Die Philosophin Ágnes Heller – Kämpferin für ein solidarisches Europa . Von Natalie Kreisz . SWR2


Die Philosophin Ágnes Heller demonstriert 2016
vor dem ungarischen Parlament gemeinsam mit Beschäftigten des Gesundheitswesens
Bild: SWR2

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Diskurs Platon Akademie 4.0 > PA4 Diskurse (1995-2020) > 2020 EU-Demokratien & Selbst
Europa - solidarisch-pluralistisch . A. Heller
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Die Philosophin Ágnes Heller – Kämpferin für ein solidarisches Europa . Von Natalie Kreisz

ÜBERBLICK
Die ungarische Philosophin Ágnes Heller (1929 - 2019) misstraute allen Utopien und Zukunftsverheißungen. Dennoch kämpfte sie Zeit ihres Lebens für ein freies und pluralistisches Europa.

Ágnes Heller – Kritische Stimme gegen "Orbánismus"
Die Philosophin Ágnes Heller ist eine der wenigen Stimmen, die sich in Ungarn kritisch gegen die – von ihr sogenannte – „Tyrannei“ Viktor Orbáns äußert. Ágnes Heller spricht vom "Orbánismus", einem extremen politischen Gebilde, das die moderne Massengesellschaft erzeugt habe. Es stütze sich auf eine kleine Schicht reich gewordener Gefolgsleute, deren Loyalität erkauft sei. Ihre Massenwirkung entfalte diese politische Konstruktion durch eine extremistische Ideologie: Mit rassistischem Nationalismus und gezielter Feindbildproduktion würden Bedrohungsszenarien etabliert, vor denen der jeweilige Tyrann als starker Mann und Retter stilisiert werde.

Bereits vor dem Fall des Eisernen Vorhangs betrachtet Heller die Situation der europäischen Nationalstaaten skeptisch, denn für sie ist in diesen Staaten die Nation der Gott und die wichtigste Identität. Heller befasst sich eingehend mit der Geschichte und der Geistesgeschichte Europas. Sie betont immer wieder, dass die Idee eines einheitlichen Europas nur ein Traum bleiben kann. 2016 veröffentlicht sie ihr Buch: Von der Utopie zur Dystopie. In einem Gespräch mit Johannes Nichelmann in Deutschlandfunk Kultur warnt sie, dass alle Utopien in einer Tyrannei und Totalitarismus enden.

Während der erneuten Amtseinfuehrung von Ministerpräsident Viktor Orban demonstrieren tausende Menschen gegen den durch das manipulierte Wahlsystem ermöglichten erneuten Zwei-Drittel-Sieg von Fidesz am 8. April 2018 in Budapest (Foto: Imago, Szilard Vörös/estost.net)
Tausende Menschen demonstrieren 2018 in Budapest gegen die durch das manipulierte Wahlsystem ermöglichte erneute Amtseinführung von Ministerpräsident Viktor Orban
Imago Szilard Vörös/estost.net
Wie Ágnes Heller sich zur Utopistin entwickelte
Die Entwicklung von Heller als einer Utopistin, in der Tradition von Marx hin zu einer skeptischen Verfechterin einer liberalen Gesellschaft wird verständlich, wenn man Ágnes Hellers Leben Revue passieren lässt.

Geboren wird sie am 12. Mai 1929. Als Kind jüdischer Eltern wächst sie in einer assimilierten, armen Familie in Budapest auf. Ihre Mutter ernährt die Familie als Hutmacherin. Der Vater ist Anwalt, beschäftigt sich aber mit mathematischen Problemen und Schriftstellerei. Er gibt seiner Tochter Ágnes die Liebe zur Kultur, zur deutschen Sprache und zum Nachdenken über ethisches Handeln mit auf den Weg. Als Anwalt hilft er Verfolgten nach 1933 und erst recht nach 1938 aus der Haft bzw. zur Flucht. Er selbst wird schließlich deportiert und kommt in Auschwitz um. Ágnes und ihre Mutter überleben im Ghetto die Erschießungskommandos der rechtsradikalen Pfeilkreuzler, der ungarischen Nationalsozialisten, die im Winter 1944/45 mehr als 3000 Menschen vom Ufer in die eisigen Fluten der Donau schießen.

Sprung in die Donau – gegen das Gefühl der Ohnmacht
Mehrmals erlebt Heller diese traumatische Szene, die prägend für ihr weiteres Denken und Handeln wird. Bis zur letzten Minute trotzt sie dieser ausweglosen Situation durch den selbstständigen Entschluss in den Fluss zu springen – eine Selbstermächtigung gegen das Gefühl der Ohnmacht.

Wie fast alle bedeutenden Denker und Denkerinnen dieser Epoche, beschäftigt sich Ágnes Heller mit den Verheerungen des 20. Jahrhunderts. Unter dem Eindruck der brutalen, stalinistischen Regierung Ungarns, zwischen 1948 – 53, behandelt die junge Philosophin aktuelle ethische Fragen anhand der Philosophiegeschichte. Bereits ihr erstes Buch – ihre Doktorarbeit – untersucht die Ethik des antiken Denkers Aristoteles, um der Frage nachzugehen, wie ein ethisch gutes, verantwortungsvolles Leben grundsätzlich aussehen kann und welche Tugenden, Erkenntnisse und Praktiken dafür notwendig sind.

Zweimaliger Rauswurf aus Partei und Universität
Der ungarische Volksaufstand im Jahr 1956 wird nach zehn Tagen niedergeschlagen. Georg Lukács, für den Heller arbeitet, ist nicht nur Professor für Ästhetik, sondern auch einer der geistigen Führer der ungarischen Revolution. Nach der Niederschlagung des Aufstands wird er verhaftet. Das Regime unter Kádár lässt ihn zwar nicht hinrichten, entzieht ihm aber seine Professur. Auch Ágnes Heller bleibt nur noch kurze Zeit, in der sie ein weiteres Buchkonzept, mit dem Titel: Von der Absicht zu den Konsequenzen über Platons Ethik schreibt. Darin befasst sie sich verklausuliert mit dem Stalinismus. 1958 führt das noch nicht veröffentlichte Manuskript zu ihrem Ausschluss aus Partei und Universität. Öffentlich wird sie als Verräterin und Volksfeindin beschimpft.

Budapester Denkmal für den von Sowjettruppen 1956 niedergeschlagenen Volksaufstand: Vereint wird aus rostigen Individuen ein unbezwingbarer Keil aus Edelstahl (Foto: Imago, imago stock&people)
Budapester Denkmal für den 1956 niedergeschlagenen Volksaufstand: Vereint wird aus rostigen Individuen ein unbezwingbarer Keil aus Edelstahl
Imago imago stock&people
Budapester Schule um Georg Lukács
Mitte der 1960er Jahre beginnt in Ungarn eine vorsichtige Liberalisierung. Knapp zehn Jahre nach ihrem Ausschluss werden Georg Lukács und seine Schüler und Schülerinnen rehabilitiert und an die Akademie zurückgerufen. Sie waren trotz permanenter Überwachung und Bespitzelung zu einem engen Kreis zusammengerückt: Der Budapester Schule.

In den Jahren nach ihrer Rehabilitierung Mitte der 1960er Jahre veröffentlicht Heller ihr damals wohl berühmtestes Buch: Der Mensch in der Renaissance. Daneben publiziert sie eine ganze Reihe von Schriften, die sich mit dem Alltagsleben des Menschen, seiner Reproduktion und seinen individuellen Bedürfnissen beschäftigen. Sie analysiert die Verbindung zwischen dem marxistischen Geschichtsbegriff und dem Einzelnen als Teil der Masse. Letztlich geht es darum, eine „humanistische“ Vision von Marx aufzuzeigen, die frei von Ideologie und nahe an den Problemen des alltäglichen Lebens war.

Budapester Schule glaubt nicht mehr an den Sozialismus
1973 wird Heller zum zweiten Mal aus der Partei und der Universität ausgeschlossen und erhält Berufsverbot. Die Gruppe ist auch philosophisch an einen Wendepunkt gelangt. Die Logik der „großen Erzählung“ ist an ihr Ende gekommen. Der Kreis der Budapester Schule glaubt nicht mehr an den Sozialismus und an einen „dritten Weg“, sondern daran, dass sie eine systematische Dekonstruktion des Marxismus vorgenommen haben und ihn nun nicht mehr brauchen.

Agnes Heller in der Mitte bei der Verleihung des Internationalen Willy-Brandt Preises 2015 (Foto: Imago, imago stock&people)
Ágnes Heller (Mitte) bei der Verleihung des Internationalen Willy-Brandt-Preises 2015
Imago imago stock&people
Nach Australien ins Exil
Ágnes Heller und ihr Mann Ferenc Fehér reisen mit ihrem Sohn Gyuri 1977 nach Australien aus, wo Heller an der Universität in Melbourne eine Stellung als Philosophielehrerin antritt. Hier genießt sie eine nie gekannte Freiheit der Forschung. Sie lernt Englisch und schreibt in den neun Jahren, die sie hier verbringt, zahlreiche Bücher. Sie zieht eine Bilanz ihrer ungarischen Jahre und setzt sich mit den Erfahrungen im Sowjetsystem auseinander. Gleichzeitig erfährt sie, welche Kreise ihre Bücher außerhalb des sowjetischen Einflussbereichs ziehen.

Das Prinzip der Verantwortung jedes einzelnen für seine Haltung und seine Handlungen – auch für die eigenen Bücher, sowie für die Konsequenzen aus der Lektüre – führt Heller immer wieder auf Kant zurück. Dessen Prämisse, wonach der aufgeklärte Mensch sich aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien muss, nimmt sie in verschiedenen Abhandlungen auf und verlangt von jeder und jedem eigenes Reflektieren und entsprechendes Handeln.

New York: Auseinandersetzung mit der feministischen Bewegung
Der Ruf an die New School for Social Research in New York 1986, an der sie dann über 20 Jahre Philosophie lehrt, ermöglicht ihr noch einmal neue Impulse. Ihre Auseinandersetzung mit der amerikanischen, feministischen Bewegung wie mit der Bürgerrechtsbewegung zeugt davon, dass sie sich nie in den sprichwörtlichen Elfenbeinturm zurückgezogen hat, sondern immer im Dialog mit ihren Mitmenschen stand. In den New Yorker Jahren befasst sich Heller intensiv mit der Moderne und deren Weiterentwicklung zur Postmoderne. Sie verfasst Bücher, Essays und Abhandlungen zu kulturellen, biopolitischen und ästhetischen Themen, schreibt über biblische Figuren ebenso wie über das Komische.

Die Philosophin Agnes Heller demonstriert 2016 vor dem Parlament mit den Beschäftigten des Gesundheitswesens (Foto: Imago, Szilard Vörös/EST&OST via www.imago-images.de)
Die Philosophin Ágnes Heller demonstriert 2016 vor dem ungarischen Parlament gemeinsam mit Beschäftigten des Gesundheitswesens
Imago Szilard Vörös/EST&OST via www.imago-images.de
Hellers letztes Buch behandelt den Begriff der Liebe
Francesco Comina, Autor und Gründer des Friedenszentrums Bozen, hat gemeinsam mit der Autorin Genny Losurdo und Ágnes Heller ihr letztes Buch verfasst: Il demone del amore, auf italienisch – Der Dämon der Liebe. Darin stellt Heller den Liebesbegriff von Platon bis in die Gegenwart dar.

Hellers Beiträge werden in diverse Sprachen übersetzt. Sie selbst reist bis 2019 unablässig rund um den Globus, nicht nur für internationale Gastprofessuren, Gastvorträge und viele Auszeichnungen. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte sie auch wieder einen Wohnsitz in Budapest.

Ágnes Heller – politische Stimme in Ungarn
Ihre Bücher und Vorträge finden ein großes Publikum. Ihre politischen Vorschläge für eine pluralistische Gesellschaft in Ungarn stoßen jedoch bei den Anhängern der stärksten Partei, Fidesz, des Ungarischen Bürgerbundes und ihrem Führer Viktor Orbán zunehmend auf Ablehnung. Heller sieht sich erneut Anfeindungen und Diffamierungen ausgesetzt, lässt sich aber bis zu ihrem letzten Tag nicht einschüchtern.

Am 19. Juli 2019 geht Ágnes Heller schwimmen; sie tut das mit ihren 90 Jahren fast täglich und gerne stundenlang. Sie schwimmt weit hinaus auf den Balaton, den Plattensee – und kehrt nicht zurück.
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INHALT
Manuskript zur Sendung
https://www.swr.de/swr2/wissen/swr2-manuskript-wissen-2020-07-17-100.pdf
-SWR2 Wissen
Die Philosophin Ágnes Heller –
Kämpferin für ein solidarisches Europa
Von Natalie Kreisz
Sendung: Freitag, 17. Juli 2020, 08.30 Uhr
Redaktion: Ralf Kölbel: Regie: Felicitas Ott;
Produktion: SWR 2020
https://www.swr.de/swr2/programm/index.html


Die ungarische Philosophin Ágnes Heller (1929 – 2019) misstraute allen Utopien und Zukunftsverheißungen. Dennoch kämpfte sie Zeit ihres Lebens für ein freies und pluralistisches Europa.
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MANUSKRIPT
Musik 1: Kodaly, Cello Solo
O-Ton 01 – Ágnes Heller:
Ich war als Oppositionelle oder mindestens als Kritiker immer als ein Außenseiter betrachtet. Und das passt mir sehr gut, denn Philosophen sind doch beinahe immer Außenseiter gewesen.
O-Ton 02 – Saalfeld:
Sie ist ja eine sehr auffällige Person, weil sie so klein ist, so klein und wieselich und zierlich. Und sie hat eine unglaubliche Energie. Sie sprüht geradezu vor immer neuen Ideen.
O-Ton 03 – György Dalos:
Als Philosoph war sie musikalischer als andere.
Musik 1: Kodaly, Cello Solo - Sonate 8
Sprecherin:
„Die Philosophin Ágnes Heller – Kämpferin für ein solidarisches Europa“. Von Natalie Kreisz.
O-Ton 04 – Ágnes Heller:
Europa ist in einer Krise. Aber Krise ist die Regel und keine Krise zu haben, ist die Ausnahme.
Sprecherin:
…sagt Ágnes Heller 2017 in einem Interview mit Michael Köhler.
O-Ton 05 – Ágnes Heller:
Jetzt sind wir in der Regel. Es ist eine Krise aber in der Gesellschaft, in der Geschichte war immer eine Krise nach der anderen Krise. Und friedliche Tage, wovon alle träumten, es wird alles gut gehen und von nun an werden alle in Frieden leben, und mit Brüderlichkeit leben, das waren die Utopien, das sind die Träume und die Träume verwirklichen sich nie.
Sprecherin:
Geprägt von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, entwickelt sich die 1929 in Budapest geborene Philosophin von einer kritischen Marxistin zu einer skeptischen Liberalen. In gesellschaftlichen Umbruchsituationen – vor allem in Ungarn – mischt sie sich, bis zu Ihrem Tod im Juli 2019, engagiert ein und hat im Laufe der Zeit gelernt, allen Utopien und Zukunftsverheißungen zu misstrauen und dennoch die Hoffnung nie aufzugeben.
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O-Ton 06 – György Dalos:
Nicht nur sie, sondern auch ich und viele hatten die Illusion, dass die Demokratie doch Ungarn viel besser machen werde – und zwar schnell. Diese Illusion erwies sich doch als Täuschung oder Selbsttäuschung. Das war auch bei Ágnes so.
Sprecherin:
György Dalos ist ungarischer Schriftsteller und Historiker.
O-Ton 07 – György Dalos:
Nur Ágnes war nicht, also kein Typ von, ich würde sagen, enttäuschten Menschen. Sie reagierte auf alles sehr kampflustig, um nicht zu sagen aggressiv und bis zu Ende politisierte sie.
Sprecherin:
Die Philosophin ist eine der wenigen Stimmen, die sich in Ungarn kritisch gegen die – von ihr sogenannte – „Tyrannei“ Viktor Orbáns äußert. Doch Heller sah dieses Phänomen keineswegs nur als ein ungarisches Problem:
O-Ton 08 – Ágnes Heller:
Das ist doch (eine) Welterscheinung. Wenn Sie durchschauen: Die Wahlen in aller Welt, in der Türkei, in Russland, in mehreren Staaten von Afrika oder Asia, ist immer derselbe Fall. […] Freie Wahl macht keine Demokratie heutzutage.
Sprecherin:
Ágnes Heller spricht vom "Orbánismus", einem extremen politischen Gebilde, das die moderne Massengesellschaft erzeugt habe. Es stütze sich auf eine kleine Schicht reich gewordener Gefolgsleute, deren Loyalität erkauft sei. Ihre Massenwirkung entfalte diese politische Konstruktion durch eine extremistische Ideologie: mit rassistischem Nationalismus und gezielter Feindbildproduktion würden Bedrohungsszenarien etabliert, vor denen der jeweilige Tyrann als starker Mann und Retter stilisiert werde.
Die Philosophin setzt sich dagegen für eine pluralistische Gesellschaft ein, die die historischen Gegebenheiten der einzelnen Länder berücksichtigt, dabei aber die solidarische Gemeinschaft des europäischen Geschichtsraums in den Fokus rückt.
O-Ton 09 – Lerke von Saalfeld:
Es gab 1987 in Berlin einen großen Schriftstellerkongress: „ein Traum von Europa“. Da war natürlich auch Ágnes Heller dabei und wieder die ganze große internationale linke Schriftsteller-Szene.
Sprecherin:
Lerke von Saalfeld ist Literaturwissenschaftlerin und Kulturjournalistin.
O-Ton 10 – Lerke von Saalfeld:
Sie hielt den Anfangs-Vortrag: Der Traum von Europa ist ein Traum – und eigentlich gibt es Europa nicht. Das war eine ziemlich provokante Rede, wo sie sagte: Wovon reden wir eigentlich? Das Ganze ist eine Chimäre. Und das ist so ein typischer
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Einstieg von Ágnes Heller. Dass sie erstmal alles in Frage stellt, erst mal immer skeptisch ist und sagt: Auf welcher Grundlage bewegen wir uns eigentlich?
Sprecherin:
Heller befasst sich eingehend mit der Geschichte und der Geistesgeschichte Europas. 2016 veröffentlicht sie ihr Buch: Von der Utopie zur Dystopie. In einem Gespräch mit Johannes Nichelmann in Deutschlandfunk Kultur warnt sie:
O-Ton 11 – Ágnes Heller:
Alle Utopien – es tut mir leid – der gerechten Welt enden in einer Tyrannie, in Totalitarismus. Auch wenn junge Leute nicht wollen, die Menschen mit dem besten Willen, mit den besten Idealen werden ein totalitärisches Regime vorbereiten. Ich kann Ihnen so viele Beispiele geben, wie Sie nur wollen, dass alle die, die zum Beispiel bolschewistische kommunistische Regierung, … waren doch Idealisten. Sie haben an Karl Marx geglaubt. […] Noch Lenin hat über die Abschaffung des Staates gesprochen, in einer seiner ersten Bücher, wo er den Terror eingeführt hat. Man spricht über Abschaffung des Staates, und man führt den Terror ein. Es tut mir leid. Es tut mir leid, diese leidenschaftliche junge Menschen, …, ich gehörte auch zu ihnen. Ich weiß worüber es geht. Nur wenn die Utopie politisch ist. Nur wenn es über eine gerechte Gesellschaft, gerechter Staat ist, nur dann wird es gefährlich. Denn das endet immer in Skeptizismus, Misstrauen, Verzweiflung.
Musik: Cello solo
Sprecherin:
Die Entwicklung von einer Utopistin, in der Tradition von Marx hin zu einer skeptischen Verfechterin einer liberalen Gesellschaft wird verständlich, wenn man Ágnes Hellers Leben Revue passieren lässt.
Als Kind jüdischer Eltern wächst sie in einer assimilierten, armen Familie in Budapest auf. Ihre Mutter ernährt die Familie als Hutmacherin. Der Vater ist Anwalt, beschäftigt sich aber mit mathematischen Problemen und Schriftstellerei. Er gibt seiner Tochter Ágnes die Liebe zur Kultur, zur deutschen Sprache und zum Nachdenken über ethisches Handeln mit auf den Weg. Als Anwalt hilft er Verfolgten nach 1933 und erst recht nach 1938 aus der Haft bzw. zur Flucht. Er selbst wird schließlich deportiert und kommt in Auschwitz um. Ágnes und ihre Mutter überleben im Ghetto auch die Erschießungskommandos der rechtsradikalen Pfeilkreuzler, der ungarischen Nationalsozialisten, die im Winter 1944/45 mehr als 3000 Menschen vom Ufer in die eisigen Fluten der Donau schießen. Heller erzählt Lerke von Saalfeld in einem Interview 2001:
O-Ton 12 – Ágnes Heller:
Als ich bei der Donau stand und ich wartete, ob man mich in die Donau hinein schießt oder nicht. Ich war darin sicher, dass sie es probieren werden. Habe ich doch an die Möglichkeit gedacht, mich in die Donau zu werfen und schwimmen zu können und die Möglichkeit war nicht so sehr wahrscheinlich, dass man durch die Donau, quer durch die Donau schwimmen kann. Doch hatte ich – ich weiß nicht – die freie Wahl? Aber ich habe mich entschlossen: springen!
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Sprecherin:
Mehrmals erlebt Heller diese traumatische Szene, die prägend für ihr weiteres Denken und Handeln wird. Bis zur letzten Minute trotzt sie dieser ausweglosen Situation durch den selbstständigen Entschluss zu springen – eine Selbstermächtigung gegen das Gefühl der Ohnmacht.
O-Ton 13 – Ágnes Heller:
Ich habe die Überzeugung, dass ich immer eine Wahl habe.
Sprecherin:
Wie fast alle bedeutenden Denker und Denkerinnen dieser Epoche, beschäftigt sich Ágnes Heller mit den Verheerungen des 20. Jahrhunderts. Unter dem Eindruck der brutalen, stalinistischen Regierung Ungarns, zwischen 1948 und 53, behandelt die junge Philosophin aktuelle ethische Fragen anhand der Philosophiegeschichte.
O-Ton 14 – Ágnes Heller:
…dass ich zur Ethik und zur Philosophiegeschichte eine Interesse entwickelte, mehr als ein Interesse, ein leidenschaftliches Engagement, das passierte deswegen, weil ich mich verantwortlich fühlte, um Auschwitz und Gulag zu erörtern, wenn auch nicht verstehen. Das ich glaubte, durch eine Verantwortung zu meinen Toten trage. Ich wollte imstande sein, etwas darüber zu sagen, was mit ihnen passierte, warum und weswegen sie getötet wurden.
Sprecherin:
Wie Hannah Arendt in ihrem umstrittenen Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ befasst sich auch Heller immer wieder mit dem Völkermord als „dem Bösen“, dem moralisch Verwerflichen schlechthin. Angesichts der eigenen Erfahrungen kann sie jedoch nicht von einer „Banalität des Bösen“ sprechen.
O-Ton 15 – Ágnes Heller:
Das ist ein schlechtes und fürchterliches Buch.
Sprecherin:
Sie beharrt auf der Verantwortung jedes Einzelnen für seine Taten und Entscheidungen – auch innerhalb eines durchorganisierten bürokratischen Systems.
O-Ton 16 – Ágnes Heller:
Aber nicht alle Arbeiten von Arendt, die meisten Arbeiten in der politischen Philosophie, nicht nur sein Buch über Totalitarismus, aber auch Essays über Literatur und Kultur sind ausgezeichnet. Alle Menschen können auch falsche Bücher schreiben.
Sprecherin:
Diese Haltung macht deutlich, wie Heller selbst den von ihr geforderten Pluralismus praktiziert. Wie sehr sie Hannah Arendt schätzt, zeigt sich darin, dass Heller, als sie 1986 nach New York auf eine Professur an die New School for Social Research berufen wird, ihren Lehrstuhl nach Hannah Arendt benennt.
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Die Fragen nach „dem Bösen“, nach der menschlichen Monstrosität, die sich unter anderem in zwei Weltkriegen, dem Holocaust, dem Gulag und der Atombombe manifestiert, macht Heller an einer durch Ideologie pervertierten Vernunft fest. Diese suggeriere, dass die Ermordung von Millionen nicht böse, sondern gut oder legitim sei. Dennoch bleiben auch in Hellers Untersuchungen zur Ethik am Ende Fragen offen. Sie macht sich keine Illusionen:
O-Ton 17 – Ágnes Heller:
Natürlich gibt es keine Antworten. Das zu glauben, dass es eine Antwort gäbe, hieße, an eine absolute Wahrheit zu glauben. Und ich glaube nicht an die absolute Wahrheit. So glaube ich nicht, dass man eine Antwort auf diese Fragen finden kann.
Sprecherin:
Ursprünglich will Ágnes Heller Naturwissenschaftlerin werden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schreibt sie sich an der Universität in Budapest für Chemie und Physik ein. In einem Gespräch mit Nicole Köster erzählt sie:
O-Ton 18 – Ágnes Heller:
Ich hatte einen damaligen Boyfriend, der Philosophie studierte und jetzt hat er mir gesagt, ich solle ihn in die Lukács-Klasse begleiten. Lukacs hat einen Vortrag gehalten über […] Philosophiegeschichte von Kant zu Hegel. Ich habe überhaupt kein einziges Wort von dieser Vorlesung verstanden. Etwas habe ich aber verstanden, dass das eine wichtige Sache ist in meinem Leben zu verstehen, dass ich mich selbst als Philosophen wählen soll.
Sprecherin:
Der 1885 in Budapest geborene György Lukács de Szeged, gilt als einer der wichtigsten marxistischen Denker des 20. Jahrhunderts.
O-Ton 19 – Ágnes Heller:
Auf einer Seite kam ich aus einer Hölle, und wo man in der totalen Hölle lebt, da braucht man in einer totalen Erlösung glauben. Weil ich eben nicht religiös gewesen war, war diese totale Erlösung, eine irdische Lösung gewesen. Und der Kommunismus war auch eine irdische Lösung. Was mich darin interessiert hat, war die messianistische Verheißung einer Gesellschaft, wo es überhaupt keine Verdinglichung gibt, wo der menschliche Individuum und die Gattung miteinander vereint sein werden. Das heißt wirklich, die Idee der irdischen Erlösung. Das war für mich in diesem Moment wichtig gewesen.
Sprecherin:
Ágnes Heller ist bereits in ihren frühen philosophischen Arbeiten darauf bedacht, eigene Wege zu gehen, um auch hier Selbstbestimmung zu erlangen. Während Lukács wesentlich auf dem Gebiet der Ästhetik arbeitet, stellt Heller ethische, moral-philosophische Fragen. 1953 promoviert sie bei Lukács und wird seine Assistentin.
Atmo: Aufstand 1956 diverse Straßengesänge / Imre Nagy wendet sich an die internationale Gemeinschaft
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O-Ton 20 – Ágnes Heller:
’56 war und ist das größte politische Ereignis in meinem Leben. Holocaust war kein politisches Ereignis gewesen. ‘56 war ein politisches Ereignis gewesen. Das war der zentrale Punkt meiner politischen Ausbildung und Entwicklung. Es passierte in sehr wenigen Tagen. Und in diesen wenigen Tagen ging ich eine politische Entwicklung durch, die ich nie vorher und nachher erlebt habe. Ich habe etwas gesehen und etwas gefühlt, was man Freiheit nennt, nicht Freiheit als die Konstitution der Institutionen der Freiheit. Aber Freiheit als Befreiung. In diesem Prozess habe ich teilgenommen. Ich bin durchgegangen, und ich glaube, das ist ein wundervolles Erlebnis, wenn man sich in einer politischen Weise befreit.
O-Ton 21 – György Dalos:
Dieser Aufstand hat eine Menge Gedanken mit sich gebracht. Dann natürlich haben die Panzer das alles niedergewalzt.
Sprecherin:
Der Aufstand wird nach zehn Tagen niedergeschlagen. Lukács ist nicht nur Professor für Ästhetik, sondern auch einer der geistigen Führer der ungarischen Revolution. Nach der Niederschlagung des Aufstands wird er verhaftet. Das Regime unter Kádár lässt ihn zwar nicht hinrichten, entzieht ihm aber seine Professur. Auch Ágnes Heller bleibt nur noch kurze Zeit, in der sie ein weiteres Buchkonzept, mit dem Titel: Von der Absicht zu den Konsequenzen über Platons Ethik schreibt. Darin befasst sie sich verklausuliert mit dem Stalinismus. 1958 führt das noch nicht veröffentlichte Manuskript zu ihrem Ausschluss aus Partei und Universität. Öffentlich wird sie als Verräterin und Volksfeindin beschimpft.
Musik: Bass solo
Sprecherin:
Mitte der 1960er Jahre beginnt in Ungarn eine vorsichtige Liberalisierung. Knapp zehn Jahre nach ihrem Ausschluss werden Lukács und seine Schüler und Schülerinnen rehabilitiert und an die Akademie zurückgerufen. Sie waren trotz permanenter Überwachung und Bespitzelung zu einem engen Kreis zusammengerückt: Der Budapester Schule.
O-Ton 22 – Lerke von Saalfeld:
Die Budapester Schule war sehr streng theoretisch ausgerichtet, hatte immer versucht zu definieren, wie ist das Individuum eingebettet in eine Gesellschaft, die eines Tages in einem großen sozialen oder sozialistischen Kontext aufblühen wird.
Sprecherin:
Auf der Insel Korcula, im heutigen Kroatien, versammeln sich seit 1963 die Intellektuellen zu einer „Sommeruniversität“.
O-Ton 23 – Lerke von Saalfeld:
Man muss sich das vorstellen, wie so ein großes, offenes Symposium, wo jeder seine Ideen vortragen konnte. Da waren ja auch die Westler. Da war auch zum Beispiel Ernst Bloch.
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O-Ton 24 – Ágnes Heller:
Dort habe ich zum ersten Mal lebendige Leute gesehen, die ganz verschiedene Zweige des Marxismus verteidigten, verkörperten. Das heißt, was ich Pluralismus nenne.
O-Ton 25 – György Dalos:
’68: Es war eine relativ liberale Ära. Sie haben auf einem Philosophen-Kongress auf der Insel Korcula in Kroatien einen Protestbrief unterzeichnet, gegen den Einmarsch der Warschauer Vertragstruppen in die Tschechoslowakei.
Musik: Kodaly Tanz
Sprecher:
Sie schickten diesen Protestbrief auch an die internationale Öffentlichkeit.
O-Ton 26 – György Dalos:
Das war eine, ich würde sagen, außergewöhnlich mutige Tat. Es war nicht üblich. Erstens war das überhaupt nicht üblich, irgendwelche Proteste zu äußern. Andererseits noch weniger üblich, das noch irgendwie in den Westmedien öffentlich zu machen.
O-Ton 27 – Lerke von Saalfeld:
Im Bezug auf die Studentenbewegung ‘68 in Berlin: Alles, was da aus Budapest kam, wurde sehr, sehr heftig gelesen. Ich habe noch in meinen Bücherschrank geguckt, hab da eine ganze Reihe so illegaler Drucke gefunden auf miserabelstem Papier. Das heißt, kein offizieller Verlag hat irgendetwas von denen in der Zeit gedruckt.
O-Ton 28 – Ágnes Heller:
‘68 hat sich diese Tendenz in unserer Gruppe, die von Lukács Budapester Schule genannt wurde, schon weiterentwickelt. Wir selber haben uns in die verschiedenen Richtungen entwickelt, die mit dem offiziellen Marxismus nichts zu tun haben, auch nicht mit dem linken Marxismus von Korcula, auch nicht mit dem. ‘68 war doch das Jahr der neuen Linke. Ich meinerseits war sehr von der neuen Linken inspiriert.
Sprecherin:
In den Jahren nach ihrer Rehabilitierung Mitte der 1960er Jahre veröffentlicht Heller ihr damals wohl berühmtestes Buch: Der Mensch in der Renaissance. Daneben publiziert sie eine ganze Reihe von Schriften, die sich mit dem Alltagsleben des Menschen, seiner Reproduktion und seinen individuellen Bedürfnissen beschäftigen. Sie analysiert die Verbindung zwischen dem marxistischen Geschichtsbegriff und dem Einzelnen als Teil der Masse. Im Vordergrund steht bei Heller nicht die Produktion, sondern das Subjekt in seinem Alltag. Letztlich geht es darum, eine „humanistische“ Vision von Marx aufzuzeigen, die frei von Ideologie und nahe an den Problemen des alltäglichen Lebens war.
Musik: Cello impro solo
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O-Ton 29 – Ágnes Heller:
Alltagsleben ist meines Erachtens sehr wichtig. Das heißt: was ist die Anthropologie, wenn wir über Fortschritt gesprochen haben, hatten wir auch eine spezifische Anthropologie im Sinne. Wir dachten (an den) Fortschritt der Sittlichkeit der Menschen. Wir glaubten in der Perfektibilität der menschlichen Natur. Noch ein Skeptiker wie Immanuel Kant am Ende glaubt auch in die Perfektibilität der Natur. Jetzt müssen wir zur Konklusion kommen, das war die größte Illusion.
O-Ton 30 – György Dalos:
1973 hat man sie aufgefordert, ihre sogenannte revisionistische, also ketzerische Auffassungen öffentlich in der Akademie zu verteidigen, was eine absolute Provokation war, weil jeder wusste, dass sie aus der Partei ausgeschlossen werden, dass das ein Autodafé sein wird und sie sind nicht hingegangen.
Sprecherin:
1973 wird Heller zum zweiten Mal aus der Partei und der Universität ausgeschlossen und erhält Berufsverbot. Die Gruppe ist auch philosophisch an einen Wendepunkt gelangt. Die Logik der „großen Erzählung“ ist an ihr Ende gekommen. Der Kreis der Budapester Schule glaubt nicht mehr an den Sozialismus und an einen „dritten Weg“, sondern daran, dass sie eine systematische Dekonstruktion des Marxismus vorgenommen haben und ihn nun nicht mehr brauchen.
1977 reisen Ágnes Heller und ihr Mann Ferenc Fehér mit ihrem Sohn Gyuri nach Australien aus, wo Heller an der Universität in Melbourne eine Stellung als Philosophielehrerin antritt. Hier genießt sie eine nie gekannte Freiheit der Forschung. Sie lernt Englisch und schreibt in den neun Jahren, die sie hier verbringt, zahlreiche Bücher. Sie zieht eine Bilanz ihrer ungarischen Jahre und setzt sich mit den Erfahrungen im Sowjetsystem auseinander. Gleichzeitig erfährt sie, welche Kreise ihre Bücher außerhalb des sowjetischen Einflussbereichs ziehen.
O-Ton 31 – Francesco Comina:
2005 hat mir Arturo Paoli – Arturo Paoli, er war ein bekannter Priester und Missionar in Lateinamerika. Er hat mir vom großen Einfluss erzählt, den das Buch von Ágnes Heller: Die Theorie der Bedürfnisse bei Marx in der lateinamerikanischen Basis-Kirche hatte, denn es ermöglichte, Marx von dem Bedürfnissen her zu interpretieren und so auch in eine christliche Sichtweise einzugliedern.
O-Ton 32 – Ágnes Heller:
Ich habe es geschrieben. Ich trage die Verantwortung, wenn ich auch mit Sachen, die ich dort geschrieben habe, heute nicht einverstanden bin. Deswegen werde ich nicht verbieten, das zu veröffentlichen. Sehr viele Bücher sind sehr beliebt in Lateinamerika, mit denen ich nicht einverstanden bin. Aber das macht nichts. Das Publikum wird entscheiden, was wichtig ist für Sie und was nicht. Das entscheide nicht ich.
Sprecherin:
Das Prinzip der Verantwortung jedes einzelnen für seine Haltung und seine Handlungen – auch für die eigenen Bücher, sowie für die Konsequenzen aus der Lektüre – führt Heller immer wieder auf Kant zurück. Dessen Prämisse, wonach der
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aufgeklärte Mensch sich aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien muss, nimmt sie in verschiedenen Abhandlungen auf und verlangt von jeder und jedem eigenes Reflektieren und entsprechendes Handeln.
Sprecherin:
Der Ruf an die New School for Social Research in New York 1986, an der sie dann über 20 Jahre Philosophie lehrt, ermöglicht ihr noch einmal neue Impulse.
O-Ton 33 – Ágnes Heller:
Das war für mich etwas Wichtiges, auf einer höheren Ebene zu unterrichten und nur Philosophie zu unterrichten. Das wollte ich auch tun.
Sprecherin:
Ihre Auseinandersetzung mit der amerikanischen, feministischen Bewegung wie mit der Bürgerrechtsbewegung zeugt davon, dass sie sich nie in den sprichwörtlichen Elfenbeinturm zurückgezogen hat, sondern immer im Dialog mit ihren Mitmenschen stand. In den New Yorker Jahren befasst sich Heller intensiv mit der Moderne und deren Weiterentwicklung zur Postmoderne. Sie verfasst Bücher, Essays und Abhandlungen zu kulturellen, biopolitischen und ästhetischen Themen, schreibt über biblische Figuren ebenso wie über das Komische.
O-Ton 34 – Francesco Comina:
Sie war am Alltagsleben interessiert, am guten Leben, an der Kunst und an den Sinnfragen einer Zeit, die Zygmunt Bauman, ein Freund von Ágnes Heller, als „flüssige Moderne“ bezeichnet hat.
Sprecherin:
Francesco Comina, Autor und Gründer des Friedenszentrums Bozen hat gemeinsam mit der Autorin Genny Losurdo und Ágnes Heller ihr letztes Buch verfasst:
O-Ton 35 – Francesco Comina:
So ist mit Ágnes dieses Buch Il demone del amore, auf italienisch – der Dämon der Liebe – entstanden. Wahrhaftig die letzte große philosophische Vorlesung. Eine sokratisch geführte Vorlesung. Sie war die große Weise oder Wissende, die uns philosophisch und literarisch, den Liebesbegriff von Platon bis in die Gegenwart dargestellt hat. Und wir waren die Schüler, die Fragen stellten, diskutierten auch kontrovers. So ist ein sehr schönes Buch entstanden, wo der Liebesbegriff in den verschiedenen Epochen erläutert wird, im Zusammenhang mit den Befreiungsschritten des Menschen, der Person und mithin der Gefühle.
Sprecherin:
Hellers Beiträge werden in diverse Sprachen übersetzt. Sie selbst reist bis 2019 unablässig rund um den Globus, nicht nur für internationale Gastprofessuren, Gastvorträge und viele Auszeichnungen. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sie auch wieder einen Wohnsitz in Budapest.
Musik: Kodaly Cello Sonata solo
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O-Ton 36 – György Dalos:
Und dann begann Ágnes, ich würde sagen, letztes großes Abenteuer: die Politik in Ungarn, und zwar in dem demokratischen Ungarn.
O-Ton 37 – Ágnes Heller:
Nach 17 Jahren nachhause zu kommen, war etwas, was ich nicht gehofft habe. Das ist doch entsetzlich viel, 17 Jahre nicht im Leben eines Land teilnehmen zu können. Wie kann man wirklich wieder zu Hause sein? Ich habe sehr, sehr schwer gearbeitet, um diese Kluft überbrücken zu können.
Sprecherin:
Ágnes Heller wird zu einer politischen Stimme in Ungarn. Ihre Bücher und Vorträge finden ein großes Publikum. Ihre politischen Vorschläge für eine pluralistische Gesellschaft in Ungarn stoßen jedoch bei den Anhängern der stärksten Partei, Fidesz, des Ungarischen Bürgerbundes und ihrem Führer Viktor Orbán zunehmend auf Ablehnung. Heller sieht sich erneut Anfeindungen und Diffamierungen ausgesetzt, lässt sich aber bis zu ihrem letzten Tag nicht einschüchtern.
O-Ton 38 – Ágnes Heller:
Ich habe doch in ’44 meinen Sinn für Furcht verloren. Ich kann mich nicht mehr fürchten. Wovor sollte ich Angst haben?
Sprecherin:
Am 19. Juli 2019 geht Ágnes Heller schwimmen – wie sie es auch mit ihren 90 Jahren fast täglich und gerne stundenlang tut. Sie schwimmt weit hinaus auf den Balaton, den Plattensee – und kehrt nicht zurück.
O-Ton 39 – György Dalos:
Wenn der Tod irgendeine Ästhetik hat, dann war das ein ästhetischer Tod, weil sie ist in den Tod geschwommen. Ich glaube, sie hatte einfach einen Herzanfall. Sie wusste, dass sie bald sterben wird, aber sie wollte wegen dieses Bewusstseins nichts ändern. Sie bereitete sich nicht auf den Tod vor, sondern sagte: solange ich lebe, lebe ich – so lange ich schwimme, schwimme ich.
O-Ton 40 – Lerke von Saalfeld:
Für mich bleibt, dass sie eine sehr eindrucksvolle, mutige Person ist, die immer unerschrocken war. Und das finde ich wunderbar, wenn wir von dieser Sorte mehr Frauen hätten, dann sähe, glaube ich, auch die Politik in allen Ländern sehr viel anders aus.
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