Ralf Caspary mit Raoul Schrott : Der Prozeß der Weltaneignung

SWR2 Aula

Diskurs

über den Prozeß der Weltaneignung –am exemplarischen Ort Hotel >>

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Caspary:

Mal Hand aufs Herz: Auch Sie haben es bestimmt schon getan, in irgendeinem Hotel in Deutschland oder anderswo: Da haben Sie vielleicht die Mini-Seife mitgehen lassen oder das Shampoo. Schließlich sind das Erinnerungsstücke an eine Reise plus Aufenthalt im Hotel.

Und für was interessiert sich Raoul Schrott, wenn er im Hotel ist? Auch für die Seife?

O-Ton Schrott:

Eigentlich selten, weil diese Seifen immer so verdammt klein sind und diese Shampoos immer irrsinnig kratzen und einem die Kopfhaut kaputt machen. Also das was ich klaue, wenn ich irgendwie auf Reisen bin, ist dass ich irgendwo ein Handtuch mitnehme beim letzten Hotel, also vor dem Ende der Zivilisation, denn dann muss ich das Handtuch nicht von Anfang an den ganzen Weg mitschleppen. Das nimmt ja auch Platz weg. Also das gestehe ich.

Caspary:

Raoul Schrott braucht leichtes handliches Gepäck, schließlich ist er ein Weltreisender, der fortwährend neue Kontinente erkundet. Und je weiter eine Gegend von seinem derzeitigen Wohnort Irland entfernt liegt, desto besser für ihn und sein poetisches Projekt. Er sucht das Andersartige, die Fremde:

O-Ton Schrott:

Wenn, dann ist die Lust für mich an der Literatur eine, die Welt aus möglichst vielen Blickwinkeln zu betrachten, die in sich stimmig sein müssen, aber die sich gegenseitig auch widersprechen können. Die Welt betrachtet durch die Augen eines Kartografen, die Welt betrachtet durch die Augen einer Frau, die Welt betrachtet durch die Augen von Catull. Das ist meine Lust.

Caspary:

Wenn Schrott sich wie der fliegende Robert zur Grand Tour aufmacht, um mit diesen verschiedenen Perspektiven zu experimentieren, setzt sich sofort sein historisches Bewußtsein in Gang: Wie ein Archäologe gräbt er nach den verborgenen Schichten der Vergangenheit, um letztlich neue Erkenntnisse über die Gegenwart sammeln zu können.

Und egal wo er seine Zelte für kurze Zeit aufschlägt, in einem Hotel in Ägypten, Jordanien, Italien oder irgendwo am Ende der Welt, sofort imaginiert er sich eine geschichtliche Tiefendimension, etwa in Form von Göttern aus der griechischen Mythologie: Eros, Herkules, Aphrodite, besonders aber Hestia und Hermes bevölkern seine Hotelgedichte. Hermes und Hestia sind für Schrott typische Hotel-Götter. Sie verkörpern ein Paradoxon, das für jede Reise konstitutiv ist:

O-Ton Schrott:

In der griechischen Mythologie ist diese Göttin Hestia immer dargestellt worden mit dem Gott Hermes. Das ist auch wieder ein schönes Paradoxon, denn Hestia ist quasi dieser unbewegliche Mittelpunkt; Hermes ist aber der Gott der Reisenden, der überall und nirgends ist. Und das ist also wieder diese Art von Mittelpunkt und Kreisradius, von Nabe und fliehender Bewegung rings herum, die eigentlich genau das Thema Reise auf den Punkt bringt, dass das Fixe sich abwechselt mit dem, das alles in Bewegung ist, dass das eine das andere ergänzt und komplementär ist. Das ist dann auch letztlich auf das Leben übertragbar. Ich entwickle mich beständig vorwärts, glaube aber doch immer, dass ich jetzt irgendwo in der Mitte starr vorhanden bin und dass ich „Ich“ sagen kann, obwohl ich andauernd in Bewegung, andauernd im Wandel begriffen bin, in andauernden Metamorphosen

Caspary:

Der Gedichtzyklus „Hotels“ veranschaulicht diese Bewegung. Das lyrische Ich eignet sich den fremden Ort an, indem es sich in ein Medium der Vergangenheit verwandelt; es entgrenzt sich zum universellen gedanklichen Kosmos, in dem Alles mit Allem zusammenhängt; es wird zum Fluchtpunkt verschiedener Epochen und Mythologien, und es wird zum Gefäß, in dem sich auf assoziative Weise Fremdes und Eigenes fortwährend neu mischen. Das Hotel ist für Raoul Schrott der exemplarische Ort für diesen Prozeß der Weltaneingnung:

O-Ton Schrott:

Es gab mal eine Rezension, die war überschrieben mit „Herr Kellner, die Rechnung bitte“, weil das immer so klang, als wäre ich in so Luxushotels unterwegs. Das war ganz im Gegenteil. Als Schriftsteller hat man ja selten viel Geld und mir haben diese alten abgewohnten Hotels auch immer sehr sehr gut gefallen, weil sie – ähnlich wie es Kirchen einmal waren, Paläste einmal waren – eigentlich zu Symbolen von Zeit und von Epochen geworden sind. Das lässt sich an der Architektur, an der Gestaltung von Hotels sehr sehr Vieles von Zeit auch ablesen. Und in diese alten Bruchbuden aus den 20er und 30er Jahren zu gehen, wie es sie z. B. in Tunesien gibt oder in Syrien oder Jordanien oder Südamerika, heißt auch, irgendwie in eine Art Museum zu gehen, das aber nie ein totes war, sondern immer ein lebendiges war, in dem eben Menschen ihre Spuren hinterlassen haben.

Caspary:

Schreiben hat für Raoul Schrott nichts mit Selbstbespiegelung und Subjektivität zu tun, sondern mit dieser Art der Spurensuche, mit mühevoller Recherche und Studium. Literatur, die nur die Befindlichkeiten des Autors abbildet, lehnt er vehemt ab. Deshalb reagiert er auch allergisch, wenn man ihn auf seine Biografie anspricht, die er sowieso nach guter alter Dada-Manier zu großen Teilen gefaket hat. Es reicht ihm, wenn man weiß, daß er 40 jahre alt  ist, in Irland wohnt, meistens aber unterwegs ist, und daß er von den Dadaisten viel gelernt hat. Alles andere sei uninteressant, sagt er, und helfe nicht dabei, seine Bücher zu verstehen. Ihm gehe es schließlich um Literatur, nicht um schnöden Journalismus, er sei auf der Suche nach Sinn und verstehe sich als Anthropologe:

O-Ton Schrott:

Ein schönes Beispiel ist der Sternenhimmel nachts. Das sind lauter willkürlich verstreute Lichtpunkte, denen nur der Mensch eine Gestalt gibt, Namen dafür erfindet, Geschichten über sie erzählt, sie in einen Mythos einbaut und so quasi aus einer vollkommen kosmischen Gleichgültigkeit eine humane Gültigkeit macht. Und die Lust an der Literatur, das ist, dass zwischen zwei Buchdeckeln alles Sinn macht. Und die Spurensuche ist also da zu rekonstruieren, ja was ist passiert, wie kann ich all das, was um mich ist, sinnvoll in menschlichen Begriffen begreifen und fassen.

Caspary:

Raoul Schrotts poetisches Projekt ist ehrgeizig und anstrengend für den Leser. Seine Texte sind voller Anspielungen auf Mythologien, auf kosmologische Konzepte und dichterische Motive aus anderen Epochen und Kulturen. Der polyglotte Autor, der von der Kritik gern als poeta doctus etikettiert wird, arbeitet niemals ohne Lexika oder sonstige gewichtige Bücher, die ihm auf irgendeine Weise bei der intellektuellen Eroberung der Vergangenheit helfen. Und so sind die Hotels von Raoul Schrott im Grunde genommen imaginäre Landkarten im Cinemascope-Format, mit deren Hilfe der Autor durchs kulturgeschichtliche Universum navigiert, auf der Suche nach einem neuen poetischen Ich.

Übrigens: Die realen postmodernen Hotels, die in den letzten zwanzig Jahren enstanden sind, mag Raoul Schrott überhaupt nicht:

O-Ton Schrott:

Das was ich heute sehe in den modernen Hotels ist erstens, dass sie unheimlich schnell altern, weil das Material nicht mehr so solide ist, nicht mehr so gut gebaut ist, und das was man gleichzeitig sehen kann ist, dass es kongenial zu den Werbebildern ist, die ja immer mehr alles an die Oberfläche treiben mit diesen ganzen Hochglanzfassaden, bei denen das Wasser so abperlt, um jede Tiefenschärfe zu vermeiden; so existieren  auch Hotels oder Banken als Fassaden , die immer wieder ein Bild zurück werfen, aber sich eigentlich jeder Tiefe verweigern. Da werden die Hotels sehr kalt und hässlich.

Caspary:

Man könnte im Sinne des Autors auch sagen: Die neuen gesichtslosen Hotels spiegeln die Charakterlosigkeit ihrer Zeit wider, gegen die er mit allem ihm zur Verfügung stehenden intellektuellen Raffinement anschreibt. Er kann diese sterilen Hotelzimmer einfach nicht leiden, die nichts mehr preis geben können oder wollen von den Spuren der Vergangenheit.

Und was ist das Lieblingshotel von Raoul Schrott?

O-Ton Schrott:

Es gab immer eines, das aber inzwischen umgebaut wurde, in einer Vorstadt, die am Meer liegt, in einer Vorstadt von Tunis, das eben ein alter Harem war. Das war wirklich ein sehr sehr schönes Hotel, das damals, vor 10 Jahren die Nacht 20 Mark kostete, mit wunderschönem Blick aufs Meer und einem tollen Garten draußen, wo der Jasmin und der Flieder blüht.