SWR2 Wissen: Aula : Corona – wie durch die Pandemie neue Arbeitsformen entstehen (2/2)

 


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Pandemie - Wirksystem - Arbeitsformen. Caspary-Horx (SWR2)
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https://www.swr.de/swr2/programm/index.html

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SWR2 Wissen: Aula : Corona – wie durch die Pandemie neue Arbeitsformen entstehen (2/2)

Gespräch: Ralf Caspary mit Matthias Horx
Sendung: Sonntag, 3.Mai 2020, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2020
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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KERNAUSSAGE 2
Zukunft : Auszeiten-Bildung > Ziel 'Erleuchteter Mitarbeiter'
Alle könnsn sich und andere an Talenten heranführen
Zukunft der Arbeit wird nicht nur smart (intellektuell, digital) sondern auch sinnlich (einfühlend, analog) sein

ÜBERBLICK
Die Pandemie scheint ein Katalysator zu sein für Veränderungen. Wegen Corona tragen Friseure jetzt
Gesichtsmasken. Andere wiederum verlegen ihren Arbeitsplatz nach Hause und nutzen vermehrt digitale Medien.
Sieht so die Zukunft der Arbeit aus?
Antworten gibt der Zukunftsforscher Matthias Horx im Gespräch mit Ralf Caspary.
Die Pandemie scheint ein Katalysator zu sein für Veränderungen. Wegen Corona tragen Friseure jetzt
Gesichtsmasken. Andere wiederum verlegen ihren Arbeitsplatz nach Hause und nutzen vermehrt digitale Medien.
Sieht so die Zukunft der Arbeit aus?

Antworten gibt der Zukunftsforscher Matthias Horx im Gespräch mit Ralf Caspary.

INHALT
Anmoderation:
Mit dem Thema: „Corona - wie durch die Pandemie neue Arbeitsformen entstehen,
Teil 2“. Am Mikrofon: Ralf Caspary.
Die Pandemie scheint ein Katalysator zu sein für Veränderungen. Wegen Corona
arbeiten viele im Homeoffice, wegen Corona ist klar geworden, wie die Zukunft der
Arbeit aussehen könnte und wie wir pragmatisch und unideologisch mit den digitalen
Medien umgehen können.
Darüber habe ich mit dem Zukunftsforscher Matthias Horx gesprochen. Meine erste
Frage war, ob die Pandemie auch ein Katalysator für die Digitalisierung in allen
Bereichen sein kann.
Interview:
Horx:
Nein, ich glaube, das ist ganz eklatant so, dass wir die digitalen Medien in dieser
Krise rekonfigurieren, und zwar einfach dadurch, dass viele Anwendungen, die
eigentlich schon immer sinnvoll waren und gewesen wären, plötzlich massiv
beschleunigt werden. Ich habe in meinem Leben immer versucht, Video-Konferenzen
zu vermeiden, weil es ungewohnt war und weil ich es aufdringlich fand, meinen
Gesprächspartnern nicht richtig in die Augen blicken zu können. Plötzlich machen wir
das alle, weil wir müssen, und entdecken dabei, dass es auch sehr sinnvoll sein
kann. Gleichzeitig passiert etwas anderes: Wir entdecken auch andere Kulturformen
wieder wie das Lesen von Büchern, die Langsamkeitsform des Analogen. Dadurch
entsteht eine Klärung, eine Reinigung. Vorher waren wir in einem „digitalen Monster“
gefangen mit furchtbaren Nebenwirkungen. Da wo das Digitale die menschliche
Kommunikation befallen hat, war das wie ein Virus. Es hat die menschliche
Kommunikation verseucht durch Shitstormst, Fake News usw. Und jetzt erobern wir
uns diese Medien aus der Notwendigkeit heraus und nutzen sie in einem realen
Bedürfnis. Und das zeigt, dass es wichtig ist, menschliche Intensionen und Motive
näher an diese Technologie. Das ist, glaube ich, eine Erfahrung, die bleiben wird. Wir
lernen, mit den digitalen Medien umzugehen und sie da zu verwerfen, wo sie nicht
sinnvoll sind. Jetzt haben wir auch keine Zeit, uns mit Shitstorms oder irgendwelchen
Trollen zu beschäftigen. Und dass jeder irgendetwas meint in den
Kommentarspalten, ist auch nicht mehr so wichtig. Es ist eigentlich eine humane
Aneignung dieser Techniken entstanden. Das ist eine positive Wirkung. Andererseits
hat sich das Erlösungsversprechen, der Digitalismus – ich nenne das mal so, ich
glaube, es gibt tatsächlich eine Ideologie des Digitalismus, die ist wie eine Religion –
könne alle Probleme lösen, dass wir z.B. mit künstlicher Intelligenz die Supermedizin
schaffen oder den Verkehr regeln, dass es eigentlich gar keine Menschen mehr
braucht – das hat sich auch überlebt. Es wurde sozusagen die Decke dieser
Scheinwirklichkeit gezogen. Wir sehen, Technologie ist nötig, um Corona zu
besiegen, aber alleine auch hilflos. Viel wirksamer sind die sozialen Veränderungen,
Verhaltensänderungen.
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Caspary:
Ich arbeite mich langsam zu unserem eigentlichen Thema „Zukunft der Arbeit“ vor.
Sehr viele Arbeitnehmer arbeiten zurzeit von Zuhause aus, Stichwort: Homeoffice.
Manche erkennen dadurch überhaupt ihre Chance und wollen so weitermachen.
Andere sagen: Das ist nichts für mich. Da gibt es auch eine Flexibilisierung, die durch
die Krise ausgelöst wurde. Und plötzlich hat das Homeoffice nicht mehr diesen
negativen Beigeschmack, da sitzt man zuhause, isst Joghurt oder brät sich ein
Schnitzel und tut so, als würde er arbeiten.
Horx:
Ja, die bisherige Erfahrung war, dass man das Homeoffice in falsche Kisten gesteckt
hat anstatt sich die Wirklichkeit anzuschauen. Es ist ja so, dass viele Firmen vorher
schon damit experimentiert haben. Und es hat sich herausgestellt, dass es durchaus
sinnvoll ist, zwei bis drei Tage in der Woche zuhause zu arbeiten. Aber in dem
Moment, wo etwas Kreatives, etwas Verdichtendes entstehen soll, ist das anders.
Wir leben ja in einer Welt vermehrter Projektarbeit. Projektarbeit initiieren können Sie
nur innerhalb einer Gruppe von Menschen, da brauchen Sie die Differenzierung von
Blicken, Gesten usw. ein Projekt dann abzuwickeln, das haben wir schon vorher
gelernt, das kann man auch über elektronische Techniken. Dafür den richtigen
Rhythmus zu finden, ist wichtig. Auch was die Konzentration angeht, muss man
unterscheiden. Wenn Sie zuhause arbeiten und haben kleine Kinder, dann können
Sie das vergessen. Ich habe das mein ganzes Leben lang gemacht. Als meine
Kinder klein waren, habe ich noch Bücher geschrieben. Aber eigentlich ist das
Blödsinn. Sie müssen dann einfach zuhause Differenzierungen schaffen. Aber hier
entsteht eine ganze Palette neuer Arbeitsformen. Flexibles Arbeiten, das letztlich
darauf hinausläuft, was die Skandinavier schon lange machen, dass nämlich die
Kernarbeitszeit zurückgeht auf etwa 30 Stunden, dass wir viel mehr Schnittstellen
zum privaten Leben haben. Ich genieße das schon immer und jetzt besonders, dass
ich am Schreibtisch sitzen kann, Texte schreiben, manchmal anstrengende
Telefonkonferenzen habe, und dann gehe ich einfach ein paar Schritte weiter und
koche ein Essen für meine Familie. Erstaunlicherweise kochen meine Söhne jetzt
auch. Das haben sie vorher nie gemacht, jetzt sind sie Mitte 20. Das sind
Öffnungserfahrungen in beiden Sphären, im Privaten wie im Beruflichen.
Caspary:
Es gibt also immer mehr Berührungspunkte zwischen dem Privaten und dem
Beruflichen. Aber bedingt das nicht von Seiten des Arbeitnehmers eine sehr große
disziplinarische Anstrengung?
Horx:
Nein, das glaube ich nicht. Es erfordert die Fähigkeit zur Selbstorganisation, das ist
etwas anderes. Mit dem Disziplinieren ist das immer so eine Sache. Wer mit zuviel
essen oder dem Rauchen aufhören will und gegen den Schweinehund kämpfen,
verlieren Sie immer. Der Schweinehund wird ja, während Sie ihn bearbeiten, immer
größer. Wenn Sie dauernd an die Zigarette denken, passiert gar nichts. Nein, das
entwickelt sich organisch. Man ist irgendwann so genervt, dass man versucht, die
Kinder irgendwo unterzubringen. So entwickeln sich neue Formen von
Nachbarschaftsbetreuung usw. Ich glaube also nicht, dass es um Disziplin geht. Wir
leben auch nicht mehr in einer Fließbandgesellschaft, das gilt auch für
Krankenschwestern. Da stellt sich ohnehin die Frage, die zwar bisher noch nicht
aufgekommen ist, dennoch ist sie zu stellen: Wie taylorisiert ist eigentlich die
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Medizin? Ein großer Teil des Stresses ist ja gerade durch falsche Disziplinarisierung
entstanden. Wenn Sie Menschen heilen und betreuen, müssen Sie unentwegt etwas
in Listen eintragen. Da hat die Digitalisierung eher einen Teufels-Job hervorgebracht.
Wie können wir ein Krankenhaus-System so umbauen, dass es die Menschen
besser heilt. Es reicht nicht, einem Patienten einfach eine Maschine ans Bett zu
stellen, das ihn künstlich beatmet. Das sind Fragen, die jetzt hautnah zu spüren ist.
Das wird unsere Arbeitswelt verändern. Wenn Sie jetzt den Begriff Flexibilität
nennen, das war ja immer ein Schreckensbegriff. Wenn von einem Arbeitnehmer
Flexibilität gefordert wurde, wurde das oft als noch mehr Ausbeutung verstanden.
Das wurde ja auch öffentlich so diskutiert. Daran ändert sich zurzeit etwas. Ich habe
gerade eine wunderschöne Nachricht aus England erhalten, dass die jetzt
arbeitslosen Stewardessen und Piloten von drei großen Fluggesellschaften jetzt
sogenannte „Care Lounges“ in den Krankenhäusern des NHS (National Health
Service), also da, wo die wirklich knallharten Stresserscheinungen sind, machen die
Lounges für die Krankenschwestern und Pfleger und verwöhnen sie dort für eine
Stunde mindestens, wie auf einem Langstreckenflug. Das haben sie ja gelernt. Bei
Flügen müssen sie die Leute ja auch beruhigen und entspannen. Und sie haben
gesagt, wir haben diese Fähigkeit und können die in dem Kontext einsetzen. Und
das ist auch interessant, wie viele Berufe sich jetzt neu erfinden. Ein Bauer wird
beispielsweise Internet-Händler. Autoherstellen produzieren jetzt Schutzmasken in
derselben Fabrik. Es entstehen Verbindungen, die vielleicht auch die Einengung, die
das industrielle Arbeitssystem mit sich bringt, ein Stück weit aufsprengen, vielleicht
auch mehr Selbstbewusstsein über die eigenen Fähigkeiten erzeugen können.
Caspary:
Befinden wir uns Ihrer Ansicht nach noch in dem taylorschen System, in dem es um
Disziplin, starre Arbeitsabläufe, Effizienz, Bürokratie, um Überwachung vor allen
Dingen der Arbeitnehmer. Befinden wir uns noch da, obwohl wir schon lange über
Industrie 2.0, 3.0, 4.0 reden?
Horx:
Das alte System ist zäh. Das maschinelle Industriesystem ist über viele Jahre
gewachsen, das weicht nicht so schnell. Werfen wir mal einen Blick auf Fabriken. Vor
40 Jahren haben ungefähr 50% aller Menschen am Fließband gearbeitet und
höchstens mal, drei Handreichungen am Tag gemacht. Das gibt es heute in den
Textilfabriken Bangladeschs immer noch. Aber an sich hat sich das längst verändert
in Form von Teamwork, aber die Mentalitäten haben sich teilweise noch nicht
verändert – im Positiven wie im Negativen. Die Menschen haben oft noch den
Mindset in ihren Köpfen: „Sag mir, was ich tun muss“ in meiner speziellen Funktion.
Aber produkiv genug ist das nicht. weil sich Produktionsformen und Berufsbilder
dauernd wandeln. Insofern ist da schon seit mehreren Jahren eine Veränderung im
Gange. Aber es gibt immer wieder diese Rückfallerfahrungen. Wenn man das Gefühl
hat, die Übersicht zu verlieren, geht man wieder in Kontrollmechanismen über, füllt
Listen aus usw. Wie gesagt, die Digitalisierung hat da oft eine schwierige Funktion
erfüllt, weil sie zu noch mehr Kontrollformen geführt hat. Ich glaube, das ist nicht sehr
produktiv für die Arbeit der Zukunft, denn da geht es immer auch um die menschliche
Ingenuität, die Kreativität, um die Lebendigkeit.
Caspary:
Lassen Sie uns konkret werden: Welche zwei, drei Berufsbilder werden sich Ihrer
Ansicht nach stark verändern von ihren Aufgaben her?
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Horx:
Es gibt vier verschiedene Sektoren: Land- und Rohstoffwirtschaft, Fabriken
(Produkion), Dienstleistungen, quartärer Sektor der Kreativität. Ich glaube, dass die
kreativen Berufe durch die Corona-Krise einen massiven Schub bekommen, weil
natürlich auch Sinnfragen gestellt werden, weil die Verfasstheit des Menschen in
Frage steht. Alle kulturisierenden und kulturellen Berufe, die jetzt stillgelegt sind,
enthüllen in ihrer Stilllegung ihre Wichtigkeit. Dann wird der ganze Sektor „Care“ –
wie weit geht das denn? Ich glaube wirklich, dass wir an die Fragestellung, wo es
nicht nur um Bezahlung geht. Das große Thema, das immer wieder im Raum steht,
ist ja, werden wir den unter-gewürdigten Berufen wie Lastwagenfahrer, Verkäuferin
mehr Geld zahlen? Ich glaube, dass das eine gefährliche Verkürzung ist, weil es nur
das moralische Argument nach vorne stellt. Müllmänner z.B. hatten früher auch
schon eine hohe Reputation. In Wien sind sie z.B. ganz gut bezahlt. Aber die Lösung
kann ja nicht einfach sein, dass wir den Krankenschwestern, die manchmal unter
furchtbaren Arbeitsbedingungen ihren Dienst tun, einfach mehr Geld geben. Das
hieße, das Problem weg-kaufen. Und das würde natürlich auch zu neuen
Verteilungskämpfen führen und ein neues Problem schaffen. Zielführender ist doch
die Frage, wie wir eine Klinik wirklich organisieren sollen, so dass nicht nur die
technische Funktion, sondern auch die seelische Funktion berücksichtigt wird. Denn
Heilung ist immer auch ganzheitlich zu verstehen und ist nicht nur mit der
Lungenfunktion getan. Also „Care“ im weitesten Sinne, sich um andere kümmern –
wie organisieren wir diesen ganzen Bereich in einer anderen Form. Brauchen wir
nicht auch andere Lebensformen? Wir haben ja einen neuen Gesellschaftstrakt
geschlossen. Junge Menschen haben gesagt, okay, wir verzichten, damit alte
Menschen noch länger leben können. Es gab ja durchaus zynische Stimmen, die
gesagt haben: „Ach, was soll das? Die Alten müssen sowieso sterben.“ Aber können
wir uns nicht auch eine Gesellschaft vorstellen, in der die Menschen weniger in der
Einsamkeit leben, wo Alt und Jung zusammenleben, so dass in gewisser Weise die
Care-Funktion in den Alltag integriert ist und nicht alles ökonomisiert ist. Für mich
wäre das ein interessanter Impuls, über den die Gesellschaft nachdenken kann. Mein
Gefühl ist, dass das inzwischen viele Leute tun, weil es so deutlich wird. Hinsichtlich
unserer hochtechnischen Medizin, die aber der Covid-Krise ziemlich hilflos
gegenübersteht und rasch überfordert ist, kann es nicht sein, dass einfach mehr Geld
reingesteckt wird. Das ist natürlich der Impuls, dass man mehr Geld in die Hand
nimmt. Ich glaube, das ist eine Illusion.
Caspary:
Heißt das, dass Sie für eine Systemveränderung plädieren? Wie würden wir die denn
zustandebringen, das Care-System völlig umzubauen, weg von Fallpauschalen und
bürokratischen Monstern, hin zu echter Fürsorge der Patienten.
Horx:
Wir sind längst dabei, diese Prozesse werden nur nicht wahrgenommen, sie werden
auch in den Medien nicht erwähnt. In Holland gibt es beispielsweise die Organisation
„Buurtzorg“, buurt heißt eigentlich Nachbarschaft, und die haben das Pflegesystem
vom Kopf auf die Füße gestellt. Die arbeiten in autonomen Teams, die einen
bestimmten Stadtteil betreuen und die immer genau wissen, was der
Pflegebedürftige zuhause braucht. Die meisten Menschen wollen ja zuhause bleiben.
Die wollen nicht in ein Altersheim mit der gleichaltrigen Gruppe. Buurtszorg hat das
so organisiert, dass es da von vorneherein keine Taylorisierung gibt. Normalerweise
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ist es ja so, wenn Sie pflegebedürftig in Ihrer Wohnung sitzen, kommen in der Woche
ungefähr 25 verschiedene Leute bei Ihnen vorbei. Der eine richtet Sie auf, der
andere dreht Sie um, der Dritte macht wieder etwas anderes. Das sind eben
taylorisierte Systeme. Im Grunde genommen ist das nur ein Versorgtwerden.
Buurtszorg hat gesagt: Wir wollen mit den Menschen Ziele vereinbaren. Wie mobil
wollt Ihr sein? Was können wir dafür tun? Die organisieren auch Nachbarschaftshilfe,
so dass die soziale Geborgenheit der Menschen mehr Gewicht bekommt. Das ist
eine komplexere Form von Care. Und erstaunlicherweise ist die sogar billiger. Das ist
eine andere Form von Denken, von Fühlen, von organischer Organisation. Wenn
Pfleger nur 10 Minuten Zeit hat für einen Patienten, dann ist das
menschenverachtend. Deshalb muss man bei diesen Prozessen ganz stark auf die
Selbstorganisation von Systemen setzen. Das muss man intelligent beherrschen.
Und das geht. Man kann sich entlanghangeln an Beispiel, wo gelingen Alternativen
zu dem System, das wir heute haben? Z.B. Co-Living. Ich habe gerade einen großen
Co-Living-Platz mit 2.800 Bewohnern in Zürich besucht, wo Alt und Jung zusammen
wohnen. Dort entsteht eine ganz andere Art von Versorgungsstruktur, von
Intergeneravität. Die Menschen können dort sehr individuell leben, und trotzdem hat
das manchmal wie in einem Kibbuz. Es gibt gemeinschaftliche und individuelle
Formen.
Caspary;
Und das funktioniert? Die Alten kümmern sich um die Jungen und umgekehrt?
Horx:
Nicht immer durchgehend. Darum geht es, glaube ich, auch gar nicht. Sondern es
geht darum eigentlich, die meisten Menschen, wenn man sie fragt, sie wollen als alte
Menschen nicht nur mit Gleichaltrigen zusammenleben. Und eine Oma zu haben,
auch wenn die Oma jetzt gerade nicht da ist, die einem etwas vorliest, ist vielleicht
das auch ganz schön. Es geht ja darum, soziale, gesellschaftliche und ökonomische
Systeme neu, vom Menschen und seinen Bedürfnissen her, zu gestalten. Und das ist
ein evolutionärer Ansatz, das können Sie nicht dadurch erledigen, dass Sie den
Sozialismus einführen oder was auch immer für ein -ismus. Sondern das ist ein
Vortasten, das ist eine Mutation.
Caspary:
Ein Bereich, der sich für mich auch immer auch jenseits dieses taylorschen Systems
etabliert hatte, waren die Startups. Ich schere die jetzt über einen Kamm. Das ist eine
immer noch junge Kultur, die mit flachen Hierarchien arbeitet, projektbezogen, mit
ganz anderen Arbeits- und Freizeitstrukturen. Ist das richtig?
Horx:
Das ist, glaube ich, eine Selbstlüge. Die Startups haben nämlich zwei Seiten. Das
eine ist eigentlich nichts anderes als eine getarnte Ausbeutung. Sie würden sich
wundern, wie schnell sich die Gründer zu autoritären Stinkstiefeln entwickeln, wenn
das große Geld wirkt. Der Fußballflipper war nur ein Instrument, um gute Laune
herzustellen. Was zurzeit in eine Riesen-Krise gerät, sind die großen Startups, die
sogenannten Einhörnern, weil die oft auf der Idee von Geld verbrennen, um den
Markt zu überholen, funktionieren. Das werden viele nicht überleben. Ich glaube,
Startups sind Organisationsformen von Ökonomie, die auch etwas mit Kultur zu tun
haben, also die Kulturisierung von Ökonomie und von menschlichen Verhältnissen.
Da gibt es sehr viele verschiedene Ausprägungen. Aber ich glaube, diese Hybriden,
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hybrid im Sinn von größenwahnsinnig, zersägen sich jetzt langsam auch selbst.
Schauen Sie in die USA. Die vielen Startups, die an die Börse gegangen sind, sind
dort nicht immer besonders erfolgreich und sind eher zusammengebrochen wegen
ihrer inneren Widersprüche.
Caspary:
Viele sind auch pleite gegangen, weil sie einfach kein Geld mehr bekommen haben,
während anfangs viel Geld in sie hineingepumpt wurde.
Horx:
Ja, man kann sie als Geldspekulationsmaschinen definieren, oder man definiert sie
als Lösungen realer menschlicher Probleme. Das sind die beiden Möglichkeiten. Da
haben wir uns natürlich auch viel vormachen lassen von der Digitalpropaganda.
Caspary:
Wenn wir über Zukunft der Arbeit reden, gibt es immer wieder Stimmen, die sagen,
dass durch Roboter und Digitalisierung viele Arbeitsplätze und Berufsfelder
verschwinden werden. Wie sehen Sie das?
Horx:
Das sehe ich auch so, aber das ist überhaupt nichts Neues. Mit dem Beginn der
Industrialisierung haben sich die Berufsbilder ständig verändert. Denken Sie z.B. an
die Weber, damit fing es ja an. Wenn es gelingt, werden stupide Arbeiten durch
Maschinen abgelöst, aber das erzeugt natürlich individuell einen Verlust. Derjenige,
der früher mit seiner Familie zuhause Teppiche gewoben hat, hat dann kein
Einkommen mehr. Das ist aber etwas, was die natürliche Dynamik der Welt ist.
Übersehen wird oft, dass sich dafür neue, komplexe Berufsformen entwickeln. Wer
früher Mechaniker war, ist heute Mechatroniker. Die Evolution von neuen
Berufsformen findet auf allen Ebenen statt. Es gibt Tausende von neuen
Tätigkeitsfeldern, die man früher nicht kannte. Das ist die andere Seite dieser
Entwicklung. Wir haben ja heute soviel Erwerbstätigkeit wie noch nie. Die Menschen
arbeiten jetzt in vielen verschiedenen Berufsbildern. Und meine These wäre jetzt,
wenn man das ein bisschen in die Zukunft hineinprognostiziert, dann werden wir
auch als Individuum diesen klassischen Begriff von Ausbildung, Karriere und Beruf
zunehmend verändern. Das ist heute schon im Gang. Z.B ein Zukunftsforscher so
wie ich, was ist denn das überhaupt? Was ist das für ein Beruf? Ich muss natürlich
gleichzeitig Philosoph, Kommunikator sein, ich muss mit Technik umgehen können
usw Das sind Multikombinationsberufe und eben nicht mehr eindeutig festgelegte
Tätigkeiten, so dass man im Laufe seines Lebens verschiedene Berufe ausübt, die
natürlich etwas miteinander zu tun haben. Ich muss jetzt nicht unbedingt
Intellektueller und zusätzlich Bienenzüchter sein. Aber auch das gibt es ja schon
häufig: Menschen, die mehrere Berufe haben, nicht nur aus ökonomischen Zwang
heraus. Ich glaube, diese kulturellen Entwicklungen wahrzunehmen, sie für wahr zu
halten und damit auch zu versuchen zu verstehen und zu verändern, ist sehr wichtig.
Caspary:
D.h. was wir früher diskutiert haben zum Stichwort „lebenslanges Lernen“, das sich
nicht nur auf die Ausbildung bezieht, wäre schon etwas, was Sie befürworten, auch
wenn wir es nicht unbedingt so nennen. Das ist einfach ein Aufbrechen dieser
biografischen Konventionen.
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Horx:
„Lebenslanges Lernen“ ist ein Begriff aus dem alten Industriedenken. Aber wir
Menschen sind ein ganzes Leben lang Lernende, wenn wir uns nicht innerlich
frühzeitig in die Kiste gelegt haben. Es gibt ja viele Leute, die das tun, die vergreisen
in jungem Alter. Aber unser Hirn ist plastisch, wir wollen wissen, wir wollen etwas
verändern. Eigentlich vertragen wir stupide Routinen überhaupt nicht. Diese
Eigenschaft des Menschen wäre viel wirksamer in einer postindustriellen
Gesellschaft. Das heißt aber, dass wir verschiedene Lernformen haben. Das meiste
lernt man sowieso in der Praxis und nicht durch Bücher. Aber es ist natürlich sinnvoll,
beides zu können. Also ein Modell zu bilden, ein Abstraktum zu verstehen und es
dann anzuwenden und wieder zurück. Das heißt nicht, dass jeder alle zehn Jahre auf
die Schule oder in die Universität marschieren muss.
Caspary:
Was heißt das denn konkret?
Horx:
Das heißt, dass ich in meinem Berufsleben in einer lebendigen Situation bleibe, dass
ich dort neue Herausforderungen annehme, dass ich nicht in klassischen
hierarchischen Laufbahnen und Karrieren denke. Wenn man auf der Karriereleiter
ganz oben angelangt ist, ist es nie so, wie man sich das erhofft hat.
Sondern es geht darum, sich zu entwickeln, sich auch mal eine Auszeit nimmt. Das
ist ja das, was wir durch Corona erleben, dass wir zwangsweise Auszeit haben und
das das Gefühl haben: Wow, jetzt lernen wir etwas. Wir lesen wieder Bücher. Meine
Familie hat Filme, die wir eigentlich immer schon mal schauen mussten, aber aus
Bildungsgründen nicht getan haben. Vorgestern aber haben wir uns „Chinatown“
angeschaut – Jack Nickelson in seiner besten Form.
Caspary:
Ganz zum Schluss muss ich Sie doch wieder konfrontieren mit der altlinken These:
Wenn das alles so ist, wenn die Arbeit flexibler ist, wenn stupide Arbeit von
Maschinen erledigt wird, wenn wir Kopfarbeit bekommen, wenn die Intellektualität
gefragt ist, was machen dann Leute, die nicht so flexibel sind, die nicht so intellektuell
und smart sind?
Horx:
Pflege können Sie z.B. nicht intellektuell machen. Das ist Blödsinn. Ein Handwerker
ist doch nicht unterbemittelt. Das sind alles hohe Qualifikationen, die alle auch mit
dem gesamtheitlichen Wesen des Menschen zu tun haben. Das kann man übrigens
schon bei Marx nachlesen. Er hatte nämlich gar nicht unähnliche Ideen. Also diese
Menschen machen etwas anderes. Intellektuelle intellektualisieren, das ist vielleicht
gerade in Bezug auf die Veränderungen, die vor uns liegen gar nicht so interessant,
weil die sich oft ausschließlich mit abstrakten Konzepten, die mit der Wirklichkeit
nicht viel zu tun haben. Alle Menschen haben ein Talent. Eine gute Schule weiß das
z.B. Die bildet ihre Schüler nicht aus, sondern führt sie an ihre Talente heran. Sie
schafft es, das zu organisieren, das ist eben die Herausforderung. Ein gutes
Unternehmen bringt ihre Mitarbeiter zum Leuchten. Das geht nicht über Motivation
von oben, sondern es ageht darum, dass die Arbeit Sinn hat und dass man das
erfahren kann. Das sind im Prinzip die alten humanistischen Utopien. Und meine
These ist, dass wir heute mit unseren technischen Möglichkeiten dem näher
kommen. Nur wir nehmen das oft gar nicht wahr oder wir denunzieren es oft und
nennen es Ausbeutung. Ich glaube, es ist keine Schande, Geld verdienen zu wollen.
Das alles unter dem Stichwort Kapitalismus über einen Kamm zu scheren, halte ich
für falsch. Wenn die Corona-Krise einen Sinn hat, dann die, dass sie unsere
Wahrnehmungsform durchrüttelt, so dass wir mit anderen Augen auf die Dinge
blicken, was eigentlich schon möglich ist. Das halte ich für produktiver als durch
Zwang oder es mit einem gewalttätigen System herbeiführen zu wollen. Das ist
immer schief gegangen.

Caspary:
Ganz zum Schluss muss ich Sie doch wieder konfrontieren mit der altlinken These:
Wenn das alles so ist, wenn die Arbeit flexibler ist, wenn stupide Arbeit von
Maschinen erledigt wird, wenn wir Kopfarbeit bekommen, wenn die Intellektualität
gefragt ist, was machen dann Leute, die nicht so flexibel sind, die nicht so intellektuell
und smart sind?
Horx:
Pflege können Sie z.B. nicht intellektuell machen. Das ist Blödsinn. Ein Handwerker
ist doch nicht unterbemittelt. Das sind alles hohe Qualifikationen, die alle auch mit
dem gesamtheitlichen Wesen des Menschen zu tun haben. Das kann man übrigens
schon bei Marx nachlesen. Er hatte nämlich gar nicht unähnliche Ideen. Also diese
Menschen machen etwas anderes. Intellektuelle intellektualisieren, das ist vielleicht
gerade in Bezug auf die Veränderungen, die vor uns liegen gar nicht so interessant,
weil die sich oft ausschließlich mit abstrakten Konzepten, die mit der Wirklichkeit
nicht viel zu tun haben. Alle Menschen haben ein Talent. Eine gute Schule weiß das
z.B. Die bildet ihre Schüler nicht aus, sondern führt sie an ihre Talente heran. Sie
schafft es, das zu organisieren, das ist eben die Herausforderung. Ein gutes
Unternehmen bringt ihre Mitarbeiter zum Leuchten. Das geht nicht über Motivation
von oben, sondern es ageht darum, dass die Arbeit Sinn hat und dass man das
erfahren kann. Das sind im Prinzip die alten humanistischen Utopien. Und meine
These ist, dass wir heute mit unseren technischen Möglichkeiten dem näher
kommen. Nur wir nehmen das oft gar nicht wahr oder wir denunzieren es oft und
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nennen es Ausbeutung. Ich glaube, es ist keine Schande, Geld verdienen zu wollen.
Das alles unter dem Stichwort Kapitalismus über einen Kamm zu scheren, halte ich
für falsch. Wenn die Corona-Krise einen Sinn hat, dann die, dass sie unsere
Wahrnehmungsform durchrüttelt, so dass wir mit anderen Augen auf die Dinge
blicken, was eigentlich schon möglich ist. Das halte ich für produktiver als durch
Zwang oder es mit einem gewalttätigen System herbeiführen zu wollen. Das ist
immer schief gegangen.
Caspary:
Mit gefällt das Bild vom erleuchtenden Mitarbeiter. Herr Horx, Sie haben mit mir von
Ihrem Homeoffice aus geredet. Danke für das Gespräch.
Horx:
Vielen Dank Ihnen auch.

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