeichnen, die sich der Zurechnung zu entziehen droht, die die Menschen
konfrontiert mit einer Kausalität, die jenseits des Erwartbaren, des Gewohnten und
Gewünschten in das Handeln eingreift, es überdeterminiert.
Das Schicksal hat per se keine eindeutige Wertigkeit, es rangiert gedanklich
zwischen der Idee des Zufalls und der Idee der Notwendigkeit und stellt damit die
Menschen vor besondere Interpretations- und Verständnisherausforderungen.
Schicksal heißt, hier rückt ein überraschend auftretender Aktor nach vorn, eine
Wirkungsmacht außerhalb der eigenen Intention, der eigenen Gestaltungsabsichten.
Seine Bedeutung erlangt das Schicksal nun dadurch, dass die Intervention, der
Einbruch in den eigenen Lebensrhythmus nicht als Geschenk gefeiert oder als
Unvermeidbares hingenommen wird, sondern in eine Idee der Sinnhaftigkeit des
Lebens integriert wird, assimiliert an den Lebenssinn, den Menschen sich von ihrem
Tun und Unterlassen gemacht haben.
Damit sind wir bei den verschiedenen Möglichkeiten, sich auf das, was geschieht,
einen Reim zu machen, wie gesagt, paradoxerweise auf das Unvorbereitete
vorbereitet zu sein. Wir wollen uns der Einfachheit halber auf vier handlungsleitende
Weltsichten konzentrieren. Der große Soziologe Max Weber spricht von Weltbildern,
die dem Handeln wie auch der Verarbeitung von Erfahrungen die Weichen stellen.
Wir kennen sie alle, die Bibliotheken sind gefüllt mit tausenden Bänden
Erläuterungen dazu, aber wirklich faszinierend ist der Umstand, dass wir uns, ob wir
wollen oder nicht, ob gebildet oder ungebildet, im Horizont dieser Weltsichten
bewegen. Ja, legen Sie das bitte nicht als Angeberei aus, mir scheint: mehr sind es
nicht, mehr gibt es nicht. Sie mögen in Werken der Kunst vertont oder bebildert sein,
raffiniert oder durchaus schlicht, mehr gibt es nicht. Unterscheiden wir also im
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Folgenden den Glauben vom Wissen, beide wiederum vom Aberglauben und
schließlich alle drei vom Alltagswissen, von dem, was wir auch eine Überzeugung
nennen könnte, eine spannungsreiche Mixtur aus den drei Erstgenannten.
Diese vier schauen wir uns nun genauer an, wobei dieses Anschauen sich von
vornherein unabhängig macht von irgendeiner Idee der Evolution, einer
Entwicklungsgeschichte, der zufolge erst dies und dann das kommt, etwa erst der
Aberglaube, dann der Glaube, dann das Wissen oder so ähnlich. Nein, wir denken
typologisch und nicht etwa historisch über sie nach. Ebenso wenig sind sie nach dem
Grad ihrer Vernünftigkeit zu behandeln oder gar in einen sportlichen Wettkampf
geschickt, nach dem Motto „Einer wird gewinnen". Vielmehr versuchen wir, die
Prinzipien des Denkens zu bestimmen, seinen Voraussetzungen und Folgen
nachgehen, mehr nicht, aber auch nicht weniger.
Unser Thema widmet sich ja der Frage: wie hältst Du es mit dem Schicksal, mithin
wie stehen diese vier Weltsichten zur Erfahrung der Nichtzurechenbarkeit von
Ereignissen und Vorgängen.
Der Aberglaube, eine Art Sinnübertreibung. Und wenn wir uns nun zunächst den
Aberglauben vornehmen, müssen Sie jetzt nicht einen gebildeten ZehnminutenAbriss zur Antike oder zum Volksglauben befürchten, vielmehr wollen wir gleich zu
Anfang den Aberglauben als etwas betrachten, das unter uns ist. An einem Freitag,
den 13., wird nicht geheiratet; schwarze Katzen, so kuschelig ihr Fell sein mag,
bringen Unglück – um nur zwei Beispiele zu nennen.
Wissensformen, die wir hier mit Blick auf die Schicksalsdeutung genauer betrachten
wollen, lassen sich systematisch mit der Frage konfrontieren: wie sieht die
Evidenzprüfung aus? Wir haben es ja stets mit irgendwelchen Behauptungen über
die Welt, über den Menschen in der Welt, zu tun, hatten wir gesagt. Dazu ein kurzer
Einschub: In dem Maße, in dem in Kommunikationen mit einem Gegenüber, mit
einem Mitmenschen, Behauptungen ausgetauscht werden, unterliegen diese der
Evidenzprüfung. Und das geht blitzschnell, meistens unbemerkt. Jemand sagt
irgendetwas, und wir sagen "Aha". Oder wir sagen: "Was Du nicht sagst.“ Oder wir
sagen: "Spinnst Du?" oder wir sagen: "Wo steht das denn?" Oder wir sagen, mit
Loriot: "Ach, was." In allen diesen Fällen – Sie können gern Ihre eigenen „favorites“
ergänzen – vollzieht sich ein Prozess der Evidenzprüfung, in den Fällen, die ich
soeben aufgeführt habe, eine Evidenzbekräftigung.
Dieser elementare Vorgang, ohne den wir uns das Zustandekommen und erst recht
das Fortentwickeln von menschlicher Kommunikation gar nicht vorstellen können,
spricht die Frage an: Wie kommt eine Behauptung zustande? Vornehmer formuliert:
Welche Methodologie der Evidenzprüfung wird in Anspruch genommen? Machen wir
die Sache noch ein wenig komplizierter, indem wir uns an die Trivialität erinnern,
dass wir ohne den Anspruch auf Bekräftigung oder Bestreiten dessen, was wir
behaupten, auf ein Gegenüber gar nicht zugehen würden. Erinnern Sie sich noch an
eine etwas in Vergessenheit geratene Rhetorik des "Nicht wahr", das gern hinter
alles gesetzt wurde, was man so im small talk oder auch in anderen
Gesprächskontexten so von sich gegeben hat. Oder schauen wir in die Schweiz: Dort
erinnert das "oder?", das die Schweizer aus lauter Vorsicht hinter beinah jeden Satz
stellen, an den hier gemeinten Zusammenhang, ebenso das englische "isn´t it?" Es
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dürfte, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, deutlich geworden sein:
Evidenzprüfungsappelle gehören zur menschlichen Kommunikation, desgleichen
Evidenzbekräftigungen oder umgekehrt Evidenzzweifel. Wie besorgt also ein Wissen
die Evidenz des Behaupteten. Wenn unsere Argumentation stimmig ist, dann muss
das beim Aberglauben natürlich auch geben. Und in der Tat wird dort die Evidenz
bemüht, durch Rekurs auf Wirkungszusammenhänge, die in kosmischen oder
terrestrischen Vorgängen ihren Anfang nehmen.
Ein Beispiel für eine kognitiv besonders ausdifferenzierte, sagen wir durchaus
raffinierte und durchdachte Weltsicht wäre die Astrologie, der zufolge Ereignisse
innerhalb eines menschlichen Lebens, Ereignisse innerhalb einer gegebenen
sozialen Ordnung in einen Sinnzusammenhang gebracht werden mit der
Sternkonstellation an einem bestimmen Tag, zu einem bestimmten Zeitpunkt usw. Es
zeigt sich sofort, es handelt sich – und deshalb habe ich dieses Beispiel gewählt –
mitnichten um eine unterkomplexe Art, der Welt einen Sinn zu geben. Im Gegenteil
kann die kognitive Struktur des Aberglaubens außerordentlich komplex sein. Wir
haben nicht die Zeit, dem genauer nachzugehen, es sei an dieser Stelle nur erwähnt:
Historisch betrachtet entsteht die Astronomie, ein wichtiger Wissenschaftszweig
unserer heutigen universitären Forschungslandschaft, in engster Verbindung mit der
Astrologie. Genauso wie sich die Alchemie und die Chemie in strittiger Nachbarschaft
befunden haben und die eine Perspektive sich aus der anderen entwickelt hat. Die
Historikerin Sabine Doering-Manteuffel ist dem in einem wunderschönen Buch über
das Okkulte nachgegangen.
Erinnern wir noch einmal unsere gedankenexperimentell entworfene
Gesprächssituation, dann stellen sich dem Aberglauben Handlungsvorgänge, in die
die Menschen gestellt sind und in denen sie selbst als Akteure auftreten, als von
vornherein überdeterminiert dar. Kühn verknüpft mit stellarischen oder terrestrischen
Vorgängen erscheint alles Erfahrene von daher in der Ausdrucksform einer diktierten
Evidenz. "Was bist Du? Wassermann? Na, dann ist ja klar, dacht ich mir, das musste
ja kommen" etc.
Nun zeigt sich, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, wir urteilen hier nicht nach dem
Grad der Vernünftigkeit, vielmehr haben wir ein Denken vor uns, kognitiv komplex,
hoch deterministisch, und das schränkt für den handelnden Menschen die
Möglichkeiten erheblich ein, sich selbst das, was geschieht, das, was man tut oder
unterlässt, zuzurechnen. Wie sieht es somit mit der Idee des Schicksals aus? Das
werden Sie schon längst geschlossen haben. Schicksal ist in diesem Horizont alles
und nichts, es verdampft, es löst sich auf einer verallgemeinerten Abhängigkeit, einer
Prädetermination.
Fahren wir fort und widmen uns als nächstem dem Glauben. Und auch hier wollen
wir nicht auf die hyperkomplexen und in sich außerordentlich spannenden
Weltreligionen, auch nicht auf die drei abrahamitischen Religionen unseres
Kulturkreises eingehen, vielmehr nehmen wir wiederum ganz elementar an, dass
auch hier Behauptungen über die Welt aufgestellt werden und auch hier wiederum
eine Evidenzprüfungspflicht einzulösen ist. Im Glauben haben wir es erneut mit einer
Zurechnungsinstanz zu tun, der das, was in der Welt, was mit einem in der Welt
geschieht, zugerechnet wird, eine Instanz der Kreation, des Eingreifens. Im ersten
Zugriff stoßen wir auch hier auf einen Determinismus, jedoch mit einem
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entscheidenden Zusatz, der die mit Glauben bezeichnete Sicht der Welt auf
folgenreich kompliziert. Der Glaube sieht eine im Einzelnen unterschiedlich gedachte,
aber systematisch stets wirksame Handlungsautonomie des gläubigen Menschen
vor.
Wir sprachen beim Aberglauben von einer Prädetermination, hier ist es ähnlich und
doch zugleich vollkommen anders: Was geschieht, wie gehandelt wird, sieht die
Möglichkeit einer Selbstzurechnung vor. Die Kausalität ist eine, die zu erzeugen der
handelnde Mensch einen Anteil hat. Glauben impliziert somit, vereinfachen wir jetzt
den Gedankengang und konzentrieren uns auf die Idee eines geschaffenen
Zusammenhangs, eines Schöpfergottes, Gotteskindschaft und insofern
Handlungsabhängigkeit Doch dabei zugleich dessen Gegenteil, nämlich
eigenverantwortlich Handelnder zu sein. Diese Vorstellung öffnet den Raum für
Abweichung, für Devianz, glaubensimmanent formuliert, für Schuld und
Schuldverstricktheit. Ein Vorgang, der nur denkbar ist im Horizont einer
Weltvorstellung, die die Autonomie des menschlichen Handelns als grundlegend und
ja geradezu als Evidenz für den Glauben, für die Gotteskindschaft, vorsieht. Mit der
dem Glauben immanenten Idee der möglichen Devianz, der Schuldverstricktheit
öffnet sich kehrseitig die Idee einer Utopie des gelingenden Lebens, einer Hoffnung
auf ein zukünftiges Gelingen, eines, das die erfahrene Devianz, Verfehlungen,
erwiesene Imperfektion und somit Schuldverstricktheit in sich aufgenommen hat.
Wir kommen sogleich darauf zurück. Stellen wir auch beim Glauben die Frage der
Evidenzprüfung. Wie muss man sich das vorstellen? Einige von Ihnen werden sich
an den Schulunterricht erinnern, an die Philosophie-Arbeitsgruppe und
philosophische Epoche der sogenannten Scholastik. Es hat Zeiten gegeben, zu
denen die Menschen, im Alltag ebenso wie in aus dem Leben ausgegrenzten
philosophischen Diskursen, gestritten haben um den Gottesbeweis, also um eine
Evidenzbekräftigung mit den Mitteln des vernünftigen Denkens, des logischen
Schließens.
Das war strapaziös für die Beteiligten, das wäre bis auf den heutigen Tag strapaziös,
denn da lässt sich nichts beweisen: Der Glauben verweist nämlich auf eine
eigentümliche, mit nichts zu vergleichende Evidenzquelle, auf Offenbarung.
Offenbarung meint eine Selbstmitteilung der Zurechnungsinstanz – wir haben sie
eben Gott genannt –, die die glaubenden Menschen als für ihre Lebensführung
verbindlich in Anspruch nehmen. Das Offenbarungswissen lässt sich weder
bestätigen noch widerlegen. Man würde den Glauben von vornherein verkehren,
würde man ihn zu einem Gegenstand der Erkenntnis machen und den nämlichen
Mitteln unterwerfen, mit denen Erkenntnisgegenstände auf Evidenz hin überprüft
werden. Erinnern wir uns an den vorausgehend ausgeführten Gedanken der
Prädetermination. Beim Glauben wird diese Idee einerseits bekräftigt, andererseits
erheblich eingeschränkt durch die Unterstellung einer möglichen Fehlerhaftigkeit des
eigenen Tuns, dem die Aussicht auf ein Gelingen, auf ein Verzeihen, auf eine Utopie
zukünftigen Gelingens korrespondiert.
Und die Idee des Schicksals? Wir haben gesehen: Der Glauben sieht
Autonomiespielräume des Handelns vor, man könnte sogar noch radikaler zuspitzen:
Er ist die Kehrseite eines Zweifels an der Stimmigkeit des Offenbarungswissens und
dieser Umstand öffnet, wie wir gesagt haben, nun das Tor für die Idee von einer die
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eigene Autonomie durchbrechenden und sie in Frage stellenden Intervention,
Schicksal genannt. Eine Idee mithin, die einerseits auf ihre Stimmigkeit mit dem
göttlichen Handlungsplan und andererseits dem unter dieser Prämisse gleichwohl
denkbaren selbständigen Leben befragt wird.

Kommen wir nun auf die dritte Instanz.
Wir haben sie eingangs das Wissen genannt.
Auch hier keine Frage, die Spatzen pfeifen es von den Dächern, dass sich Menschen
– manche Zeitdiagnostiker behaupten in zunehmendem Maße – auf diese Instanz
der Zurechnung verlassen. Hier setzt die Rede von einem wissenschaftlichen
Zeitalter an, die Rede von einer verwissenschaftlichten Welt oder, wie der erwähnte
Max Weber behauptete, einer Rationalisierung des Lebensvollzugs unter der Leitidee
wissenschaftlicher Rationalität.
Fragen wir nun auch hier, wie sieht es mit der Evidenzprüfung aus? Folgenreich und
dennoch häufig übersehen ist der Umstand, dass wir es auch hier mit Behauptungen
über die Welt zu tun haben, die auf Widerlegung hin ausgerichtet sind. Das Wissen
kann Routinen aller Art begründen, kann dazu beitragen, eine Umwelt beherrschbar
zu machen, ungeachtet dessen handelt es sich hingegen um hypothetisches Wissen,
dessen Evidenz über angebbare Regeln der Überprüfung gesichert werden kann,
allerdings um den Preis, dass es in dem Maße, in dem es auf Wiederlegung hin
ausgerichtet ist, ungeeignet ist, die Lebensführung mit einer Idee der Stimmigkeit zu
versehen. Auf die Idee der Schicksalhaftigkeit befragt, kann das Wissen gleichsam
nur mit den Schultern zucken, mit anderen Worten: auf die Suche nach Kausalitäten
gehen, die das Schicksalhafte als eine grundlegend beherrschbare Einflussgröße
zurückführen.
Halten wir fest, dass die bislang unterschiedenen drei Wissensformen, Weltbilder
systematisch zueinander in Konkurrenz stehen, nicht untereinander austauschbar,
ersetzbar sind und in ihrer scharfen Opposition zueinander dennoch in einem
dynamischen Abhängigkeitsverhältnis zueinanderstehen. Sie ergänzen sich, sie
überlappen sich, und dabei sind sie eigenständige Formen der Welt- und
Selbstauffassung, die in ihrer Spannung zueinander auf je eigene Weise, und das
heißt in je eigener Gewichtung, der Idee des Schicksals beizukommen versuchen.
Damit, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, sind wir bei dem vierten Wissenstypus
angelangt, dem Alltagswissen, somit dem Wissen, das unsere Überzeugungen
strukturiert und das in seiner außerordentlichen Komplexität nun sichtbar wird:
Schließlich lässt es sich als eine situativ flexibel verfügbare, zuweilen opportunistisch
einsetzbare Sicht der Welt bezeichnen. Ihre Leistungsfähigkeit sich daran bemisst,
dass die genannten Wissensdimensionen in ihrer jeweiligen eigenen Logik der
Evidenzprüfung und Beweisführung aufrechterhalten bleiben und im individuellen wie
im kollektiven Leben einer Gemeinschaft zur Geltung gebracht werden.
Das Alltagswissen ist nicht einfach eine Fortsetzung des Glaubens, es erschöpft sich
nicht in einer Konformität gegenüber dem wissenschaftlichen Wissen, es verschreibt
sich nicht blind irgendeiner exzentrisch-kühnen globalen Sicht. Vielmehr insistiert es
auf einer strittigen Synthese, die darin ihre Anpassungsfähigkeit erweist, dass sie
sich Vereinseitigungen ganz gleich welcher Art entzieht. So betrachtet ist die vierte
Form des Wissens überzeugungsleitend und zugleich fragil, entwicklungsoffen und
zugleich unvollständig – und seine größte Leistung besteht in seiner Fanatismus-
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Immunität, in der Kraft, Demut an die Stelle von Hochmut treten zu lassen und
Schicksalsergebenheit nicht zu einer fatalistischen Akzeptanz von allem und jedem
verkommen zu lassen. Das ergibt sich allein schon aus dem Umstand, dass sie nicht
– wie wir gesagt haben – gegeneinander abgeschottet sind, vielmehr in ihrer je
eigenen Logik an die Nachbarn, wenn man so will, unangenehme, beunruhigende
Fragen stellen und somit in einem strittigen Austausch zur Klugheit der
Lebensführung beitragen.
Fragen wir abschließend, in welcher sozialen Gestalt wir uns das Alltagswissen
vorzustellen haben. Wo ist es zu finden, gibt es besondere Experten, so wie wir für
die genannten drei vorausgehenden Typen des Wissens Experten ausmachen
können: den Zauberer bzw. den Orakelpriester für den Aberglauben, den Priester
und den Propheten für den Glauben sowie die Wissenschaftler für das Wissen –
Formen der Expertise, die historisch betrachtet in entsprechenden Institutionen
beheimatet sind, die das Ziel hatten und haben, die Geltungskraft des jeweiligen
Wissens zu sichern. Bei der Suche nach dem Experten, der das Alltagswissen
verkörpert, bei niemand anderem als der individuellen Lebensführung jedes
einzelnen Menschen. Hier entfaltet sich eine Expertise der Lebenskunst, zu der die
Akzeptanz der Schicksalshaftigkeit ebenso gehört wie die Suche nach einer
Selbstzurechnung und die Suche nach einer Schuldhaftigkeit sowie deren
Aufhebung.
Als Experten des Alltagswissens stehen vor uns die Menschen, die eine erfahrene
Imperfektion des eigenen Lebens nicht als eine Zumutung oder eine Strafe erfahren.
Das Alltagswissen ist der Schatz des Antihelden, desjenigen oder derjenigen, die das
Hineingestelltsein in eine Ordnung, die, wie wir gesehen haben, stets eine komplexe
Ordnung ist, nicht als Diktat oder Last verstehen und auch nicht als eine
Herausforderung, sich mit Biegen und Brechen im eigenen Handeln gegen die
Möglichkeit schicksalhafter Verläufe zur Wehr zu setzen.
Weder über dem Schicksal stehend, so dass die eigene Lebensführung von
vornherein erhaben gegenüber jeder Form schmerzhafter oder auch glückhafter
Intervention begriffen wird, noch unter dem Schicksal stehend, als die Lebensführung
als etwas begreifend, dass außerhalb jeder subjektivem Stimmigkeit einfach so
kontinuiert, vielmehr im Schicksal stehend, wäre die Lebensform, die sich die drei
genannten Wissensformen in Gestalt einer Synthese zu eigen macht. Eine kunstvolle
Schicksalsergebenheit ist bestimmend für das Lebensgefühl des Rheinländers: "Et
kütt wie et kütt". So lautet die Devise, die im Rheinland – aber nicht nur dort – zu
einer Virtuosität herangereift ist. Sie ist nicht zu verwechseln mit Naivität, Tumbheit
oder Torheit, vielmehr eine moderne Form der Schicksalsergebenheit, eines
„inschallah“, einer Lebensklugheit, die hilfreich sein mag, nicht nur zur fünften
Jahreszeit.
Soll man denn nun den Lottoschein ausfüllen sollte oder lieber nicht? Diese
Entscheidung sei Ihnen überlassen.
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