Martin Hubert : Wohin steuert die Hirnforschung?

ds-swr2 wissen15-3neurodämmerung
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Sendung: Donnerstag, 05.03.2015
Redaktion: Anja Brockert
Regie: Günter Maurer
Produktion: SWR 2015
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:

ÜBERB.LCK
Mit großen Hoffnungen und Versprechen begann vor über 20 Jahren der Boom der Neurowissenschaften. Hirnforscher wollten mit neuen Methoden das Rätsel des menschlichen Geistes lösen, kriminelles Verhalten erklären und Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson und Schizophrenie aufklären. Das Gehirn schien der Schlüssel zu sein, um den Menschen insgesamt zu verstehen. Mittlerweile ist bei einigen Neurowissenschaftlern Ernüchterung eingetreten, und sie gehen auf kritische Distanz zu ihrer Disziplin. Der menschliche Geist scheint viel zu komplex zu sein, um ihn mit Datensammlungen nervlicher Prozesse zu erfassen. Kritische Hirnforscher betonen, dass sich menschliche Gehirne individuell unterscheiden und in sozialen und kulturellen Kontexten entwickeln. Diese Aspekte müssten in der Forschung stärker berücksichtigt werden. Zeichnet sich eine Trendwende in den Neurowissenschaften ab?

INHALT
Atmo 1: Raumatmo vermischt mit
Musik 1: Cortical Songs kurz frei, dann unterlegen
O- TON 1 (Langlitz)
Irgendwann merkte ich langsam, okay, irgendwas verändert sich jetzt gerade an meinem Bewusstsein, ich kann aber noch nicht genau sagen, was. Aber irgendwas ist doch jetzt anders.
Sprecher:
Ein neurowissenschaftliches Labor an der Universität Zürich. Eine Versuchsperson hat die Substanz Psilocybin eingenommen, die Halluzinationen wie bei der Schizophrenie verursacht. Elektroden auf dem Schädel des Probanden registrieren die elektrischen Signale in seinem Gehirn.
O- TON 2 (Langlitz)
In dem Moment bin ich dann nur noch in einen tiefen schwarzen Tunnel gefallen und immer weiter gestürzt. An den Wänden des Tunnels gab es dann so eigenartige Farbspiele und Farbflecken und ich habe in dem Moment gedacht, jetzt ist alles zu Ende, ich bin völlig hilflos und ich stürze immer tiefer und tiefer und dann hab ich plötzlich einfach losgelassen. Das war der Anfang von diesem Trip
Atmo 1 und Musik 1 langsam weg
Sprecher:
Hirnmessungen gibt es viele. Der vor einigen Jahren durchgeführte Versuch in Zürich war aber etwas Besonderes. Denn die Versuchsperson war Nicolas Langlitz, ein Anthropologe der New School for Social Research in New York. Langlitz berichtete nicht nur, was er bei dem Experiment erlebte. Für eine Studie zur Laborpraxis beobachtete er auch über Wochen hinweg kritisch, wie die Neurowissenschaftler mit seinem Erleben und den Messdaten umgingen, befragte sie und studierte ihre Gespräche und Auswertungsmethoden.
Ansage:
Neurodämmerung. Die Grenzen der Hirnforschung. Eine Sendung von Martin Hubert.
O- TON 3 (Hasler)
Also ich fand das zum Teil sehr lustig, dass Herr Langlitz uns dann sagte, was wir hier eigentlich machen, sozusagen in einer größeren Perspektive. Weil man schon zum Teil vielleicht selber ein bisschen den Überblick verliert.
Sprecher:
Einer der Neurowissenschaftler, denen Nicolas Langlitz im Züricher Labor begegnete, war Felix Hasler. Der ausgebildete Pharmazeut besaß ein klassisches neurowissenschaftliches Weltbild und glaubte an die großen Visionen der Hirnforschung.
O- TON 4 (Hasler)
Ich war auch sicher lange Zeit völlig davon überzeugt, dass irgendwann, wenn die Technologien besser sind oder wir neue Erkenntnisse haben, lässt sich alles, was den Menschen ausmacht, was er ist, auf Gehirnprozesse zurückführen und damit ist die diese Sache erklärt.
3
Sprecher:
Hasler hoffte, mit Hilfe halluzinogener Drogen verstehen zu können, was bei schweren psychotischen Erkrankungen wie Schizophrenie im Gehirn geschieht.
Die Begegnung mit Nicolas Langlitz jedoch bestärkte seine unterschwelligen Zweifel. Er wurde zunehmend skeptisch gegenüber seinem eigenen Tun.
O- TON 5 (Hasler)
Weil ich gemerkt habe, wie groß die Kluft zwischen dem ist, was von vielen Forschern behauptet wird und dem, was man tatsächlich weiß oder messen kann, das ist einfach unglaublich.
Sprecher:
Kritik an bestimmten Entwicklungen der Hirnforschung hat es immer gegeben. Etwa daran, dass sich die Hirnforschung zu stark an bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomographie orientiere. Diese Methoden würden Hirnprozesse aber nur indirekt messen und seien fehleranfällig. Oder die Kritik, dass Hirnforscher geistige Fähigkeiten vereinfachend einem einzelnen Hirnareal zuordnen würden, nach dem Motto: Angst sitzt in der Amygdala, Ekel in der Insel. Tatsächlich aber sei es viel komplizierter: bestimmte psychische Eigenschaften würden durch viele Hirnareale realisiert, die eng miteinander vernetzt seien. Die Skepsis und die Kritik, die sich jetzt regen, beziehen sich jedoch nicht auf einzelne Entwicklungen, sondern auf die gesamte bisherige Hirnforschung. Fünfzehn Neurowissenschaftler, Psychologen und Philosophen haben im März 2014 ein Memorandum mit dem Titel „Reflexive Neurowissenschaft“ veröffentlicht. Darin fordern sie ihre Kollegen zur kritischen Selbstreflexion ihrer Arbeit auf. Einer der Initiatoren des Memorandums ist Prof. Felix Tretter, Suchtmediziner und Chefarzt am Klinikum Ost in München.
O- TON 6 (Tretter)
Man kann nicht einfach sagen, wir sind alle gegen die Neurowissenschaften. Im Gegenteil. Wir sind alle Sympathisanten der Neurowissenschaft, aber kritische Sympathisanten. Soll heißen, wir müssen ein bisschen mehr darüber nachdenken, was sind die erkenntnistheoretischen und methodischen Möglichkeiten und Grenzen. Wir erfinden neue Techniken - können wir deswegen mehr erklären und dann auch mehr verstehen? Gerade diese Begriffe sind extrem wichtig, weil sie immer wieder sozusagen umgangssprachlich hineingeworfen werden in der Begründung der Hirnforschung: wir brauchen noch mehr Millionen, weil dann werden wir Schizophrenie verstehen, dann werden wir Depression verstehen. Das ist aber ohne genauere Überprüfung, was ist denn eigentlich „verstehen“ und wie können wir das bewerkstelligen, ist das nicht sehr sinnvoll.
Sprecher:
Die Hirnforscher, kritisieren Tretter und seine Mitstreiter, häufen mit immer neuen Methoden Millionen von Messdaten über das Gehirn an, besitzen aber keine einheitliche Theorie des Gehirns.
Atmo 1: Raumatmo vermischt mit
Musik 1: Cortical Songs, unterlegen
Sprecher:
4
Nicolas Langlitz konnte bei seinen Studien im Züricher Labor über mehrere Wochen beobachten, wie unterschiedlich die Forscher auf die Versuche blickten:
O- TON 8 (Langlitz):
Das Labor war sicherlich geprägt von Spannungen weltanschaulicher Art zwischen denjenigen, die eher ein materialistisches Weltbild vertreten haben auf der einen Seite, und auf der anderen Seite den Leuten, die doch mystische Erfahrungen mit einem gewissen Wahrheitswert in diesen psychedelischen Erlebnissen gesehen haben.
Sprecher:
Halluzinogene Substanzen können bedrohliche Phantasien auslösen, in enge Tunnel entführen und die Angst schüren, man löse sich auf. Sie können aber auch das glückselige Gefühl vermitteln, eins mit dem Kosmos zu werden. Sollen Neurowissenschaftler diese subjektiven Erlebnisse ernst nehmen? Oder sollen sie einfach nur messen, was sich im Gehirn verändert, wenn diese Substanzen eingenommen werden?
O- TON 9 (Langlitz)
Zum Teil sind das personifizierte Spannungen, wo einzelne Figuren im Labor die eine Position vertreten haben, andere die andere. Manchmal ist es auch so, dass sich wirklich innerhalb eines Wissenschaftlers diese Spannungen sich abspielen, dass es ein ständiges Nachdenken darüber gibt, welchen Stellenwert soll man dem eigentlich geben, eine große Skepsis auf der einen Seite gegenüber den eigenen Erfahrungen, aber auf der anderen Seite auch gegenüber der eigenen Forschungspraxis.
Atmo 1 und Musik 1 weg
Sprecher:
Im Züricher Labor wurde bereits über solche Fragen gestritten, wenn ein Experiment nur geplant wurde. Wobei sich meist die materialistische Fraktion durchsetzte: diejenigen, die nur das naturwissenschaftlich Messbare im Gehirn interessierte.
O- TON 10 (Hasler):
Also das war schon, kann man sagen, ziemlich knallharte Neuroscience, die da eben gemacht wird.
Sprecher:
Für Felix Tretter von der Memorandumgruppe „Reflexive Neurowissenschaft“ ist dieses strikte materialistische Orientierung bis heute für viele Illusionen der Neurowissenschaften verantwortlich. Etwa für den Glauben, man könne psychiatrische Krankheiten allein über das Gehirn besser verstehen und therapieren. 2004 hatten deutsche Neurowissenschaftler wie Gerhard Roth und Wolf Singer in einem „Manifest der Hirnforschung“ große Hoffnungen geschürt. Sie verstanden psychiatrische Krankheiten vor allem als Defekte von Botenstoffen und ihrer Andockstellen im Gehirn, den sogenannten Rezeptoren. Bald, so verkündeten die Hirnforscher, könne man diese Defekte mit neuen Medikamenten gut reparieren.
O- TON 11 (Tretter):
Das ist natürlich damals schon nicht sehr sachkundig gewesen, weil man damals schon für alle Medikamente für Schizophrenie oder Depression sowohl Medikamente hatte, die speziell auf einen Rezeptortypus beziehungsweise ein Botenstoffsystem speziell
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einwirken. Genauso wie auch für jede dieser Krankheiten auch Medikamente da waren, die breitbandig für verschiedene Systeme dort eben Einwirkungen zeigten. Und das heißt aber, das war damals eigentlich schon erkennbar, dass das nicht der richtige Weg ist. De facto ist es so, dass wir keine wesentlichen Fortschritte in der Pharmakotherapie, in der Psychiatrie in den letzten 10 Jahren haben. Wir haben andere Nebenwirkungen von den modernen Medikamenten im Vergleich zu denen die vor 30 Jahren verwendet wurden, aber so ein richtiger Durchbruch, dass wir sagen, eine schizophrene Episode ist ein Klacks, also da geht es früh ins Krankenhaus und am Abend gesund nach Hause - weit davon entfernt.
Sprecher:
Psychiatrische Erkrankungen sind bis heute neurowissenschaftlich noch nicht einmal genau diagnostizierbar. Es seien eben keine reine Hirnerkrankungen, meint Felix Tretter. Die Neurowissenschaftler sollten sich überhaupt von der Auffassung verabschieden, die menschliche Psyche rasch auf wenige Hirnprozesse zurückführen zu können. Der Züricher Psychopharmakologe Felix Hasler denkt ähnlich.
O- TON 12 (Hasler)
Natürlich hat man ein Forschungsinteresse, man hat auch eine Hypothese. Aber sobald man beginnt die Natur, im speziellen das Gehirn, sozusagen zu befragen, wird es gleich unendlich kompliziert. Das heißt, das ist nicht etwas, wo man sagen kann, ja gut, wir haben jetzt zum Beispiel untersucht wie sind die Ähnlichkeiten zwischen einer schizophrenen Psychose und einem LSD-Trip auf neurobiologischer Ebene, ich meine, das ist überhaupt nicht so, das ist eine unglaublich komplexe, komplizierte Angelegenheit. Und die Idee, dass man mit solchen Experimenten auch nur einigermaßen abschließend so ein riesiges Thema untersuchen könnte, wäre natürlich auch naiv, das zu glauben! Das ist letztendlich ein Prozess, wo sich dann auch verschiedenen Gruppen über Jahre und vielleicht Jahrzehnte dem annähern und vielleicht aus der Synthese könnte man mal gewisse Anhaltspunkte finden, so läuft das eben praktischerweise.
Musik 1: Cortical Songs kurz frei, dann unterlegen
Sprecher:
Warum ist es so schwierig, psychisches Erleben umstandslos auf das Gehirn zurückzuführen? Bei seinen Beobachtungen im Züricher Labor fiel Nicolas Langlitz auf, wie unterschiedlich die Versuchspersonen auf das Psylocybin reagierten. Manche bekamen wie er selbst mulmige Gefühle, erlebten enge Tunnelfahrten oder ähnliches. Andere konnten solche negativen Halluzinationen positiv umdeuten. Zum Beispiel ein Mann mit jahrelanger Meditationserfahrung.
O- TON 13 (Langlitz):
Der beschrieb diesen Trip also in der Entwicklung und sagte, zuerst hat er so karnevaleske Geisterzüge gesehen, Fratzen, also natürlich sehr angstbesetzte Bilder, die ihm da begegnet sind. Und wurde erst mal total übermannt von diesen visuellen Eindrücken, die dann auch Angst gemacht haben. Und dann erinnerte er sich an eine der ersten und einfachsten Meditationen, die er in seiner Ausbildung gelernt hatte, das war so eine ganz einfache Atemtechnik, wo er auf sein Einatmen und Ausatmen geachtet hat. Und das hat ihm dann erlaubt, seinen Geist zu konzentrieren, die Bilder sein zu lassen und im Endeffekt verschwinden zu lassen und die Angst zu überwinden, und darüber ist er dann in diesen ganz positiv erlebten Selbstentgrenzungszustand geraten.
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Atmo 1 und Musik 1 weg
Sprecher:
Neurowissenschaftler sprechen vom Gehirn oft so, als sei es bei jedem Menschen identisch. Dabei ist seit langem bekannt, dass sich Gehirne individuell unterscheiden. Das Areal für die Sprache kann zum Beispiel bei einem Menschen um mehrere Zentimeter größer sein als beim anderen, oder mehr rechts oder links liegen. Die Lebenserfahrung und das, was ein Mensch macht, beeinflussen sein Gehirn. Taxifahrer haben viel größere Areale zur Raumorientierung als Menschen, die meist im Büro sitzen. Hirnareale, die Fingerbewegungen steuern, sind bei Pianisten differenzierter ausgeprägt als bei anderen Menschen. Und eine Person mit großer Meditationserfahrung verfügt eben in ihrem Gehirn über Reaktionsmuster, mit deren Hilfe sie sich gut beruhigen kann.
Für Felix Hasler werden diese Erkenntnisse über das veränderbare und individuelle Gehirn in den Neurowissenschaft aber bis heute viel zu wenig ernst genommen.
O- TON 14 (Hasler)
Ist es denn nicht das ganze Gehirn, bzw. nicht nur das ganze Gehirn, sondern der ganze Mensch in seiner Lebenswelt, der eine Psychose hat? Das ist ja genau dieser Vorwurf, dass viele Hirnforscher so tun, als könne man das Gehirn aus dem Kopf extrahieren, in einem sozialen Vakuum ins Labor zerren und dort untersuchen. Das denke ich funktioniert natürlich überhaupt nicht, das kann einfach überhaupt nicht so gehen.
Sprecher:
Der Anthropologe Nicolas Langlitz beobachtete in Zürich auch, wie stark sich die Wissenschaftler bemühten, „bad trips“, also Horrorvisionen, bei den Versuchspersonen zu vermeiden. Sie gingen sehr freundlich mit ihnen um, legten bunte Kissen und Decken in den Laborraum oder hängten Bilder auf. Die Versuche mit den Halluzinogenen sollten in einer angenehmen Atmosphäre vor sich gehen.
O- TON 15 (Langlitz)
Dieses ethisch lobenswerte Verhalten der Wissenschaftler führt zugleich zu einer Verzerrung der Versuchsergebnisse. Man wird halt mehr positive Erfahrungen messen als negative, weil man die Probanden davor schützen möchte, sehr negative Dinge zu erleben. Und letzten Endes zeigt das natürlich, dass so ein Labor, so eine experimentelle Situation nicht einfach nur eine Situation zur Objektivierung eines Menschen und seines Erlebens ist, sondern immer auch eine zwischenmenschliche Dynamik hat, wo Intersubjektivität auch ganz stark eine Rolle spielt.
Atmo 1 und Musik 1 weg
Sprecher:
Nicolas Langlitz Resümee: eigentlich wissen die Neurowissenschaftler, dass psychologische und kulturelle Umstände Hirnprozesse beeinflussen. Bei interkulturellen Studien an Menschen zeigte sich, dass Hirn-Areale, die für das Ichgefühl zuständig sind, bei westlichen Versuchspersonen nur aktiviert wurden, wenn sie über sich selbst nachdachten. Bei Versuchspersonen aus Asien dagegen waren sie auch aktiv, wenn sie an ihre Mutter dachten. „Das“ menschliche Gehirn ist also flexibel und kann unterschiedlich geprägt werden. Es kann ein Ichgefühl repräsentieren, das für das isolierte, autonome Ich in westlichen Kulturen steht. Und ein Ichgefühl, bei dem der Einzelne viel stärker mit anderen Menschen verbunden ist. Für den Heidelberger
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Philosophen und Psychiater Thomas Fuchs, der auch zur Memorandumgruppe „Reflexive Neurowissenschaft“ gehört, bedeutet das: Das Gehirn ist ein zutiefst soziales Organ.
O- TON 16 (Fuchs)
Es ist ein Organ, das sich nicht einfach von genetischen Anlagen heraus entwickelt, sondern durch eine komplizierte Interaktion mit einerseits genetischen Voraussetzungen, biologischen Entwicklungsmomenten und mit sozialen, kulturellen Einflüssen, die in der frühen Kindheit zur besonderen Strukturierung des Neuronensystems beitragen und auf diese Weise eigentlich die Fähigkeiten herausformen, die uns das Gehirn dann zur Verfügung stellt.
Sprecher:
Die soziale Welt, in der ein Mensch aufwächst und in der er tätig ist, beeinflusst, welches Gehirn er besitzt. Ist es ein Gehirn, das eher für eine Gesellschaft mit autonomen Ichs oder für eine Gemeinschaft kollektiver Ichs geeignet ist? Ist es das Gehirn einer Klavierspielerin oder eines Taxifahrers? Das Gehirn ist für Thomas Fuchs daher mehr als nur Biologie. Es ist ein Medium für die Beziehungen zwischen Biologie und sozialer Welt.
O- TON 17 (Fuchs)
Da muss das Gehirn sozusagen immer eine Schleife herstellen oder vervollständigen in diesen Beziehungen. So dass wir in der Welt leben mit den Anderen, mit der Umwelt interagieren können. In dieser Beziehung ist das Gehirn eben ein vermittelndes oder ein Beziehungsorgan.
Sprecher:
Felix Tretter und einige andere der Memorandum-Gruppe denken in die gleiche Richtung. Sie fordern die Neurowissenschaftler auf, „systemischer“ zu denken. Es gehe nicht nur darum, die inneren Systeme des Gehirns zu analysieren, seine Zellen, seine Anatomie, seine Aktivitätsmuster und seine Netzwerke, sondern diese müssten in weitere Systeme eingebettet werden.
O- TON 18 (Tretter)
Vergesst bitte nicht erstens den Körper und zweitens natürlich den ganzen Menschen und drittens dass er eingebunden ist in die Umwelt und viertens, dass er in sprachliche Systeme eingebunden ist und fünftens vielleicht noch, dass er eben in einer Kultur, also ganz bestimmte Wertsysteme eingebaut, sozialisiert und so weiter ist und dass dieses, was wir da untersuchen von so vielen Hintergrundfaktoren mitbestimmt wird, dass es analytisch schon schwierig ist, hier irgendwie den genuinen Anteil des Gehirns, so wie es gebaut ist, dass man daraus zwingende Schlüsse ableiten kann.
Sprecher:
Praktisch bedeutet das, dass Neurowissenschaftler ihre Probanden immer unter verschiedensten Bedingungen testen sollten, um zu verstehen, wie das Gehirn auf Reize reagiert. Der Halluzinogenforscher Felix Hasler unterstützt diese Idee, fürchtet aber, dass ihre Umsetzung Grenzen hat:
O- TON 19 (Hasler)
Ich meine, wenn man noch diese kulturellen Eigenschaften oder diese Vorerfahrungen hinzunehmen möchte, muss man ja diese Studie mit hunderten oder tausenden Probanden machen. Und das kann man praktisch überhaupt nicht tun, auch nicht mit
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einem Scanner in den Amazonas gehen und dort kolumbianische Schamanen messen. Also ganz viele Dinge sind einfach praktisch gar nicht möglich.
Sprecher:
Versuchspersonen in psychologischen Studien kommen bisher zu über 90 Prozent aus den westlichen Industrienationen. Interkulturelle Studien sind in der Neuropsychologie nur eine Randerscheinung. Felix Hasler plädiert daher für eine Selbstbeschränkung der Neurowissenschaften. Sie sollten sich künftig auf Themen beschränken, bei denen man wirklich annehmen könne, dass der kulturelle Kontext zu vernachlässigen sei und ihre bisherigen Methoden greifen.
O- TON 20 (Hasler)
Was die Hirnforschung sehr gut kann und wo sie auch natürlich sehr wertvoll ist, sind ganz basale Mechanismen zu zeigen: wie sieht ein Mensch zum Beispiel, zum Teil hat man Ansätze, wie Gedächtnis funktioniert, aber da wird es schon holpriger, oder zum Beispiel wie Sprache produziert wird, wie Sprache verstanden wird, sensomotorische Steuerung, also alles diese wirklich sehr grundlegenden Dinge, da funktioniert das wunderbar. Wo es sehr schwierig wird, wenn es eben darüber hinausgeht: wenn man sagt, das ist der Ort im Gehirn, wo moralische Entscheidungen stattfinden, das funktioniert eben überhaupt nicht
Sprecher:
Wäre das eine Lösung für die Probleme der Neurowissenschaften: Beschränkung auf einfache, basale Sachverhalte? Ausklammern solcher für den menschlichen Geist wichtigen Dinge wie Moral, Gefühle, Bewusstsein oder soziales Verhalten? Diese Frage ist auch unter den reflexiven Neurowissenschaftlern umstritten.
Atmo 1: Raumatmo vermischt mit
Musik 1: Cortical Songs kurz frei, dann unterlegen
Sprecher:
An der der japanischen Universität Sendai führen Teams um den renommierten Physiologieprofessor Jun Tanji Hirnmessungen an Affen durch. Die Wissenschaftler messen z.B. mit Elektroden, welche Nervenzellen im Gehirn eines Affen aktiv werden, wenn er eine einfache Armbewegung macht. Wie auch andere Forscher hat Tanji festgestellt, dass dabei ganz bestimmte Zellen im Motorkortex des Tieres aktiv werden – also dem Teil des Gehirns, der Bewegungen plant und steuert.
Atmo 1: Raumatmo vermischt mit
Musik 1: Cortical Songs kurz hoch, dann unterlegen
Sprecher:
Verblüfft sind die japanischen Neurowissenschaftler jedoch, als sie den Versuch weiter führen. Ihre ersten Ergebnisse erstaunen sie so, dass sie einen Kollegen einladen, um sich das Ganze anzuschauen: den deutschen Neurowissenschaftler und Philosophen Georg Northoff, der an der kanadischen Universität Ottawa arbeitet:
O- TON 21 (Northoff)
Was die beobachten ist, dass also die gleiche Zelle ganz unterschiedliche Aktivitätsmuster zeigt, abhängig von dem jeweiligen Kontext der entsprechenden Aufgabe.
9
Sprecher:
Zunächst lassen die japanischen Forscher den Affen die Armbewegung nicht mehr für sich alleine ausführen, sondern inmitten einer Gruppe anderer Affen. Nun zeigen dieselben Zellen im Motorkortex plötzlich ein anderes Aktivitätsmuster. Schließlich soll der Affe die Bewegung noch in Kombination mit anderen Bewegungen ausführen. Wieder zeigt sich im Motorkortex ein verändertes Aktivitätsmuster.
Atmo 1 und Musik 1 weg
Sprecher:
Selbst ganz einfache, basale Bewegungen führen nicht zu eindeutigen Messergebnissen. Auch bei ihnen scheint der Kontext eine Rolle zu spielen. Man sollte also den Zusammenhang zwischen Gehirn und Kontext noch viel ernster nehmen als bisher, meint Georg Northoff:
O- TON 22 (Northoff)
Es ist nicht so, dass dort eine Aktivität ist, die erst einmal unabhängig vom Kontext generiert wird und dann so ein bisschen moduliert wird. Aus meiner Sicht muss man das viel radikaler betrachten: es ist nämlich eine notwendige Kontextabhängigkeit, das heißt, wir hätten überhaupt keine Aktivität im Gehirn, wenn dort kein Kontext wäre. Das heißt das Aktivitätsmuster dieser einzelnen Zelle und auch der einzelnen Regionen ist notwendig abhängig vom Kontext, um überhaupt irgendwelche Aktivität zu generieren. Und wie dieser Kontextbezug hergestellt wird ist bislang völlig unklar.
Sprecher:
Northoff spricht von einer grundsätzlichen Einheit zwischen Gehirn und Umwelt. Hirnaktivität hat nur innerhalb und für bestimmte Kontexte einen Sinn.
Studien, die zum Beispiel die Neuropsychologin Kristen Lindquist an der University of North Carolina in Bezug auf Emotionen durchgeführt hat, weisen in die gleiche Richtung. Lindquist fand bei ihren Forschungen keine bestimmten Netzwerke im Gehirn, die jeweils nur für eine bestimmte Emotion wie Furcht oder Ärger zuständig sind.
O- TON 23 (Lindquist, engl.)
There is brain activity … in a context
Zitatorin (overvoice):
Es gibt natürlich trotzdem Gehirnaktivitäten, die mit bestimmten emotionalen Erfahrungen zusammenhängen. Aber diese Muster sind sehr komplex und ziehen sich über das gesamte Gehirn. Sie haben auch mit ganz anderen Fähigkeiten zu tun, zum Beispiel mit dem Sehen, mit Körperempfindungen, Handeln oder mit Wissen. All diese im Gehirn verteilten Muster tragen zu den unterschiedlichsten Gefühlen bei: Furcht, Ärger, Ekel und so weiter. Im Prinzip müssen also viele Hirnregionen zusammenkommen, damit ein bestimmter geistiger Zustand wie eine Emotion entsteht. Es ist dann immer die jeweilige Situation, die darüber bestimmt, welche Emotion gerade in den Vordergrund rückt und empfunden wird. Für mich sind Emotionen daher „situierte Konzeptualisierungen“. Ihre Bedeutung erwächst aus dem, wie wir mit unserem Gehirn insgesamt die Situation verstehen, den Kontext, in dem wir uns befinden.
Sprecher:
10
Die Tatsache, dass der Kontext auch schon bei einfachen Bewegungen von Affen eine wichtige Rolle spielt, bringt Georg Northoff dazu, gegen die auch von Felix Hasler gemachte Unterscheidung zu argumentieren - hier die kontextabhängigen und komplizierten psychischen Fähigkeiten, bei denen die Hirnforscher vorsichtig sei sollten, dort die einfachen basalen Dinge wie Bewegung, Wahrnehmung oder Gedächtnis, bei denen die Hirnforschung ganz gut funktioniert
O- TON 24 (Northoff)
Wir sprechen immer von höheren mentalen Funktionen, sagen okay, die basalen haben wir schon verstanden, das Gehirn, wie es funktioniert, haben wir verstanden und dann so ein bisschen on top of it, wie da Bewusstsein noch drauf kommt, das kriegen wir auch noch gelöst, dafür müssen wir ein bisschen komplexer denken. Aber aus meiner Sicht haben wir schon das ganz basale nicht verstanden. Deswegen ist für mich der Begriff einer reflexiven Neurowissenschaft auch einfach insuffizient, wir müssen nicht nur Neurowissenschaften betreiben und dann ein bisschen reflexiver werden, wir müssen selber unsere grundsätzlichen Paradigmen ändern – zelluläre Ebene! Da sollten wir anfangen.
Musik:
Sprecher:
Wie weit also soll und muss die Selbstreflexion der Neurowissenschaften gehen? Soll sie nur vor Übertreibungen und ungerechtfertigter Übertragung von Hirnprozessen auf geistige und psychische Fähigkeiten warnen und mehr theoretische Reflexion einfordern? Oder geht es darum, das Gehirn selbst ganz neu zu verstehen - als eine Art biosoziales Kontextorgan selbst auf der Ebene einfacher Nervenzellen? Diese Fragen werden in Zukunft auch die Gehirne der reflexiven Neurowissenschaftler intensiv beanspruchen.
Atmo 1: Raumatmo vermischt mit
Musik 1: Cortical Songs kurz frei, dann unterlegen
Sprecher:
Im Züricher Labor wird heute immer noch über Psychosen und halluzinogene Substanzen gearbeitet. Der Psychopharmakologe Felix Hasler allerdings ist nicht mehr dabei. Es waren unter anderem die kritischen Diskussionen mit dem Anthropologen Nicolas Langlitz, die ihn auf einen anderen Weg führten.
O- TON 25 (Hasler)
Nachdem ich das 10 Jahre lang gemacht habe, habe ich in einem gewissen Sinne mich entweder weiter entwickelt oder auch die Seiten gewechselt und mache in der Zwischenzeit eine eher wissenschaftshistorische Arbeit über die Grenzen und auch die Probleme der zeitgenössischen Hirnforschung.
Sprecher:
Felix Hasler hat sich inzwischen ebenfalls der Memorandum-Gruppe der reflexiven Neurowissenschaftler angeschlossen. Er hat zwar einige positive Veränderungen in der Hirnforschung beobachtet, fordert aber weiter gehende Konsequenzen.
O- TON 26 (Hasler)
11
Ich glaube so dieser Höhepunkt dieser völligen Überschätzung, der ist tatsächlich durch, dennoch gibt es natürlich nimmer noch Ansätze. Wenn die Hirnforscher schon dran gehen, soziologische und philosophische Konzepte zu überprüfen, beispielsweise, Ehre, Liebe oder klassisch der freie Wille, was bedeutet Freiheit überhaupt, Freiheit wovon, und dann sollen sie das bitte wenigstens tun in Zusammenarbeit mit Philosophen, die sich von Berufs wegen eben auch mit diesen Konzepten auskennen.
Sprecher:
Ähnliche Forderungen erhebt auch der Initiator des Memorandums, Felix Tretter. Er ist allerdings weitaus skeptischer, was Veränderungen betrifft. Bislang seien die reflexiven Neurowissenschaftler noch klar in der Minderheit.
O- TON 27 (Tretter)
Also ich sehe das nicht, dass das jetzt stärker einbezogen wird, also in der Forschung, Forschungspolitik usw. ist überhaupt keine Spur davon. Vor allem ist ja die Forschungspolitik auf Großprojekte ausgerichtet und die wird nichts anderes tun, als das, was bereits da ist, um den Faktor zehn zu replizieren. Also da erwarte ich keine Innovation, Innovation kann nur in kleinen Bereichen stattfinden. Aber es ist interessant.
Sprecher;
Die Gruppe der reflexiven Neurowissenschaftler wird mit ihrer Kritik weitermachen – auch wenn sie kein völlig homogenes Konzept hat. Aber vielleicht ist sie ja ein Stachel. Und vielleicht trägt sie zu einer Entwicklung der Hirnforschung bei, wie Georg Northoff sie erahnt.
O- TON 28 (Northoff)
Ich glaube, dass wir in 20, 30 Jahren zurückblicken und sagen: ach Gott!
Regie: Musik noch einmal hoch, dann weg
* * * * *
Buchtipps:
- Christine Grünhut/Felix Tretter: Ist das Gehirn der Geist? Grundfragen der Neurophilosphie. Hogrefe Verlag, 2011
- Felix Hasler:
Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, transcript Verlag, 2012
- Georg Northoff:
Das disziplinlose Gehirn. Was nun, Herr Kant? Auf den Spuren des Bewusstseins mit der Neurophilosophie, Irisiana Verlag München, 2012
- Georg Northoff:
12
Minding the Brain. A Guide to Philosophy and Neuroscience, Palgrave, 2014
Links:
Memorandum der Gruppe „Reflexive Neurowissenschaft“: http://www.upd.unibe.ch/research/seminarthemen/Memorandum Neurowissenschaft.pdf
Kritische Neurowissenschaftsseite der Berliner Charité:
http://psyccm.charite.de/forschung/interkulturelle_migrations_und_versorgungsforschung_sozialpsychiatrie/ag_critical_neuroscience/
Aufsatz zur Kritischen Philosophie der Neurowissenschaften von Prof. Jan Slaby, FU Berlinhttp://www.academia.edu/1369304/Perspektiven_einer_kritischen_Philosophie_der_Neurowissenschaften