Alexander von Humboldt . Die Neuentdeckung der Natur . Ein Brückenbauer zwischen Verum und Pulchrum - Inmitten des Bonum* - Synästhetisch . Zum 250. Geburtstag

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Bildquelle: SWR2 Aula 2019-6

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 Transdisziplinär  - A.v. Humboldt-250 J..
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Die Neuentdeckung der Natur . Zum 250. Geburtstag Alexander von Humboldts . Gespräch: Ralf Caspari mit Andrea Wulf
SWR2 Wissen: Aula.
Alexander von Humboldt war ein Abenteurer. Er bestieg Vulkane, entdeckte neue Tier- und Pflanzenarten, er war Botaniker, Geologe, Chemiker und er konzipierte ein modernes Naturverständnis, das heute noch aktuell ist. Die britische Historikerin Andrea Wulf hat einen Bestseller über das Universalgenie geschrieben und erzählt im Gespräch, was sie an Alexander von Humboldt faszinier
Die Neuentdeckung der Natur - Zum 250. Geburtstag Alexander von Humboldts
Quelle: SWR2 2019
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Das Gespräch mit Andrea Wulf auf einen Blick:
Der Romantiker und Wissenschaftler
Andrea Wulf: "Humboldt ist als Naturwissenschaftler ganz klassisch ausgebildet. Es fängt mit der empirischen Forschung an. Aber, und das macht ihn so ungewöhnlich: Er ist zwar besessen von Messungen und rationalen Gedanken, sagt aber auch, dass wir die Natur nur wirklich über unsere Gefühle und unsere Vorstellungskraft verstehen können. Und das ist das Faszinierende an Humboldt.
Wenn ich mir die heutigen politischen Debatten über den Umweltschutz anschaue, dann sind das Debatten, die hauptsächlich auf Zahlen, auf Statistiken, auf technischen Projektionen basieren: Das und das passiert, wenn die Erde sich um 2°C erwärmt. Was mir fehlt, ist ein leidenschaftlicher Appell an die Erhaltung unseres Planeten, diese emotionale Reaktion auf die Natur. Die hat auch Humboldt angetrieben."
Entdecker des Ökosystems
"Seine große Entdeckung ist, dass er uns ein neues Konzept der Natur gegeben hat, ein Konzept, das die Welt, die Natur, beschreibt als ein Netz des Lebens. Wir würden das heute Ökosystem nennen, obwohl er das nicht so genannt hat. Er hat die Erde beschrieben als einen lebenden Organismus, als ein zusammenhängendes Ganzes, wo alles miteinander irgendwie verbunden ist – vom kleinsten Insekt bis zum größten Baum."
> Wald bei Massachusetts, historisch
Der Umweltaktivist
"Er hat die Natur als zusammenhängendes Ganzes begriffen. Dadurch, dass alles zusammenhängt, hat er zum Beispiel in Südamerika gesehen, wie dort Plantagenbesitzer den Wald zerstören, um Platz zu schaffen für Ackerbau, er hat dann gesehen, welche Umweltfolgen die Rodung hatte.
Er hat als Erster beschrieben, was die fundamentalen Funktionen des Waldes für das Ökosystem sind. Er hat über die Fähigkeit der Bäume gesprochen, Wasser zu speichern, die Atmosphäre mit Feuchtigkeit anzureichern.
Dadurch, dass er die Natur als etwas Zusammenhängendes gesehen hat, hat er auch gesehen, wie der Mensch die Natur zerstören kann und welche Effekte das haben kann."
Das gesamte Manuskript finden Sie hier.
> Buchcover: "Alexander von Humboldt" von Andrea Wulf
Andrea Wulf (Aus dem Englischen von Hainer Kober)
Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur
Originaltitel: :The Invention of Nature .Verlag:C. Bertelsmann
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Alexander von Humboldt war Botaniker, Geologe, Chemiker, Meteorologe und der erste Umweltaktivist. Andrea Wulf beschreibt Humboldts modernen Blick auf die Natur.
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

MANUSKRIPT
Anmoderation:
Mit dem Thema: „Die Neuentdeckung der Natur – Zum 250. Geburtstag Alexander von Humboldts“. Am Mikrofon: Ralf Caspary.
Dieser Mann, der 1769 geborgen wurde, also vor 250 Jahren, war ein Universalgenie und Abenteurer, er reiste nach Nord- und Südamerika, bestieg Vulkane, entdeckte bisher unbekannte Pflanzenarten, er war Botaniker, Geologe, Biologe, Chemiker, Klimatologe und der erste Umweltaktivist.
Humboldt war klar, dass die Natur als ein lebendiges System zu begreifen ist, in dem alles mit allem verbunden ist und das schnell aus dem Gleichgewicht geraten kann. Andrea Wulf, deutsch-britische Historikerin und Humboldt-Expertin.
Meine erste Frage war, auf welcher Reise Humboldts sie am liebsten mit dabei gewesen wäre.

Gespräch:
Wulf:
Ich hätte ihn auf jeden Fall gerne nach Südamerika begleitet. Wenn ich nur einen Teil aus Südamerika auswählen könnte, dann auf jeden Fall die Reise auf den Chimborazo (Ecuador). Das habe ich auch selber jetzt 210 Jahre später nachgeholt. Aber das war für Humboldt eine Reise, die in einem Schlüsselerlebnis auf dem Chimborazo endete. Da ist ihm seine neue Vision der Natur klargeworden. Bei diesem Moment wäre ich sehr, sehr gerne dabei gewesen. Und ganz abgesehen davon ist die Landschaft in den Anden ziemlich spektakulär...
Caspary:
Was hatte er dort für ein Erlebnis?
Wulf:
Humboldt ist fünf Jahre auf Entdeckungsreise durch Lateinamerika und ist in den Anden auf jeden erreichbaren Vulkan geklettert. Der Chimborazo ist fast 6.300 Meter hoch. Als er 1802 dort raufkletterte, glaubte man, das sei der höchste Berg der Welt. Für ihn war es also ganz wichtig, dort hochzuklettern. Er ist regelrecht auf Händen und Füßen den Chimborazo hoch – der eisige Wind hat die Hände und Füße erstarrt, die Augen waren blutunterlaufen, das Zahnfleisch hat geblutet, die Füße haben geschmerzt – unter größten Qualen. Als er fast bis ganz nach oben gekommen ist – er hat es nicht ganz bis nach oben geschafft – ist ihm klargeworden, dass diese Reise auf den Chimborazo wie eine botanische Reise vom Äquator zu den Polen war – zum Nordpol oder Südpol –, weil er gesehen hat, wie sich die Vegetationszonen geändert haben, von den tropischen Pflanzen wie Bananenstauden und Palmen im Tal, bis hoch zu der letzten Flechte kurz vor der Schneegrenze. Er hat also gesehen, wie diese Vegetationszonen auf diesem Berg aufeinanderfolgen und hat dann gemerkt, dass er viele dieser Pflanzen, die er dort gesehen hat, von anderen Gegenden der Welt kannte, von den Alpen in der Schweiz, von den Pyrenäen, von Teneriffa, und er hat dann als Erster begriffen, dass es globale Klima- und Vegetationszonen gibt. Er hat die Natur als eine globale Kraft gesehen, zu einer Zeit – das muss man sich wirklich klarmachen –, in der andere Wissenschaftler die Natur noch sehr stark durch die Brille der Klassifikation gesehen haben und ein ganz rigides System der Natur übergestülpt haben. Da hat Humboldt gesagt: „Nein, es gibt diese globalen Vegetations- und Klimazonen“.
Caspary:
Man muss sich ja vorstellen: Das war Anfang des 19. Jahrhunderts, als er mit seinem Freund Bonpland dort hochgeklettert ist. Die hatten keine Skischuhe, die hatten keine Gortex-Kleidung, die hatten keine Brillen, die hatten gar nichts, außer ihrer Wollkleidung oder Leinenkleidung?
Wulf:
Die Schuhe waren eigentlich das größte Problem in dieser ganzen Expedition, weil die Sohlen von den Schuhen immer unglaublich schnell zerrissen und zerschlissen waren. Humboldt ist wirklich mit blutigen Füßen auf den Chimborazo hoch. Dazu ist Humboldt mit 42 wissenschaftlichen Instrumenten durch Südamerika gereist. Für ihn war es ganz wichtig, viel zu messen. Er ist da also nicht ohne Gepäck hoch. Man muss dazu auch sagen: Er ist – anders als andere Entdeckungsreisende – mit einer
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relativ kleinen Entourage gereist; er hatte ein ganz kleines Team dabei. Das war nicht der typische viktorianische Entdeckungsreisende, der mit 90 Leuten durch die Gegend gezogen ist.
Caspary:
Was hatte er an Geräten dabei? Ein kleines Taschenmikroskop wahrscheinlich, gab es damals schon.
Wulf:
Ja. Er hatte zum Beispiel auch eine große astronomische Uhr dabei. Das muss man sich fast wie eine Großvateruhr mit so einem Pendulum vorstellen. Er hatte ein Teleskop dabei; er hatte ein Cyanometer dabei, das ist ein kleines Instrument, mit dem man die Intensität der Farbe des Himmels misst; er hatte Sextanten dabei, kleine und große Barometer. Das Barometer war so wichtig, weil man damit die Höhe der Berge maß. Er hatte einen Dienstboden, José, dessen Hauptaufgabe war es, das Barometer heil die Anden hoch und runter zu tragen. Der José hat 5 Jahre lang dieses Barometer durch die Gegend getragen. Was Humboldt macht, ist zum Beispiel den Siedepunkt des kochenden Wassers zu messen. Das muss man sich vorstellen: Der klettert durch diese eisige Kälte, unter größten Schmerzen, die haben wirklich Probleme, in der dünnen Luft zu atmen, und dann holt er alle paar hundert Meter seine Geräte raus, fummelt die mit eiskalten Händen auf. Viele dieser Geräte waren aus Messing.
Caspary:
Ungeheuer schwer und schlecht zu bedienen…
Wulf:
…diese kleinen Schräubchen in dieser eisigen Kälte aufzumachen, das war ein großes Problem…und Humboldt misst dann alles, von der Schwerkraft bis zu der chemischen Zusammensetzung der Luft.
Caspary:
Aber der Mann verfügt schon über einen gewissen Grad an Verrücktheit, sonst kann man das nicht machen?
Wulf:
Ja klar. Ich glaube schon, wenn man solche Reisen macht, dann ist man schon ein bisschen besessen in der einen oder anderen Art. Humboldt selber sagt von sich, dass er so rastlos ist, dass er sich so fühlt, als würde er von 10.000 Säuen gejagt, und er sagt auch: „Es ist ein Treiben in mir, dass ich manchmal glaube, das bisschen Verstand, das ich habe, zu verlieren“. Er ist schon ein bisschen gejagt und besessen. Ich glaube, sonst kann man solche Reisen nicht machen.
Caspary:
Woran liegt diese Besessenheit? Sie deuten das in dem Buch sehr „zart“ an – das hängt mit einem sehr schwierigen Mutterverhältnis zusammen, könnte man das so auslegen?
Wulf:
Ich glaube, ja.
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Caspary:
Seine Mutter war distanziert und kühl.
Wulf:
Ja. Ich glaube, es sind zwei Sachen. Eine Sache ist die sehr distanzierte, emotional kalte Mutter, die zwar dafür sorgte, dass die beiden Söhne – Wilhelm von Humboldt, der ältere und Alexander von Humboldt – eine ausgezeichnete Ausbildung genossen: tolle Lehrer; eine richtig klassische Aufklärungsausbildung. Aber die Mutter hat auch darauf bestanden, dass die beiden Söhne in der preußischen Administration Karriere machen. Und Alexander wollte eigentlich immer raus, Abenteurer sein. Er hat als kleiner Junge schon die Geschichten der Entdeckungsreisen von Captain Cook gelesen und ist immer, sobald er es konnte, aus dem Klassenzimmer und durch die Wälder von Tegel gestöbert; er ist von seiner Familie als der kleine Apotheker benannt worden, weil er immer die Taschen voll hatte mit Pflanzen und Steinen. Er musste dann aber die Karriere in der preußischen Administration machen. Seine Mutter starb, als er Mitte 20 war. Man sieht in den Briefen von Alexander, wie er sich erleichtert gefühlt hat. Er hat innerhalb von vier Wochen nach dem Tod seiner Mutter seine große Reise geplant. Das war wirklich so: Die Mutter starb: „Jetzt kann ich endlich los“.
Caspary:
Der Zwang war weg?
Wulf:
Der Zwang war weg. Ein anderer Grund, warum er wegwollte, ist die ganze preußische Gesellschaft, die sehr, sehr starr war zu dieser Zeit. In dem Moment, wo er südamerikanischen Boden betritt, hat man das Gefühl, dass Alexander von Humboldt sich so befreit fühlt. Er schreibt auch immer wieder: „Ich bin noch nie so glücklich gewesen“, „Ich bin noch nie so gesund gewesen“ – in einem Land, wo viele Europäer krank geworden sind. Er war kränklich in Preußen, hat immer über ein nervöses Nervenfieber geklagt. Sein Bruder Wilhelm hat das oft so genannt: Das sind die Nerven, der ist nicht glücklich. In dem Moment, als er in Südamerika war, da war er glücklich.
Caspary:
Auch interessant: Als die Mutter starb, war keiner von ihren Söhnen an ihrem Grab. Da haben die ein Zeichen gesetzt. Das war ihnen nicht so wichtig?
Wulf:
Ja. Und: Ich habe noch einen Brief gefunden, den ein sehr guter Freund von Humboldt an Humboldt geschrieben hat, in dem er gesagt hat: Du musst ja so erleichtert sein, dass Deine Mutter endlich gestorben ist. Das war schon ein Befreiungsschlag. Beide Söhne haben ein riesiges Vermögen geerbt. Deshalb konnte sich Humboldt diese Entdeckungsreise auch leisten. Das ist ganz wichtig bei dieser Reise: Humboldt hat diese alleine finanziert. Es hat noch nie vorher eine solche ausgiebige wissenschaftliche Reise gegeben, die finanziert wurde von einer Privatperson, wo keine Regierung, kein König, dahinterstand. Deshalb konnte Humboldt im Grunde genommen auch ganz frei die Natur in Südamerika betrachten.
Caspary:
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Würde man sagen, Humboldt wäre heute ein Nerd? Ich-bezogen, etwas zurückgezogen, sozial nicht so kompetent?
Wulf:
Nein, das würde ich nicht sagen. Humboldt ist ein Mann der Gegensätze. Er ist auf der einen Seite ein Hermit, der in seiner Welt lebt.
Caspary:
Hermit? Also Hermetiker?
Wulf:
Ja, wenn er anfängt zu arbeiten, vergisst er alles um sich herum. Aber auf der anderen Seite, wenn er in Paris lebt, rennt er von einer Party zur anderen, fünf Partys am Abend. Es gibt Freunde, die ihn als ein überladenes Instrument beschreiben, das niemals aufhört zu spielen. Das finde ich an Humboldt interessant: Das ist ein Mann der Gegensätze. Auf der einen Seite der bekannteste Gelehrte seiner Zeit, auf der anderen Seite ist er der beste und erfahrenste Bergsteiger seiner Zeit. Also: abenteuerlich, aber auch intellektuell. Er ist auf der einen Seite ein ganz großer Kritiker der spanischen Kolonialmacht in Südamerika, auf der anderen Seite arbeitet er als Kammerherr für zwei preußische Könige. Auf der einen Seite ist er jemand, der seinen letzten Pfennig gibt für Künstler und Wissenschaftler in Not, auf der anderen Seite hat er den Ruf, dass er eine ganz scharfe Zunge hat. Es gibt also Leute, die weigern sich, eine Party zu verlassen, bevor Humboldt gegangen ist, weil sie so eine Angst haben, dass er über sie lästert. Er ist schon beides.
Caspary:
Er hat Sie schon fasziniert?
Wulf:
Ja.
Caspary:
Ich glaube, sonst kann man so ein detailreiches Buch auch gar nicht schreiben.
Wulf:
Man muss sich ja auch mit so einer Person vier Jahre lang auseinandersetzen.
Caspary:
Ich glaube ja, es gibt prinzipiell zwei Methoden im Umgang mit der Natur. Erstens: Man hat eine Theorie und sucht all das zusammen, was zu der Theorie passt. Oder genau umgekehrt: Man hat Fakten, man hat Erfahrungen, man hat Beobachtungen und versucht, darüber eine Theorie oder Hypothese zu formulieren. War der zweite Weg Humboldts Weg?
Wulf:
Ja, würde ich sagen.
Caspary:
Also schon der klassische, moderne, naturwissenschaftliche Weg?
Wulf:
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Ja. Humboldt ist als Naturwissenschaftler auch ganz klassisch trainiert. Es fängt mit der empirischen Forschung an. Aber, und das ist ganz wichtig und das macht ihn so ungewöhnlich, er ist auf der einen Seite besessen von diesen Messungen und rationalen Gedanken, sagt aber auch, dass wir die Natur nur wirklich über unsere Gefühle und unsere Vorstellungskraft verstehen können. Und das ist das Faszinierende an Humboldt: Er schließt das eine nicht mit dem anderen aus. Wir haben diese scharfe Trennlinie zwischen der Kunst und den Wissenschaften, zwischen den Gefühlen und der wissenschaftlichen Methode. Humboldt hat das nicht. Humboldt sagt auf der einen Seite: Natürlich müssen wir messen – deshalb schleppt er seine 42 Instrumente durch Lateinamerika –, aber auf der anderen Seite sagt er: Wir müssen auch auf unsere Vorstellungskraft hören; das gehört genauso dazu.
Caspary:
Aber widerspricht sich das nicht? Ich fand das auch faszinierend an Ihrem Buch, dass Sie beide Seiten schildern.
Wulf:
Nur für uns widerspricht sich das. Weil das für uns so getrennt ist heute. Aber das war damals nicht so.
Caspary:
Was heißt es denn genau, Empathie für die Natur zu haben?
Wulf:
Nicht Empathie, sondern es geht um unsere emotionalen Reaktionen auf die Natur.
Caspary:
Was heißt das?
Wulf:
Wenn ich das auf die heutige Zeit beziehe, ist es zum Beispiel so: Wenn ich mir die politischen Debatten über den Umweltschutz anschaue, dann sind das Debatten, die hauptsächlich auf Zahlen, auf Statistiken, auf technischen Projektionen basieren: das und das passiert, wenn die Erde sich um 2 °C erwärmt. Was mir fehlt, ist ein leidenschaftlicher Appell an die Erhaltung unseres Planeten, diese emotionale Reaktion auf die Natur, auf das Wunder der Natur. Wenn wir den Klimawandel wirklich begreifen und bekämpfen wollen, gehört das dazu. Wir brauchen auch Poeten und Künstler, die sich mit diesem Wunder der Natur auseinandersetzen. Nur wenn ich die Natur liebe, beschütze ich die Natur auch. Das ist im Grunde genommen dieser sense of wonder. Der hat auch Humboldt angetrieben.
Caspary:
Mit dieser Rationalität, die wir heute haben, erreichen wir zum Beispiel auch die Jungendlichen nicht. Wenn wir an ihre Herzen appellieren wollen, können wir das nicht mit nackten Fakten machen?
Wulf:
Genau. Ich war in Nordkalifornien und bin dort in Humboldt County – das ist zwischen San Francisco und Portland – gewesen, wo diese Redwood-Wälder sind mit diesen wahnsinnig hohen Bäumen.
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Caspary:
Diese ganz alten Bäume sind das?
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Wulf:
1500 Jahre alte Bäume. Da läuft man durch – das geht so in die Seele rein. Da kann man mir hundertmal etwas rational erklären, aber das geht ins Herz und in die Seele. Ich glaube, das brauchen wir, um unseren Planeten zu beschützen. Daran müssen wir appellieren. Das meine ich damit: Humboldt hat nicht unterschieden zwischen den Emotionen und dem Rationalen. Humboldt hat Bücher geschrieben über die Natur, wo er manchmal mehr wie ein Poet, ein Dichter, über die Natur geschrieben hat, poetische Landschaftsbeschreibungen zusammen mit knallharten wissenschaftlichen Daten.
Caspary:
War er dann auf der Linie der Romantiker, zum Beispiel Novalis, die haben ja wirklich gesagt, sie erfinden die Natur neu aus der Einbildungskraft heraus. Sie nannten das die potenzierte, vergeistigte Natur. Ging Humboldt auch so weit zu sagen: Ich mache das alles zu einer poetischen Erfindung?
Wulf:
Nein. Humboldt ist – das finde ich das Spannende – die Brücke zwischen dem Rationalismus, von einem Isaac Newton zum Beispiel und der Poesie der Romantiker. Auf der einen Seite hat man Newton, der sagt: Regenbögen entstehen durch Licht, was durch Regentropfen gebrochen ist, und auf der anderen Seite hat man Poeten wie John Keats, der sagt: Newton hat die Poesie des Regenborgens zerstört, weil er ihn auf ein Prisma reduziert hat. Und Humboldt ist derjenige, der das zusammenbringt. Für mich ist das das Spannende, weshalb er auch für unsere heutige Zeit so wichtig ist: Weil er auf der einen Seite die Natur nicht total romantisiert, aber auch nicht total technisiert, sondern einen Weg irgendwo dazwischen findet. Ich glaube, das spricht irgendwas im heutigen Zeitalter an.
Caspary:
Das denke ich auch, auf jeden Fall. Aber Humboldt war auch auf der Linie von Kant, der gesagt hat: Der Verstand schreibt der Natur die Gesetze vor, das ist Rationalismus?
Wulf:
Die Unterscheidung ist die zwischen der Außenwelt – dem Ding an sich – und der Innenwelt. Kant sagt: Die Außenwelt, das Ding an sich können wir niemals objektiv kennen und die Innenwelt ist immer subjektiv. Aber er sagt auch: Wir verstehen die Welt einmal mit unserem Verstand, aber auch mit unseren Sinnen, also wie durch getönte Brillen, durch die wir die Welt sehen. Damit wird die Subjektivität wichtiger oder sie kommt so in den Vordergrund. Das ist ein Moment, in dem sich in Humboldts Denken etwas verändert. Das ist der Moment, wo er sich fortbewegt von der rein empirischen Forschung und sich hinbewegt zu einem neuen Konzept der Natur, was auch emotionale Reaktionen zulässt, aber eben nicht so weit geht, dass es nur um die Emotionen geht.
Caspary:
Was waren denn seine wichtigen Entdeckungen?
Wulf:
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Das Interessante ist: Es gibt nicht eine einzige große Entdeckung, die mit Humboldts Namen zusammenhängt. Er hat keine Evolutionstheorie erfunden. Er hat kein Naturgesetz beschrieben. Er hat keinen Planeten entdeckt. Humboldt hat uns eine neue holistische Weltsicht gegeben.
Caspary:
Holistisch heißt einheitlich?
Wulf:
Gesamtheitlich, ganzheitlich. Seine große Entdeckung in dem Sinne ist, dass er uns ein neues Konzept der Natur gegeben hat, ein Konzept, das die Welt, die Natur beschreibt als ein Netz des Lebens, wir würden das heute Ökosystem nennen, obwohl er das nicht so genannt hat. Er hat die Erde beschrieben als einen lebenden Organismus; als ein zusammenhängendes Ganzes, wo alles miteinander irgendwie verbunden ist – vom kleinsten Insekt bis zum größten Baum. Das ist eigentlich eine der ganz großen Entdeckungen von Humboldt. Wobei das eben nicht mit seinem Namen verbunden wird. Ganz viele Sachen, die Humboldt beschreibt, sind Sachen, die irgendwo schon „rumgeisterten“, aber Humboldt hat die zusammengebracht. Ich glaube, deshalb ist Humboldt im angelsächsischen Bereich total in Vergessenheit geraten.
Caspary:
Warum?
Wulf:
Einmal, glaube ich, weil seine Ideen uns so selbstverständlich geworden sind, dass wir den Mann dahinter vergessen haben. Das Andere ist, dass natürlich Anfang des 20. Jahrhunderts ein Wissenschaftler, der gesagt hat: Wir müssen die Emotionen, die Vorstellungskraft, mit in die Wissenschaft bringen, vom Establishment nicht mehr akzeptiert worden ist und als Romantiker abgestempelt wurde. Und dann gibt es natürlich nach dem Ersten Weltkrieg eine große Deutschlandfeindlichkeit im angelsächsischen Bereich herrscht. Und keine Zeit mehr, in der man einen deutschen Wissenschaftler feiert. Und weil es eben nicht eine große Entdeckung gibt, die an ihm dranhängt sozusagen.
Caspary:
Aber es gibt doch bestimmt ein paar Pflanzen, die er entdeckt hat und die nach ihm benannt sind?
Wulf:
Es gibt mehr Pflanzen, Plätze und Tiere, die nach Humboldt benannt sind als nach irgendjemand sonst. Wenn man zum Beispiel in Amerika ist und sagt: Ich habe hier ein Buch über Alexander von Humboldt geschrieben, wird man meistens angeguckt: Noch nie von ihm gehört. Und dann sagt man: „Humboldtstrom“ – der Strom an der Westküste Südamerikas – „Humboldt penguin“. Es gibt in Amerika 13 Städte und vier Countys, die nach Humboldt benannt worden sind. Die jüngeren Leute wissen es manchmal, weil aus Humboldt County das beste Marihuana herkommt, die haben dann schon einmal was davon gehört. Aber keiner hat das so richtig mit der Person Alexander von Humboldt verbunden.
Caspary:
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Sie haben gesagt, Humboldt hat ein neues Konzept entwickelt oder formuliert. Wäre Humboldt heute mit dieser Sicht – „alles hängt mit allem zusammen“ – bei Greenpeace?
Wulf:
Das weiß ich nicht. Ich versuche, das immer so ein bisschen zu vermeiden, historische Personen in unsere Zeit zu bringen. Das ist ein bisschen problematisch. Was man ohne Probleme sagen kann: Humboldt hat schon im 18. Jahrhundert vor dem vom Menschen verursachten Klimawandel gewarnt.
Caspary:
Wie das?
Wulf:
Weil er die Natur als zusammenhängendes Ganzes gesehen hat. Wenn man sich das wie einen Wandteppich vorstellt: Wenn man an einem Faden zieht, kann sich der ganze Wandteppich auflösen. Er hat zum Beispiel in Südamerika gesehen, wie dort Plantagenbesitzer den Wald zerstören, um Platz zu schaffen für Ackerbau, für Cash Crops, er hat dann gesehen, welche Umweltfolgen die Rodung hatte. Er hat als Erster beschrieben, was die fundamentalen Funktionen des Waldes für das Ökosystem sind. Er hat über die Fähigkeit der Bäume gesprochen, Wasser zu speichern, die Atmosphäre mit Feuchtigkeit anzureichern, gegen Bodenerosion zu schützen. Dadurch, dass er die Natur als etwas Zusammenhängendes gesehen hat, hat er auch gesehen, wie der Mensch die Natur zerstören kann und welche Effekte das haben kann. Er hat davon gesprochen, dass der Mensch das Klima auf drei Arten beeinflusst: einmal durch Rodung, dann durch künstliche Bewässerung und durch die großen Mengen von Dampf und Gas, die in den Industriezentren abgegeben werden. Er hat auch Momente gehabt, wo er so pessimistisch war, dass er darüber gesprochen hat. Ich habe da eine Tagebucheintragung gefunden, noch in Lateinamerika von 1801, die lautet so: Es wird wahrscheinlich eine Zeit geben, wo die Menschen auf ferne Planeten reisen werden. Wenn das passiert, nehmen wir unsere tödliche Mixtur aus Arroganz, Gier und Gewalt mit und werden diese Planeten genauso zerstören, wie wir es schon mit unserer Erde getan haben.
Caspary:
Bedenkenswert. Man muss dazu sagen: Holz war damals in der Art wie heute Erdöl. Deshalb wurde es massenweise gerodet. Man brauchte es, um die Kamine zu befeuern, für den Hausbau.
Wulf:
Für den Schiffbau, Holz war ganz wichtig für die großen Empires wie Britannien. Aber auch für den Bergbau. Man kann das wirklich sehr gut mit Öl heutzutage vergleichen. In dem Moment, wo es wenig davon gab, haben die Leute genau die gleichen „Panikattacken“ gehabt wie heute beim Ölmangel. Aber Humboldt ist der Erste, der nicht nur über die Rodung im Sinne der ökonomischen Folgen redet, sondern auch davon spricht, was das mit dem ganzen Ökosystem zu tun hat. Es geht nicht nur darum zu sagen, wenn wir hier alle Bäume verlieren, können wir keine Schiffe mehr bauen, sondern es geht mehr darum, was das für unseren Planeten bedeutet, das kann katastrophale Auswirkungen haben.
Caspary:
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Sie haben eben gesagt, Humboldt wurde im angelsächsischen Bereich vergessen. Ich habe den Eindruck, hier in Deutschland auch?
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Wulf:
In Deutschland haben die meisten Leute schon einmal etwas von Humboldt gehört. Oft wird er durcheinandergebracht mit Wilhelm, dem preußischen Bildungsminister. Alexander von Humboldt ist bekannt als Entdeckungsreisender, der irgendwie in Lateinamerika rumgereist ist.
Caspary:
Als Abenteurer.
Wulf:
Ja, weniger bekannt ist, dass Humboldt wirklich weltbekannt war. Humboldt war der absolut bekannteste Gelehrte seiner Zeit.
Caspary:
Noch bekannter als Goethe?
Wulf:
Ja. Und zwar in der ganzen Welt. Charles Darwin hat gesagt, er hätte sich niemals auf die Beagle begeben – das Schiff, mit dem er um die Welt gereist ist –, hätte er nicht Humboldts Bücher gelesen. Henry David Thoreaus „Walden“ wäre ein ganz anderes Buch gewesen. Simón Bolivar, der Mann, der die Kolonien in Südamerika befreit hat, hat ihn den „neuen Entdecker der Welt“ genannt. Humboldt war so bekannt, dass sein 100. Geburtstag in der ganzen Welt gefeiert wurde, in Mexiko, in Melbourne, in Buenos Aires, in Ägypten; 25.000 Leute sind durch Manhattan marschiert, um ihn zu feiern, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Dieser Bekanntheitsgrad ist etwas, den die Deutschen nicht so wahrnehmen. Und wie wichtig Humboldt war für unser Naturverständnis. Und deshalb heißt mein Buch auch „Die Erfindung der Natur“. Er hat die Natur natürlich nicht erfunden, aber er hat uns ein neues Konzept der Natur gegeben.
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Andrea Wulf lebt und arbeitet als Autorin in Großbritannien. Wulf publiziert in The Guardian, The Sunday Times, Wall Street Journal, Financial Times und LA Times.
Internetseite: http://www.andreawulf.com/
Buch von Andrea Wulf zum Thema:
- Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. Übersetzung Hainer Kober. Bertelsmann, München 2016.
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