SWR2 Wissen: Aula : Corona – wie die Pandemie das ökonomische und politische System verändert (1/2)

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Pandemie - Wirksystem - global-lokal . Caspary-Horx (SWR2)
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(https://www.swr.de/swr2/programm/index.html)

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SWR2 Wissen: Aula : Corona – wie die Pandemie das ökonomische und politische System verändert (1/2)
Gespräch: Ralf Caspary mit Matthias Horx
Sendung: Freitag, 1. Mai 2020, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2020
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

KERNAUSSAGE
'Statt Kapitalismuswirkmacht sollte der Begriff Systemwirkmacht im Zusammenhang mit dem Topos 'Corona - Pandemie - Wirksystem global-lokal' genutzt werden'
Matthias Horx, sinngemäss, w.p.

ÜBERBLICK
Corona verändert unsere Gesellschaft tiefgreifend. Was ist, wenn die Krise vorbei ist?
Werden wir so weitermachen wie vor der Krise? Der Zukunftsforscher Matthias Horx sagt nein. Im Gespräch mit Ralf Caspary erläutert er die Gründe.

Die Corona-Krise hat viel verändert
Die Kommunikation ist anders geworden. Früher haben Hass, Schelte, Diffamierung, Herabsetzung die Kommunikation im Netz dominiert, jetzt spielt das keine große Rolle mehr. Ebenso sind die Populisten und ihre kruden Ideologien von der „Bildfläche“ so gut wie verschwunden, sie haben ihre Ideenlosigkeit angesichts der Krise offenbart. Demgegenüber gibt es ein neues Vertrauen der Bürger in die Politik, die die Krise ja gut bewältigt, und auch in die Wissenschaft. Und es gibt eine neue Solidarität innerhalb der Bevölkerung.

Letztlich zeigt diese Krise auch, dass wir vor den falschen Dingen Angst hatten, vor medial aufgebauschten Skandalen, vor aggressiven Ideologen.

Corona bewirkt einen Systemwandel in der Ökonomie
Das System der Ökonomie muss und wird sich umbauen. Es zeigt im Moment, wie verletzlich es ist, es offenbart seine Schwächen. Zum Beispiel zeigt sich gerade jetzt, dass die globalen Lieferketten, die Millionen von Produkten permanent um den Erdball schicken, damit irgendwo ein Auto zusammengebaut werden kann, Unsinn sind. Kommt es da zu kleinen Störungen, hat das große Wirkungen. Dann fehlen plötzlich in bestimmten Regionen Medikamente oder Schutzmasken.

Es wird nach Corona um neue Strukturen des Wirtschaftens gehen – um solche, die global und lokal zugleich sind. Das sind neue resiliente ökonomische Strukturen, die gegen Krisen gewappnet sind.

Eine neue Entschleunigung
Es gibt Menschen, die das merkwürdige „Corona-Syndrom“ haben. Sie erfahren eine extreme Intensivierung des Lebens in der Verlangsamung. Das ist verblüffend. Man findet und erfindet sich in dieser Situation neu, man hat eine neue Perspektive auf die Beziehung zum Nächsten, auf die eigene Familie, auf den Partner. Es ist fast schon so, als würde man in einer neuen Epochen leben, mit neuen Werten und Verhaltensmustern.
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INHALT Teil I
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Corona verändert unsere Gesellschaft tiefgreifend. Was ist, wenn die Krise vorbei ist?
Werden wir so weitermachen wie vor der Krise? Der Zukunftsforscher Matthias Horx sagt
nein. Im Gespräch mit Ralf Caspary erläutert er die Gründe.
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.

MANUSKRIPT
Anmoderation:
Mit dem Thema: „Krise mit großer Wirkung- wie Corona das ökonomische und
politische System verändert.“ Am Mikrofon: Ralf Caspary.
Ursprünglich war geplant, heute die Zukunft der Arbeit zu thematisieren, dann kam
die Corona-Krise und deshalb haben wir das Thema der heutigen Aula verändert: Es
soll um die Frage gehen, wie die Pandemie als Katalysator wirkt, und zwar als
Katalysator für Veränderungen im sozialen, politischen und ökonomischen Bereich,
denn mit Corona steht ja etwa auch unser ökonomisches System auf dem Prüfstand.
Ich habe darüber mit dem Zukunftsforscher Matthias Horx gesprochen, meine erste
Frage war, ob diese Krise aus seiner Sicht konkrete Verhaltensveränderungen und
Werteveränderungen bewirkt?
Interview:
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Horx:
Das ist sehr wahrscheinlich in diesem Fall, weil die Krisen, die wir in den letzten 20
Jahren erlebt haben, die hatten ja immer einen sehr abstrakten Charakter, das heißt,
die liefen auf den Bildschirmen. 9/11 hat unser Leben persönlich allenfalls in den
Affekten beeinflusst und natürlich die Welt-Politik verändert. Die Bankenkrise hat
einige natürlich konkret auch erwischt. Aber das waren doch im Grunde genommen
Deutungskämpfe. Man hat darum gestritten, was das zu bedeuten hat, und das war
immer sehr ideologisch.
Und hier ist etwas passiert, was den Menschen ja in die konkrete Veränderung
bringt, nämlich in Bezug auf Verhalten und Erfahrungen. Wir alle haben unser
alltägliches Leben geändert, verändert, verändern müssen und haben zum Teil
verblüfft festgestellt, dass das, was wir vorher für unmöglich hielten, nämlich uns in
einer ganz anderen Art und Weise sozial zu verhalten, dass das funktioniert, ohne
dass es uns umbringt. Das war ein Effekt mit hohem Angstpotential und gleichzeitig
auch Bewältigungspotential. Ich sage immer, es ist eine Tiefenkrise und eine
Bewältigungskrise gleichzeitig.
Caspary:
Welche Veränderungen sind aus Ihrer Sicht wichtig gewesen?
Horx:
Ganz stark die im Kultursystem, also in den Gepflogenheiten, den Formen der
Kommunikation. Das fängt an mit der Begrüßung. Begrüßen ist etwas, was
ungeheuer wichtig ist für die Konstitution von Gesellschaften. In Japan und China
z.B. haben die Begrüßungsformen viel Bedeutung, die auch ganz schön irritieren
kann. Wir haben hier in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine Begrüßungsform
entwickelt, die immer so eine vorgetäuschte Intimität war: Bussi, Bussi, dan das
Umarmen. Und das ist jetzt plötzlich ganz anders – und erzeugt auch interessante
Selbsterfahrung. Es ist zu erwarten, dass wir über längere Zeit nicht einfach wieder
in unser altes Kommunikationsverhalten zurückfallen. Überhaupt unser
Kommunikationsverhalten: Wenn wir das in Bezug auf die digitalen Medien
berücksichtigen, da ist wahrscheinlich die Veränderung am größten. Wir entwickelten
sehr schnell eine Routine, auch eine erzwungene Routine im Umgang mit digitalen
Technologien, und dadurch humanisieren wir sie auch. Früher war die
Kommunikation im Internet ja auch oft eine Horror-Veranstaltung: Shitstorms, Hass
und all die Begleiterscheinungen, die wir da erlebt haben. Und jetzt selektiert quasi
der tägliche Gebrauch die vernünftigeren Formen von Kommunikation. Den
Shitstorm gibt es immer noch, aber den nehmen wir in der Krise gar nicht mehr wahr.
Caspary:
Sie sagen, die Veränderungen würden nach der Krise bleiben. Warum haben Sie
diese Hoffnung?
Horx:
Da geht es gar nicht um Hoffnung, sondern das ist einfach eine anthropologische
Beobachtung. Menschen entwickeln Gewohnheiten immer in der Reaktion auf
Herausforderung. Wenn Sie mal 500 Jahre zurückblicken in eine mittelalterliche
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deutsche Stadt: Enge Gassen, die Fäkalien laufen durch die Gassen, die Menschen
entleeren ihre Nachttöpfe auf die Straße und sie rotzen und spucken die ganze Zeit.
Das können uns die Mittelalterforscher ja sagen. Dann kam die Pest, die Dinge
haben sich verändert und sind auch so geblieben. Und wir haben ja auch vor Corona
die Hände gewaschen, wenn auch nicht so intensiv. Und jetzt ist das intensive
Händewaschen fast schon zur neuen Routine geworden. Das ist nur ein Beispiel. Die
Verekelung ist ein ganz wesentlicher menschlicher Lernprozess. Wir ekeln uns ja vor
bestimmten Dingen, vor Würmern z.B. Das hat immer auch etwas mit Gefahren zu
tun. vor. Jetzt könnte es sein, dass wir uns in Zukunft auch vor Kellerpartys ekeln
oder vor Kreuzfahrtschiffen. Dann wären Kreuzfahrtschiffe so etwas wie
Kreuzspinnen, weil sie ja eigentlich fahrende Krankenhäuser sind und die Menschen
an Bord gefangen halten. Verstehen Sie, was ich meine? Neue Erfahrungen oder
Routinen schreiben sich dann fest, indem sie im Gehirn neue neuronale
Verbindungen erzeugen, so entstehen neue Verhaltensmuster. Übrigens wird die
Begrüßung „Bleiben Sie gesund“ so nicht bleiben. Ich schreibe immer: „Bleiben Sie
gesund oder werden Sie es“. Sonst würde ich diejenigen ausschließen, die an
Corona erkrankt sind. Und Gesundung kann man heute auch in anderen
Konnotationen verstehen. Es gibt ja auch Elemente in dieser Krise, die einen
heilenden Charakter haben.
Caspary:
Welche denn?
Horx:
Plötzlich sind wir auf unsere Nahverhältnisse, auf unser Beziehungsverhalten
zurückgeworfen und merken, dass wir etwas vermisst haben. Wir machen quasi eine
„Retrognose“ – so nenne ich das, also eine Rückprojektion. Ich rede ja mit ganz
vielen verschiedenen Menschen. Und das ist natürlich anders, wenn Sie eine
Krankenschwester in Norditalien sind oder wenn Sie „an der Front“ kämpfen, dann
können Sie das so nicht empfinden. Aber es gibt Menschen, die haben das
merkwürdige „Corona-Syndrom“, sie erfahren eine extreme Intensivierung des
Lebens in der Verlangsamung. Das ist verblüffend, man findet und erfindet sich neu,
man findet die Beziehung zum Nächsten auf neue Weise, Familien entdecken, dass
sie sich eigentlich früher schon aus dem Weg gegangen sind und sie sich entfremdet
haben. Jetzt müssen sie plötzlich auf engem Raum miteinander auskommen. Und
dann gibt es zwei Möglichkeiten. Das ist etwas, das Krisen immer auch bedeuten:
Krise heißt eigentlich Entscheidung. Wenn z.B. ein Paar vier Wochen die Wohnung
nicht verlassen kann, dann wird es sich entweder scheiden lassen oder beide
werden ihre Beziehung neu gefunden haben. Und das erleben wir mit ganz vielen
Beziehungen: mit unseren Nachbarn, mit uns selbst. Wir erleben auch eine
Selbstwirksamkeit. Das ist ja eigentlich das Entscheidende im Leben: Kann man sich
selbst als wirksam empfinden, sowohl nach außen wie auch nach innen?
Caspary:
Wobei man ganz klar sagen muss: Ich habe auch die Erfahrungen gemacht, die Sie
schildern, in Bezug auf Retrognose. Ich finde es sehr befreiend, nicht jeden Tag
konsumieren zu müssen, ich spare Geld, ich brauche den ganzen Plunder von
Konsumgütern nicht mehr zu kaufen. Ich gehe anders mit meinem Mitmenschen um.
Das ist völlig richtig. Aber Sie haben auch gesagt, von der Krankenschwester auf der
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Intensivstation kann man das überhaupt nicht verlangen. Und die Kranken, die jetzt
zuhause sind, erfahren die Krise auch völlig anders. Ist das, was Sie beschrieben
haben, nicht schon eine Art Exklusiv-Erlebnis?
Horx:
Sie meinen also: Man darf aus moralischen Gründen keine Erlebnisse verstehen und
begreifen, weil andere sie nicht haben? Was ist das für ein Argument? Entweder wir
leben in einer Welt, in einer Gesellschaft, in der wir als Menschen Erfahrungen
machen – dann machen Menschen verschiedene Erfahrungen. Oder es gibt diese
Gesellschaft nicht. Ich verstehe Ihr Argument nicht. Dieses „Aber“ erscheint mir
merkwürdig. Das hat aber Gründe. Wir wollen die Welt moralisierend betrachten
nach dem Motto „das darf ich nicht“. Das ist aber gefährlich, weil das bedeuten
würde, dass ich nie etwas verbessern darf. Ich glaube, dass den „Schwachen“, die
von dieser Krise getroffen werden, natürlich unsere ganz Empathie und Solidarität
gehört, aber dass wir ihnen ja keinen Gefallen tun, wenn wir uns in dieselben
Erfahrungen oder Ängste mit hineinsteigern. Sondern es geht ja eigentlich darum,
dass ich auch etwas erfahren habe. Mir wird ja oft mein Optimismus vorgeworfen.
Sie sind ja optimistisch, sagen viele, das dürfen Sie nicht sein, weil es Menschen
gibt, die das jetzt nicht können. Wenn wir Menschen helfen wollen, denen es
schlecht geht, dann ist doch die Zuversicht ein besserer moralischer Wert, oder? Ich
finde, wir haben eine Art Pflicht zur Zuversicht, sonst drehen wir uns ja alle vor lauter
Angst um uns selbst, und das ist doch das Gefährliche. Das Gefährliche an Krisen ist
ja die Angstreaktion, dass die so übermächtig wird, dass ihre Folgeschäden größer
sind als das eigentliche Ereignis.
Caspary:
Sie setzen den Begriff Retrognose als Ergänzung zur Prognose und sagen, die
Corona-Krise geht eigentlich nie vorbei, sie hört nie auf. Warum?
Horx:
Die Krise als Krisengefühl wird natürlich aufhören, und es wird dadurch eine neue
Normalität entstehen. Es gibt Krisen, die eher Kurzunterbrecher waren, die haben
eigentlich keine weitere große Wirkung. Ein Beispiel ist die Bankenkrise. Das war ein
kurzer Stopp und danach ging alles wie gehabt weiter. Aber da, wo die Krise
verschiedene Ebenen, z.B. Kultur, Gesellschaft, Ökonomie betrifft und recodiert – ich
nenne das eine „Tiefenkrise“ –, da kommen Sie nicht mehr in die alte Welt zurück.
Wir können jetzt erst die Welt, die wir verlassen haben, beschreiben. Und die
meisten, die ich frage „Wie war es denn vor vier Wochen?“ sagen: „Naja, irgendwie
war es auch sehr ungemütlich.“ Es gibt eine wunderbare Studie, die kürzlich
nachgewiesen hat, dass die Deutschen heute halb so viel Angst haben wie vor der
Krise. Ist das nicht verrückt? Das weist uns ja auf etwas hin, nämlich darauf, dass
unsere prospektiven Ängste viel größer sind als die realen Ängste, mit denen wir in
einer neuen Situation konfrontiert werden. Da klärt sich auch etwas. Und dieses
Klären führt in eine andere Kulturform. Das heißt nicht, dass es nach Corona keine
Autos mehr gibt und keine Flugzeuge mehr fliegen werden. Das meine ich nicht.
Aber die Veränderung wird ungefähr so sein, als wenn man einen neuen
Gesellschaftstyp erfährt, eine neue Epoche, so als würde man nicht mehr im Barock
leben, sondern zur Zeit der französischen Revolution. Epochen werden ja, glaube
ich, auch durch unser Selbst- und Weltempfinden ausgedrückt. Und da wird sich
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etwas verändern, weil wir die Erfahrung der Entschleunigung, die wir ja gefürchtet
haben, plötzlich auch als Befreiung empfinden. Das ist der entscheidende Punkt.
Und das sind nicht nur ein paar wenige Privilegierte, die das erfahren. Das erlebe ich
bei vielen Menschen, auch beim Taxifahrer, mit dem ich rede, oder wem auch immer.
Caspary:
Das heißt, für Sie ist die Corona-Krise, auch wenn das jetzt pathetisch klingt, eine
epochale Zäsur?
Horx:
Nicht in dem Sinn, dass jetzt alles zusammenfällt. Der Zweite Weltkrieg war ja etwas,
wo Menschen unendlich traumatisiert worden sind, weil einfach in vielen Regionen
kein Haus mehr stand und man alles verloren hat. Das ist der falsche Vergleich. Aber
ich glaube, es geht um so etwas wie den Beginn eines Mentalitätswechsels, einer
großen Bedeutungsverschiebung. Man könnte auch Wertewandlung sagen. Das
betrifft vieles, das kann man spüren.
Caspary:
Lassen Sie uns bei dem Wertewandel bleiben. Ich habe das Gefühl, und das wurde
auch immer wieder in den Medien thematisiert, dass der Kapitalismus im Zuge der
Corona-Krise auf dem Prüfstand stand und noch steht. Das fängt an bei der sozialen
Gerechtigkeit, bei der Frage, wie bezahlen wir Krankenschwestern und Pfleger. Und
das endet mit der Kritik daran, dass wir z.B. einen Großteil unserer Produktion in
andere Länder ausgelagert haben. Die „Externalisierungsgesellschaft“ steht auf dem
Prüfstand. Das ist ein soziologischer Begriff, der diese Art des Kapitalismus kritisiert.
Glauben Sie, dass unser Kapitalismussystem sich durch die Corona-Krise ändern
wird?
Horx:
Ich habe immer Probleme mit dem Begriff Kapitalismus, weil das menschliche Gehirn
eine Eigenschaft hat: immer dann, wenn etwas komplex wird, bildet man so einen
Begriff.
Caspary:
Man baut einen Popanz auf, meinen Sie?
Horx:
Ja, und das ist immer ungenau und wirkt als Waffe. Genauso wie Neoliberalismus
und Sozialismus. Ich glaube im Sinne von Luhmann an das „System der Systeme“.
Ich glaube, dass die Wirtschaft viele verschiedene Systeme hat, und die sind eben
nicht alle kapitalistisch im Sinn von, dass nur das Kapital regiert, sondern es gibt ein
Arbeitssystem, ein Konsumsystem, ein Marktsystem. Märkte sind ja etwas
Kulturelles. Ursprünglich haben Menschen sich immer auf Märkten vergesellschaftet.
Und deswegen habe ich Probleme mit dem Kapitalismusbegriff. Der ist immer
ideologisch. Alle meine Freunde aus der 68er-Zeit kommen jetzt aus ihren
Schützengräben raus und sagen kritisch „der Kapitalismus“. Das haben wir gesehen.
Aus meiner Sicht hat das Corona-Virus mit dem Kapitalismus überhaupt nichts zu
tun. Es gibt ja immer auch diese Märchen, die erzählt werden: Hier rächt sich die
Natur. Wenn Sie sich vorstellen, wie lange Menschen schon in Zoonosen leben, also
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in Gemeinschaften mit Tieren, die dann auch Menschen infizieren können. Das war
immer so, in der Vergangenheit. Da hatten wir noch keine angeblich bösartige
kapitalistische Situation. Ich glaube, das führt alles ein bisschen in die Irre. Ich
glaube, wir müssen die Systeme einfach in ihrer dynamischen, ihrer adaptiven Form
betrachten. Und da ist es schlichtweg so, dass die Wertschöpfungsketten, die daraus
entstehen, dass man 8.000 Teile über den Planeten herumkarrt und daraus ein Auto
zusammensetzt – ich nenne das die „lange dünne Globalisierung“, also die Just-intime-
Produktion, die extrem schlank sein muss – das war ja die große Propaganda in
den 90er-Jahren, dass diese Muster sich überlebt haben. Wir merken plötzlich, dass,
wenn da irgendetwas schief geht, also wenn man Ländergrenzen aus irgendwelchen
guten Gründen vielleicht schließen muss, dann haben wir plötzlich keine
Medikamente mehr, keine Teile für die Auto-Produktion. Das ist ein fragiles System.
Das hat etwas mit der systemischen Natur dieser Produktionsweisen zu tun. Ob die
jetzt unbedingt kapitalistisch sind, weiß ich nicht. Die könnten auch sozialistisch sein.
Das ist der Punkt. Und deswegen wird sich in der Zukunft in der Tat eine
Globalisierung entwickeln, die robuster, resilienter ist. Und die kann man als
Systemiker natürlich beschreiben. Es ist nämlich so, dass die lokale Autonomie
größer wird. Und das nennen wir dann „Glokalisierung“, also global und lokal
zusammen. Wir werden wieder tiefere Wertschöpfungsketten haben. Wir werden
vielleicht auch alte Produktionsformen zurückgewinnen, z.B. das Handwerk. Das sind
Trends, die jetzt massiv beschleunigt werden.
Caspary:
Glokalisierung ist ein soziologischer Begriff aus den 80er-, 90er-Jahren. Da hat man
das Ideal einer globalen Wirtschaft so beschrieben?
Horx:
Ja, das waren ökonomistische Modelle, die sich an Effizienzkriterien gemessen
haben. Es gibt ja immer ökonomische Moden, da wird eine Sau nach der anderen
durchs Dorf getrieben und alle nicken mit dem Kopf und sagen, so muss das jetzt
sein. Das erzeugt immer die nächste Krise. Und im Grunde genommen ist ja die
Welt, überhaupt alles, was wir erleben, nichts anderes als eine Aneinanderreihung
von Krisen, auf die dann Welt und Leben reagieren, und dann entstehen neue
Formen.
Caspary:
Wir reden von ökonomischen Systemen. Sie haben es angesprochen, und mir ist das
im Zuge dieser Krise auch aufgefallen, wie verwundbar doch das ökonomische
System ist, also wie schnell Firmen vor der Pleite stehen, wie schnell kein
Nachschub mit bestimmten Waren, die gebraucht werden, gewährleistet werden
kann. Und Sie sagen, diese Verletzlichkeit wurde erkannt, und es geht jetzt darum,
sie zu ersetzen durch so etwas wie Resilienz: durch ein resilientes ökonomisches
System?
Horx:
Ja, aber Resilienz heißt übrigens nicht, dass Firmen nicht pleite gehen.
Caspary:
Nein, aber dass Unternehmen gewappnet sind gegen Krisen, oder?
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Horx:
Dass ein Unternehmen flexibler reagieren kann, dass es Ausgleich-Mechanismen
hat. Wir haben ja durch Corona quasi getestet, wie flexibel unsere Kultur ist. Und sie
ist erstaunlich flexibel. Das ist ja auch eine Erfahrung. Die Leute haben voller Angst
gedacht, wenn jetzt so etwas passiert wie diese Krise, dann gibt es bald nichts mehr
zu essen. Das ist der alte Reflex des tribalen Menschen. Alle haben Klopapier
gekauft, weil sie nicht wussten, was sie kaufen sollten. Das ist das eine. Und es gibt
ja schon viel Flexibilität in unserem System. Auch weil Entscheidungen getroffen
werden, die z.B. dazu führen, dass man die Rolle des Staates anders bemisst oder
die Rolle der Institutionen. Das halte ich für noch wichtiger. Die Institutionen, die wir
gemacht haben, Krankenhäuser, das Gesundheitssystem, die sind einem
bestimmten Code nicht gewachsen, nämlich diesem Corona-Code. Corona hat die
Schwächen des Systems gezeigt. Und damit haben wir als Kultur versucht
umzugehen und haben das auch geschafft. Das ist großartig. Also es gibt ganz viele
Bewältigungserfahrungen in dieser Krise. Wir haben gemeinsam durch die Änderung
unseres individuellen Verhaltens die Kurve der Infektionen abgeflacht.
Meine These ist: Das merkt sich das Gehirn, das Hirn möchte Erfolgserlebnisse.
Warum können wir das nicht auch mit der globalen Erwärmung so machen? Diese
Frage wird noch viel deutlicher werden. Früher haben wir immer gedacht, das ginge
gar nicht, weniger Autos usw., dann bricht die Wirtschaft zusammen. Vielleicht
machen wir jetzt die Erfahrung, dass die Wirtschaft nicht zusammenbricht, sondern
dass sie viel, viel flexibler ist, als wir glauben. Das wäre ja auch eine neue
Welterfahrung, die uns vielleicht ein bisschen Angst nehmen kann. Wir haben ja
immer die Angst, dass alles so fragil sei, die Wirtschaft könne jeden Moment
zusammenbrechen. Aber vielleicht stimmt das gar nicht, vielleicht ist die real
existierende Möglichkeit unserer Welt viel größer als wir uns das in unseren Mustern,
in unseren Bildern, in unserer Panik einbilden. Das nennt man dann Fortschritt.
Caspary:
Wie hat die Corona-Krise die Rolle der Politik, nicht unbedingt der Institutionen,
verändert? Zum Guten hin? Wir haben im Moment ein relativ vertrauenswürdiges
Krisen-Management der Bundesregierung. Ist das eine Stärkung der demokratischen
Strukturen? Ist die Demokratie krisenfähig geworden?
Horx:
Die Frage ist, was man unter Demokratie versteht. Die Demokratie ist ja über viele
Jahre in eine Generalkritik geraten. Durch den Populismus, aber auch durch diese
extreme Hypermedialisierung, in der alles und jedes skandalisiert wird. Ich glaube,
dass wir eine Vertrauenserfahrung gemacht haben. Alle waren unter Druck, die
Gesellschaft, aber auch die Politik. Und im Allgemeinen hat sie gut reagiert und das
getan, was notwendig und richtig war. Das hat uns sehr verblüfft. Jetzt suchen wir
natürlich mit unserem ewigen Angst- oder Kritikhirn nach Fehlern. Die kann man ja
zum Beispiel leicht in Trumps Verhalten sehen.
Caspary:
Trump hat das Ganze verharmlost.
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Horx:
Ja. Dadurch wurde auch etwas deutlich, es wurden verschiedene Wirksamkeits- und
Wirklichkeitsräume deutlich. Was hat gewirkt? Die Österreicher haben während der
Krise klar und konsequent gehandelt und das hat funktioniert. Dadurch wird ein
gesellschaftliches Vertrauen zurückgewonnen, und das finde ich persönlich gut. Aus
Sicht eines ewigen Systemkritikers ist das natürlich schrecklich, weil uns die
Herrschenden sofort wieder unterdrücken können. Aber vielleicht haben wir auch
gemerkt, dass wir Angst vor den ganz falschen Dingen haben. Das ist meines
Erachtens die Bedeutungsverschiebung dieser Krise: Wir erkennen, dass wir oft
Angst vor den falschen Dingen haben, vor medial erzeugten Übertreibungen, vor
ideologischen Konstrukten, vor Gespenstern, vor Zombies, die in der Gegend
herumlaufen, aber die Realität sieht vielleicht doch immer ein bisschen anders aus.
Das fand ich erhellend. Was wir jetzt daraus machen, ist noch eine andere Frage. Da
gibt es ja immer noch den Streit: Manche Menschen sagen, der Mensch wird sich
nicht ändern, es wird alles wieder ganz furchtbar schlimm kommen usw. Jetzt könnte
man natürlich auf den Gedanken kommen, vielleicht war es auch gar nicht so
schlimm. Das wäre eine ketzerische Idee.
Caspary:
In Bezug auf die Erosion der Demokratie, wurde ja immer gesagt in den letzten
Monaten, dass die Demokratie sozusagen dem Populismus geopfert wird. Diese
ideologisch aufgeladenen Diskussionen sind im Moment einfach irgendwie vom
Tisch gefegt. Populismus ist überhaupt kein Thema mehr. Kann man sagen, dass
das im Moment eine Art Reinwaschung ist?
Horx:
Es ist eine Aufmerksamkeitsverschiebung. Die moderne Gesellschaft operiert über
Aufmerksamkeit und ihre Manipulation, ihre Erzeugung. Wir leben in einem
Mediensystem, was unentwegt neue Sensationen und Hysterien erzeugt, weil es
Aufmerksamkeit generieren muss. Man spricht ja auch von der
Aufmerksamkeitsökonomie. Die rare Ressource in unserer Welt, in unserer
Gesellschaft ist menschliche Aufmerksamkeit. Deswegen zielen ja alle digitalen
Verwertungsketten immer auf die Frage: Wie können wir die Aufmerksamkeit des
menschlichen Gehirns gewinnen? In jeder Talkshow muss man sich eigentlich nur
gegenseitig anbrüllen, damit die Aufmerksamkeitsquoten erfüllt werden. In diese
Situation sind wir geraten. Und der Virus macht damit einfach Schluss, zumindest
vorübergehend. Er sagt, Moment mal, hier geht es um andere Dinge, nämlich um die
wirklich wichtigen. Deshalb kann sich jetzt ein Herr Höcke hinstellen und von
irgendetwas faseln, es ist nicht relevant. Denn Populismus funktioniert nur dann,
wenn wir eine starke Unsicherheitsvermutung über die Konsistenz unserer
Gesellschaft haben. Und da kann man einen Keil reintreiben. Aber in dem Moment,
wo wir in einer echten Krise sind, entsteht natürlich ein Gemeinschaftsbedürfnis, ein
Verständigungsbedürfnis, ein konstruktives Bedürfnis, eine Nachfrage nach
Zuversicht. Das bringt die Populisten nicht zum Verschwinden, aber es macht sie
unerheblich. Sie haben nichts anzubieten.
Caspary:
Sie haben keinerlei Werkzeuge, um die Krise in irgendeiner Weise rhetorisch zu
bewältigen und erst recht nicht durch Handeln?
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Horx:
Ja, und es offenbart auch deren Konzept. Die Populisten würden wahrscheinlich jetzt
alle Chinesen aus dem Land schmeißen oder die Grenzen schließen. Die Grenzen
sind aber schon geschlossen. Also was könnten sie jetzt wirklich noch machen?
Diese ganze Art von irrwitzigem Denken auf nationalistischen Ebenen funktioniert
nicht. Das wird gerade deutlich. Das nennt man die „normative Kraft des Faktischen“.
Das ist ein schöner Begriff.
(Teil 2, Sonntag, 3. Mai, 8.30 Uhr)
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