Die Zornigen . Warum die Gesellschaft aggressiver wird . Cornelia Koppetsch mit Rolf Caspary

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Rechtspopulismus - Zorn . C.Koppetsch : R.Caspary

Quelle:SWR2 2019
https://www.swr.de/swr2/programm/

Die Zornigen . Warum die Gesellschaft aggressiver wird . Cornelia Koppetsch mit Rolf Caspary
Quelle:  SWR2 2019

ÜBERBLICK
Hasstiraden, Beschimpfungen, rechte Parolen – was bringt Menschen dazu, ihrem Zorn öffentlich freien Lauf zu lassen? Die Soziologin Cornelia Koppetsch sieht die Gründe in der Globalisierung.
Die Zornigen begehren auf! Warum die Gesellschaft aggressiver wird
Quelle:SWR2 2019
 
Die Aula auf einen Blick
Ursachen des aggressiven Verhaltens
Für Cornelia Koppetsch haben die Ursachen des Rechtspopulismus und des damit zusammenhängenden aggressiven gesellschaftlichen Diskurses mit den Auswirkungen der Globalisierung zu tun.
Gewinner und Verlierer
Die Globalisierung führt in Deutschland zu einer Aufspaltung der Gesellschaft in Globalisierungsgewinner und -verlierer.
Die "Gewinner" profitieren von der Tatsache, dass die Arbeitsmärkte in Europa für sie offen sind, dass sie eine gute Ausbildung haben, die multikulturell geprägt ist.
Zwei Passagiere am Flughafen Charleroi in Brüssel (Foto: Imago, imago 94132624 imago 94132624 Imago / Belag)
Zwei Passagiere am Flughafen Charleroi in Brüssel
Imago   imago 94132624 imago 94132624 Imago / Belag  
Die "Verlierer" fühlen sich immer weiter an den Rand gedrängt und abgehängt.

Sie profitieren eben nicht von den geöffneten Arbeitsmärkten, sie sehnen sich nach Begrenzung, nach Betonung des Nationalstaatlichen.
Beispiel Bildungssystem
Der Gegensatz von "national" und "transnational" zeigt sich deutlich im Bildungssystem:
Die bisherigen Eliten etwa an deutschen Universitäten wurden im Zuge des transnationalen Bologna-Prozesses mehr und mehr deklassiert und durch die Bologna-Reformer ersetzt .
Diese Deklassierungserfahrung betrifft viele Gruppen in Deutschland, sie führt letztlich zu Aggression und Wut.

Buchcover: Die Gesellschafts des Zorns | Cornelia Koppetsch  transcript Verlag  
Die Gesellschaft des Zorns
Rechtspopulismus im globalen Zeitalter
Verlag: transcript

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INHALT
SWR2 Wissen: Aula
Die Zornigen begehren auf!
Warum die Gesellschaft aggressiver wird
Gespräch mit Cornelia Koppetsch
Sendung: Sonntag, 20. Oktober 2019, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2019
Hasstiraden, Beschimpfungen, rechte Parolen - was bringt Menschen dazu, ihrem Zorn
öffentlich freien Lauf zu lassen? Die Soziologin Cornelia Koppetsch sieht die Gründe in der
Globalisierung, sagt sie im Gespräch mit Ralf Caspary.
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Anmoderation:
Mit dem Thema: „Die Zornigen begehren auf! Warum die Gesellschaft aggressiver wird.“
Hasstiraden, Beschimpfungen, Diffamierungen – auf einschlägigen Internet-Plattformen
finden gegen bestimmte Menschengruppen Hetzkampagnen statt, viele davon erfüllen
juristische Tatbestände. Die demokratische Konsenskultur scheint am Ende zu sein, die
Gesellschaft ist zersplittert in Milieus, von denen sich einige von den Normen des
Rechtstaates verabschiedet haben.
Die Soziologin Professor Cornelia Koppetsch sieht die Gründe dafür in der Globalisierung,
sie hat aus ihrer Sicht viele Milieus in ökonomischer und sozialer Hinsicht abgehängt. Und
in diesem Sinne gibt es Globalisierungsgewinner und -verlierer.
Das manifestiert sich für Koppetsch sehr klar am deutschen Bildungssystem, in dem durch
die Globalisierung alte Eliten entmachtet und deklassiert worden sind. Ich habe mit ihr
darüber gesprochen. Meine erste Frage war, was im sich im Bildungssystem verändert hat
im Zuge transnationaler Strukturen?
Interview:
Koppetsch:
Das eine ist, was auf der Ebene der Organisation und der Verwaltung passiert, dass also
durch Brüssel durch die Etablierung europäischer Kommissionen, diejenigen, die vorher in
den nationalen Regierungen das Sagen hatten, entwertet worden sind, oder diejenigen,
die in den intermediären Institutionen, also Bildungsinstitutionen beispielsweise, bisher das
Heft in der Hand hatten, partiell entmachtet worden sind. Aber das geht m.E. noch weiter.
Es geht auch um die Frage der Kultur und der Bildungslandschaft, also der Bildungsgüter.
Wenn man jetzt beispielsweise Traditionen wie Humboldt nimmt oder aufklärerische
Bildungsideale, die früher in den Universitäten maßgeblich waren und jetzt ersetzt worden
sind durch eine Orientierung am sogenannten Humankapital, also an beruflich
verwertbaren Bildungsabschlüssen und an der Vermittlung von Kompetenzen, die Bologna
beispielsweise fordert, dann zeigt das auch, dass sich eine schleichende Veränderung
dessen abzeichnet, was überhaupt Bildung ist. Also Bildung ist nicht mehr etwas, was in
einer Tradition verankert ist oder im Kanon einer Disziplin, sondern Bildung wird zu etwas,
was man sich anhand von Problemlösungen sehr pragmatisch zurechtlegen muss. Es ist
etwas geworden, was sehr flexibel ist, sehr viele kulturelle Repertoires verlangt, eine
stärkere Gegenstandsorientierung hat, also wie beispielsweise bei den Gender Studies
oder Cultural Studies, die auch alle anglizistisch formuliert werden, die dann eben keine
Soziologie oder Geschichtswissenschaften mehr sind, sondern transdisziplinäre
Zuschneidungen von Gegenstandsfeldern beinhalten. Und das ist etwas, was natürlich
sehr viele Lehrende entwertet, die dann in ihrer Karriere möglicherweise auch nicht mehr
vorankommen.
Caspary:
Wir sind hier gerade bei dem Gegensatz: national und transnational. Ich habe Sie so
verstanden, und das scheint mir die These Ihres Buches zu sein, dass die transnationale
Ebene sozusagen die nationale überlagert, dass es dadurch sehr viele
Entwertungserfahrungen gibt in verschiedenen Milieus, bei Männern, bei Frauen, in
bestimmten Berufen und dass das sozusagen ein Nährboden für den Rechtspopulismus
ist?
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Koppetsch:
Ja.
Caspary:
Also haben wir eigentlich diese grundlegende Frontstellung: national – transnational?
Koppetsch:
Genau, und das zeigt sich auf der Ebene der Bildungssysteme auch darin, dass
Auslandsaufenthalte wichtiger werden, dass transnationale Bildungsgüter an Bedeutung
gewinnen, dass auch die Disziplin, von denen ich gerade sprach wie Gender Studies oder
Cultural Studies, das sind bereits transnationale Wissenskulturen, die nicht mehr über die
klassischen nationalen Disziplinen laufen, sondern die sich stärker internationalisiert
haben als beispielsweise die alte Soziologie.
Und es bedeutet auch, dass es eine neue Hierarchie von Bildungsinstitutionen gibt. Es
reicht nicht aus, einen tollen Abschluss zu haben an einer deutschen Universität. In
manchen Fächern ist es notwendig, einen MBA zu machen beispielsweise von Harvard,
also einen Master of Business Administration, das ist das Äquivalent eines BWL-Studiums
in Deutschland, so dass also auch hier wieder eine Rolle spielt, welche Eltern haben das
Geld, ihren Kindern diese kostspielige Auslandsverbindung tatsächlich auch zu vermitteln?
Und wer hat überhaupt den Schneid, in dieses Kapital zu investieren? Nach wie vor darf
man sich mit Max Weber ganz intensiv auseinandersetzen. Wer das aber ausschließlich
tut, bekommt keine Professur mehr, sondern es ist gleichzeitig erforderlich,
Drittmittelanträge stellen zu können, im Ausland gewesen zu sein, auch wenn man dazu
gar keinen Bezug hat. Also auch wenn man mit diesem Auslandsaufenthalt am Ende gar
nichts Substanzielles tut, ist es trotzdem ein symbolisches Signal: Ich bin auf der globalen
Seite, ich habe mich transnationalisiert.
Caspary:
Wir haben in SWR2 Impuls und im SWR2 Forum oft über den Bologna-Prozess diskutiert.
Und es gibt immer wieder diese Frontstellung: auf der einen Seite Humboldt, und auf der
anderen Seite Bologna. Da zeigt sich jetzt sehr gut noch einmal der Gegensatz: Humboldt
als nationales Gut, Bildungskanon, Bildung als Selbstbildung, als Selbstvervollkommnung
– und auf der anderen Seite Bologna – Bildung als Kompetenzerwerb.
Koppetsch:
Genau, wobei man Humboldt auch nicht zu wörtlich nehmen darf. Es geht nicht darum.
Humboldt gab es auch in den 70er-Jahren schon in dem Maße nicht mehr. Wir haben ja
eine Veränderung durch ein aufklärerisch emanzipatorisches politisches Bildungsideal,
das Humboldt in den 70er-Jahren eigentlich schon abgelöst hat. Aber gemeinsam ist
beiden Bildungsidealen, dass sie selbstzweckhafte Bildung ermöglichen. Und genau das
wird bei Bologna nicht mehr erlaubt, also zumindest nicht mehr offiziell propagiert. Dass
das in den Universitäten nach wie vor stattfindet, das ist eine andere Frage. Das hat
natürlich auch damit zu tun, dass die alten „Babyboomer“ nach wie vor in den
Universitäten sind, die ja auch das emanzipatorische Bildungsideal mitbekommen haben.
Aber die Frage ist, wie lange noch?
Caspary:
Aber wir haben bei Humboldt doch was auch etwas ganz Interessantes- das ist so ein
typischer Konservativismus, dass man zurück in die Vergangenheit geht und sagt, da war
alles besser, da ist dieser Humboldt, und den haben wir verloren. Ist das nicht so ein
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typisch konservativer Reflex?
Koppetsch:
Naja, das ist natürlich auch eine nostalgische Position. Natürlich ist die Kritik an Bologna
nicht eine rechte Angelegenheit, das gibt es auch im linken Lager, weswegen es jetzt auch
interessant ist zu sehen, dass diese Veränderungen, von denen ich spreche, die mit der
Globalisierung einhergehen, eigentlich keine klare Schwarzweiß-Zurechnung von
Verlierern und Gewinnern möglich macht, denn es gibt Menschen, die in einigen
Hinsichten durchaus kosmopolitische Gewinner sind, zum Beispiel Journalisten, aber in
anderen Hinsichten bestimmte Aspekte ihres Kapitals durch die Globalisierung verloren
haben, weil sie sich beispielsweise am alten Kanon orientieren oder weil sie versuchen,
einem alten Ideal zu folgen, während es in Wirklichkeit neuerdings auf Community-
Anfragen ankommt, also auf Chats, die teilweise auf die ersten Seiten des Journalismus
kommen. Das ist ja auch eine Veränderung, die die Autorität des Journalisten ein bisschen
untergräbt. Zumindest empfinden das manche so.
Caspary:
Wir sind ja nicht mehr die klassischen Gatekeeper, die als einzige sozusagen Themen
präsentieren, sortieren, selektieren. Aber wir waren bei der Frontstellung national –
transnational. Und ich hatte Sie gefragt, ist für Sie der Rechtspopulismus eine Reaktion
auf diesen Gegensatz national – transnational? Wir haben Bedrohungsszenarien auf
transnationaler Ebene, mit denen wir zurechtkommen müssen. Manche Milieus, das
haben Sie angedeutet, kommen sehr gut damit zurecht. Ich würde sagen, die hippen,
großstädtischen Milieus mit guter Bildung, zweisprachig aufgewachsen, flexibel. Ist das
so?
Koppetsch:
Das ist auf jeden Fall so. Man kann natürlich sagen, diese Frontstellung zwischen
transnational und national zeigt sich in allen gesellschaftlichen Feldern. Wir haben das
gerade am Beispiel der Bildung gezeigt. Aber es geht quer durch alle Bereiche. Im
Politischen gibt es ähnliche Phänomene, wenn beispielsweise Europa eine
Überschichtung politischer Regulative bedeutet, die nicht mehr demokratisch in
Parlamenten abgesichert werden, sondern wo plötzlich eine Gesetzgebungsinstanz
auftritt, die den nationalen Regierungen übergeordnet ist und Einfluss hat auf die
nationalen Gesetzgebungen im ganz großen Stil und damit tendenziell die
Regierungsvertreter in den jeweiligen Staaten entwerten auf die Rolle von symbolischen
Politikern, die teilweise nichts anderes mehr tun als das, was oben in Brüssel entschieden
ist, in ihren jeweiligen Nationen zu begründen, zu verkaufen, zu legitimieren, zu erklären.
Und auch da haben wir also diese Gegenüberstellung zwischen den transnationalen
politischen Entscheidungen, die teilweise auch in vielen Bereichen unpopulär sind. Wenn
man beispielsweise die Verkehrspolitik, Stichwort Diesel, nimmt oder auch Bologna, wo
viele Leute, zu Recht oder auch begründet sagen, wir wollen das gar nicht, wir wollen
selbst entscheiden. Das ist die politische Ebene. Das andere ist die ökonomische Ebene,
die war sicherlich als erstes da. Globalisierung bedeutet die Transnationalisierung von
Unternehmen, so dass Unternehmen auch nicht mehr einfach einer Jurisdiktion eines
Landes unterstellt sind, z.B. die globalen Unternehmen von Google, wo die eigentlich
besteuert werden müssen, wo sie doch eigentlich gar nicht mehr in einem Land lokalisiert
werden können. Aktuell und brisant ist die Frage der Körperschaftssteuer oder auch die
Frage des mächtiger werdenden Kapitals und der Großkonzerne, die den Staaten
Bedingungen stellen, unter denen sie bereit sind, sich in ihnen anzusiedeln.
Caspary:
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Das heißt Unternehmen, die zum Beispiel ihre Produktbestandteile in Ländern herstellen
lassen, wo es für sie billig ist, die den Firmensitz dort haben, wo sie am wenigstens
Steuern zahlen, die sozusagen krakenähnlich unsichtbar geworden sind und die man nicht
mehr kontrollieren kann?
Koppetsch:
Genau, die sich überall die Rosinen rauspicken und jeweils die Vorteile aus bestimmten
Ländern ziehen, aber sich dort, wo es für sie nachteilig ist, rausnehmen. Sie entziehen
sich sozusagen dem Territorialprinzip. Das zeigt an, dass wir eine supranationale
Regierung brauchen, die genau solche Rosinenpickerei unterbindet.
Caspary:
Führt diese Frontstellung national – transnational in bestimmten Milieus zu Irritationen,
Ängsten und Untergangsszenarien und auch zu den realen oder eingebildeten
Abstiegsängsten?
Koppetsch:
Ja, wir haben jetzt die Trennung im Bereich der verschiedenen gesellschaftlichen
Subsysteme skizziert, die gleiche Trennung betrifft aber auch den Habitus. Also wir haben
Menschen, die es geschafft haben, einen kosmopolitischen Habitus herauszubilden, die
sich also konform zeigen mit den ganzen Globalisierungsprozessen auf den
verschiedenen Ebenen, weil sie eben verschiedene Sprachen sprechen, weil sie Europa
vielleicht auch verstehen, weil sie im Zweifelsfall in andere Länder ausweichen können,
wenn der Arbeitsmarkt im eigenen Land zu eng wird. Also kosmopolitisch heißt ja dann
auch, sich dem Territorialprinzip oder den Nachteilen oder Beschränkung der eigenen
nationalen Gesellschaft nicht mehr ausgeliefert zu sehen, sondern ein anderes Leben
woanders führen zu können oder eine andere Arbeit zu finden oder durch nationale
Netzwerke in andere Bereiche hineinzukommen. Und das sind die Leute, die mit diesen
Veränderungen wunderbar zurechtkommen; während andere Menschen nach wie vor in
ihren lokalen, regionalen oder nationalen Beheimatungen verhaftet sind, weil sie
beispielsweise auch dort Netzwerke haben, denen sie verpflichtet sind, weil sie dort alles
vorfinden, was sie brauchen, sei es Kapital, sei es Wohnung, der Arbeitsplatz oder
Heiratspartner. Also alle die Ressourcen, die wir zum Leben brauchen, spielen sich für
diese Menschen auf der lokalen Ebene ab. Für die ist das Transnationale eher eine
Bedrohung. Von daher muss man sagen, wir haben diese Spaltung, und wir haben vor
allen Dingen auch ein komplettes Unverständnis seitens der Kosmopoliten, weil die
glauben, jeder kann doch Kosmopolit sein. Das ist aber strukturell nicht möglich. Und als
Reaktion auf diese Spaltung, also auf diese völlig verschiedenen Voraussetzungen, die
Menschen mitbringen, um mit diesen Veränderungen umzugehen, hat sich jetzt eine neue
Protestlinie formiert gegen die Folgen der Globalisierung. Also Rechtspopulismus kann
man als reaktionär bezeichnen. Reaktionär deswegen, weil es eine
vergangenheitsorientierte Protestbewegung ist, die sich auf unterschiedlichen Ebenen
gegen die Globalisierung stark macht.
Caspary:
Spannend in Ihrem Buch ist, dass Sie die linke Protestbewegung der 68-er mit der
rechtspopulistischen Protestbewegung der Gegenwart vergleichen. Sie arbeiten heraus,
welche strukturellen Elemente eigentlich da sein müssen, damit es überhaupt Protest gibt.
Bitte erklären Sie das nochmal, weil man denken könnte, 68-er-Bewegung mit 2019 zu
vergleichen ist schwierig, weil die Ideale ja völlig andere waren bzw. sind.
Koppetsch:
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Der Vergleich dient zunächst dazu, dem Werturteils-Freiheitsprinzip von Max Weber
gerecht zu werden. Das heißt erstmal versuchen, davon zu abstrahieren, dass man diese
Rechtspopulisten natürlich negativ beurteilt. In vielen sozialwissenschaftlichen Studien hat
man diese Brille auf, die meines Erachtens verhindert, den Blick zu öffnen und einfach
ganz soziologisch und strukturell abzuleiten, unter welchen Bedingungen beschleunigte
Phasen, also Modernisierungsschübe zu Veränderungen führen, die wiederum mit
bestimmten Bevölkerungsgruppen oder Risiken einhergehen für die Gesellschaft. Und
diese Risiken, also diese negativen Konsequenzen von Modernisierung, das ist in der
Regel etwas, was Protestbewegungen auf den Plan ruft, weil die Dysfunktionalitäten, die
damit einhergehen, Gegenstand dieses Protestes sind. Und der Vergleich mit 68 lässt
sehr schön herausarbeiten, dass es nichtsdestotrotz strukturelle Gemeinsamkeiten
zwischen diesen Bewegungen und denen der AfD oder den rechtsautoritären
Bewegungen seit 2010 gibt, nämlich insofern als sie drei Merkmale gemeinsam haben:
eine strukturelle Deklassierung wesentlicher Teile der Bevölkerung. Das ist – bei den AfDlern
habe ich es bereits gesagt – Einfluss- und Machtverlust der ehemals Etablierten, die
durch Modernisierungsprozesse entwertet worden sind. Bei den 68-ern waren es junge
gebildete Menschen aus der Mittelschicht, die aber, besonders in Frankreich, eine
Inflationierung der Bildungstitel hatten, die sie dazu gebracht hatte, um ihre legitim
erachteten Anwartschaften zu fürchten. Das heißt also, dass diese Bildungstitel, die
Diplome, die sie auf der Universität erwerben, sich eigentlich gar nicht mehr verwerten
lassen, weil es einfach zu viele gibt, die mit einem Diplom kommen, und damit die
Aufstiegschancen, die sie sich erhofft hatten, nicht eingelöst werden können. Das ist das
eine. Das andere ist, dass diese Generation mit einer Legitimationskrise konfrontiert sind.
Protestbewegungen erstarken, wenn es manifeste Krisenerscheinungen gibt. Das ist 68
beispielsweise die atomare Bedrohung gewesen, aber auch die sich abzeichnende
ökologische Krise. In den Nullerjahren, vor dem Aufstieg der AfD und dem
Rechtspopulismus, war es die Finanzkrise 2008, und später die sogenannte
Flüchtlingskrise. Und drittens ein Legitimationsdefizit der sozialen Ordnung, eine
Legitimationskrise der, wenn man so will, sozialen Narrative, also der Großerzählungen,
die Gesellschaften zusammenhalten. Wenn die nicht mehr funktionieren, dann ist auch die
Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass sich Protestbewegungen entwickeln.
Caspary:
Bei diesen Narrativen denke ich sofort an „alternativlos“, den Satz von Angela Merkel bei
der Finanzkrise, und der andere Satz lautet: „Wir schaffen das.“ Bei der Flüchtlingskrise.
Und ich glaube, das waren Elemente, die in bestimmten Bevölkerungsschichten nicht
mehr glaubwürdig waren?
Koppetsch:
Das war sozusagen im unmittelbaren politischen Aktionsfeld sicherlich ein zentraler Punkt.
Ich glaube aber, dass die Legitimationskrise noch größer und grundsätzlicher ist insofern,
als die Finanzkrise gezeigt hat, dass der Liberalismus, also auch der
Wirtschaftsliberalismus, der behauptet, dass sich die Märkte von allein heraus regulieren
würden, sich selber ad absurdum geführt hat dadurch, dass die Banken ironischerweise
durch die Staaten gerettet werden mussten. Das heißt, der Wirtschaftsliberalismus hat
sich selbst ein Bein gestellt, weil am Ende doch der Staat eingreifen musste und das
ganze ideologische Gebäude des Narrativs des selbstregulierenden Marktes nicht mehr
greift. Das war das eine.
Das zweite Narrativ, was nicht mehr so richtig glaubwürdig ist, ist der Traum
immerwährender Prosperität und der Aufstieg des Fortschritts und der Teilhabe am
Aufstieg. Auch das hat sich durch die wachsenden Ungleichheiten als problematisch
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erwiesen und wird von vielen Menschen nicht mehr geglaubt. Zumal bei vielen eben auch
der Eindruck entstanden ist, Spielball von fremden Mächten oder von unkontrollierbaren
Mächten der Globalisierung geworden zu sein und im Aufstieg eben blockiert zu sein, weil
eben auch bestimmte Tugenden entwertet worden sind. Das ist ein Aspekt, den Sie mit
den „tiefen Schichten“, glaube ich, meinten, also die Veränderungen in den tiefen
Schichten ist so, dass sich praktisch das, was man braucht, um in dieser Gesellschaft
erfolgreich zu sein, verändert hat. Also Leistungsorientierung, Disziplin, Ehrlichkeit, das
alles reicht nicht aus.
Caspary:
„Wenn Du Dich anstrengst, schaffst Du alles“, sagte mein Vater zu mir. Typisch dafür,
oder?
Koppetsch:
Genau, man wusste, man musste sich anstrengen und man konnte sich darauf verlassen,
dass das irgendwie funktionierte, dass man sich damit halten oder sogar aufsteigen
konnte. Und heute wird man in Kurse zu soft skills gesteckt, was bedeutet das man sich
eben nicht mehr allein darauf verlassen kann, dass die Leistungen auch gesehen werden,
sondern man muss sehr viel machen. Man muss so eine Art Self-Marketing betreiben, um
überhaupt auf sich aufmerksam zu machen. Gestern war beispielsweise eine Talkshow
zum Thema, wie Krankenhäuser versuchen, mit Patienten Geld zu verdienen. Da wurde
allen Ernstes der Tipp gegeben, man müsse doch dem Arzt ein paar wissenschaftliche
Untersuchung vorlegen oder den Arzt fragen, ob er wissenschaftliche Untersuchungen
hat, die belegen, dass diese Operation sinnvoll ist. Ich meine, das ist ja eine komplette
Überforderung auch der Rollenanforderungen, die in dieser Gesellschaft gestellt werden,
dass man nicht mal als Patient zum Arzt gehen kann, ohne gleich mit wissenschaftlichen
Studien um die Ecke zu kommen. Das zeigt, dass letztlich im Fernsehen
selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass die Patienten alle eine akademische
Ausbildung haben und solche Studien verstehen, um dem Arzt diese Fragen stellen zu
können. Und das ist eben nicht gegeben.
Caspary:
Sind solche Veränderungen der Tiefenstrukturen für Sie jetzt auch sozusagen die Wirkung
dieser Globalisierung, dass sich mit ihm ein Mentalitätswandel vollzieht?
Koppetsch:
Das ist so. Nehmen wir mal das Geschlechterverhältnis. Auch da zeigt sich ja, wir haben
eine Orientierung an Vielfalt, und Vielfalt bedeutet im Geschlechterverhältnis, dass nicht
mehr das Geschlecht an sich wichtig ist, sondern die Individualität der Persönlichkeit zählt.
Also man wird nicht mehr auf eine Rolle festgenagelt und man muss auch nicht in jeder
Hinsicht die Rollen, Schablonen eines Mannes und einer Frau erfüllen, sondern es wird
sehr, sehr gerne zugestanden, dass man einen Rollenmix anwendet und dass dort eben
eine große Diversität herrscht. Das Geschlechterverhältnis ist aber immer ein sehr guter
Indikator dafür, dass Rollen oder auch Identitäten in anderen Bereichen der Gesellschaft
aufgelöst sind. Nichts anderes heißt Diversität: kulturelle Vielfalt. In einer multiethnischen
Gesellschaft von Diversity zu sprechen, heißt, dass man eben sagt, wir sind eine Identität
im Fluss, wir haben nicht mehr einfach hier die Spanier und da die Deutschen usw.,
sondern wir können alle voneinander lernen, und die Identitäten oder die verschiedenen
Volkszugehörigkeiten können sich überlappen.
Caspary:
Das wäre wieder der transnationale Aspekt der Veränderungen, was sich also im Zuge der
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Globalisierung verändert hat. Ich kann mir vorstellen, es gibt Milieus, denen genau diese
Veränderungen Angst machen?
Koppetsch:
Ja, die machen ihnen Angst, weil sie das, was sie für den moralischen Kompass in ihrem
Leben halten, als gefährdet sehen.
Caspary:
Genau, die wollen keine Vielfalt, die wollen keinen plurale Lebensformen, sie wollen „auf
ihrer Scholle leben“, salopp gesagt?
Koppetsch:
Sie wollen nicht nur die alten Rollen, sondern sie wollen auch eine klare normative
Bezugsgröße, sie wollen wissen, wo es langgeht. Und sie wollen vor allen Dingen auch,
dass man die alten Werte behält, dass man einen klaren, verbindlichen kulturellen
Rahmen hat. Die AfD spricht manchmal vom „Ausverkauf der Werte“, also es geht um die
totale Verknüpfung von Kultur und Ökonomie, also dass man Kultur nicht mehr als
verbindlich normativen Rahmen setzt nach dem Motto: Jetzt orientiert Euch mal an diesen
ehernen Wahrheiten wie Max Weber oder jener Disziplin, das hier ist die Wahrheit und das
ist der Kanon und der wird tradiert, das ist unsere Moral. Sondern alles ist letztlich auch
eine Ressource, um damit wissenschaftlich zu arbeiten oder um kulturelle
Bedeutungszusammenhänge vermarkten zu können oder als biografische Ressource der
Aneignung vielfältiger Identitäten usw. Das heißt, es ist ein Material geworden. Also Kultur
ist kein Rahmen, sondern ein Material. Und dagegen richten sich eben die Traditionalisten.
Caspary:
Ich komme jetzt an den Anfang unseres Gesprächs zurück. Wenn das so ist, wenn die AfD
und der Rechtspopulismus sozusagen eine Reaktion auf die Globalisierung sind, auf die
Verwerfungen, die die Globalisierung ausgelöst hat, wie, würden Sie sagen, sollten wir mit
diesem Thema umgehen. In Ihrem Buch geben Sie ja am Ende „Tipps“. Was wären die
Tipps aus ihrer Sicht? Sollen wir die AfD als ganz normale Modernitätskrise nehmen, die
irgendwann vorbei sein wird?
Koppetsch:
Erstmal würde ich gegen das Schwarz-Weiß-Denken appellieren, indem man einfach
schaut, wo haben die AfDler vielleicht auch mal recht? Oder was könnte man von dem,
was sie sagen, als durchaus berechtigte Kritik an dieser Gesellschaft betrachten? Also
dass man einfach mal versucht zu differenzieren.
Caspary:
Das ist aber schwierig, weil ich nicht sehe, dass sie von der Gegenseite der Politik ernst
genommen wird?
Koppetsch:
Nein, man muss sie auch nicht ernst nehmen, vor allen Dingen muss man den Rassismus
nicht teilen. Und man muss auch nicht glauben, dass man diese Agenda durchsetzt. Aber
man muss doch zur Kenntnis nehmen, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen das
ernsthaft befürchten. Das heißt, die haben eine Identität, die im nationalen Rahmen
verankert ist. Die haben das Gefühl, dass sich die Gesellschaft zu schnell verändert, auch
durch die Migration, also durch den Übergang von einer ethnisch homogenen in eine
multiethnische Gesellschaft. Und die verändert tatsächlich auch was. Die Veränderungen
kann man ja erstmal zur Kenntnis nehmen, ohne sie gleich immer schönreden zu müssen.
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Es gibt sehr viele theoretische Entwürfe: die postmigrantische Gesellschaft, wir haben uns
alle lieb und wir können alle unter einem Dach zusammenleben. Wenn man alle Probleme
des Zusammenlebens dermaßen „zukleistert“, dann braucht man sich nicht zu wundern,
dass es Bevölkerungsgruppen gibt, die andere Dinge sehen und das eben jetzt sehr
vehement zum Ausdruck bringen. Also ich glaube, wir müssen beide Seiten sehen. Wir
können natürlich sagen, in bestimmten akademischen Milieus gibt es das friedliche
Zusammenleben der Migranten. Aber warum gibt es das? Weil wir es hier mit Migranten
zu tun haben, die selber erfolgreich sind? Die haben keinen Grund zur Klage. Aber es gibt
eben auch Migranten, die sind auf ihre ethnischen Subkulturen angewiesen. Die ziehen
sich das Kopftuch deshalb auf, weil es ein Symbol ihrer eigenen Gemeinschaft ist. Die
wollen nichts Aggressives damit, sondern sie haben damit ein Identifikationssymbol, was
zum Ausdruck bringt, dass sie dieser Gemeinschaft angehören und diese Gemeinschaft
für sie Vorteile bringt. Und diese Differenzierungen, die fehlen.
Das wäre das eine, dass man einfach mal differenziert, was von dem, was die AfD sagt,
berechtigt ist. Z.B. dass das Kapital sehr großen Einfluss hat, dass Europa vielleicht auch
für viele Leute problematisch ist. Dann kann man zum Beispiel auch sagen, Europa ist
auch deshalb problematisch, weil Brüssel ein riesengroßes Verwaltungsmonstrum ist, das
sehr vielen gesellschaftlichen Bereichen nicht nur Glück und Segen bringt, sondern auch
sehr viele Probleme, angefangen von der Bürokratisierung, der Zentralisierung von
Entscheidungsstrukturen bis hin zu dem Umstand, dass Europa ja überhaupt nicht
demokratisch legitimiert ist. All das kann man ja mal diskutieren, bevor man sagt, dass die
AfD niedergemacht werden soll.
Das Zweite, wo man, glaube ich, ansetzen muss, ist bei den etablierten Parteien selber,
die sehr oft den Eindruck erweckt haben, dass sie eigentlich ganz zufrieden sind in dieser
Gesellschaft und nichts ändern müssen. Auf die eigene Schulter zu klopfen, das ist das
Syndrom. Aber auch zum Beispiel die sozialen Ungleichheiten. Das ist ja kein Geheimnis
mehr, das wird ja diskutiert im öffentlichen Diskurs. Warum versucht keine Partei,
irgendwas dagegen zu machen? Warum wird nicht ernsthaft daran gearbeitet? Warum
wird nicht ernsthaft daran gearbeitet, Steuerschlupflochlöcher zu schließen? Damit
machen sich die Regierung und die etablierten Parteien unglaubwürdig, wenn sie so tun,
als ob alles eigentlich ganz okay sei. Und das führt natürlich irgendwann zu Protesten und
zu Parteien, die eben sagen, wir finden euch einfach nicht mehr vertrauenswürdig. Und wir
gehen jetzt in eine ganz andere Richtung.
Und das andere, was man versuchen müsste zu verstehen, ist diese emotionale
Komponente, weil viele Leute ja glauben, die AfD sei das Produkt von geschickten
Demagogen und die würden den Leuten irgendwas Irrationales oder auch Unwahrheiten
erzählen. Und deswegen würden die eben ihnen folgen. Und das ist nicht der Fall,
sondern die Anhängergruppen haben tatsächlich auch ganz klar Wut und Zorn im Bauch.
Und sie haben sehr viele Enttäuschungen erlebt. Ich denke, man muss, gerade im Hinblick
auf die die ehemalige DDR auch sehen, dass das da so sehr viele Dinge sehr viel Leid
erzeugt haben, sehr viel Frustration und Ressentiments, die tatsächlich auch eine
Grundlage in der realen Transformationsgeschichte dieses ostdeutschen Landes hatten.
Wir wissen ja, dass die AfD in den ostdeutschen Bundesländern besonders stark ist, und
hier gilt es auch die Mitschuld zu erkennen, also die Verstrickung der westdeutschen
Bundesländer und der Geschichte der Transformation in das ostdeutsche Drama. Dass es
hier Gründe gibt, warum Leute frustriert sind, die mit der Treuhand zu tun haben, mit der
Überschichtung durch westdeutsche Eliten, mit der Art und Weise, wie die DDR ja auch
abgewickelt oder ausgelöscht wurde, das ist doch klar. Also es geht doch um eine
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Gesellschaft, die einfach verschwunden ist und jetzt durch die Industrialisierung von
massiven Schrumpfungsprozessen betroffen ist. All das sind ja auch reale Ursachen für
die Gefühle der Frustration und den Vertrauensverlust in etablierte Parteien.
Caspary:
Vielen Dank für das Gespräch.
Koppetsch:
Bitte, Herr Caspary.
*****