Das Alter und seine Philosophien . Von Detlef Berentzen


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Alter (R. Kölbel)
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Das Alter und seine Philosophien . Von Detlef Berentzen

Sendung: Freitag, 27. April 2018, 08.30 Uhr
Redaktion: Ralf Kölbel
Regie: Autorenproduktion
Produktion: https://www.swr.de/swr2/programm/   2018
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

ÜBERBLICK
Der Umgang einer Gesellschaft mit ihren Alten und dem Thema Tod sagt etwas über ihre "conditio humana" aus. Was sagen berühmte Philosophinnen und Philosophen im Alter selbst dazu?

Wer die Realitäten des Alters bedenkt, kann nicht länger der Hochglanzwerbung für Kreuzfahrten und Treppenlifte vertrauen. Der Umgang einer atemlosen Gesellschaft mit ihren langsamen Alten, auch mit dem Thema Tod, sagt etwas über ihre "conditio humana" aus. Noch Cicero postulierte das Gespräch zwischen den Generationen, Jacob Grimm definierte sogar Tugenden des Alters, doch schon Jean Amery, Simone de Beauvoir und nach ihnen der Philosoph Norberto Bobbio machten sich keine Illusionen über den Alterungsprozess: "Wer das Alter preist, hat ihm noch nicht ins Gesicht gesehen!" Detlef Berentzen hat sich auf die Reise zu alten Philosophen und philosophierenden Alten begeben, um aktuelle und historische Ansichten des Alters zu erkunden.

MANUSKRIPT
Musik: (Klaus Burger) „TubaPerm...“ (blenden/unterlegen)
Take 1 - (Giovanni Maio):
Der moderne Mensch hält es nicht aus, an seine Vergänglichkeit erinnert zu werden und so tüncht er die Spuren seiner zerronnenen Lebenszeit in ein Narkotikum, dass ihn diesen Schmerz vergessen machen soll.
Sprecher 1:
(Jacob Grimm) Es liegt ein Widerspruch darin, dass während alle Menschen alt zu werden wünschen, sie doch nicht alt sein wollen.
Musik: (Klaus Burger) „TubaPerm…“ (blenden/unterlegen)
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Take 2 - (Ilka):
Oft kriege ich zu hören, na ja, du siehst doch gar nicht so alt aus wie du bist. Ich fühle mich überhaupt nicht geschmeichelt, wenn irgendjemand sagt, ich sehe jünger aus, ich ärgere mich darüber!
Sprecher 2:
(Norberto Bobbio) Die Welt der alten Menschen, aller alten Menschen, ist in mehr oder weniger ausgeprägter Form die Welt der Erinnerung. Man sagt: Am Ende bist du das, was du gedacht, geliebt, vollbracht hast.
Musik: (Klaus Burger) „Mosquito 1“... (blenden)
Sprecherin 1:
„Das Alter und seine Philosophien“. Eine Sendung von Detlef Berentzen.
Musik: (Klaus Burger) „Mosquito 1“… (blenden)
Atmo 1: (SeniorenTreff Friedrichshain)...Stimmen, Lachen,...(blenden)
Take 3 - (Renate):
...philosophiert haben wir, er hat uns die Philosophen nahegebracht und was die über das alles so denken, über die Welt da draußen und hier drinnen und übers Alter usw. Und das hat uns so gefallen, es sind immer mehr geworden, es sind auch ein paar abgesprungen... (blenden/unterlegen)
Atmo 1: SeniorenTreff...(blenden/unterlegen)
Autor:
Berlin Friedrichshain. Einer der nicht sehr zahlreichen Literaturkreise für Seniorinnen und Senioren, die es hierzulande gibt. Nahezu alle Anwesenden haben mehr - mitunter weit mehr - als siebzig Jahre Leben und Überleben hinter sich. Sie treffen sich regelmäßig, trinken Kaffee, philosophieren, debattieren, lesen gemeinsam und kommen dabei auch immer wieder auf das Eigentliche: Das Alter, das Altern, ihr Alter, stellen Fragen nach dem Sinn, nach dem Woher und Wohin ihres Lebens und vergessen auch nie miteinander zu lachen.
Atmo 1: (Seniorentreff Friedrichshain) Debatten, Lachen... (blenden)
Autor:
Dass dieser Literaturkreis existiert, hat wesentlich mit einem Engagierten zu tun: Wolfgang Kramer. Heute Abend geht es ihm um das Hier und Jetzt: als hilfreiche Strategie gegen die unausweichliche Endlichkeit unseres Lebens, jene Endlichkeit, die uns im Alter manche Tage, aber auch Nächte so elend schwer machen kann.
Take 4 - (Wolfgang Kramer):
Noch mal ganz kurz Dalai Lama: „Wir nehmen Vergangenheit und Zukunft ungeheuer wichtig. Wir leben als wäre beides ständig da. Daher vergessen wir im Augenblick zu leben. Dabei ist das Leben im gegenwärtigen Augenblick das
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Allerwichtigste, weil wir nur in diesem Augenblick etwas dafür tun können, unseren Geist umzuwandeln und positive Emotionen hervorzubringen, die uns helfen, andere zu unterstützen.“ Also hier, das ist auch das buddhistische Thema, im Augenblick zu leben, im Hier und Jetzt... (blenden/unterlegen)
Autor:
Wolfgang Kramer ist Philosoph und Soziologe Und gleichzeitig: studierter "Geronto-Sozial-Therapeut" - einer der wenigen, der nichts davon hält, ältere und alte Menschen im öffentlichen Diskurs intellektuell außen vor zu lassen, sondern einer, der die Alten ernst nimmt, ihre vorhandenen Potentiale ebenso begreift wie auch deren Bedürfnis nach einer ernsthaften Debattenkultur. Also gründet er mit Unterstützung der zuständigen Ämter Literaturkreise, organisiert Fortbildungen, hält in Seniorentagesstätten und anderswo Vorträge über die Philosophien des Alters und stellt sich dabei vehement gegen die reale Vorherrschaft des sogen. "Defizitmodells", das dafür sorgt, dass alte Menschen zunehmend aus relevanten gesellschaftlichen Kontexten ausgegrenzt werden.
Take 5 - (Wolfgang Kramer):
...das heißt, dass das Alter überwiegend unter den Aspekten der Verluste gesehen wird und dass das mitverantwortlich dafür gemacht wird, dass alte Menschen ausgegrenzt werden, dass man natürlich mit alten Menschen nicht allzu viel zu tun haben will, dass man selbst jung sein will - wir alle wollen im Grunde alt werden zwar, aber wir wollen nie alt s e i n, wie dieses schöne Sprichwort eben kundtut und das denke ich, ist heute verschärft der Fall.
Musik: (Klaus Burger) „Mosquito 1“... (blenden)
Sprecher 3:
(Marcus Tullius Cicero) Das Lebensalter hat seine bestimmte Laufbahn, und der Weg der Natur ist nur einer, und zwar ein einfacher. Einem jeden Abschnitt des Lebens ist seine eigene zeitliche Bestimmung gesetzt; die Schwäche des Knaben, die wild trotzende Kraft des Jünglings, der Ernst des schon gesetzten Alters und die Reife des höheren Alters sind etwas Naturgemäßes, was zu seiner Zeit benutzt werden muss.
Autor:
Wenn dieser Weg doch so einfach wäre! Zu akzeptieren meine ich! Was der Philosoph Marcus Tullius Cicero da gut 40 Jahre vor Christi Geburt in seiner Abhandlung "Cato Maior De Senectute", einem fiktiven Gespräch über das Alter, notiert, liest sich zunächst klar und strukturiert. Doch es ist Cicero selbst, der gleichzeitig schon vor mehr als zweitausend Jahren wusste, wie sehr die Perspektive der Endlichkeit unserer Existenz, das unweigerliche Vergehen von Jugend, Kraft und gesellschaftlich anerkannter Schönheit auch die Zeitgenossen der Antike umtrieb.
Sprecher 4:
(Marcus Tullius Cicero) Das Greisenalter. Jedermann wünscht es zu erreichen; und hat man es erreicht, so klagt man doch darüber. So groß ist die Unbeständigkeit und Verkehrtheit der Toren!
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Take 6 - (Giovanni Maio):
Alter ist in gewisser Weise auch immer mit einem bestimmten Leid verbunden. Es ist das Leid, das sich am Körper manifestiert, aber es ist auch das Leid an der Unwiederbringlichkeit des Gewesenen, das Leid an dem Leben, das eine unverwischbare Vergangenheit kennt und nur noch um eine sehr begrenzte Zukunft weiß.
Autor:
Giovanni Maio. Ein Extrakt aus seinem klugen Vortrag mit dem Titel "Der Sinn des Alterns - Überlegungen jenseits des Fitnesswahns". Maio ist studierter Mediziner, auch Philosoph und arbeitet als Medizinethiker an der Uni Freiburg. Und ja, es stimmt natürlich und kann nicht anders sein: mit zunehmendem Alter kommt das Lebensende immer deutlicher in Sicht. Wenn man hinschaut. Das war zu Zeiten von Cicero nicht anders. Außer der Tatsache, dass damals die Menschen mit einem Altersdurchschnitt von ca. 30 Jahren sterben mussten und das Greisenalter entsprechend mit 50 Jahren begann. Pech für die Greisinnen und Greise, dass auf den Plätzen des antiken Rom noch keine Werbeplakate montiert waren, die "Anti-Aging-Cremes" und Schmerzmittel anpriesen und dabei die garantierte Erlösung von den gar fürchterlichen Folgen des Alterns versprachen.
Sprecherin 2:
Älter werden? Kein Problem! Nachzulassen kommt für mich nicht in Frage! Jetzt geht es rund. Und heute Abend ist Party!
Take 7 - (Giovanni Maio):
Das Alter soll nicht bewältigt, sondern es soll vermieden werden. Es soll nicht gemeistert oder gefüllt, sondern am liebsten ganz abgeschafft werden.
Autor:
Soweit wie heute war die Verdrängung des Alters im alten Rom noch längst nicht gediehen. Damals gab es noch den "Pater Familias", den ältesten Mann - natürlich ein Mann! - im Haushalt einer römischen Bürgerfamilie, der durch sein Alter gleichzeitig der ranghöchste in der patriarchalen Hierarchie war. Ihm - und nicht etwa der noch älteren Großmutter der Familie - standen Verantwortung und Anerkennung zu. Und der Alte musste sich auch nicht, wie es Ernst Bloch einst formulierte, "auf jugendlich schminken", um ernst genommen zu werden. Das sah Cicero nicht anders.
Sprecher 5:
Mit Laufen, mit Springen, mit dem Lanzenwurf für die Ferne, mit dem Schwert für den Kampf in der Nähe würde er sich freilich nicht befassen, sondern Gebrauch machen von seinem klugen Rat, von seiner vernünftigen Überlegung, von seinem Urteil. Diese Vorzüge kommen dem Greis zu; sonst würden unsere Vorfahren ihr oberstes Ratskollegium nicht Senat, also "Versammlung der Alten", genannt haben.
Musik: (Klaus Burger) „Mosquito 1“ (blenden)
Atmo 1: (SeniorenTreff Friedrichshain)...Stimmen, Gespräche...(blenden)
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Take 8 - (Renate):
Wie meine Tochter, die doch diesen schweren Unfall hatte, da habe ich das alles aufgeschrieben, was man mir zu jeder Kleinigkeit gesagt hat. Und die lag ja lange im Koma und so und ich musste das ja alles… sonst wäre ich verrückt geworden.
Autor:
Schreiben kann lebensnotwendig sein: es gibt einen regelrechten "Atem der Worte", der belebend wirkt. Deshalb geht es im Friedrichshainer Literaturkreis eben auch nicht nur um Bücher, sondern auch um das eigene Schreiben, um das Festhalten der Gedanken, Gefühle und Ängste. Um die - auch in "Philosophischen Cafés" praktizierte - gemeinsame Erfahrung der eigenen und damit auch der menschlichen Existenz. Mit zunehmendem Alter summieren sich bei uns allen eine Menge Geschichten, eine Menge Gedanken, die dem Leben Richtung und Bedeutung gegeben haben. Sie zu erinnern, sie zu erzählen, aufzuschreiben, zu strukturieren, sie so einmal mehr und neu zu begreifen, kann oft hilfreich sein.
Take 9 - (Christina):
Und jetzt erzähle ich etwas ganz Persönliches: Ich bin vor ungefähr fünf Jahren vom Rheinland nach Berlin gekommen, weil hier meine Kinder leben. Ich habe so unter Heimweh gelitten, und ich habe einen Laptop zuhause, und da habe ich ständig alles aufgeschrieben - ich muss verzweifelt gewesen sein, dass ich da zugestimmt habe. Und wenn ich das heute lese… also das hat mir aber geholfen.
Autor:
Aber nicht nur Lesen, nicht nur Schreiben, auch nicht allein das Philosophieren helfen den Alten: Die Runde der Akteure in so einem Literaturkreis ermöglicht en passant auch Nähe und Vertrauen. Das Alter und seine gesellschaftliche Realität produzieren oft genug Trennung, Einsamkeit und Ängste, die zumindest an Abenden wie diesem aufgehoben sind.
Take 10 - (Gerhard):
Das hier ist mir so wichtig und so eine Erholung und bin ich so froh, dass ich aufgenommen worden bin. Er macht das toll, alle sind… jeder auf seine Art nett, jeder ist ein bisschen anders, aber jeder ist prinzipiell nett. Und das baut schon auf und das war ein guter Schritt hierher zu kommen, ja.
Autor:
"Er macht das toll!" Der alte Herr spricht einmal mehr von Wolfgang Kramer. Den übrigens, das betont der gut sechzigjährige Philosoph immer wieder, die Freude und Begeisterung seiner Senioren trägt, ihm Kraft gibt. Und Zuversicht. Und ihn zu ständig neuen Einfällen für die gemeinsamen Abende, die gemeinsame Lektüre inspiriert. Heute hat er den Text einer alten Dame aus einem seiner anderen Kurse mit gebracht. Liest ihn vor. Einen Text wie ein Manifest. Inmitten all der zunehmend beschleunigten Zeit, erinnert die Autorin sich und ihre Generation noch einmal an das Andere der eigenen Existenz. An eine Vergangenheit, die vielen heute kaum noch sagbar scheint: Alles längst nicht mehr wahr! Und doch.
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Take 11 - (Wolfgang Kramer):
Wir wurden noch vor dem Krieg geboren und sind noch Friedensware, Wir spielten noch mit Puppen und nicht mit Tamagotchis. Wir kannten noch keine Kontaktlinsen und noch nicht die Pille. Milch gab es noch in der Milchkanne beim Kaufmann an der Ecke und nicht im Tetrapack im Supermarkt. Wir nahmen gelegentlich noch die Zeitung und nicht Hakle-Feucht.
Musik: (Klaus Burger) „Mosquito 1“... (blenden)
Sprecher 6:
(Jacob Grimm) Nicht Opfer, nicht Gebete können das Alter fernhalten, wohl aber vermag dem Alter die stärkere und genährte o d e r die schwächere und verschwendete Lebenskraft jedes Menschen längeren oder nur kürzeren Widerstand zu leisten. Nimmer aber bleibt das Alter aus, es kündigt sich durch Zeichen, gleichsam geheime Boten, unversehens an und lässt sich als unwillkommener, uneingeladener Gast zuletzt nicht mehr abweisen.
Autor:
Jacob Grimm, Volkskundler, einer der Gebrüder. Im Jahre 1860, er war bereits Mitte 70, hielt er seine "Rede über das Alter". Und spricht sie aus, jene Wahrheit, die, will man sie hören, noch heute gilt.
Take 12 - (Giovanni Maio):
Es gibt uns nur um den Preis unserer Vergänglichkeit und je vergänglicher wir uns empfinden dürfen, desto kostbarer erscheint uns der Augenblick.
Autor:
Noch einmal Giovanni Maio. Genau wie Jacob Grimm im Jahre 1860 spricht er von der menschlichen Existenz, die nur um den Preis ihrer Endlichkeit zu haben ist. Und wie Wolfgang Kramer heute spricht er vom Augenblick und von dessen Kostbarkeit. Es sind in der Tat seit Jahrhunderten eine Menge philosophischer Weisheiten unterwegs, die das Alter betreffen. Manch einer sieht sie gar als Bestandteil einer regelrechten "Trostliteratur". Denn natürlich gibt es für die Alten auch immer genug zu klagen. Das weiß auch Jacob Grimm.
Sprecher 7:
(Jacob Grimm) Der Leib verfällt oder fällt ein, das Rückgrat biegt oder krümmt sich unter der Jahre Last, den Gliedern entgeht Glanz, Gelenkigkeit und Stärke... Das Ohr verliert seine feine Schärfe und empfindet Sausen und Pfeifen; die Stimme wird dünn, heiser und rau, mag nicht mehr lauter und rein aus der Brust gezogen werden.
Autor:
Das sind bittere Wahrheiten. Und es wird kaum reichen, gegen sie anzujoggen und auch der neueste Vitamin-B-Komplex kann die Schatten des Alters nicht vertreiben. Es könnte aber, so die Weisen unter den aktuellen Denkern, durchaus hilfreich sein, einmal die Perspektive zu wechseln und sich dem aktuellen Fitnesszwang und Jugendwahn zu entziehen. Giovanni Maio.
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Take 13 - (Giovanni Maio):
Letzten Endes eröffnet das Alter einen Impuls zum Nachdenken darüber, dass die Lebenszufriedenheit eben von anderen Zielen abhängig sein kann, als wir in den leistungsfähigen starken mittleren Jahren überhaupt vermuten können.
Autor:
Dem eigenen Leben oder dem der Anderen nach-denken, endlich zur Ruhe kommen, wenn's denn im Alter möglich ist,...nicht vor sich selbst davonlaufen, den hoffentlich noch kritischen und scharfen Verstand auf die manchmal blinde und wenig aufgeklärte Raserei unserer Welt richten. Und dabei nach Antworten suchen. Unser Land könnte solche Menschen brauchen.
Musik: (Klaus Burger) „Mosquito 1“ (blenden)
Atmo 1: (SeniorenTreff Friedrichshain)...Stimmen, Gespräche...(blenden)
Take 14 - (Wolfgang Kramer):
Die Schule begann mit Schiefertafel und Griffel, um das Schreiben und Rechnen zu üben. Eine Rechenmaschine hatte noch viele bunte Kugeln, nicht Tasten und Display. Die Korrespondenz mit der Familie und Freunden lief noch handschriftlich und nicht per Mail oder SMS. Wir kannten noch keine Stereoanlage, keinen Walkman, CD-Player, Wäschetrockner, Geschirrspüler, keine elektrische Waschmaschine oder Klimaanlage und haben doch überlebt.
Autor:
"Those were the days, my friend...!" All diese Rückblicke sind nicht wesentlich Gejammer, sondern lediglich Feststellungen: Alles war anders. Und wird anders. Demnächst schon. Und alles hängt mit allem zusammen. Wer von der Höhe seiner Jahrzehnte zurückblickt, versteht genau das. Manchmal.
Take 15 - (Renate):
Viele laufen ja vor vielen Dingen, die sie erlebt haben, weg. Ich bin da mal in so eine Situation gekommen, dass ich das alles aufarbeiten musste. Und lebe viel, viel besser mit meiner Vergangenheit, kann auch die bösen Seiten, alles heller betrachten. Ich kann damit umgehen, kann darüber reden und kann Ratschläge geben in gewissen Situationen - so wollen wir das mal formulieren.
Autor:
Hervorragend! Alte Frauen und Männer, die noch Ratschläge geben dürfen! Wie einst die faltigen Patriarchen im alten Rom. Ratschläge, die wohlmöglich auch noch gehört werden - gab es übrigens in den 1970er-Jahren nicht ein Chanson von Konstantin Wecker, in dem der damals noch relativ junge Barde beklagte, dass die Alten, "die noch so viel zu sagen haben", einfach "übersehen" werden? Daran hat sich nichts geändert. Es bleibt für viele Jüngere ein Problem, den Alten zuzuhören, weil sie in deren Erzählungen das Wesentliche ihrer eigenen Zukunft gespiegelt sehen: Verfall und Endlichkeit. Und genau das verdirbt nicht wenigen von ihnen die gute Laune. Allerdings auch den Alten, die sich zunehmend überflüssig fühlen.
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Take 16 - (Gerhard):
Die Einschläge kommen näher. Das Einzige was ich noch habe, ist meine Schwester, mit der ich jeden Tag telefoniere als Hauptkommunikation. Mein ältester Freund hat Demenz, das wird immer schwächer mit ihm sprechen zu können. Und unsere letzte Klassenkameradin, die ist auch weg.
Atmo 2: Vortrag... (blenden)
Take 17 - (Wolfgang Kramer):
In früheren Gesellschaften war der alte Mensch eine gefragte Person, weil nur er bestimmte Wissenszusammenhänge kennen konnte, Sein Erfahrungswissen, seine Weisheit zählen heute kaum noch, wir sind heute konfrontiert mit dem Weltwissen, wir gehen an den Computer, zu Google, klicken da was an...(blenden)
Musik: (Klaus Burger) „Mosquito 1“ (blenden)
Sprecherin 3:
(Silvia Bovenschen) Jetzt mehren sich die Diskussionen über die aktive Sterbehilfe. Ein Philosoph warnt: es könne doch kein Zufall sein, dass die Diskussion zur Zeit der leeren Kassen und der Überalterung unserer Gesellschaft aufkomme - recht hat er, das ist kein Zufall!
Autor:
Die Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen notierte diese Zeilen für ihren wunderbaren Essay "Älter werden" bereits im Jahre 2006. Schon damals, mehr als zehn Jahre vor ihrem Tod, wusste sie um die "Einsamkeit", die mit dem Alter einhergeht. Und viele alte Menschen traurig zornig und un-gehalten macht.
Sprecherin 4:
(Silvia Bovenschen) Einsamkeit: dass man, älter geworden, allein ist mit seinen Erinnerungen: dass die, mit denen Erinnerungsverabredungen bestanden, nicht mehr erreichbar oder gar nicht mehr sind, dass kaum etwas von dem, was öffentlich über die zurückliegenden Zeiten verlautbart wird, noch verträglich mit den privaten Rückblicken ist; dass die Jugenderinnerung für die jetzt Jugendlichen klingt wie eine Erzählung aus dem Dreißigjährigen Krieg.
Autor:
Ja, da staunen die Jüngeren,... wenn Bedürfnisse, Sprache und Aussehen der Alten nicht auf die Bilder passen, die gemeinhin in Prospekten, auf Plakaten und in Werbespots vermittelt werden: Frische, lachende, muntere Alte, die reisen, Motorrad fahren, ihre Yacht takeln und dank der richtigen Medikamente mit ihren Enkeln munter durch blühende Gärten hüpfen - ein Alter "so munter wie nie" wird versprochen. Und in der Tat: In den letzten Jahrzehnten ist zumindest die Lebenserwartung durch den medizinisch-technischen Fortschritt quantitativ mächtig gestiegen.
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Sprecherin 5:
Auf Basis der Sterbetafel von 2014/16 beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung eines männlichen Neugeborenen 78,31 Jahre und die Erwartung für ein neugeborenes Kind weiblichen Geschlechts 83,2 Jahre.
Autor:
Die Zahl der Menschen mit hohem Alter nimmt ständig zu. Mein wilhelminischer Großvater indes - Gott habe ihn selig - war schon mit 65 Jahren alt, ging bereits am Stock, trug Hut und Weste - heute müsste er im offenen Sportwagen zum Golfplatz fahren...wenn er sich das leisten könnte.
Take 18 - (Heinz Schlaffer):
Das Alter beginnt immer später, je länger die Menschen leben. Und das schafft gerade heute wohl die Illusion, wie alt man auch immer ist: das Alter wird erst demnächst beginnen. Jetzt ist man immer noch jung.
Autor:
Heinz Schlaffer. Jener Stuttgarter Germanist, der sich schon lange Zeit Gedanken zum Thema "Achtung und Entmachtung" macht. Sich also fragt, wie den Bürgerinnen und Bürgern Respekt und Beteiligung mit zunehmendem Alter verloren gehen. Und der auch - eigensinnig genug - Gründe dafür gefunden hat.
Take 19 - (Heinz Schlaffer):
Die Pensionierung ist die vom Staat auferlegte Nötigung ins Alter einzutreten. Weshalb für viele die Pensionierung dann auch als Schock erfahren wird, weil sie dann im Altenteil sitzen.
Autor:
Und plötzlich bist du draußen und schaust durch die Geranien. Suchst Deinen Platz und findest ihn nicht. Wunderst dich - angesichts deines Rentenbescheids - über die angeblich vergnügliche Scheinexistenz, die dem Alter öffentlich zugewiesen wird und weißt doch: sie meinen nicht dich. Wer tatsächlich nachfragt, hört neben all dem angeblichen Jubel der Pensionisten auch das ganz Andere. Von einer über 80jährigen. Zum Beispiel.
Take 20 - (alte Frau):
Eine immense Belastung, die alle Kraft verlangt, viel mehr als je zuvor irgendeine Lebensphase. Weil sie keine Hoffnung mehr haben und vor allem, weil es sehr, sehr wenig Menschen gibt, die sich ihrer annehmen. An Zuwendung zu gelangen, ist fast unmöglich. Sie sind nicht mehr interessant.
Sprecher 8:
(Norberto Bobbio) In einer Gesellschaft, in der alles sich kaufen und verkaufen lässt, wo alles einen Preis hat, kann auch das Alter zu einer Ware wie jede andere werden. Wer sich nur einmal umschaut, das eigene Blickfeld ausdehnt bis in die Altersheime und Krankenhäuser oder bis in die kleinen Wohnungen der armen Leute, die einen alten Menschen zu Hause sitzen haben, der ständig überwacht und gepflegt werden muss, wird sofort erkennen, wie verlogen diese keineswegs uneigennützige, sondern
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aus Eigennutz schmeichelhafte Darstellung des Mottos "Das Alter genießen" ist. Ein banaler Slogan, passend zur Gesellschaft der totalen Vermarktung, ein Slogan, der an die Stelle des Loblieds auf den ehrbaren und weisen Alten getreten ist.
Autor:
Der italienische Philosoph Norberto Bobbio, Jahrgang 1909. Wenige Jahre vor seinem Tod - er starb im Jahre 2004 - hat sich der Denker noch einmal hingesetzt und seine eigenen Erfahrungen mit dem Alter zum Gegenstand philosophischer Betrachtungen gemacht: "Vom Alter - De Senectute", so der Titel seines Buches in Anlehnung an den bereits eingangs gehörten Cicero, der dem Alter noch huldigte. Bobbios klare und kritische Betrachtungen hingegen setzen sich mit der Kälte der Postmoderne auseinander und kommen so schonungslos wie authentisch daher - ein Ansatz, der dem alten Herrn in Italien mehr als eine Million verkaufte Bücher bescherte! Es gibt offensichtlich bei Vielen das dringende Bedürfnis nach einem Blick, der nicht verklärt, nach jemandem, der noch weiß, wovon er spricht.
Es ist auch nicht so, dass Bobbio in seinem Buch nur Defizite aufzählt - er weiß auch von den Qualitäten des Alters. Nicht zuletzt weiß der alte Philosoph von der Möglichkeit, im Alter endlich nach dem Sinn des Lebens zu fahnden. In das unübersichtliche Getümmel der Monitore und Transhumanen, deren Agenten schon lange nicht mehr nach Sinn und Unsinn fragen, setzt Norberto Bobbio einen alten Mann und eine alte Frau. Beide haben Zeit. Und letzte Fragen. Für sie weiß er Rat.
Sprecher 9:
(Norberto Bobbio) Du solltest Deine Zeit nicht damit verbringen, Pläne für eine weit entfernte Zukunft zu machen, zu der du nicht mehr gehörst, sondern lieber versuchen, den Sinn oder Nicht-Sinn deines Lebens zu verstehen. Konzentriere dich. Verschwende die kurze Zeit nicht, die dir noch bleibt. Gehe deinen Weg in Gedanken noch einmal. Die Erinnerungen werden dir helfen. Das Erinnern ist eine geistige Tätigkeit, die du oft scheust, weil sie mühevoll oder peinlich ist. Doch es ist eine heilsame Tätigkeit. In der Erinnerung findest Du dich selber wieder, deine Identität.
Autor:
In sich selbst unterwegs sein, durch die Vielfalt der eigenen Erinnerungen reisen, schreibend, lesend, diskutierend einen späten Eigensinn entwickeln und dabei einmal mehr lebendig werden: Ob solcher Empfehlungen wird die Verwandtschaft des italienischen Philosophen Norberto Bobbio mit seinem noch älteren Heidelberger Kollegen Hans-Georg Gadamer deutlich: Gadamer war es, der in seinen späten Interviews gern betonte, dass "im Alter die Kindheit aufwacht". An die Stelle der Zukunft, die mit zunehmendem Alter "dahin schmilzt", tritt die "Fruchtbarkeit der Vergangenheit" - "Das ist ein Gleichgewicht des Lebens", so Professor Gadamer, der mit dieser Balance immerhin 102 Jahre alt wurde.
Musik: (Klaus Burger) „Mosquito 1“ (blenden)
Atmo 1: (SeniorenTreff Friedrichshain)...Stimmen, Gespräche... (blenden / unterlegen)
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Take 21 - (Renate):
Ich lese alles, alles was ich in die Finger kriege, schon von Jugend an, ich lese alles. und jetzt diese...(blenden/kurz unterlegen)
Autor:
Natürlich gehören Textauszüge aus Bobbios Buch über das Alter und auch die Betrachtungen Gadamers zu den Lektüren der Seniorinnen und Senioren im Literaturkreis des Berliner Philosophen Wolfgang Kramer. Genauso wie die Rede des Jacob Grimm, Sätze von Jean Amery über "Das Alter als unheilbare Krankheit" oder auch die zentrale Fragestellung von Simone de Beauvoir:
Sprecherin 6:
Wie müsste eine Gesellschaft beschaffen sein, damit ein Mensch auch im Alter Mensch bleiben kann?
Autor:
Ich kann es nicht anders sagen: Das Engagement, die Neugier der Alten im Literaturkreis rührt an. Sie brauchen all die Sätze, sind immer noch hungrig, wollen wissen und geben sich nicht auf.
Take 22 - (Ilka):
Weil ich denke, jedes Alter sollte gleichwertig sein, sollte akzeptiert sein, egal wie alt. Jedes Alter hat seine Berechtigung. Ich mag diese Unterschiede überhaupt nicht. Ich hoffe, dass ich noch viel reisen kann, das mache ich sehr gerne, solange ich das noch kann ist okay. Und ansonsten, ja, na ja, das Leben ist schon ein bisschen absurd. Da kann man nichts dran ändern, leider.
Take 23 - (Christina/kommt aus dem OFF ins ON):
Ihr kennt ja meinen Spruch: Die Zukunft wird immer kürzer, somit wird die Gegenwart viel wertvoller! Und genießt sie!
Atmo: (SeniorenTreff Friedrichshain)...Machen wir...genau! (blenden)
Musik: (Klaus Burger) „Mosquito 1“ (hoch und Ende)
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