SWR2 Wissen Aula : Die entzauberte Moderne . Wo bleibt das Heilige? In der Selbst-Transzendenz...

Diskurs Platon Akademie 4.0 > PA4 Diskurse (1995-2020) EU-Demokratien & Selbst
Selbst - Transzendenz . R.Caspary - H.Joas

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SWR2 Wissen Aula : Die entzauberte Moderne . Wo bleibt das Heilige? In der Selbst-Transzendenz...
Hans Joas - Ralf Caspary
Sendung: Freitag, 10. April 2020, 8:30 Uhr
(Erstsendung: Sonntag, 04. Februar 2018, 08:30 Uhr)
Produktion: SWR 2018
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.

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ÜBERBLICK : Selbst-Transzendenz
Die entzauberte Moderne – Wo bleibt das Heilige?
"Entzauberung" ist ein Schlüsselbegriff im Selbstverständnis der Moderne, sie meint ein stetiges
Zurückdrängen des Religiösen zugunsten der Dominanz des rationalen naturwissenschaftlichen
Weltbildes. Doch worum handelt es sich dabei eigentlich genau? Was meinte der Soziologe
Max Weber mit seinem Konzept der "Entzauberung"? Und sind seine kanonisch gewordenen
Vorstellungen überhaupt noch haltbar?
*
Professor Hans Joas, Religionssoziologe an der Humboldt-Universität zu Berlin, gibt Antworten
im Gesprächt mit Ralf Caspary.
Produktion 2018
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KERNAUSSAGE vorangestellt
Personifizierung der Selbst-Transzendenz (Prophetie) in Richtung Aufklärung im 20.Jht.:
Martin Luther King - Mahatma Gandhi - Mao.
m+w.p.

INHALT
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Manuskript
Anmoderation:
Mit dem Thema: „Die entzauberte Moderne – Wo bleibt das Heilige?
Am Mikrofon: Ralf Caspary.
"Entzauberung" ist ein Schlüsselbegriff für das Selbstverständnis der Moderne.
Gemeint ist ein stetiges Zurückdrängen des Religiösen zugunsten einer Dominanz
des Rationalen, Technischen und Naturwissenschaftlichen. Der Religionssoziologe
Hans Joas von der Humboldt-Universität Berlin thematisiert immer wieder in seinen
Arbeiten diese angebliche Entzauberung, zum Beispiel in seinem Buch „Die Macht
des Heiligen“, erschienen bei Suhrkamp. Ich habe mit Joas über das Religiöse in der
Moderne gesprochen und meine erste Frage war, was er unter dem Heiligen genau
versteht?
INTERVIEW-Partner Hans Joas:
Joas:
Da müssten wir über den spezifischen Sinn sprechen, in dem ich den Begriff des
Heiligen verwende, weil ich das nicht erfunden habe, dass man so über das Heilige
redet. Aber das Heilige, wie ich es verwende, ist nicht einfach Bestandteil von
Religion. Sondern das Interesse gilt ja gerade auch für Menschen z.B., die nicht
religiös sind. Da geht es ja auch um soziale Bewegungen, die vielleicht sogar militant
antireligiös sind, z.B. die kommunistische Arbeiterbewegungen, die selber Formen
von Sakralität produziert haben, einen Kult der roten Fahne, die Einbalsamierung
Lenins oder Maos usw., es geht mir beim Begriff des Heiligen ja um ein
menschliches Phänomen, das weiter ist als die Religion.
Caspary:
Und wie würden Sie das menschliche Phänomen beschreiben?
Joas:
Da muss man etwas weiter ausholen und vielleicht als erstes sagen, mein ganzer
Zugang zu diesen Themen, nicht nur in diesem Buch, sondern schon in einigen
Büchern vorher, läuft über ein bestimmtes Verständnis menschlicher Erfahrung. Also
ich fange nicht an bei Religion oder bei einer Definition von Religion und dann bei
diesen endlosen und sterilen Debatten, ob jetzt eine bestimmte Sache auch noch
Religion sei oder nicht mehr oder schon wieder oder so etwas, sondern bei einer
bestimmten Charakterisierung menschlicher Erfahrungen. Und vielleicht ist der
einfachste erste Schritt dabei zu unterscheiden, und das ist jetzt sogar die
Terminologie von Max Weber, zwischen alltäglichen Erfahrungen und
außeralltäglichen Erfahrungen.
Alltägliche Erfahrungen sind solche: Auf dem Weg ins Studio gehe ich eine Treppe
hoch oder fahre mit einem Aufzug usw., das ist alles Teil meines Alltags, das
vergesse ich gewissermaßen sofort wieder, wenn ich es getan habe, es ist die Fülle
von routinierten Aktivitäten, die jeder von uns jeden Tag betreibt.
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Joas:
Aus diesen alltäglichen Erfahrungen aber ragen zwischendurch andere Erfahrungen
heraus, die man nicht gleich wieder vergisst, die vielleicht eine lebensprägende Rolle
spielen, ein Augenblick der Begegnungen mit jemandem, der später ihr Ehepartner
wird. Oder auch der schreckliche Verlust von jemandem, den Sie geliebt haben. Also
eine Fülle von schönen und eine Fülle von schrecklichen Erfahrungen. Diese
außeralltäglichen Erfahrungen benenne ich mit einem bestimmten Begriff, der der
Kennzeichnung dient, als Erfahrungen der Selbsttranszendenz. Das soll heißen,
Erfahrungen, in denen Menschen über die Grenzen ihres Selbst hinausgerissen
werden. Also wir laufen mit einem bestimmten Selbstverständnis herum, das sitzt
nicht nur in unserem Kopf, sondern auch sozusagen in unserem Bauch, wer wir sind,
wie wir uns auffassen, wie wir uns geben. Und das gerät in schöner oder in
schrecklicher oder in irgendwie ambivalent gemischter Weise in eine Krise, z.B. bei
den beiden Erfahrungen, die ich gerade genannt habe, wenn wir uns verlieben oder
wenn wir einen schrecklichen menschlichen Verlust erleiden. Wenn wir solche
Erfahrungen machen, sind wir völlig sicher, daher kommt diese hohe Gewissheit im
Bereich der Religion, dass uns etwas ganz Wichtiges passiert ist, dass wir mit
Kräften in Berührung gekommen sind, die stärker sind als wir. Und diese Kräfte
müssen wir nun, wenn wir darüber nachdenken, wenn die eigentliche Erfahrung
vorbei ist und wir versuchen, die jetzt in die Deutungsschemata unseres Alltags
einzuholen, irgendwie interpretieren. Wir schreiben diesen Kräfte etwas zu, und ich
meine jetzt vor aller ganz starker gedanklicher Reflexion in unserer Erfahrung selber,
wir erleben beispielsweise Orte, in denen so etwas stattgefunden hat, Zeiten, in
denen wir solche Erfahrungen gemacht haben, oder Gegenstände, die mit diesen
Erfahrungen in einem engen Zusammenhang stehen, als Träger einer solchen Kraft.
Wir streben an solche Orte zurück, wir haben szenische Erinnerungen. Und diese
intensiven Kraftzuschreibungen oder die Gegenstände, die sich mit dieser intensiven
Kraft aufgefüllt haben mit unserer Erfahrung, die nenne ich heilig.
Caspary:
Sind Sie in diesem Ansatz und in diesem Konzept des Heiligen Existenzialist? Denn
das klingt schon nach der existenzialistischen Grenzerfahrung?
Joas:
Manche Leute meinen, ich verwende den Begriff des Heiligen in einer Weise, die
abweicht von allen anderen. Das stimmt aber überhaupt nicht. Sondern ich stütze
mich auf eine Reihe von Denkern, die um das Jahr 1900 herum eine Revolution – ein
starkes Wort – in den Wissenschaften von der Religion herbeigeführt haben, indem
sie dieses Folgeverhältnis von heilig und Religion umgedreht haben. Während vorher
das Heilige irgendwie Teil einer Religion war, heißt es jetzt, Religionen sind
Versuche, solche allgemein menschlichen Erfahrungen, wie ich sie gerade etwas
umschrieben habe, zu systematisieren, auf Dauer zu stellen, anderen verständlich zu
machen, an Kinder z.B. weiterzugeben usw. Diese Denker sind nicht im engen Sinn
dieselben Denker, die man als Existenzphilosophen bezeichnet.
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Joas:
Aber ich würde Ihnen schon entgegenkommen und sagen, diese starke Betonung
auf menschlichen Erfahrungen und auf Grenzerfahrungen, wie Existenzphilosophen
sagen würden, da gibt es schon eine bestimmte gedankliche Verwandtschaft und
wechselseitige Einflussbahnen.
Caspary:
Das heißt aber auch, diese Erfahrungen des Heiligen können in Religion münden,
müssen aber nicht?
Joas:
So ist es. Und das ist mir gerade so wichtig, weil ich glaube, darin steckt eine Brücke
heute für den Dialog zwischen gläubigen und nicht-gläubigen Menschen. Wenn es so
ausschaut, als wäre der religiöse Glaube irgendwie ein ganzheitliches Gebilde, das
man sozusagen als Ganzes einkauft oder als Ganzes nicht einkauft, dann gibt es
eigentlich keine richtige Verständigungsmöglichkeit. Dann sieht es so aus, als
würden die einen in etwas aufgewachsen sein, was die anderen nicht nachvollziehen
können, oder sich zu etwas entschieden haben, wofür sie eigentlich keine Gründe
angeben können. Und die anderen sagen, nein, vielen Dank, ohne dass Du mir einen
stärkeren Grund nennst, trete ich dazu gewiss nicht über. Wenn wir aber bei den
menschlichen Erfahrungen anfangen und dabei auch eine bestimmte Demut haben,
also uns schon bewusst sind, dass wir nur Menschen sind, die Erfahrungen gemacht
haben und die anderen auch wichtige Erfahrungen haben, von denen ich auch etwas
lernen kann, wenn ich mehr darüber weiß, dann sehen wir, dass in einem
bestimmten Sinn alle Menschen ähnlich ticken, dass aber manche Menschen diese
intensiven Erfahrungen eben so interpretieren, dass daraus für sie ein religiöser
Glaube wird.
Caspary:
Möchten Sie damit auch den Dialog der Religionen fördern? Jenseits des
Dogmatischen?
Joas:
Ich möchte zwei Sachen fördern: Einerseits den Dialog zwischen den Religionen, das
ist mir sehr wichtig und andererseits aber, was ich gerade schon angedeutet habe
und was z.B. für Deutschland ganz wichtig ist, auch den Dialog zwischen Gläubigen
und Nicht-Gläubigen.
Caspary:
Weil man mit diesem Konzept wegkommt von diesen eingefahrenen doktrinären
Denkmustern, die man gegenüber sozusagen auffährt wie Geschütze?
Joas:
Genau. Was ich vorhin gesagt habe, es ist falsch anzunehmen, Religionen seien
hauptsächlich quasi wissenschaftliche Lehrgebäude. Gebäude, die man sozusagen
durch Lehrsätze lernt. Religionen haben sich leider manchmal in diese Region
entwickelt, aber diese Sätze hängen alle in der Luft, wenn sie nicht erfahrungsbasiert
sind.
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Caspary:
Das ist interessant, d.h. Religionen sind von der Wurzel her für Sie erstmal Gefäße,
in denen so etwas wie das Heilige hineinfließen kann, verbalisiert werden kann,
vielleicht auch für eine Gemeinschaft kanonisiert werden kann?
Joas:
Ja genau.
Caspary:
Aber nicht, indem man 20 Lehrsätze darüber formuliert.
Joas:
Ja, wobei ich meine, an einem bestimmten Punkt des Nachdenkens werden auch
solche Sätze herauskommen. Aber die Sätze, auch Bezeichnungen wie z.B. der
Heilige Geist, Christus, der Sohn Gottes, die aus der christlichen religiösen Tradition
kommen, sind ja heute vielen Menschen aufgrund der Schwächung der christlichen
Traditionen in unserem Land unverständlich geworden. Und die werden nicht
dadurch verständlich, dass man sie gewissermaßen nur wiederholt und den anderen
damit brüskiert oder mundtot macht. Sondern man muss anfangen, einerseits
gewissermaßen psychologisch durch diese Anknüpfung an aktuell zu machende
Erfahrungen zu erklären, was solche Sätze denn eigentlich bedeuten können, und
andererseits historisch, indem man darauf zurückgeht, was waren die intensiven
Erfahrungen, die manche Menschen dazu gebracht haben, Hab und Gut im Stich zu
lassen und einem Rabbi nachzulaufen oder so etwas.
Caspary:
Bieten denn manche Religionen die Gefahr, dass sie das Heilige „zukleistern“ mit
Dogmen und Glaubenssätzen, dass es nicht mehr erkennbar wird?
Joas:
Ich würde bezogen auf das katholische Christentum sagen, das war im 19.
Jahrhundert teilweise der Fall, und das geht bis tief ins 20. Jahrhundert hinein. Ich
finde, dass sich das seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in den frühen 1960erJahren schon
deutlich geändert hat. Aber im späten 19. Jahrhundert gab es
Definitionen im Rahmen der katholischen Kirche wie, Glaube sei „Gehorsam
gegenüber den Lehren der Kirche“. Das finde ich geradezu erstarrt. Sie sollen eine
Lehre glauben, obwohl Sie Ihnen nicht einleuchtet, aus dem Motiv heraus, der
Institution gegenüber gehorsam zu sein. Damit kann man in einer Zeit wie heute, in
der Gehorsam ohnehin kein hoher Wert ist, keinen Blumentopf gewinnen.
Caspary:
Ist das Heilige für Sie auch so etwas wie eine anthropologische Grundkonstante?
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Joas:
Ja. Aber wohlgemerkt:
Nicht die Religion ist für mich eine anthropologische Grundkonstante, sondern das
Heilige. Es geht eben um Menschen, die ein Selbst entwickelt haben, und das Selbst
ist nicht unsere biologische Individualität als solche, sondern es ist ein bestimmtes
reflexives Verhältnis zu uns – ich kann „ich“ sagen und ich kann über mich
nachdenken usw. Und die Erfahrungen der Selbsttranszendenz setzen dieses Selbst
voraus. Aber da alle Menschen nach einer bestimmten Phase früh aus der Kindheit
ein solches Selbst entwickeln, haben auch alle Menschen solche Erfahrungen der
Selbsttranszendenz. Und ich darf sagen, ich mache auch bei den vielen Vorträgen,
die ich zu diesem Thema halte, die Erfahrung, dass alle Leute wissen, wovon die
Rede ist, wenn ich konkrete Beispiele wie das Verlieben oder eine
Verschmelzungserfahrung mit Natur, also die Begeisterung über das Schwimmen im
Meer oder das Stehen auf einem Berggipfel, nenne. Alle Menschen kennen das.
Caspary:
Es gehören ja gewisse Eigenschaften zum Heiligen, sagen Sie. Bleiben wir mal bei
dem Liebespaar: Der Ort, an dem es sich verliebt hat, wird zum Ort der Magie; Dinge
werden aufgeladen, also z.B. ein Bild oder ein Buch, das man geschenkt hat, das
bekommt diesen heiligen Charakter. Wir haben den Ort, Dinge, Zeiten.
Joas:
Ja. Und dann natürlich – das kann man bis ins Abstrakte hinein fortsetzen –
bestimmte Vorstellungsgehalte. In Deutschland ist z.B. die Erinnerung an den
Holocaust heute so etwas, das man als heilig bezeichnen könnte. Und deshalb ist die
Entweihung eines Holocaust-Mahnmals oder einer KZ-Gedenkstätte etwas, was zu
Recht Empörung auslöst. Und das ist auch Empörung und nicht nur Kritik oder so
etwas. D.h. es ist eine zutiefst emotionale Angelegenheit.
Caspary:
Was meinen Sie, welche soziale Funktion das Heilige hat? Wir könnten ja sagen, es
schweißt uns zusammen in Grenzsituationen?
Joas:
Ich bin kein Freund des Begriffes Funktion. Das klingt, als gäbe es Mechanismen, die
dazu führen, dass etwas da ist. Ich rede lieber von Wirkungen. Und Sie haben
natürlich recht, wenn Menschen den Glauben an ein bestimmtes Heiliges
miteinander teilen, dann hält das die Menschen zusammen. Aber das kann man nicht
einfach umdrehen und sagen, Menschen halten nur dann zusammen, wenn sie von
einem gemeinsam geglaubten Heiligen ausgehen. Das glaube ich nicht. Es gibt viel
mehr Formen des Zusammenhalts als den über das Heilige.
Caspary:
Hat es trotzdem eine soziale Sonderrolle?
Joas:
Sie haben vorhin darauf angespielt, dass ich das Buch „Die Macht des Heiligen“
genannt habe. Auf diesen Punkt sollte ich zurückkommen.
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Joas:
Ich meine, dass einerseits, bezogen auf die Individuen, das, was uns jeweils das
Heilige ist, eine der tiefsten Motivationsquellen ist, die wir haben. Es erscheint uns
etwas als ganz offensichtlich und unbedingt gut. Oder als ganz offensichtlich und
unbedingt böse. Und wir werden davon angetrieben, etwas zu tun, was dieses Gute
verwirklicht oder das Böse an der Verwirklichung hindert. Auf der sozialen oder
kollektiven Ebene ist es so, dass ja keine Machtstruktur auf Dauer stabil sein kann,
wenn sie nicht in irgendeiner Weise gerechtfertigt wird. Der Fachbegriff ist
Legitimation. Die Bundeskanzlerin z.B. hat ja nicht Macht aus sich selber heraus,
sondern weil die Wahlen zu einem bestimmten politischen Ergebnis geführt haben.
Das heißt, derjenige, der Macht in Händen hat, hat sie in der Wahrnehmung der
meisten zu Recht, in gerechtfertigter Weise in Händen. Wenn sich nun etwas an den
Grundlagen für die Legitimation ändert, weil sich Verschiebungen im Glauben an
Heiligkeiten zeigen, dann hat das sofort Macht-Konsequenzen. Dann steht einer bloß
noch mit der Macht da, aber diese Macht erscheint nicht mehr als legitime Macht. Er
kann natürlich trotzdem versuchen, sie zu verteidigen, z.B. durch Waffenbesitz. Aber
dann geht eine vorher legitime Ordnung in eine Tyrannei über. Insofern bin ich
niemand, der in naiver Weise behaupten würde, es gäbe nur die Macht des Heiligen
und keine andere.
Natürlich gibt es Machtquellen wie Waffenbesitz oder Besitz an Produktionsmitteln
usw. Die haben mit Heiligkeit erst einmal nichts zu tun. Aber im Ganzen einer
irgendwie stabilisierten, sozialen, politischen Ordnung entfalten Systeme des
Glaubens an das Richtige und das Gute selber massive Machtwirkungen.
Caspary:
Ja, natürlich. Bezogen auf unsere Zeit haben wir den islamischen
Fundamentalismus. Das ist doch ein eminenter Bezug auf so etwas wie das Heilige,
auf ein Glaubenssystem?
Joas:
Wir wollen ja den Begriff des Heiligen so verwenden, dass beispielsweise auch die
Begründung in der Ordnung der Bundesrepublik Deutschland über den
Menschenwürde-Grundsatz des Grundgesetzes unter Heiligkeit fällt: Ich glaube
daran, dass alle Menschen dieselbe Würde haben. Das ist ja kein Satz, der
wissenschaftlich begründet ist. Es ist auch ein Glaubenssatz, aber ein Glauben, den
ich teile. In der deutschen Geschichte waren aber auch eine Zeitlang Kräfte am
Werk, die diesen Satz nicht geteilt haben, sondern die haben davon gesprochen,
dass Menschen unterschiedlichen Rassen angehören würden und diese Rassen
unterschiedliche Würden hätten. Die haben also das vorhandene Glaubenssystem
durch ein anderes bekämpft. Durch den islamistischen Fundamentalismus wird
sicherlich auch die Legitimität bestimmter Machthaber infrage gestellt. Und die
Legitimität steht bei diesen Machthabern ja wirklich oft auf wackeligen Füßen.
Caspary:
Was war die Intention Ihres Konzepts des Buchs „Die Macht des Heiligen“? Ich habe
den Eindruck, Sie wollen weg von bestimmten Engführungen, Sie wollen weg von
Dogmata, die sagen, Moderne ist Entsäkularisierung, das wird ja immer in einen Topf
geworfen mit Entzauberung, Religion wird mit Wissen kontrastiert etc. Wollten Sie
davon wegkommen und nochmal so eine allgemeine Basis dafür aufbauen?
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Joas:
Das Buch war ehrlich gesagt ein sehr ehrgeiziges Unterfangen und ist auch nicht
ganz einfach. Der Gegenstand ist auch nicht so ganz einfach. Es gehen dem ja unter
meinen Büchern zwei unmittelbar voraus: „Glaube als Option“, in dem ich mich
wirklich mit der Säkularisierungsthese kritisch auseinandersetze, also mit der
Behauptung, Modernisierung führe notwendigerweise zur Schwächung von Religion.
Und ein anderes Buch, in dem ich mich mit der Geschichte der Menschenrechte
beschäftigt habe, und diese Geschichte der Menschenrechte seit dem 18.
Jahrhundert als die Geschichte der zunehmenden Durchsetzung des Glaubens an
eine universale Menschenwürde geschildert habe, z.B. in den Prozessen der
Abschaffung der Folter und der Abschaffung der Sklaverei, wo das besonders
anschaulich wird. Und vor dem Hintergrund dieser beiden Bücher habe ich
beschlossen, die langfristige Vorgeschichte sowohl der europäischen Säkularisierung
wie dieser erfreulichen Geschichte einer zunehmenden Durchsetzung der
Menschenrechte in Europa und Nordamerika ins Auge zu fassen. Der große
Konkurrent gewissermaßen, wenn man sich mit dieser Vorgeschichte beschäftigt, ist
Max Weber und seine Behauptung von der Entzauberung. Das ist deshalb ein
Konkurrent, weil dort eben alles auf diese Säkularisierung hinausläuft, von der ich
behaupte, dass sie nicht zwangsläufig ist und dass sie teilweise, je nach Land, auch
gar nicht gegeben ist.
Und deshalb ist dieses nun ein Buch über die Religionsgeschichte seit der Zeit der
alttestamentlichen Propheten. Es geht um die Fragestellung, welche religiösen
Impulse gibt es da jeweils und wie verhalten die sich zu politischer Macht. Darum
endet das Buch mit so einer Typologie von Formen der Verknüpfung von Heiligkeit
und Macht wie etwa der Sakralisierung des Herrschers, also dass der König selber
z.B. von Gottes Gnaden Herrscher sei, oder der Sakralisierung der Nation in der
Geschichte des Nationalismus, wo ganze Generationen junger Männer bereit waren
zu sterben für die Sache der Nation als des höchsten Wertes, den sie sich vorstellen
konnten. Oder die Sakralisierung des Volkes – das ist nicht ganz dasselbe wie der
Nation, das hat eher so einen republikanischen Unterton – oder eben die
Sakralisierung der Person, wie ich diese Geschichte der Menschenrechte nenne. Ich
wollte ein Gegenmodell bauen zu dieser Vorstellung von einer linearen Entwicklung
in Richtung Entzauberung. Ein Modell, das viel sensibler ist für die machtkritischen
und die machtstützenden Potenziale des Heiligen.
Caspary:
Das heißt, wenn Sie weggehen wollen von diesem linearen Geschichtsmodell: also
wir bewegen uns immer mehr auf die Dominanz der Naturwissenschaften hin, die
Religion wird immer wieder geschwächt, dann würden Sie sagen, nein, das ist falsch,
sondern es gibt immer wieder neue einmal schwächere, einmal stärkere
Verknüpfungsarten von Macht und Heiligkeit?
Joas:
So ist es. Und es gibt immer wieder Versuche zu einem wirklich anspruchsvollen
Begriff des Heiligen. Darüber haben wir bisher nicht gesprochen. Das ist der Begriff
der Transzendenz.
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Joas: > Zur Transzendenz >
Was bei den Propheten charakteristisch war, warum diese Geschichte bei den
Propheten beginnt – ich hab jetzt immer gesagt bei den alttestamentlichen
Propheten, aber mein Interesse gilt auch Prophetengestalten außerhalb der jüdischchristlichen
Tradition, sagen wir mal Buddha-, was für die alle charakteristisch ist, ist
ja, dass sie skeptisch sind gegenüber Magie und Magisches eher ablehnen. Bei den
alttestamentlichen Propheten ist das ganz deutlich, dass sie sozusagen als
Sprachrohe Gottes sagen: „Ich lehne Eure Brandopfer ab.“ Ihr sollt nicht versuchen,
Ihr Israeliten, mich dazu zu bewegen, das zu tun, was Ihr wollt, indem Ihr
irgendwelche Opfertiere für mich darbringt. Was ich tatsächlich will ist, dass
Gerechtigkeit herrscht im Volk Israel. Es wird an die Stelle einer magischen
Beziehung sozusagen eine ethische Beziehung gesetzt, wie immer man das jetzt
genau begrifflich fassen will. Und damit ist allerdings jetzt auch eine anspruchsvollere
Gottesvorstellung verbunden. Dieser Gott ist dann nicht mehr einfach einer, mit dem
man verhandeln kann: Ich biete Dir jetzt noch mehr an, aber dafür musst Du jetzt
wirklich tun, was ich von Dir fordere; sondern das ist ein Gott, der unbedingte
moralische Forderungen an den Einzelnen oder sogar an ein ganzes Volk stellt. Und
dieser Gott wird zunehmend gedacht als ein Gott, der überhaupt nicht hier im
irdischen Bereich mit uns ist, sondern ganz woanders. Wenn Jesus Christus vor
Pontius Pilatus sagt, mein Reich ist nicht von dieser Welt, dann wird er verstanden.
Also er erfindet nicht diesen Gedanken, dass es etwas gibt, was nicht von dieser
Welt ist. Weil die Juden Gott ohnehin schon woanders gewissermaßen lokalisiert
haben. Und das nenne ich, nicht nur ich natürlich, die Transzendenz. Und es geht
eben um die historische Entstehung von Transzendenz- Vorstellungen. Und das ist
ungeheuer wichtig für die moralische Geschichte Europas oder des Westens, aber
auch Chinas beispielsweise und Indiens, dass es eine über alle gegebenen
politischen Machtverhältnisse hinausschießenden Bezug gibt, dass Propheten den
Mut daraus abgeleitet haben, Herrschern entgegenzutreten und zu sagen, Gott hat
uns die Zehn Gebote gegeben, Du verstößt gegen die Zehn Gebote. Das ist unter
den Bedingungen archaischer Staatlichkeit etwas Sensationelles.
Caspary:
Jetzt wird es religionsgeschichtlich, das können wir leider nicht mehr abhandeln,
dazu bräuchten wir einen zweiten Teil. Aber ich denke, es ist doch noch klar
geworden, auf was Ihr Denken hinausläuft. Und diese Kategorie des Heiligen kann
dabei sehr hilfreich sein. Ich bin gespannt auf Ihr nächstes Buch. Planen Sie schon
etwas?
Joas:
Ich plane eine Vortragsreihe mit dem Titel „Religion und Imperium“. Wie das Buch
dazu dann genau ausschaut, weiß ich noch nicht. Es beschäftigt sich dann nur mit
dem 20. Jahrhundert mit den komplizierten Wechselwirkungen zwischen Macht und
Religion bei drei großen Gestalten des 20. Jahrhunderts. Und Sie werden jetzt
vielleicht überrascht sein, wenn ich die nenne: Martin Luther King, Mahatma Gandhi
und Mao.
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Joas:
Martin Luther King, weil er mit den Folgen der Sklaverei in Gestalt der Rassendiskriminierung
und Rassensegregationen in den amerikanischen Südstaaten, die
sich auch selber oft christlich gerechtfertigt hat, konfrontiert war und eine christlich
inspirierte Gegenbewegung zur Beendigung der Rassen-diskriminierung und der
Segretation angeführt hat. Und wie da religiöse Motive und Infrastruktur von Kirchen
usw. eine Rolle spielen, das beschäftigt mich sehr. Gandhi interessiert mich wegen
seines Versuchs, das universalistische Potenzial indischer religiöser Traditionen
gegen das britische Kolonialreich zu mobilisieren. Und Mao, weil unter Mao der
wahrscheinlich größte Versuch jemals in der Weltgeschichte, alle Religion vom
Boden eines Landes und einer ganzen Zivilisation zu tilgen, stattgefunden hat in der
Kulturrevolution. Und der Hintergrund dafür ist natürlich, dass für die Schwäche
Chinas die chinesischen religiösen Traditionen verantwortlich gemacht wurden und
alle anderen religiösen Traditionen ebenfalls als gefährlich empfunden wurden oder
dargestellt wurden, was die Wiedergewinnung einer Stärke Chinas betrifft. Und diese
drei Konstellationen möchte ich mit den Begriffen, die ich in diesem Buch entwickelt
habe, aufschlüsseln.
Caspary:
Ich bin gespannt, wünsche viel Erfolg bei der Arbeit und bedanke mich für das
Gespräch.
Joas:
Danke, Herr Caspary.
* * * * *
Hans Joas ist Ernst-Troeltsch-Professor für Religionssoziologie an der
Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat mehrere Bücher geschrieben, darunter:
- Die Macht des Heiligen. Eine Alternative von der Entzauberung. - Suhrkamp, 2017.
- Kirche als Moralagentur? - Kösel, 2016.
- Sind Menschenrechte westlich? - Kösel, 2015.
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