Die moderne Astrophysik und ihre Abgründe. Von Harald Lesch


Tragödie - Triumph (H. Lesch)
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SWR2 Wissen: Aula

Die moderne Astrophysik und ihre Abgründe. Von Harald Lesch

 

Der Astrophysiker von heute hat die normale Erfahrungswirklichkeit längst hinter sich gelassen. Er denkt nach über schwarze Löcher und schwarze Energie, über die Zustände vor dem Urknall, er denkt nach über Paralleluniversen und die Stringtheorie. Oft genug gerät er ins Spekulieren und verlässt den Boden seriöser naturwissenschaftlicher Forschung. Der Astrophysiker Professor Harald Lesch aus München erläutert in drei Teilen diese Abgründe der modernen Astrophysik. (Produktion 2013)


Zum Autor:
Harald Lesch lehrt theoretische Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität München; seine Forschungsschwerpunkte sind: Schwarze Löcher, Neutronensterne und kosmische Plasmaphysik. Lesch ist Fachgutachter für Astrophysik bei der DFG und Mitglied der astronomischen Gesellschaft. Im Juni 2005 wurde ihm von der DFG der Communicator-Preis verliehen. Dieser persönliche Preis wird an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergeben, die sich in hervorragender Weise um die Vermittlung ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse in die Öffentlichkeit bemüht haben. Harald Lesch ist Moderator der ZDF-Fernsehsendung „Abenteuer Forschung“.


Bücher (Auswahl):
- Urknall, Weltall und das Leben. (zus. Mit Josef M. Gaßner). Komplett-Media.
- Sterne – Wie das Licht in die Welt kommt. (zus. mit Jörn Müller). Goldmann-Verlag.
- Quantenmechanik für die Westentasche. Hörbuch. Legato-Verlag;
- Physik für die Westentasche. Legato-Verlag.
- Kosmo-Logisch. Vorlesungen von Harald Lesch. (3 DVDs). Komplett-Media.

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Aula
Zwischen Triumph und Tragödie
Die moderne Astrophysik und ihre Abgründe (3/3)
Von Harald Lesch
Sendung: Donnerstag, 1. Januar 2015, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2013
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Ansage:
Mit dem Thema: „Zwischen Triumph und Tragödie – Die moderne Astrophysik“. Heute im dritten und letzten Teil der Reihe geht es noch einmal um die Abgründe dieser Disziplin. Der Astrophysiker Professor Harald Lesch aus München blickt über seinen Tellerrand und schlüpft in die Rolle eines Ethikers, der fragt: Wieviel Ethik benötigt, verträgt die Astrophysik?
Harald Lesch:
Die Tragödie besteht darin, dass wir eine unglaublich potente Wissenschaft geschaffen haben und dabei ethisch und moralisch auf dem Stand des Steinzeitmenschen stehengeblieben sind. Man könnte auch sagen, während die Forschung mit ICE-Tempo davonrast, also mit 300 km/h, hängt die Ethik auf ihrer Draisine und versucht, irgendwie den Kontakt zu halten. Die riesigen Forschungsfortschritte sind eben nicht nur Chancen, sondern auch Risiken. Am 4. Juli 2012 wurde das Higgs-Teilchen entdeckt. Am Tag zuvor hatte die Ludwig-Maximilians-Universität mitgeteilt, dass in ihrer Universitätsbibliothek eine Weltkarte von Martin Waldseemüller entdeckt worden ist, durch Zufall. Die erste Karte (aus dem Jahr 1508), auf der ein Kontinent vermerkt wurde mit dem Namen „Amerigo“. Columbus war immer noch der Meinung, Florida sei Japan, er hätte Asien entdeckt und wäre auf dem Weg nach Indien. Aber Amerigo Vespucci war der Meinung, dass dieser Kontinent ein eigener sei und nichts mit Asien zu tun hätte. Martin Waldseemüller hat das auf der Karte auch so eingetragen. Am Tag danach wurde auf der aktuellen Karte der Erkenntnis ein neuer Kontinent eingetragen, nämlich der Kontinent Higgs, benannt nach Peter Higgs, einem der Erfinder eines Teilchens, eines Feldes, das den Elementarteilchen ihre Masse gibt. Höchst interessant. Aber nicht relevant.
Relevant sind ganz andere Entdeckungen über die Zusammenhänge in der Natur, relevant nämlich für unsere Handlungsoptionen. Mit einem Higgs-Teilchen kann man nichts machen. Wenn man sieht, dass man dafür einen 27 km großen Beschleuniger in den Untergrund bauen muss, um das ab und zu mal zu erzeugen, kann man nicht gerade sagen, dass das für unseren Alltag besonders relevant ist. Man muss einen Riesenaufwand treiben. Erkenntnismäßig ist es natürlich ganz wichtig. Für unsere Erkenntnis als betrachtende Wissenschaft ist der Large Hadron Collider die Kathedrale schlechthin, der Vatikan, dort werden die entscheidenden Experimente gemacht zu den Zusammenhängen in der Natur. Auch interessant ist, dass der Large Hadron Collider immer wieder geschlossen werden muss, weil ein ganz anderer Teil der Wirklichkeit in das Forschungslabor eindringt, nämlich die Ökonomie – die Strompreise für diesen großen Beschleuniger sind einfach zu hoch. Deswegen muss er immer wieder für ein paar Monate abgeschaltet werden. Selbst auf der Suche nach den fundamentalen Bausteinen der Welt ist es immer das Geld, das letztlich diese Forschung bestimmt.
Also reden wir über Relevanz, und da wird es tragisch. Gerade dann, wenn wir uns mit Technologien beschäftigen, die weit weg von unseren Erfahrungsräumen sind, von unseren direkten Erfahrungen, an denen unser gesunder Menschenverstand auch geschult ist. Wenn es um die Quantenmechanik geht, um die allerkleinsten Teilchen, wenn es um die hohen Geschwindigkeiten geht, womöglich nahe an der
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Lichtgeschwindigkeit, dann wissen wir nicht mehr, was wir tun, was das für Konsequenzen hat, wenn wir das in Technik umsetzen. Dann können wir nur noch Vermutungen anstellen, wir können den Berechnungen vertrauen, wir können hoffen, dass die Technologien, die wir entwickeln, auch genau das tun, was sie sollen, und kein Eigenleben führen. Schauen Sie sich nur um, wie sich Ihr Leben verändert hat durch die digitale Revolution. Wenn früher ein Brief aus Australien kam, war der zwei Wochen unterwegs. Man konnte sich mit der Antwort Zeit lassen. Wenn heute ein Brief aus Australien kommt, dann kommt er elektromagnetisch als E-Mail, als electronic mail. Und womöglich werden Sie gleich angerufen: Hast du denn meine E-Mail nicht gelesen, du hast noch gar nicht geantwortet. Selbst der Australier erwartet inzwischen unmittelbare zeitnahe Antworten. Unser Planet ist vernetzt. Die digitale Revolution hat nicht nur unseren Alltag verändert, sie hat uns zu global handelnden Wesen gemacht. Und am Fuß der digitalen Revolution steht die Physik, stecken die Erkenntnisse über den Aufbau der Materie und damit auch die Erkenntnisse darüber, wie man Natur manipulieren kann. Natürlich immer in der Hoffnung, dass man sie auch kontrollieren kann und dabei möglichst die Kontrolle so behält, dass man das Ganze dosieren und damit Geld verdienen kann.
Ein wunderbares Beispiel für den Einfluss der digitalen Revolution ist das Verlegen eines Transatlantik-Kabels zwischen London und New York. Dieses Glasfaserkabel verkürzt die Handelszeit der beiden Börsen um 6 Millisekunden. Früher wurde also mit 65 Millisekunden gehandelt, heute mit 59 Millisekunden. Die Verlegung dieses Kabels exakt entlang der Geodäten, also der kürzesten Linie einer Kugel, hat 300 Millionen Dollar gekostet. Muss das wirklich sein, wird man sich fragen, 6 Millisekunden – für 300 Millionen? Die Verkürzung der Handelszeit der beiden Börsen um 1 Millisekunde bringt einem großen Hedgefonds pro Jahr 100 Millionen Dollar. Das heißt, das Geld ist relativ schnell hereingewirtschaftet. Aber der wirkliche Irrsinn passiert dann, wenn man mal ein bisschen anders rechnet: Der Abstand zwischen diesen beiden Börsen ist etwas über 6.000 km, es geht um 59 Millisekunden – diese Börsen handeln mit einem Drittel Lichtgeschwindigkeit, einer Geschwindigkeit von etwas mehr als 100.000 km/sec. Das sind die Auswirkungen der digitalen Revolution, denn in dieser Geschwindigkeit wird an den Börsen heutzutage Geld gemacht und Geld vernichtet.
Während Sie zuhause vielleicht noch überlegen, soll ich die Vorzugsaktie von dem oder vielleicht den Optionsschein von dem nehmen, haben schon längst Computer gekauft, verkauft, gekauft, verkauft usw. Das Internet mit seiner Vernetzungsmöglichkeit macht Revolutionen möglich – man kann sich anrufen, man kann sich sehen beim Anrufen. Aber es wird auch unglaublich viel Schwachsinn produziert. In alle Bereichen unseres Lebens drängt sich das digitale Monster und verlangt von uns, sich ihm immer mehr hinzugeben. Wenn sich früher ältere Herren in der Kneipe trafen und darüber nachdachten, wie eigentlich der Schauspieler in dem und dem Film hieß, dann dauerte die Suche den ganzen Abend. Heute packt man sein Smartphone aus, googelt, und dann erfahren wir in Sekundenschnelle alles über diese gesuchte Person, sogar Dinge, die wir gar nicht wissen wollten.
Unsere Kommunikationsstrukturen verändern sich durch die digitale Revolution. Unser Gedächtnis wird schwächer durch die digitale Revolution. Und irgendwann werden vielleicht die Kinder nicht mehr schreiben können, weil sie schon längst alles nur noch mit Touchscreens bearbeiten.
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Ich will hier keinen Kulturpessimismus verbreiten, ich will nur darauf hinweisen, dass diese Entwicklungen letztlich aus einer Wissenschaft stammen, die blind ist für die gesellschaftlichen Konsequenzen. Die ahnte gar nicht, was sie damit anrichtet, als sie herausfand, aus was die Materie besteht, wie man materielle Teilchen miteinander zu neuen Stoffen verbinden kann, wie man ganz andere Schaltzeiten in den elektronischen Schaltkreisen hinkriegt, weg von der guten alten Röhre. Einige von Ihnen mögen sich noch daran erinnern, wie Ihr Radioapparat früher gerochen hat, wenn die Riesenkiste erst mal vorglühen musste. Andere werden gar nicht mehr wissen, wovon die Rede ist. Alles ist neuerdings digital, schnell, unübersichtlich. Ich bin ja froh, dass Sie diesen Sender hier gewählt haben und nicht irgendeinen anderen, es gibt ja wahrscheinlich Tausende und Abertausende, wer weiß. In dieser Welt leben wir.
Aber wissen wir wirklich, was wir tun? Die digitale Revolution macht uns nicht nur abhängig in unserem Kommunikationsverhalten, in unserer Art und Weise, wie wir Medien nutzen, sondern auch bei der Kontrolle. Der Luftverkehr, der Warenverkehr, selbst unser eigenes Auto wird inzwischen von Computern kontrolliert; nicht mehr wir, die wir hinterm Lenkrad sitzen, kontrollieren, sondern unter Umständen teilt uns der Computer an Bord mit, wir mögen bitte sofort an den rechten Rand der Fahrbahn fahren und stehen bleiben, denn in absehbarer Zeit, also möglicherweise in 17 Jahren, wird sich das hintere Bremslicht verabschieden und bis dahin müsse ein Vertragshändler angerufen werden, der dann mit einem Hubschrauber kommt und unsere Limousine – oder was immer wir fahren – vor Ort repariert. Wir sollen auf jeden Fall die Finger davon lassen. Und selbst wenn wir versuchen, mit dem guten alten Kabel vielleicht eine kleine Starthilfe geben zu wollen, dann stehen wir vor unserem Auto und sehen nur noch einen monolithischen grauen Block mit einer seriellen oder parallelen Schnittstelle für den Computer, wir sehen nicht mehr die Batterie – die inzwischen übrigens längst im Kofferraum versteckt ist.
Ganz zu schweigen von den großräumigen Veränderungen, die die in Technik gegossene Physik für die gesamte Welt bedeutet hat. Heutzutage wird ein ganzes Erdzeitalter danach benannt. Wir leben im Anthropozän, im Erdzeitalter, das durch den Menschen geprägt ist. Wir werden geologisch nachweisliche Spuren auf dem Planeten hinterlassen durch die totale Nutzung des Erdkörpers – zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Wir nehmen den Planeten aus bis auf die Knochen. Inzwischen sogar im wahrsten Sinne des Wortes, indem wir mit hohem Druck irgendwelche unbekannten Chemikalien in große Tiefen pumpen, um den Erdkörper an seiner Oberfläche aufzubrechen, um die letzten Reste an fossilen Gasen und Ölen herauszuholen und für kurze Zeit vielleicht den Preis ein wenig zu senken und den allerletzten Zuckungen einer Industriegesellschaft zu erliegen, von der wir längst wissen, dass sie den Planeten ausnimmt.
Zugleich forschen wir bedenkenlos einfach weiter. Die Tragödie einer Wissenschaft, die so weit weg von unseren normalen Erfahrungsbereichen forscht, besteht darin, dass ihre Erkenntnisse immer wieder aufs Neue für ein ökonomisches System gebraucht und missbraucht werden. Und die Forschung kann nichts dagegen unternehmen. Nicht zuletzt deshalb, weil selbst die Forschung inzwischen dermaßen ökonomisiert ist, dass sie sich im Wesentlichen darum zu kümmern hat, woher sie ihre Mittel bekommt, um weiter forschen zu können. Das heißt, sie wird abhängig von denjenigen, die genau darauf angewiesen sind, was die Forschung in finanzieller Hinsicht bringt, nämlich Erkenntnisse über den Zustand der Natur, vor allem über die
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Manipulierbarkeit der Natur. Moderne Physik steht mitten drin im Wettbewerb der Wissenschaften. Die relevanten Themen sind etwa Materialforschung, Nanoforschung, es geht darum, ganz neue Produkte zu entwickeln, und wir wissen bis heute nicht, was es bedeutet, wenn diese Stoffe mal in den natürlichen Kreislauf geraten.
Wir ahnen etwas davon, wenn wir die Strudel sehen an Kunststoffresten, die sich irgendwo in den Meeren gebildet haben. Die Bilder davon sind so schauerlich, dass man sich fragt, was wir gemacht haben. Wir haben gar nichts gemacht, wir haben hier mal was liegen lassen, da mal was liegen lassen. Aber die Welt ist eben eine Welt von kommunizierenden Systemen. Wenn wir etwas in den Fluss fallen lassen, dann landet das irgendwann im Meer, und das Meer hat seine Strömung und in diesen Strömungen gibt es Strudel. Und so sammelt sich alles irgendwann wieder aufs Neue, irgendwo im Meer. Die Tiere können es nicht verdauen, wenn sie es in sich aufgenommen haben. Sie krepieren elendig.
All diese Bilder kennen wir. Wir sind uns unserer schädigenden Rolle längst bewusst, dank aller möglichen Medien wissen wir längst, wie der Mensch als Biomasse diesen Planeten verändert hat – so wie noch keine Biomasse vor ihm. Die Forschung ist mit ihren abstrakten Modellen und den daraus abgeleiteten Technologie so weit von unserem gesunden Menschenverstand entfernt, dass wir wirklich nicht wissen, was wir tun sollen und lokal sogar nicht wissen, was wir überhaupt tun. Denken Sie nur an die Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe (FCKW), Stoffe, von denen man positiv dachte: das ist doch endlich mal ein träger chemischer Stoff, der ist wunderbar für Kühlanlagen, Klimaanlagen, den nehmen wir, keine Gefahr für die Natur! Diese FCKWs kann man künstlich zusammenbauen, weil wir etwas darüber wissen, wie die Materie aufgebaut ist, also letztlich physikalische Erkenntnis umgemünzt haben in chemische Produktion, umgemünzt in die Herstellung eines Stoffs, der in der Industrie massenhaft Verwendung findet und fand. Bis die Frage gestellt wurde, was machen FCKWs mit der Atmosphäre?
Als die NASA die ersten Daten von Satelliten heruntergefunkt bekam, Daten die zeigten, dass die Ozonschicht an den Stellen über den Polen teilweise gar nicht mehr vorhanden ist, da hielt man das für Messfehler. Man dachte, die Detektoren würden völligen Unsinn messen. Man konnte sich gar nicht vorstellen, dass wir nach einigen wenigen Jahrzehnten der Benutzung von Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffen nennenswert die Atmosphäre beeinflussen könnten. Dann war aber schnell klar: Wir können es, wir haben es vermasselt. Gott sei Dank ist es zu einem Abkommen gekommen, so dass eben diese Stoffe verbannt wurden, zumindest in Teilen. Sie werden immer noch verwendet, aber nicht überall und immer weniger. Das Ozonloch schließt sich langsam. Fatal ist allerdings, dass die Ersatzstoffe für die Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe leider sehr treibhausaktiv sind, teilweise bis zu 2.000 Mal treibhausaktiver als die Treibhausgase, von denen Sie alle wissen: Kohlendioxid, Methan. Wenn wir weiter Kohlendioxid in die Atmosphäre einbringen, dann wird es warm. Die Stürme im Pazifik sind nur ein kleiner Vorboten dessen, was uns erwartet, wenn die Welt tatsächlich über 4 Grad von uns erwärmt wird. Denken Sie bei jedem Starkregen daran, das Wasser musste irgendwie in die Luft kommen. Wie kommt Wasser in die Luft? Indem es verdunstet. Wann verdunstet Wasser? Wenn es wärmer wird. Jeder Starkregen ist ein Hinweis auf die globale Erwärmung. Jedes Mal, wenn Sie in die Alpen fahren und irgendwelche Gletscher vermissen, dann
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wissen Sie, die sind weg, weil die Eiskristalle einfach verschwunden sind, wegen der Erwärmung.
D. h. ganz banale physikalische Zusammenhänge bringen uns vielleicht wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, weg von den Himmelsstürmen derjenigen, die meinen, mit digitaler Elektronik könne man alles machen. In der Tat bräuchte man heute ethische Betreuung der Forschung. Wichtig wären da die Fragen: Wenn man schon interessante Forschungsergebnisse hat, wie macht man aus interessanten Forschungsergebnissen relevante Forschungsergebnisse? Kann man früh genug abschätzen, was mit dem, was man entdeckt hat, angerichtet werden kann? Für diese Problematik steht die Entwicklung der Atombombe. Als Otto Hahn die ersten Atome spaltete und Lise Meitner das erklärt hat, gab es einen undergraduate student, also einen Studenten mitten im Physik-Studium, der las diesen kleinen Artikel von Otto Hahn und stellte schlicht fest: „This is a bomb“ – Das ist eine Bombe. Es war klar, mit der Spaltung von Atomkernen hat man eine neue Möglichkeit für eine Waffe in der Hand, mit der wir uns sogar komplett selbst zerstören können, bis heute. Auch in Zeiten der Entspannung.
Bei vielen anderen Dingen wissen wir nicht, wieviel negatives Potential in ihnen steckt, wir haben die Konsequenzen der digitalen Revolution am Anfang auch nicht gesehen. Problematisch wird es, wenn eine neue Technik die Menschen in Verzückung bringt und das Leben erleichtert. Wie leicht ist es heute geworden, sich zu orientieren. Sie wissen ja, Navigationssysteme im Auto bieten für Männer wunderbare Momente, in denen eine Frau endlich mal zu ihnen sagt: „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“ Vielleicht kaufen wir deswegen so gerne GPS-Systeme mit der entsprechenden Stimme.
Spaß beiseite – vielleicht verlieren wir in der Tat systematisch die Orientierung, wenn Gesellschaften nicht mehr erfahren, was in der Forschung eigentlich gemacht wird, was das für Konsequenzen hat. Und das, was ich hier in dieser Radiosendung mache, ist der verzweifelte Versuch, ein bisschen was darüber zu erklären, was wir in der Forschung alles tun. Es geht um das Wie, auch das Wohl und Weh der Astrophysik. In dieser Sendung geht es um das Weh. Und immer wenn ich darüber einen Vortrag halte, merke ich, wie sich die Atmosphäre im Saal langsam abkühlt. Wenn ich vorher über die dunkle Energie im Universum gesprochen haben und über Außerirdische, sind alle hellauf begeistert. Man schaut mich an, mit fast glühenden Wangen. Wenn man dann anfängt, über etwas zu sprechen, was uns betrifft im Hier und Jetzt, dann wird die Situation schnell unerfreulich: Klimawandel, Energiewende, Ressourcenendlichkeit, Entscheidungsmomente, wie sollen wir weiterleben? Und hier verwandelt sich die Physik von einer betrachtenden Wissenschaft, der es nur um Erkenntnis geht, in eine handelnde, ethische orientierte Disziplin. Und dann, an diesem Punkt, sieht man das wirkliche Dilemma, in dem wir stecken: dass wir unglaublich schlau sind, wir wissen so viel über das Universum, aber unsere Moral? Der Mensch, so sagte Kant, ist aus einem krummen Holz geschnitzt. Recht hat er. Aber wie ist das digitale Holz heutzutage beschaffen? Wie schaffen wir es überhaupt, langfristig, nachhaltig, vernünftig zu handeln?
Eine Welt, die im gleichen Tempo ohne ethisches Gewissen weiterforscht, wird sich irgendwann selbst abschaffen. Das Vordringen in Erfahrungsräume, die nur noch mathematisch zu begreifen sind oder mit Hilfe ausgerechnet der Geräte, die letztlich aus der Quantenmechanik heraus entwickelt worden sind, nämlich den Computern,
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diese Welt kennt keine ethischen Werte mehr. Es geht nur noch um Messwerte oder um die 1-0-Kombinationen. Wir aber als Lebewesen, die wir nicht nur mit Vernunft ausgerüstet sind, sondern auch mit Verantwortungsgefühl, mit Gewissen müssen selbstbestimmte Entscheidungen treffen, die wir nicht dem Computer überlassen dürfen. Und ethische Fragen sind nie leicht. Fragen, wie wir handeln sollen, kann man nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten. Da geht es um den Diskurs, da geht es darum, Argumente auszutauschen. Und was wird gemacht? Es werden eher in der Öffentlichkeit Vorurteile bestätigt. Jemand mit einer bestimmten Position holt sich lauter BefürworterInnen ins Haus, nie Gegner. Dabei wäre es wunderbar, erkenntnistheoretisch geradezu ein Muss, sich den schärfsten Feind nach Hause zu holen mit den schärfsten Gegenargumenten, um seine eigenen Argumente zu schärfen.
Hier komme ich wieder zu der ursprünglichen These zurück, die ich schon so oft vertreten habe, dass man in der Physik deswegen in methodischer Hinsicht so erfolgreich ist, weil man sich empor-irrt. Vielleicht müssen wir uns den Irrtum eingestehen, dass wir ohne Wenn und Aber jede physikalische Entdeckung sofort in Technologie ummünzen könnten. Vielleicht müssten wir uns mal Fristen setzen, Zeit zum Nachdenken finden, in der wir uns Gedanken darüber machen, wie die Zukunft aussehen soll? Es gibt Gott sei Dank zumindest in Europa Behörden, die immer mehr das eine oder das andere verbieten. Wir sind in Europa inzwischen in der schönen Situation, dass wir seit Jahrzehnten keine Kriege mehr haben und dass wir vielleicht langsam anfangen könnten, ein Modell-Kontinent für die weitere Entwicklung der Menschheit zu werden. Wir können es uns erlauben, einen Schritt zurückgehen, darüber nachzudenken, was haben wir bisher gemacht, welche Infrastruktur haben wir, welche Energiesysteme brauchen wir, können wir vielleicht den anderen zeigen, dass es besser geht, wenn man auf Sonnen-, Wind- und Biomasse setzt. Wer weiß, vielleicht können wir eines Tages tatsächlich sagen, dass von Europa nicht nur Impulse für die Philosophie und damit die Entwicklung der Naturwissenschaften ausgegangen sind, sondern für ganz andere Entwicklungen, für eine ethische Revolution.
In Wahrheit ist es natürlich so, dass ununterbrochen und an vielen Stellen weitergeforscht werden wird, mit noch mehr Computerpower, mit noch mehr Man- und Woman-Power. Man wird nach wie vor alles Mögliche erforschen wollen, immer auf der Suche danach, ob vielleicht das eine oder andere doch noch irgendwie in die Praxis umgesetzt werden kann. Einige werden sagen, wenn wir so weitermachen, wenn wir weiter das Klima verändern, dann wird alles schlimmer usw. Es wird auch immer wieder Veranstaltungen geben, in denen sich Forscherinnen und Forscher zusammensetzen und an die Politik appellieren werden, man möge doch nun endlich Vernunft annehmen. Und die Politik wird immer wieder sagen, man würde ja gerne, aber die Wählerinnen und Wähler wollen keine Vernunft annehmen. Wir können keine einschneidenden Veränderungen vornehmen, sondern wenn überhaupt, dann nur leichte Richtungsänderungen.
Oft habe ich den Eindruck, dass die Bevölkerung schon viel weiter ist als die Entscheidungsgremien und auch schon viel weiter als selbst die revolutionärsten Wissenschaftler. Ein interdisziplinärer Ansatz wird nach meiner Ansicht die einzige Chance sein, solche triumphalen Wissenschaften wie die Physik, die unglaublich viele interessante Forschungsergebnisse erbringt, ein bisschen mehr in die Schranken zu weisen mit dem Aufruf: Denken wir doch mal darüber nach, nachdem
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wir schon so viele Messwerte haben, woher unsere Werte kommen, was wir tun dürfen und sollen. Es kann nicht immer nur den Prometheus geben, es geht nicht nur immer weiter in die Zukunft, es gab eben auch noch den anderen, den Epimetheus, der zurückschaut und sich gefragt hat: Sind wir noch da, wo wir hinwollten oder haben wir längst die Richtung verloren?
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Zum Autor:
Harald Lesch lehrt theoretische Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität München; seine Forschungsschwerpunkte sind: Schwarze Löcher, Neutronensterne
und kosmische Plasmaphysik. Lesch ist Fachgutachter für Astrophysik bei der DFG und Mitglied der astronomischen Gesellschaft. Im Juni 2005 wurde ihm von der DFG
der Communicator-Preis verliehen. Dieser persönliche Preis wird an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergeben, die sich in hervorragender Weise um die Vermittlung ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse in die Öffentlichkeit bemüht haben. Harald Lesch ist Moderator der ZDF-Fernsehsendung „Abenteuer Forschung“.
Bücher (Auswahl):
- Urknall, Weltall und das Leben. (zus. Mit Josef M. Gaßner). Komplett-Media.
- Sterne – Wie das Licht in die Welt kommt. (zus. mit Jörn Müller). Goldmann-Verlag.
- Quantenmechanik für die Westentasche. Hörbuch. Legato-Verlag;
- Physik für die Westentasche. Legato-Verlag.
- Kosmo-Logisch. Vorlesungen von Harald Lesch. (3 DVDs). Komplett-Media.