Framing | So verändert Sprache unser Denken und wie man mit Sprache manipulieren kann . H. W. Giessen

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Framing | So verändert Sprache unser Denken und wie man mit Sprache manipulieren kann . H. W. Giessen
SWR2 Wissen
Sendung vom: Montag, 3. Oktober 2022, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary .Produktion: SWR 2022
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Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Vorblick
Ist es ein Unterschied, dass für Franzosen die Sonne einen maskulin ist, im Deutschen jedoch feminin? Verändert das Gendern unser Denken?

Autor
Professor Hans W. Giessen ist Informationswissenschaftler an der Universität des Saarlandes. Er ist außerdem an der Universität Helsinki (Finnland) tätig und hat eine Professor an der Jan-Kochanowski-Universität im ponischen Kielce.

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MANUSKRIPT
Anmoderation:
Mit dem Thema: Framing – So verändert Sprache unser Denken“. Am Mikrofon: Ralf Caspary.
Ist es ein Unterschied, wenn für die Franzosen die Sonne maskulin ist und für die Deutschen feminin? Wie verändert das Gendern unser Denken? Denken wir, wenn wir "Ärzte" sagen, wirklich nur an Männer, wenn wir hingegen "Ärzt*innen" sagen, gleichermaßen und gleichberechtigt an Frauen und Männer? Zu diesen Fragen gibt es viele psychologische und sprachwissenschaftliche Studien. Der Informationswissenschaftler Hans W. Giessen von der Universität des Saarlandes beleuchtet den Zusammenhang von Sprache und Denken.


Hans W. Giessen:
Immer wieder fallen die unterschiedlichen Artikel in den unterschiedlichen Sprachen auf. Fangen wir bewusst mit einem unscheinbaren Beispiel an: Auf Deutsch ist „die Sonne“ weiblich; dagegen ist sie auf Französisch männlich: „le soleil“. Umgekehrt übrigens „der Mond“: männlich auf Deutsch, weiblich auf Französisch – „la lune“. Fraglich ist nun, ob dies auch Konsequenzen für das Weltverständnis der jeweiligen Sprecher hat. Schwingt bei romantischen Liedern vom Kuss im Mondschein etwas anderes mit, wenn der Mond ein anderes Geschlecht hat? Auf den ersten Blick vielleicht nicht, oder die Akzente sind so subtil, dass man sie kaum merkt. Aber offenbar gibt es doch Unterschiede. Man erkennt sie an spezifischen Nutzungen der jeweiligen Wörter, die in der jeweils anderen Sprache so nicht auftreten würden oder könnten. Bleiben wir bei der Sonne. So ist aus ,deutscher’ Sicht merkwürdig, dass sich ein so machtbewusster und auch brutaler Monarch wie Ludwig XIV. ,Sonnenkönig' nannte, verbinden die Deutschen doch die weibliche Sonne mit ,Wärme', ,Licht' oder ,Wachstum'. Aber im Französischen heißt es ,der Sonne', „le soleil“, das passt eher zum mächtigen Herrscher, um den herum sich alle zu fügen haben und von dessen Licht und Macht alle abhängen.
Gerade solche Nebennutzungen wie bei „die Sonne“ und „le soleil“ zeigen, dass es unterschiedliche Wirkungen gibt.
Die Forschung scheint diese Beobachtung zu bestätigen. So ist ,die Brücke' im Deutschen weiblich, im Französisch oder Spanischen aber männlich: „le pont“, ’el puente’. Bezüglich des Fotos einer Brücke haben Wissenschaftler der Stanford University in Kalifornien unter Lera Boroditsky Probanden aus beiden Sprach- und Kulturkreisen gefragt, wie man das Bauwerk am besten beschreiben kann. Offenbar entschieden sich die meisten Romanophonen für eher männliche Eindrücke wie ,kräftig’ oder ,gigantisch’; die Germanophonen hatten Assoziationen wie ,elegant’ oder ,schön’. Umgekehrt heißt ,der Schlüssel’ – männlich auf Deutsch – auf Spanisch ’la llave’ –weiblich –, und ein Schlüssel wird von Spaniern dann viel häufiger als ,komplex’, ,niedlich’ oder gar ,klein’ beschrieben, während die Deutschen einen Schlüssel eher als ,hart’, oder ,schwer’ empfanden. Schließlich: Darstellungen des Todes sind im deutschen Sprachraum überwiegend männlich (wir denken an den
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,Sensenmann’ oder den ,Gevatter Tod’), während er im Französischen, aber auch in den slawischen Sprachen mit einem weiblichen Artikel erscheint: „la mort“ auf Französisch, „śmierć“ auf Polnisch, „смерть“ auf Russisch. Und tatsächlich scheinen in den slawischen Ländern Darstellungen, allegorische Bilder des Todes in der Regel weiblich zu sein; das Sinnbild des Todes ist dort offenbar zumeist eine Frauenfigur (Boroditsky / Schmidt / Phillips 2003).
Diese Beobachtungen scheinen doch einen kleinen Indikator dafür darzustellen, dass die jeweilige Sprache Konsequenzen dafür hat, wie wir die Welt sehen, wie die Welt bewertet wird. Die Unterschiede sind – an dieser Stelle – vielleicht nicht entscheidend oder gar gravierend, aber sie existieren.
Bei der Frage, ob und in wie weit die Sprache unser Denken prägt, scheint es sich mithin um einen vielleicht nicht entscheidenden, aber andererseits auch oft übersehenen Aspekt bezüglich der Verständigung und auch der möglichen Verständigungsprobleme (und das ist ja gravierender) zwischen zwei Völkern zu handeln. Bleiben wir beim Deutschen und beim Französischen, bei Deutschland und Frankreich. Es ist ein alter Topos, dass es zwischen beiden Völkern Differenzen in der Sprachbenutzung und im Verhalten der Menschen gebe. Schon 1822 hatte Wilhelm von Humboldt geschrieben:
„Insofern aber die Sprache, indem sie bezeichnet, eigentlich schafft, dem unbestimmten Denken ein Gepräge verleiht, dringt der Geist, durch das Wirken mehrerer unterstützt, auch auf neuen Wegen in das Wesen der Dinge selbst ein. (…) Einige Nationen begnügen sich gleichsam mehr an dem Gemälde, das ihre Sprache ihnen von der Welt entwirft, und suchen nur in sie mehr Licht, Zusammenhang und Ebenmaß zu bringen. Andre graben sich gleichsam mühseliger in den Gedanken ein, glauben nie genug in den Ausdruck legen zu können, ihn anpassend zu machen, und vernachlässigen darüber das in sich Vollendete der Form. Die Sprachen beider tragen dann das Gepräge davon an sich.“ (1822/1905. 428)
Tja, manche loben die Eleganz der französischen Sprache; sicherlich auch Humboldt, der Französisch im Übrigen perfekt beherrschte. Aber er sagt, diese Eleganz, dieses sprachliche Funkeln, das man mit dem Französischen verbindet, führe dazu, dass man allzu sehr auf die Wirkung achte. Gewisse Eigenschaften der Sprache hätten also, so Humboldt, einen ganz charakteristischen Umgang mit der Sprache zur Folge. So hätten Wirkung und Effekt, nach seiner Meinung, im Französischen eben einen höheren Stellenwert als im Deutschen. Und er führt den Gedanken weiter: Wenn man durch die Sprache so sehr auf glitzernde Äußerlichkeiten gedrillt werde, verhalte man sich auch ansonsten anders. Diese Position war damals weit verbreitet. Hölderlin sagte, die Deutschen seien tatenarm und gedankenvoll, im Unterschied zu den Franzosen, die sich, um noch einmal Humboldts Zitat aufzugreifen, gleichsam mehr an dem Gemälde begnügen, das ihre Sprache ihnen von der Welt entwirft.
Aber selbst wenn es stimmen sollte, dass Franzosen sich mehr am funkelnden Schein begeisterten als die Deutschen, und diese wiederum stärker zu tiefsinnigen Gedanken neigen sollten (und ich weiß wirklich nicht, ob das tatsächlich so stimmt), dann könnte die Wechselwirkung auch genau andersherum sein. Weil man sich in Frankreich so sehr an Eleganz erfreut – und die herrschenden Klassen, mit dem
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König an der Spitze, dies aufgrund historischer Konstellationen in prägenden Phasen der Geschichte auch leben und ausdrücken konnten –, legt man auch Wert auf eine elegantere Sprachgestaltung. Auch so herum könnte es gewesen sein. Die Ursache läge dann in historischen Zufällen, oder aber auch im ,Volkscharakter’, um ein etwas altmodisches Wort zu wählen – altmodisch auch deshalb, weil es zwar wohl übergreifende (im Übrigen auch empirisch messbare) Werte und Tendenzen in Abhängigkeit zur Herkunftsnation gibt, aber wohl keinen ganz einheitlichen ,Volkscharakter’. Aber wie herum auch immer, in beiden Fällen würde es doch und immerhin bedeuten, dass es ein Wechselspiel zwischen dem vorherrschenden Lebensgefühl in einer Sprachgemeinschaft und eben der jeweiligen Sprache gebe.
Ist also die Sprache Ausdruck jeweils unterschiedlicher Präferenzen, Geisteshaltungen, prägender Welt- und Wertvorstellungen? Oder prägt die Sprache vielleicht sogar umgekehrt unser Denken, zumindest ein wenig? Das wird gerade in der letzten Zeit wieder häufig diskutiert, zum Beispiel bei der Frage, ob man Genderformen benutzen soll, oder im Rahmen der Debatte, ob man Denken sprachlich beeinflussen kann oder, wie es im Fachterminus heißt, framen kann. Solche Debatten sind immer auch Ausdruck dafür, dass sich gesellschaftliche Wertvorstellungen ändern.
Humboldt hat seine These auch vor dem Hintergrund formuliert, dass die Franzosen unter Napoléon gerade die deutschen Länder erobert hatten und es nun galt, das für diese Länder Einigende zu definieren und den Gegensatz zu den Eroberern herauszustellen. Es ging ihm auch darum, das Anders-Sein darzustellen (und zu begründen bzw. eine Ursache dafür zu finden). Der Gedanke kann auch gefährlich sein: Wenn man aufgrund der jeweils anderen Sprache unterschiedlich denkt, und die Welt unterschiedlich bewertet, ist gegenseitiges Verständnis schwer herstellbar. Das Anders-Sein dominiert. In der Tat kann also bereits die Existenz dieser These zur Vorstellung führen, dass Verständigung nicht möglich sei.
So weit ist Wilhelm von Humboldt allerdings nicht gegangen; und auch diese sehr negative Konsequenz ist nicht zwangsläufig. Immerhin war Humboldt mit dem Gedanken, dass Sprache und Weltverständnis miteinander zusammenhängen und es sprachabhängige Unterschiede gebe, nicht allein.
Lassen wir nun endlich die Katze aus dem Sack: Über das Thema Framing habe ich vor einiger Zeit einen ,Aula’-Beitrag verfasst. Dabei ging es darum, dass die Sprache in der Tat das Denken prägen kann, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Wird die Diskrepanz zwischen Welterfahrung und dem, was man sprachlich vorgesetzt erhält oder ausdrücken kann, allzu groß, verändern die Sprecher ihre Sprache. Sie schaffen neue Worte, neue semantische Räume. Also kann Sprache zwar, manchmal, ein wenig das Denken beeinflussen, aber letztlich dominieren das Denken und die Welterfahrung, und die Sprache passt sich dem an und bringt zum Ausdruck, was man erfahren und gedacht hat.
Soviel zum damaligen Beitrag. In diesem Zusammenhang hatte ich auch die Beispiele erwähnt, die mit dem grammatischen Geschlecht in unterschiedlichen Sprachen einhergehen, also „die Sonne“, „le soleil“; „die Brücke“, „le pont“, el puente’; „der Schlüssel“, ’la llave’.
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Der Beitrag hat offenbar viele Hörer interessiert, und ich bekam verschiedene Rückmeldungen. Die Redaktion wird sich freuen: Die Hörerreaktionen kamen aus dem Sendegebiet, aber auch darüber hinaus, aus Deutschland, aus Belgien, aus Luxemburg und aus Österreich, sowie sogar aus dem englischsprachigen Ausland, teilweise sogar von Hörern, die keine deutschen Muttersprachler sind.
Interessanterweise bezogen sich die meisten Rückmeldungen auf die Frage mit dem grammatischen Geschlecht. Die meisten fanden das Thema offenbar besonders interessant und waren gerade diesbezüglich besonders neugierig. Andere waren auch ein wenig kritisch. Ein Hörer betonte, dass beispielsweise das Genus des eher männlich anmutenden französischen Wortes „patrie“ – Vaterland –, das sich etymologisch auch im Französischen von „pater“, also „Vater“ herleitet, trotzdem weiblich sei: „la patrie“. Damit hat er natürlich Recht. Es gibt übrigens noch bizarrere Beispiele: der Rekrut, also ein Soldat – ein Beruf, der nicht nur in Frankreich jahrhundertelang nur von Männern ausgeübt wurde –, heißt auf Französisch „la recrue“. Und obwohl das Wort ein – grammatisch – weibliches Geschlecht hat, denkt wohl niemand an eine Frau, wenn er es hört. Ebenso wenig wie bei „der Krieg“, „la guerre“.
Natürlich relativiert der Hörer mit seinem Hinweis auf „la patrie“ ein wenig die Forschungsergebnisse von Lera Boroditsky und ihrem Team von der Stanford University, auch wenn deren Ergebnisse sicher methodisch sauber gewonnen wurden und korrekt sind. Aber es sind vermutlich nur schwache Effekte, die Boroditsky gemessen hat, die von anderen – in dem Fall: semantischen – Einflüssen offenbar auch leicht überlagert werden können. Letztlich erscheinen mir solche Hinweise sogar eine Bestärkung in meiner Vermutung zu sein, dass die Sprache das Denken prägen kann, dass aber neue Notwendigkeiten aufgrund verschiedener Entwicklungen oder auch ganz simpel andere Welterfahrungen oder semantische Prägungen doch wichtiger sind.
Dennoch: Zumindest als schwache Effekte scheinen sprachliche Prägungen Auswirkungen auf unser Denken und Fühlen haben zu können, also zumindest ein bisschen: dann, wenn keine anderen Welterfahrungen dem entgegenstehen. Wenn es also sozusagen Leerstellen im Gehirn gibt, noch unbeeinflusst von anderen Erfahrungen und Prägungen, dann wirkt sich Sprache aus, dann prägt sie das Denken. Aber daraus folgen sofort weitere Fragen, die ebenfalls von Hörern gestellt wurden. Wie und wann kann sich das Denken ändern, wenn man in der prägenden Zeit seiner Jugend mit einer spezifischen Vorstellung aufgewachsen ist, wenn diese Vorstellung alles ist, was das Denken geprägt hat, und daher nun dominiert? Kann sich das ändern?
Bleiben wir bei den unterschiedlichen grammatischen Geschlechtern einzelner Wörter. Das war, wie gesagt, das Thema, das von den meisten Hörern angesprochen wurde, die geschrieben haben. Eine andere Mail leitet aus dem Thema eine neue Frage ab: „Mich würde interessieren“, schreibt der Hörer, „ob es Forschungen gibt, die untersuchen, wie die Beeinflussung der Sprache auf die Art zu denken bei Mehrsprachlern abläuft. Das ist aus einem gewissen Eigeninteresse heraus, denn obwohl Deutsch meine Muttersprache ist, habe ich relativ früh Französisch gelernt und in Französisch studiert. Ich darf mich also zumindest perfekt zweisprachig bezeichnen.“ Nun arbeitet er in einem internationalen Umfeld, offenbar
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mit Englisch als weiterer Arbeitssprache. Er ist mit einer französischsprechenden Frau verheiratet. Die Kinder sind dreisprachig aufgewachsen: einerseits mit der Umgebungs- und Schulsprache, zudem, wie er schreibt: „Französisch mit ihrer Mutter und Deutsch mit mir. Wir sind also diese „geistige Gymnastik“ des permanenten Wechsels zwischen den Sprachen gewohnt“, so schließt er.
Ja, wie ist das eigentlich mit Menschen, die sowohl mit „die Sonne“, als auch mit „le soleil“ aufwachsen, mit „la mort“ oder mit „der Tod“, dann aber die Sprache wechseln (und nicht nur als Fremdsprache, die eben als fremd empfunden wird, aus der kein unmittelbares Lebensgefühl resultiert). Wie erleben Menschen die Welt, die tatsächlich mehrsprachig sind?
Offensichtlich führt das nicht dazu, dass es zu schizophrenen Ausfällen kommt. Dass es inzwischen viele Menschen gibt, die so leben und ganz offensichtlich mental gesund sind – vielleicht sogar mehr als nur gesund: Der Hörer schreibt ja explizit von der „geistigen Gymnastik“, die vielleicht sogar zu einer besonderen geistigen Beweglichkeit führt, welche Sprecher nur einer Sprache gar nicht haben können; – dass es inzwischen also viele Menschen gibt, die so leben, belegt ja (erneut), dass es sich sprachlicherseits wohl nur um schwache Effekte handelt beziehungsweise handeln kann.
Um schwache Effekte – und wenn man sich ihnen stellt, wird man nicht verwirrt. Wenn es denn Effekte geben sollte, wird man eher geistig offener, regsamer.
Aber immerhin, auch wenn es nur um recht schwache Effekte geht, sind nicht alle Fragen geklärt. Deshalb das Interesse des Hörers, der wissen will, ob es Forschungen gibt, die untersuchen, wie diese Effekte bei Mehrsprachlern vonstattengehen. Vielleicht wäre auch von Interesse, wie es bei denjenigen ist, die in einem späteren Lebensjahr die Sprache wechseln. Etwa bei Menschen wie Elias Canetti, der in Bulgarien geboren wurde und mit Bulgarisch aufwuchs, dann mit seinen Eltern nach England auswanderte, so dass Englisch die Zweitsprache war. Erst nach dem Tod des Vaters zog die Familie in den deutschsprachigen Raum, nach Wien. Deutsch war also erst die dritte Sprache des jungen Elias; er lernte sie erst mit zwölf Jahren. Und war doch so gut darin, dass er später seine Bücher auf Deutsch geschrieben hat, allgemein als deutschsprachiger Autor angesehen wird und stilistisch auf einem solchen Niveau schrieb, dass man nicht nur nicht merkte, dass Deutsch eben nicht seine Muttersprache war, sondern dass er für eben seine deutschsprachigen Werke 1981 den Literaturnobelpreis erhielt.
Aber das Merkwürdige ist, dass es dazu sehr wenige wissenschaftliche Studien gibt. Die Globalisierung und solche internationalen Schicksale sind ja ein historisch recht junges Phänomen. Früher ging man davon aus, dass Sprach- und Kulturräume eher abgeschlossen sind und dass es sehr genau unterscheidbare Kulturen gibt, die in der Regel – oder, wie man sogar meinte: im Idealfall – mit den Nationen identisch seien. Bekannt ist das Kugelmodell von Johann Gottfried von Herder, der 1774 schrieb, dass jede Nation ihren Mittelpunkt in sich hat, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt. Dieses Modell hat, wie wir wissen, lange nachgewirkt und eigentlich erst im vergangenen Jahrhundert seinen unrühmlichen Höhepunkt erfahren. Natürlich hat sich die Welt seither verändert, und auch die Forschung. Aber auch Linguisten wie Benjamin Lee Whorf hatten noch in der zweiten Hälfte des vergangenen
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Jahrhunderts postuliert, dass Sprache (also sowohl der Wortschatz als auch die Grammatik) und das Denken eng miteinander zusammenhängen, so dass die Sprecher einer Sprache jeweils auch ein wenig anders denken und empfinden als die Sprecher einer anderen Sprache. Und die Vertreter des Framing-Gedankens gehen immer noch davon aus. Und, wie gesagt: ganz unrecht haben sie nicht. Aber aufgrund der Vermutung von starken Wirkungen werden solche schwachen Effekte wie kleine Einstellungsveränderungen durch ein anderes grammatisches Geschlecht in einer zweiten Sprache bisher eben kaum untersucht.
Also bin ich der Sache nachgegangen. Ich kann also bestätigen, dass die „Aula“ und die Hörer mit ihren Reaktionen dazu beigetragen haben, dass wir ein Forschungsprojekt initiiert haben.
Noch handelt es sich um eine explorative Vorstudie, von der ich berichte. Aber vielleicht ist es auch ganz interessant, wenn ich berichte, ob und wie daraus neue Resultate entstehen.
Zunächst sind wir davon ausgegangen, dass die vorhin geschilderten Resultate beispielsweise des Teams um Lera Boroditsky korrekt sind. Deutsche erleben demnach eine ein klein wenig andere semantische Füllung, wenn sie das Wort „der Schlüssel“ (männlich) hören, als Spanier, die ’la llave’ (weiblich) hören. Es geht also nicht darum, diese Studie ganz simpel zu replizieren. Die Frage ist, ob die ,ursprüngliche’ semantische Füllung bleibt, wenn eine neue Sprache dazu kommt, die nun so selbstverständlich gesprochen wird, dass sie keine ,Fremd’-Sprache mehr ist.
Das ist sozusagen ,kleine’ Forschung, und sie bezieht sich auf ,schwache’ Effekte. Aber die Fragestellung dahinter ist nicht klein: Selbst, wenn es solche kleinen Unterschiede gibt: prägen sie uns? Wie sehr? Für unser ganzes Leben? Unveränderbar?
Also müssen, wie bei Lera Boroditsky, die mit dem Begriff verbundenen Bewertungen abgefragt werden. Um valide und reliable Ergebnisse zu gewinnen, sollte sich die gesamte Untersuchung (sollen sich alle Befragungen) auf dieselben Begriffe beziehen. Auch andere Variablen sollten möglichst gleichgehalten werden (z.B. das Geschlecht oder das Alter). Da uns die Frage interessiert, was die Werturteile prägt, soll lediglich die Variable der Alltagssprache eine Rolle spielen. Es wird also geklärt, ob jemand, der mit einer Muttersprache aufgewachsen ist, nun aber in einem anderen Sprachraum nicht nur lebt, sondern auch sprachlich ,zu Hause’ ist, manche Dinge ein wenig anders sieht. Wichtig sind also die strenge Überprüfung der Muttersprache und ihrer Kenntnisse sowie die Frage, ob die neue Sprache aus dem Land, in dem man jetzt lebt, weil man hier arbeitet und / oder hierher geheiratet hat, ebenso gut beherrscht wird.
Wir haben das mit deutschen Muttersprachlern, die in Frankreich leben, und französischen Muttersprachlern, die in Deutschland leben, untersucht. Ansonsten sollten, wie gesagt, alle weiteren Effekte ausgeschaltet werden. In einem ersten Gedanken wollten wir Jugendliche befragen. Aber da formt sich ja erst noch die Muttersprache – uns geht es ja um die ,neue’ Alltagssprache. Und: Weil wir Diskussionen vermeiden wollten, ob die geistige Elastizität langsam abnimmt oder ob
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ein Geschlecht vielleicht leichter mit Sprache umgehen kann als das andere, ging es nur um Erwachsene eben einer bestimmten Alterskohorte und darum, gleich viele Männer wie Frauen zu befragen. Dennoch bleiben natürlich genug Unsicherheiten. Gibt es beispielsweise Unterschiede zwischen Menschen, die vom Beruf abhängen – gibt es Berufe, die mehr geistige Flexibilität fordern, so dass diejenigen, die sie ausüben, anders mit solchen Effekten umgehen als andere, die vom Berufsleben nicht so sehr auf solche Dinge hin trainiert wurden? Das wäre ein Störeffekt, der existieren kann, den wir hier aber nicht aufgreifen und berücksichtigen können.
Was sind nun unsere ersten Resultate? Tatsächlich gibt es Unterschiede. Bleiben wir – erneut – bei der „Sonne“, „le soleil“. Franzosen, die wenig oder kein Deutsch können, bestätigen natürlich, dass die Sonne die Voraussetzung für Leben ist, aber sie empfinden sie auch als drückend und assoziieren mit ihr Hitze, Schwere, manchmal gar Lähmung, wie uns ein Südfranzose sagte, der einen Ausdruck seiner Heimatregion zitierte, wonach sie auch „der Dämon des Mittags“ sei.
Aber auch dieses kleine Beispiel zeigt, wie schwer es mitunter ist, aus solchen Beobachtungen allgemeingültige Aussagen abzuleiten. Tatsächlich liegt Frankreich natürlich auch südlicher, so dass die Sonne auch von daher ,heißer’ und ,drückender’ sein kann. Eine Französin, die mit einem Deutschen verheiratet ist und nun mit ,deutschem Klima’ lebt, empfindet das natürlich nicht so. Ist es also die Sprache oder in diesem Fall vielleicht sogar die Geographie? Da alle mehrsprachigen Befragten aus dem deutsch-französischen Grenzraum stammen, spricht doch einiges für die Sprache.
Hier lassen sich nun gewisse Effekte beobachten, aber in der Regel nicht so, dass die ,neue’ Bedeutung die ,alte’ einfach ersetzt. Eine Französin, die mit einem Deutschen verheiratet ist, bestätigte, dass sie ,französische Empfindungen’ habe, wenn sie „la lune“ höre, während sie bei „der Mond“ eher Deutsch empfände, aber es dominiere die Symbolik der Weiblichkeit, auch wenn sie auf Deutsch ,der’ Mond sage. Dagegen war sie mit der ,französischen’ Interpretation des Wortes Sonne nicht einverstanden, das für sie keine kriegerische Bedeutung aufweise. „Die Sonne“ symbolisiere beides für sie: „Macht, aber mehr durch ihre Ausstrahlung (die auch intellektuell, kulturell sein kann), Licht (also Wissen), Wärme, Leben“.
Ein anderer Informant, der zunächst Deutsch lernte, im Beruf aber ausschließlich Französisch redete (und nun Rentner ist), lehnte eine Festlegung ganz ab: „Le soleil“ verkörpere „zweifellos die Männlichkeit der Macht“, aber auch Licht und Wärme, die „somit auch im Wesen weiblich wäre.“ Soweit seine Aussage. Dies kann darauf deuten, dass für ihn solche semantischen Eindrücke verwirrend sind, es kann aber auch bedeuten, dass eine Dichotomie seinen Eindrücken gänzlich widerspricht.
Die Ergebnisse der explorativen Vorstudie sind also widersprüchlich. Wenn wir quantifizieren, erhalten wir bei Muttersprachlern, die nur ihre eigene Sprache sprechen, ähnliche Werte wie bei Lera Boroditsky. Dagegen sind zweisprachige Informanten unserer Zielgruppe, also Erwachsene, die nun überwiegend in der anderen Sprache reden und denken, deutlich ambivalenter. Die Vorstellungen der zweiten Sprache sind aber stets schwächer als diejenigen der ursprünglichen Muttersprache. Viele lehnen die alten wie die neuen semantischen Konnotationen
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ab. Auch dieses Resultat wird immer wieder bestätigt, und lässt sich auch statistisch erhärten.
Es lässt sich mithin feststellen, dass es in der Tat eine Auswirkung der ,neuen’ Alltagssprache gibt, die sich belegen lässt. Sie führt aber nicht dazu, dass eventuell die ganz anderen, ,neuen’ Eindrücke der ,neuen’ Sprache dominieren, oder dass sich das Denken oder zumindest die Empfindungen mit der Sprache ändern, die man gerade benutzt. In der Regel, und das ist das eigentliche, was sich belegen lässt, lehnen solche Zweisprachler, die als Erwachsene eine neue Sprache ,dazu’ erhalten haben, spezifische semantische Vorstellungen eher ab. Sie akzeptieren offenbar die Komplexität der Situation und wollen nicht das eine durch das andere immer wieder ersetzen. Sie reiben sich auch nicht mehr an solchen Widersprüchen, sondern akzeptieren sie.
Aber das ist ja auch ein interessantes Resultat. Nicht immer bestätigt die Forschung ,eins zu eins’, was anhand der Fragestellung nahe zu liegen scheint. Nicht die Übernahme der semantischen Bedeutung der Sprache, in und mit der man gerade spricht (wenn man eben zweisprachig ist) oder gar grundsätzlich die Empfindungen, die mit der neuen Alltagssprache verbunden sind, dominieren. Dann, wenn es nicht besonders wichtig ist, bleibt die ,alte’ Bedeutung der Muttersprache bestehen. Zumeist aber entsteht ein neuer Zustand: die Überwindung der alten Vorstellungen, aber eben keine neuen Vorstellungen, kein scheinbarer ,Ersatz’.
Ist das gut oder ist das schlecht? Zunächst einmal ist es eine Beobachtung, die man zur Kenntnis nehmen muss. Sie verändert unsere Vorstellung von Sprechen und Denken nicht zur Gänze. Aber es handelt sich um eine weitere kleine Bestätigung, dass das Denken sozusagen wichtiger ist als die Sprache und über sie dominiert oder zumindest dominieren kann, wenn eine neue Situation entstanden ist und es nicht mehr notwendig oder sinnvoll oder gar möglich ist, den ursprünglichen sprachlichen Impulsen zu folgen. Für diejenigen, die an den Empfindungen aus ihrer Kindheit hängen, ist das tendenziell etwas bedauerlich. Für alle, die in solche neuen Situationen kommen, ist es aber eine Entlastung, eine Erleichterung. Wir sind sprachlich geprägten und determinierten Denkfiguren nicht ausgesetzt. Wir können, vielleicht leichter als von manchen, etwa von Humboldt, gedacht, über sie hinauswachsen.
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