Ralf Caspary: Alles Neuro? Was die Hirnforschung verspricht und nicht halten kann

Publikation: Juli 2010 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
<< Ralf Caspary: Alles Neuro? Was die Hirnforschung verspricht und nicht halten kann >>
224 Seiten, Flexcover; 12,0 x 19,0 cm ; ISBN 978-3-451-30275-6; €[D] 14,95 / sFr 25.50
Verlag Herder GmbH, Freiburg; www.herder.de;

Inhalt
Was ist dran an der Hirnforschung, ihren Behauptungen und vielen Versprechungen? Ein Weg in eine bessere Zukunft oder überzogene Utopien? Der Wissenschaftsjournalist Ralf Caspary, seit Jahren mit den Ergebnissen und Versprechungen der Hirnforscher vertraut, benennt die Irrtümer der Neurowissenschaft und ihre wunderbaren Heilsmythen.Ein polemisches, ein nötiges Buch.

Autor
Ralf Caspary, geb. 1958, seit 1990 Moderator und Redakteur in der Hörfunk-Kulturredaktion des SWF, ab 2003 Wissenschaftsredakteur und Feature-Autor beim SWR, ab 2006 verantwortlich für das Wissensmagazin "Impuls".

Fazit
Der höchst einfühlsame und stets wache Diskurspartner in der Moderation der Wissenschaftsredaktion und Feature-Autor beim SWR, Ralf Caspary stellt in seinem Diskursbuch " Alles Neuro?" klar "Was die Hirnforschung verspricht und nicht halten kann". Caspary zeigt mit kritischen Esprit wie der
Abschied von der Willensfreiheit aussieht und ob wir nur bessere Bioautomaten sind. Er beleuchtet den funktionalisten Reduktionismus, trennt gefährliche Utopie von Vision, schildert die überakive Experimentierfreudigkeit mit Mäusen, Ratten, Schnecken und Menschen! In seinem kritisch beleuchteten "Neuromythos" wird uns mehr und mehr klar gemacht, dass wir uns den Hirnforschungs-Resultaten nur sehr vorsichtig nähern sollen und sie in unserer forcierten und überhitzten Leistungsgesellschaft den uns vorgespiegelten, gedankenbleichen Neuro-Schein des prometheischen Neuronenfeuers nicht zum -Sein stilisieren dürfen, davor warnt Ralf Caspary zu unserem Glück. w.p.10-7

Ralf Caspary: “Das Ich und sein Gehirn - Revolutioniert die Hirnforschung das Menschenbild?



SWR2 Wissen. Redaktion: Sonja Striegl; Sendung: Mittwoch, 05. Mai 2004, 8.30 Uhr, SWR2 (Archiv-Nr.: 0092831) Wiederholung: Mittwoch, 24. August 2005, 8.30 Uhr, SWR2. Bitte beachten Sie:Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Überblick
Freiheit, Identität, Bewusstsein, Verantwortung - für jeden Philosophen sind das zentrale Kategorien, ohne sie ist der Mensch nicht Mensch. Viel nüchterner sehen das moderne Hirnforscher. Für sie sind diese metaphysischen Begriffe geisteswissenschaftlicher Ballast, der über Bord geworfen werden muss.

Denn Experimente und Erkenntnisse der Neurowissenschaften zeichnen ein anderes Menschenbild. Der Hirnforscher Wolf Dieter Singer etwa meint, es sei falsch, zwischen freien oder unfreien Handlungen zu unterscheiden, alle Handlungen seien Ergebnisse neuronaler Verschaltungen. Dieser Ansatz hat Konsequenzen für den Freiheitsbegriff und für das Toleranzkonzept: Wenn diese Unterscheidung hinfällig wird, dürfte man Menschen, die durch abweichendes Verhalten auffallen, nicht diskriminieren.


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O-Ton 1a (ZDF - Philosophisches Quartett):
(Musik und Klatschen) „Guten Abend, meine Damen und Herren. Ich begrüße Sie zu einer neuen Folge unserer Sendung ‚das Philosophische Quartett’. Unsere Gäste diskutieren heute über die Frage: Wie frei ist das Gehirn?“

Sprecher:
Wer hätte das gedacht: Eine wissenschaftliche Disziplin, die dem Laien Angst macht, weil sie kühl und sachlich unser edelstes Organ, das Gehirn, mit großem technischem Raffinement durchleuchtet, scheint in den letzten Monaten eine gesellschaftliche Relevanz erhalten zu haben, die sie sogar tauglich macht für den Diskurs in Fernsehtalkshows. Im „Philosophischen Quartett“ des ZDF zerbrachen sich die Fernsehphilosophen Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski zusammen mit geladenen Gästen die gelehrten Köpfe über einige Ergebnisse der Hirnforschung.

O-Ton 1b (ZDF - Philosophisches Quartett):
„Es scheint ja, dass in Europa immer irgendein unheimlicher Gast vor der Tür steht, im 18. Jahrhundert war es der Wilde, der an unsere Türen klopfte, und an der Wende vom 20. zum 21. stellt sich ein neuer Gast vor, das Gehirn.“

Sprecher:
„Das Ich und sein Gehirn - Revolutioniert die Hirnforschung unser Menschenbild?“ Eine Sendung von Ralf Caspary.

Sloterdijk sprach im Philosophischen Fernseh-Quartett nicht nur von einem neuen unheimlichen Gast, sondern auch von einer neuen Kränkung. Seine These lautet: Die moderne Hirnforschung verunsichere uns zutiefst, weil sie liebgewordene Sicherheiten und vielfach eingeübte Denkmuster und Denkbilder rigoros in Frage stelle, vielleicht sogar ein für allemal auf den Schutthaufen der Geschichte verbanne.

Fern von jeglichem medialen Geplauder arbeitet Thomas Metzinger als Philosoph an der Universität Mainz und verfolgt die Fortschritte innerhalb der Neurowissenschaften aufmerksam und kritisch. Den Begriff Kränkung hält er zwar für überzogen, dennoch sagt auch er, dass die Hirnforschung unser traditionelles Selbstverständnis in entscheidenden Punkten korrigiert:

O-Ton 2 - Thomas Metzinger:
Die Hirnforschung verändert unser Menschenbild gegenwärtig so stark wie keine andere wissenschaftliche Theorie, vor allem auch in einem Tempo, wie es in der Geschichte der Menschheit noch nie stattgefunden hat.

Bisher hatten wir immer die Idee, dass es doch zumindest einen Rest, einen Kern gibt, ein transzendentales Subjekt, das nicht natürlich ist im Menschen. Und jetzt gerät das erste Mal ein Bild in Umlauf, das auch sehr überzeugend ist, das zeigt, wie wir auch in unseren geistigen Eigenschaften, in unserem Selbstgefühl ganz von unten uns entwickelt haben und nur natürliche Wurzeln haben in unserem Kern. Diese Erkenntnisse berühren uns auf verschiedene Weise in unserer geistigen Intimsphäre. Und vielen Menschen widerstrebt es intuitiv, dass auch unser Geist etwas sein soll, was letztlich einfach aus der Selbstorganisation heraus aus biologischen Zufallsprozessen entstanden sein soll.

Sprecher:
Metzinger spricht den Kern der Debatte an, die in Deutschland seit Monaten geführt wird und die zugleich auf das vermeintliche Innovationspotenzial der Hirnforschung verweist. Ihre Exponenten lehnen sich weit aus ihren Laborfenstern und verkünden selbstbewusst und manchmal auch mit ein wenig Revolutions-Pathos ein neues Menschenbild, das man mit wenigen starken Strichen folgendermaßen skizzieren kann: Wir Menschen sind nichts weiter als ein Haufen Neuronen, unser Geist ist nichts anderes als unser Gehirn, wir sind Bioautomaten, die sich lediglich einbilden, eine metaphysische Dimension zu haben.

Nicht alle Hirnforscher proklamieren unisono diese Hypothese, es ist nur ein kleiner, dafür aber wichtiger Teil. Zu nennen sind Gerhard Roth, Leiter des Hanse Wissenschaftskollegs in Delmenhorst, und Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Diese beiden Hirnforscher stehen im Mittelpunkt der Debatte über das neue Menschenbild. Ihre Thesen klingen radikal und revolutionär, aber sie sind in der Forschergemeinschaft auch umstritten.

Wenn alle geistigen Prozesse und Akte quasi bessere Abfallprodukte neuronaler Prozesse sind, wenn sich hinter dem menschlichen Geist nur Naturgesetze verbergen und keine rätselhafte unbekannte Metaphysik, dann steht gleichzeitig ein fundamentales Beschreibungsmuster unseres Selbstbildes zur Disposition: Es geht um die Willensfreiheit, um die von der idealistischen philosophischen Tradition postulierte Möglichkeit des Menschen, sich qua rationaler Handlung von der Welt der Naturgesetze zu befreien und ins Reich der Vernunftordnung vorzudringen.

Der Hirnforscher Gerhard Roth macht unmissverständlich deutlich, was er von diesem traditionellen Handlungs-Konzept hält:

O-Ton 3 - Gerhard Roth:
Jeder normale Mensch, wenn er gefragt wird, wer hat da deinen Arm bewegt, sagt: ich war das. Und wenn man fragt, ja wer ist denn das ich, dann sagen sie, der der gerade denkt und fühlt, dieses bewusste Ich. Das ist der Akteur, der Verursacher, der mentale geistige Verursacher meiner Handlungen, so wie Kant das auch geschrieben hat und Descartes und alle Philosophen. Und die moderne Forschung zeigt, dass das eine Illusion ist. Und zwar aufgrund ganz einfacher Experimente. Man kann jemanden im Labor die Wahl geben, mit der linken oder rechten Hand einen linken oder rechten Knopf zu drücken. Entweder ich muss links einen Knopf drücken oder rechts den Knopf drücken. Und ich muss das so schnell wie möglich tun. Aber ich habe die Wahl. Da kommen bestimmte Stimuli, und ich muss darauf reagieren, und die sind uneindeutig. Und dann wird kurz vorher, bevor ich reagieren kann, wird mir für 30 Millisekunden, d. h. unbewusst ein großer Pfeil nach links oder nach rechts gezeigt. Und jetzt kann man zeigen, wenn die Wahl vorher Fifty-Fifty war, dann reagieren die Leute bevorzugt in die Richtung, in der der unbewusst wahrgenommene Pfeil führt.

Sprecher:
Roths These lautet: Unser Handeln folgt primär unbewussten Impulsen, und er beruft sich vor allem auf ein klassisches Experiment des US-amerikanischen Neuropsychologen Benjamin Libet. Libet wollte herausfinden, wie menschliches Handeln strukturiert ist, welche zeitliche Chronologie dabei eine Rolle spielt. Er entwickelte eine Versuchsanordnung, bei der die Probanden aufgefordert wurden, irgendeinen Körperteil zu bewegen. Libet erwartete folgenden Ablauf: An erster Stelle steht der Willensentschluss, der sich in Aussagen wie „Ich werde jetzt meine rechte Hand heben“ artikuliert. Dann baut sich im Gehirn ein Bereitschaftspotenzial auf, das ist der messbare neuronale Prozess der Vorbereitung einer Körperbewegung, und dann kommt es schließlich zur Ausführung der Körperbewegung.

Als Libet das Experiment durchführte, zeigte sich überraschenderweise, dass die angenommene Chronologie falsch war: Das Bereitschaftspotenzial ging nämlich der bewussten Willentscheidung um rund ein Fünftel Sekunde voraus, das heißt: Das Gehirn hatte die Handlung bereits eingeleitet und geplant, bevor sich die Person auf bewusste Weise zu ihr entschließen konnte.

Manche Hirnforscher ziehen aus Libets Experiment den Schluss: Wir tun nicht was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun. Sie negieren damit das herkömmliche Konzept des freien Willens, weil das handelnde Subjekt im Grunde von einer neuronalen Maschine gesteuert wird, die im vorhinein die Handlung festlegt. Der US-amerikanische Psychologe und Neurowissenschaftler Michael Gazzaniga geht sogar so weit zu behaupten: Wir sind die letzten, die erfahren, was unser Gehirn vorhat.

Gerhard Roth argumentiert ähnlich:

O-Ton 4 - Gerhard Roth:
Wenn ich nach einer Kaffeetasse greifen will und fest entschlossen bin, das zu tun, wird zwei Sekunden vorher noch einmal abgeprüft, ob mein unbewusstes Handlungsgedächtnis, das in den Basal-Ganglien sitzt, einverstanden ist damit, das auch jetzt zu tun und zusätzlich auch genau in der Weise zu tun. Da sitzt nämlich sozusagen die Anweisung, wie man das zu tun hat aus der Erfahrung. Und wenn die Basal-Ganglien aus irgendwelchen Gründen „Nein“ sagen, dann findet das nicht statt, weil mein bewusster Wille alleine das nicht in Gang setzen kann.

Insofern ist es von philosophischer Seite nur verständlich, wenn man sagt, mit Kant zu sprechen, es ist absurd in der Welt des Naturgeschehens die Willensfreiheit suchen und finden zu wollen. Das ist absurd. Absurd erscheint es aber, dann zu sagen, es gibt sie doch. Obwohl es keinen Beweis dafür gibt. Ich fühle es eben. Das ist lächerlich.

Sprecher:
Gerhard Roth ist davon überzeugt, dass man aus neurobiologischer Perspektive nicht mehr vom freien Willen sprechen kann, weil das bewusste rationale Ich nicht die Instanz ist, die das Handeln steuert, sondern das limbische System, also unser „unbewusstes Handlungsgedächtnis“, das, wie Roth eben ausgeführt hat, in den Basal-Ganglien sitzt und tief im Innern des Gehirns zu lokalisieren ist. Dieses System kann man als neurobiologisches Korrelat zu Freuds Konzept des Unbewussten verstehen. Es agiert jenseits des Bewusstseins und hat einen direkten Zugriff auf diejenigen Systeme in unserem Gehirn, die letztendlich unser Handeln bestimmen. Das rationale Subjekt ist aufgrund dieser Theorie nicht mehr Herr im eigenen Haus, nicht mehr der Steuermann, der das Ruder fest in der Hand hält. Es ist höchstens noch ein geduldeter Hausknecht, der seine Befehle vom limbischen System erhält. Roth geht sogar so weit zu behaupten, dass selbst bei Handlungen, die aus einem langen Prozess des rationalen Abwägens resultieren, ebenfalls das limbische System darüber entscheide, ob diese Handlungen letztlich ausgeführt werden.

Gewiss: Roths Ansatz ist nicht neu. Schon Sigmund Freud entmachtete das rationale Ich, schon Nietzsche versuchte das rationalistische Menschenbild zu attackieren, indem er provokant anmerkte: Man solle nicht sagen: „Ich“ denke, sondern „Es“ denkt. Dennoch beunruhigt die Vorstellung, wir seien alle fremdgesteuert, und das autonome Ich, das wir gemeinhin als metaphysisches Prinzip definieren, sei eine pure Illusion.

Der Philosoph Thomas Metzinger macht darauf aufmerksam, dass dieses Menschenbild der Neurobiologie unvereinbar ist mit unserem subjektiven Erleben:


O-Ton 5 - Thomas Metzinger:
Wenn wir versuchen wollten, uns auch so zu erleben wie die Hirnforscher uns in der Zukunft vielleicht mal beschreiben, wenn wir die objektive Sicht sozusagen integrieren sollten in die subjektive Sicht, dann könnte es tatsächlich sein, dass wir uns in einem viel größeren Ausmaß als fremdgesteuert erleben müssten, als wir das jetzt tun. Und Menschen, die sich plötzlich wie Maschinen, wie Automaten oder als fremdgesteuert empfinden, die gehen sehr häufig zum Psychiater. Jeden Tag tauchen solche Leute bei Psychiatern auf, und es gibt auch Fachbegriffe dafür, wie z. B. den der Depersonalisation. Also wenn man nicht mehr in der Lage ist, sich als frei entscheidende Person, die Ursachen setzt aus vernünftigen Einsichten heraus, zu erleben in der Lage ist, dann kriegt man normalerweise Angst. Und ich denke, das ist auch ein Kern, den viele nicht deutlich formuliert haben, des Unbehagens, dass Leute das Gefühl haben, also wenn das stimmt, so wie die das da verkünden und ich soll mich so erleben, das ist ja ein bisschen wie verrückt sein.

Sprecher:
Das Unbehagen an den Neurowissenschaften hat auch damit zu tun, dass mit den neuen Konzepten weitreichende soziale und kulturelle Konsequenzen verbunden sind, die nicht nur unser Menschenbild verändern könnten, sondern möglicherweise auch unseren sozialen Wertekanon. Das limbische System ist für den Hirnforscher Roth auch der Bereich der emotionalen Prägung. In diesem Areal wird festgelegt, ob ein Mensch in bestimmten Situationen aggressiv reagiert, ob er gerne lernt; ob er Lust empfindet, wenn er Gewalt konsumiert, ob er Glücksgefühle hat, wenn er andere schlecht behandelt. Im limbischen System bildet sich die emotionale Grundstruktur des Charakters heraus, hier fällt sehr früh, schon im Kindesalter, die Entscheidung: Wird man ein ganz normaler Erwachsener oder einer, der permanent durch abweichendes Verhalten auffällt.

O-Ton 6 - Gerhard Roth:
Man kann sagen, dass im Alter bis zu 6/7 Jahren, oder wenn man sehr optimistisch ist, bis 10 Jahren das limbische System sehr plastisch ist. Dann zieht sich das zu, und die Chancen, an solchen Menschen oder auch uns völlig normalen irgendwas noch ändern zu wollen, was Persönlichkeit und Charakter betrifft, ist gering. Also eine Zahl wäre 20 Prozent, die so gehandelt wird. Ist gering. Aber nicht Null. Also das wichtigste wäre, sehr früh, im Kindergarten schon, die Kinder zu beobachten, was ja auch zum Teil gemacht wird, und zu sehen, ob sie ein abnormes Verhalten an den Tag legen und therapeutisch einzugreifen. Ein Drittel der verhaltensauffälligen Jugendlichen, Jungens werden schwere Gewalttäter. Da findet man eben immer etwas. Man findet physiologische Störungen, man findet insbesondere frühkindlich traumatisierende Ereignisse. Man findet immer was.

Sprecher:
Dieses Konzept der frühkindlichen Prägung auf Grundlage des limbischen Systems beinhaltet konkrete sozialpsychologische und auch strafrechtliche Aspekte. Roth fordert nicht nur dazu auf, schon im Kindergarten präventiv auf verhaltensauffällige Kinder zu achten, er macht auch Vorschläge zum Umgang mit Straftätern:

O-Ton 7 - Gerhard Roth:
Das ist ja ein so kompliziertes System, das ist ja nicht so ein Uhrwerk, sondern da sind Milliarden von Nervenzellen, die jede Sekunde arbeiten, und das kann häufig schief gehen. Also 10 Prozent unserer Bevölkerung haben eine schwere Macke, sage ich mal so. Und deshalb gibt es eben Gewalttäter oder Pädophile oder sonst was, und die können natürlich im metaphysischen Sinne nichts dafür, im ethischen Sinne, aber die Gesellschaft hat das Recht, sich das zu verbitten. D. h. sie zu therapieren versuchen, sie umzuerziehen versuchen, oder wenn das nicht geht, sie weg zu schließen. Das wird ja auch gemacht. D. h. das Strafrecht müsste viel ernster genommen werden. Nicht als Strafrecht, sondern als Therapierecht. Oder als Wegschlussrecht.

Sprecher:
Auch dieser Ansatz von Roth ist umstritten. Psychiater, Juristen und Ethiker befürchten, dass irgendwann einmal die ersten Verteidiger im Rahmen eines Prozesses damit beginnen, die Schuldfähigkeit ihrer Mandanten mit Verweis auf die Hirnforschung in Frage zu stellen. Wer ist schon für seine Taten verantwortlich, wenn er vom limbischen System gesteuert wurde? Und welche Rolle spielen in Zukunft Willensbekundungen, die Menschen in Patientenverfügungen hinterlegt haben, wenn der freie Wille eine Illusion ist.

Der Wissenschaftshistoriker Olaf Breidbach von der Universität Jena, der sich schwerpunktmäßig mit der Geschichte der Hirnforschung beschäftigt, hält den Zusammenhang von Neurowissenschaft und Moral prinzipiell für problematisch; sein Vorwurf lautet: Die Hirnforscher arbeiten manchmal mit zu einfachen Methoden und Freiheitskonzepten und erwecken dadurch den Eindruck, sie könnten schwierige moralische Probleme in den Griff bekommen:

O- Ton 8 - Olaf Breidbach:
Es ist ein falscher Freiheitsbegriff, es ist ein Personenbegriff, der die Person auf das reduziert, was abbildbar ist, und zu sehr kuriosen Entwicklungen kommt, die einem Medizinhistoriker bekannt sind und die zurückgehen auf etwas, was einmal Schädellehre hieß, und das in ganz ähnlicher Weise funktionierte. Und zwar wird in der Psychologie, die Aussagen über Schuldfähigkeit von Tätern machen muss, zunehmend auf die Hirnforschung rekurriert. Man kann nun folgendes machen. Man nimmt das Hirn von einem Mörder, macht dann Fotos, macht von einem anderen Mörder-Gehirn ebenfalls Fotos und nimmt sich vier normale Leute und macht von deren Hirnen Fotos. Dann macht man Statistik. Und dann gibt es bestimmt irgendetwas, was diese beiden Mörder von den Normalen unterscheidet, na ja, dann sagt man, jetzt habe ich einen Filter, alle die dem Typus Mörder entsprechen sind unschuldig, weil die eine neurophysiologische Störung haben, und die anderen sind der Normwert. Das ist genau das, was die Schädellehre auch gemacht hat, es wurde versucht, mit einem kruden Freiheitsbegriff den Charakter zu beschreiben und dann hat man behauptet, man habe einen Knochen des Bösen gefunden oder einen Bereich im Gehirn für Liebe oder für die Fähigkeit Kant zu lesen.

Sprecher:
Auch Manfred Spitzer rät im Umgang mit den Thesen einiger Neurowissenschaftler zu mehr Besonnenheit und kritischer Distanz. Er ist Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm und arbeitet an der Schnittstelle zwischen Neurobiologie und Psychologie:

O-Ton 9 - Manfred Spitzer:
Ich denke mir, die Neurobiologie zeigt uns einfach Funktionsweisen des Gehirns auf, die uns einen Anstoß geben, noch einmal darüber nachzudenken, ob das, was wir bislang so als Grundfesten angenommen haben, ob das stimmt. Ich glaub nicht, dass die Neurobiologie jetzt so ganz schnell alles umwirft oder das man philosophische Probleme eben mal schnell im Scanner lösen könnte, ich glaube auch nicht, dass damit die Willensfreiheit gleich ad absurdum geführt wird, ich denke mir, da wird vieles auch ein bisschen zu schnell und zu wenig bedacht. Dass man jetzt Leute in den Scanner legt und sie mit oder ohne Inbrunst beten lässt, um etwas über Gott zu erfahren, das wiederum halte ich für fast nen bisschen naiv, muss man sagen.

Sprecher:
Die Neurobiologen suchen, wie Spitzer andeutet, in ihren Labors nicht nur nach dem Sitz religiöser Gefühle im Gehirn; ein US-amerikanischer Neuropsychiater schiebt neuerdings Probanden in einen Kernspintomografen und zeigt ihnen währenddessen Werbespots von Präsident Bush und seinem Herausforderer, um herauszufinden auf welche Themen die Gehirne positiv oder negativ reagieren. Beide Beispiele zeigen, wie prekär es ist, wenn eine naturwissenschaftliche Disziplin ihre Grenzen übersteigt und sich in moralisch-metaphysische Höhen hinaufschwingen möchte, als könne man aus der Neurobiologie eine neue Neuropolitik hervorzaubern, oder demnächst sogar eine Neuroreligion.

In diesem Zusammenhang warnt auch der Philosoph Thomas Metzinger vor voreiligen Schlussfolgerungen und zu simplen Thesen.

O-Ton 10 - Thomas Metzinger:
Also die zwei wichtigsten Fehler, die in dieser öffentlichen Diskussion dieser zwei Jahren über die Willensfreiheit tobt, immer gemacht werden, sind dass die Leute entweder denken, die Antwort muss ja oder nein sein: wir haben Willensfreiheit oder wir haben sie nicht. Das ist falsch. Die meisten Philosophen würden sagen, es gibt eine dritte Lösung. Die sagt, ja, die Gesetze der Physik gelten auch im Gehirn. Das Gehirn ist ein physikalisch determiniertes System, und wir können vernünftig und moralisch sensitiv, wie Philosophen sagen, empfindsam für normative ethische Probleme sein. Das ist kein Widerspruch. Der zweite Hauptfehler, der immer von allen Leuten gemacht wird ist, anzunehmen, jeder wüsste, was eigentlich ein Wille ist. Ich habe noch nie einen gesehen. Man weiß auch nicht, wie viel er wiegt oder was für eine Farbe er hat. D. h. Willen sind erst mal keine objektiv beobachtbaren Ereignisse in der Welt.

Sprecher:
Mit anderen Worten: Es ist wenig fruchtbar einen neuen Reduktionismus verkünden zu wollen, der behauptet, Geist, Bewusstsein und Wille seien den Naturgesetzen unterworfen, und irgendwann in der Zukunft werde die blumige Rede von diesen Kategorien überflüssig, wenn nämlich empirische Wissenschaften alle geistigen Phänomene umfassend beschreiben könnten. Dann könnte das Zeitalter der Illusionen und der metaphysischen Windbeuteleien endlich zu Grabe getragen werden. Das ist schon deshalb eine gefährliche Vereinfachung, weil das Verhältnis von Geist und Materie, an dem sich Generationen von Philosophen bis heute abarbeiten, längst nicht geklärt ist. Das weiß wiederum auch der Hirnforscher Gerhard Roth:

O-Ton 11 - Gerhard Roth:
Geistige Anstrengung ist eine physiologische Anstrengung. Und kein Dualist kann mir erklären, weshalb Gedanken haben und Konzentration besonders viel Sauerstoff und Glukose verbrauchen. Und die Neuronen besonders stark feuern müssen. Warum? Das kann ein Dualist, der an die völlige Autonomie des Geistes glaubt, mir nicht erklären. Das alles heißt aber nicht, dass wir erklären könnten, was Geist ist als Neurobiologen. Das einzige, was wir nur sagen können, das ist aber auch schon mehr als man jemals glaubte erreichen zu können, unter bestimmten physikalisch-chemisch-physiologischen Bedingungen tritt Geist und Bewusstsein notwendig auf. Geist und Bewusstsein sind aber nur introspektiv erfahrbar. D. h. ich werde neurobiologisch nicht erklären können, was es ist, bewusst zu sein. Das kann ich nur introspektiv. Ich kann erklären, welche Funktion Bewusstsein hat. Wie sich Menschen verhalten, wenn sie Bewusstsein haben, wenn sie nicht Bewusstsein haben. Das Gefühl, bewusst zu sein, kann ich nicht erklären. Ich kann auch nicht erklären, wie es ist, grün oder blau oder gelb oder rot zu sehen.
Sprecher:
Hier liegen also die Grenzen der Neurowissenschaften, die eben nicht zu erklären vermögen, was es für ein Subjekt heißt, seinen freien Willen zu erleben. Diese radikal subjektive Perspektive bleibt der Neurowissenschaft verborgen; sie kann immer nur das Gehirn aus der, wie es im Wissenschaftsjargon heißt, Dritten-Person-Perspektive beschreiben; und auf dieser Ebene spielen Kategorien wie Seele, Freiheit, Bewusstsein, Geist als metaphysische Prinzipien keine Rolle. Das heißt aber nicht, dass diese Kategorien, nur weil man sie mittels empirischer Experimente nicht nachweisen kann, auch keine Bedeutung hätten. Der Medizinhistoriker Olaf Breidbach verweist auf eine Anekdote, die er dem australischen Physiologen und Medizin-Nobelpreisträger Sir John Eccles verdankt:

O-Ton 12 - Olaf Breidbach:
Die Geschichte mit der Seele, die ich nicht sehen kann, da erinnere ich mich an eine Geschichte mit Eccles, den musste ich bei einer Diskussion einführen und der zeigte zum Schluss ein Dia mit einem Hirnschnitt, ein normales elektronenmikroskopisches Abbild, und er zeigte auf eine Stelle: „Und da ist jetzt die Seele“. Ich sagte: „Sir John, das ist ne normale Färbung“. Ja, das wüsste er auch, aber er könnte doch nicht alles verraten. Also so kann man mit dem Zeug nicht umgehen, man muss sich auch mal beschränken und sagen, es gibt bestimmte Sachen, die kann ich in dieser Wissenschaft nicht abbilden, die sind aber deswegen nicht da, weil ich sie nicht abbilden kann.

Sprecher:
Bis zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich in keiner Weise ein abschließendes Urteil fällen für oder gegen die neuen Konzepte der Hirnforschung, für oder gegen den metaphysischen Kern im Menschen, für oder gegen Willensfreiheit. Die Zukunft ist offen. Aber die Hirnforschung hat einen Weg eingeschlagen, auf dem Gefahren lauern. Thomas Metzinger:

O-Ton 13 - Thomas Metzinger:
Es gibt diese psychosozialen Folgekosten. Also wir wissen alle nicht, was würde denn mit unserer Gesellschaft werden, wenn sich neue Einsichten, mal angenommen, die ließen sich halten und stabilisieren, über uns selbst durchsetzen würden, könnte das nicht - ich karikiere jetzt mal - die Folge haben, dass niemand mehr zuhört, was die Philosophen und die Hirnforscher wirklich im Einzelnen sagen, sondern dass sich wie so ein Lauffeuer, wie ein Gerücht ein Vulgärmaterialismus verbreitet, der sagt: Also hört mal zu Kinder, es gibt keinen Gott, es gibt keine Seele, das ist ein kaltes leeres Universum, und wir sind ’ne bessere Art von Bioautomaten, wir sind nie gefragt worden, ob wir leben wollen, wir werden nie gefragt werden, ob wir sterben wollen, und es gibt wirklich nur eins: Jeder gegen Jeden und versuchen, so viel wie möglich für sich selbst raus zu holen in den verbleibenden Jahren noch. D. h. das Stichwort heißt hier: Ent-Solidarisierung.

Sprecher:
Dieser Vulgärmaterialismus könnte sich quasi hinter unserem Rücken dann etablieren, wenn die Ergebnisse der Hirnforschung simplifiziert werden, sei es durch die Medien oder durch die Forscher selbst, die unter Druck schnell mal plakative, radikale Thesen und Revolutionen verkünden, um letztlich mehr Forschungsgelder zu bekommen.

Und noch etwas ist wichtig: Die Hirnforschung versucht das Rätsel und die Mechanik des menschlichen Bewusstseins zu ergründen. Sie könnte damit den Weg frei machen für die Entwicklung und Anwendung neuer Bewusstseinstechnologien, mit denen eine geschickt operierende Bewusstseinsindustrie subjektives Erleben manipulieren könnte.

O-Ton 14 - Thomas Metzinger:
Wenn es ein neuronales Korrelat von Bewusstsein gibt, d. h. eine minimale Menge von Eigenschaften im Gehirn, nicht das ganze Gehirn, die hinreichend ist, um Bewusstsein zu erzeugen, nach dieser Menge suchen im Moment alle Bewusstseinsforscher, dann gibt es auch für einzelne Bewusstseinsinhalte, sagen wir, für ein rotes Farberlebnis oder für ein Glücksgefühl, hinreichende neuronale Korrelate. Wenn man die kennt, braucht man nur das Korrelat zu aktivieren, das ist natürlich nichts Anatomisches, sondern ein ganz kompliziertes Muster, das sich da bewegt. Wenn man dieses Muster im Gehirn herstellen kann, dann kann man den Bewusstseinsinhalt herstellen. Daran sieht man gleich, wie weit das gehen kann. Die erste Frage ist die, wenn das Subjekt jetzt durch neue Arten von Manipulation auch aus den Medien, neue Art und Weise, sein Gehirn zu beeinflussen, bedroht ist, wie erhöhen wir die Autonomie des Subjekts, d. h. wie geben wir dem Menschen, z. B. in der Schule frühzeitig schon Mittel an die Hand, um sich zu verteidigen gegen solche Manipulationsmöglichkeiten. Ich finde aber, wir sollten noch einen Schritt weiter gehen. Wir sollten auch fragen, wie können wir das denn nutzen in seinen positiven Effekten. Es gibt im Grunde ein neues Diskussionsthema. Und ganz vereinfacht gesagt, heißt dieses Thema, was ist denn ein guter Bewusstseinszustand, und was ist ein schlechter Bewusstseinszustand? Welche Bewusstseinszustände wollen wir unseren Kindern zeigen, welche wollen wir ihnen beibringen, welche sollen in unserer Gesellschaft verboten sein?

Sprecher:
Thomas Metzinger plädiert also für eine neue Bewusstseinsethik und damit auch für eine Verzahnung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, die dringend geboten ist. Wenn man seine These weiterdenkt, könnte man sagen: Die Geisteswissenschaften haben in Zukunft die wichtige Aufgabe, die Ergebnisse der Hirnforschung kritisch zu kommentieren und zu korrigieren, auf mögliche gesellschaftliche, soziale und kulturelle Gefahren aufmerksam zu machen. Dies könnte dazu führen, dass die Hirnforschung den Nimbus der revolutionären Disziplin, die alles auf den Kopf stellen will, verliert.

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Manfred Spitzer, Neurowissenschaftler: Zeit und Freiheit

Inhalt

In einer Arbeitsgruppe wurde herausgefunden, warum es gerade hier in Ulm beim Ulmer Nebel im Herbst so viele Auffahrunfälle gibt. Man denkt, hier fahren die Leute wahnwitzig, ganz schnell und ohne jede Moral im Nebel und man hält immer wieder die Leute, die Auffahrunfälle verursachen für rücksichtslose, verantwortungslose Menschen. Es hat sich aber herausgestellt, dass diese Menschen wahrscheinlich einem Fehler unseres Sehsystems aufsitzen, der darin besteht, dass unser Sehsystem nicht dafür entwickelt wurde, dass wir Auto fahren. Denn er hat sich zu einer Zeit entwickelt, da gab es noch keine Autos.

Was will ich sagen? Man konnte herausfinden, dass die Abschätzung der eigenen Geschwindigkeit ganz wesentlich davon abhängt, wie kontrastreich das Bild ist. Sie bewegen sich also durch eine Landschaft, wenn die Sonne scheint, und Ihr Bild im Augenhintergrund ist kontrastreich und Sie schätzen Ihre Geschwindigkeit richtig ein. Wenn Sie sich mit der gleichen Geschwindigkeit durch Nebel bewegen, ist Ihr eigener Geschwindigkeitseindruck, dass Sie viel langsamer sind. Mit anderen Worten: genau dann, wenn es gefährlich wird, schnell zu sein, gaukelt Ihnen Ihr Gehirn vor, weil es da eine Schwachstelle hat, dass Sie langsamer sind als Sie sind. Das wiederum heißt, dass wenn Sie im Nebel fahren, denken Sie, Sie sind langsam, Sie sind aber schnell. Und nochmal: das liegt einfach daran, dass Ihr Sehsystem nicht richtig funktioniert, weil es im Nebel Bewegung nicht so gut wahrnehmen kann.

Was folgt daraus? Würde jetzt jemand, der das weiß, sagen, ‚na ja so ist das halt, ich kann nichts daran ändern, rase ich halt weiter’? Ich glaube, niemand würde so reagieren. Die Leute werden sagen, ‚wenn ich das weiß, dann werde ich nächstes Mal, wenn ich in den Nebel fahre, mal genauer auf den Tacho schauen. Denn offensichtlich kann ich nicht sagen, wie schnell ich bin. Und wenn ich auf den Tacho schaue, dann weiß ich es aber und dann kann ich entsprechend langsam fahren’. Ich glaube, dass es sich mit Fähigkeit, die Entscheidungsmaschinerie besser zu kennen, nicht anders verhält. Wenn wir erst mal wissen, wie das genau funktioniert und durch welche Mechanismen das auch beeinträchtigt ist, mal nicht so gut geht, dann werden wir sagen, ‚Moment, da müssen wir aufpassen. In diesem oder jenem Moment müssen wir besser hingucken’. Der Manager, der weiß, dass er sich unter Stress sehr viel schlechter entscheiden kann und wesentlich weniger kreativ ist als wenn er keinen Stress hat, der wird vielleicht unter Stress weniger wichtige Entscheidungen fällen, weil er weiß, dass er dann Fehler macht. Aber er muss es eben erst mal wissen. Und das kennen zu lernen, dafür ist die Hirnforschung sicher wichtig und sehr gut.

Ich möchte schließen mit einem kleinen Zitat aus meinem letzten Buch, einfach deswegen, weil während ich es geschrieben habe, mir plötzlich klar wurde, dass meine älteste Tochter ja gerade volljährig wird. Wer volljährig wird, der kann nun plötzlich sagen, wo es lang geht, selbst bestimmen, obwohl er vielleicht noch gar nicht so genau weiß, wo es hingeht:

„Und gib nicht so viel auf das Gerede,
du siehst ja selbst, wie es gerade in der Welt zugeht.
Es ist im Grunde kaum zu glauben:
während das Schiff für alle ganz offensichtlich sinkt, weil die See gerade rau ist und sich daher so manche Alterserscheinung des Schiffs bemerkbar macht, sitzen auf der Kommandobrücke nicht etwa Ingenieure und Wissenschaftler mit Analysen der Probleme und mit Ideen für deren Lösungen.
In einer solchen Situation kannst du, musst du vor allem dir selbst vertrauen, dich selbst gut kennen, dein Leben selbst in die Hand nehmen, selbst bestimmen. Das ist nicht leicht. Wenn du ehrlich bist, wird es dir so gehen wie mir. Man weiß doch eigentlich gar nichts, verglichen mit dem, was es zu wissen gibt. Und wie soll man also entscheiden, angesichts des schier abgrundtief scheinenden Unwissens?"

Jetzt sind wir bei einem Grundproblem angekommen, dass vor allem diejenigen, die ein bisschen was wissen, stark umtreibt: Das Wissen darum, dass man eigentlich gar nichts weiß. Und dennoch muss man sich dauernd entscheiden. Als Arzt z. B. Da wird es besonders deutlich. Man kann es sich eben nicht so bequem machen wie Wissenschaftler, die einfach gar nicht handeln. Kommen Sie in fünfzig Jahren mit Ihren Beschwerden wieder, bis dahin sollte die Forschung so weit sein. Das kann ein Arzt zu seinen Patienten nicht sagen. Obwohl er es manchmal vielleicht gerne täte, weil er ja noch so wenig weiß.

„Wie dein Weg aussieht, kannst du nur selbst entscheiden. Du bist jetzt 18, schlau, gesund und leider auch endlich. Mach was draus, was immer du willst."
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Zum Autor:
Manfred Spitzer, geb. 1958, Studium der Medizin, Psychologie und Philosophie, Weiterbildung zum Psychiater, 1989 Habilitation im Fach Psychiatrie; 1990 - 97 Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg, seit 1997 hat Spitzer den neu eingerichteten Lehrstuhl für Psychiatrie an der Universität Ulm inne, seit 1998 leitet er die dortige Psychiatrische Universitätsklinik; ab 2004 ist Spitzer Leiter des von ihm gegründeten Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm.

Bücher:
Selbstbestimmen. Gehirnforschung und die Frage: Was sollen wir tun. Spektrum Verlag (siehe Zitat).
Musik im Kopf. F. K. Verlag.
Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Spektrum.
Schokolade im Gehirn. F. K. Verlag.
Ketchup und das kollektive Unbewußte. F. K. Verlag.
Geist im Netz. Spektrum.
Nervensachen. Schattauer.

Manfred Spitzer (Hg.), Wulf Bertram (Hg.): Braintertainment

Online-Publikation: Oktober 2008 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
<< Manfred Spitzer (Hg.), Wulf Bertram (Hg.): Braintertainment. Expeditionen in die Welt von Geist und Gehirn . Bd. 6 der Reihe medizinHuman, herausgegeben von Bernd Hontschik. >>
suhrkamp st4018; 304 Seiten, Broschur (ISBN 978-3-518-46018-4) Euro 11,00 [D] / Euro 11,40 [A] / sFr 20.00
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008; http://www.suhrkamp.de;  

Inhalt
Wie entsteht Mitgefühl? Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir etwas lustig finden? Und wo genau ist eigentlich das Bewußtsein zu Hause – oder auch das Besoffensein? Eines steht fest: Hirnforschung ist viel zu spannend, um sie den Neurobiologen zu überlassen! Deshalb führen die handverlesenen Experten in diesem Buch nicht nur ein in die wunderbare Welt unter unserer Schädeldecke, sondern verwandeln Wissenswertes in anregende Unterhaltung. Nach Manfred Spitzers Erfolgsbüchern Nervensachen (st 3697) und Nervenkitzel (st 3820) der nächste Band mit Geschichten vom Gehirn.

Autorenteam
Manfred Spitzer
geboren 1958, ist seit 1997 Professor für Psychiatrie an der Universität Ulm und Leiter der dortigen Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Sein umfangreiches wissenschaftliches Werk – darunter der Bestseller Lernen (2002) – wurde 1992 mit dem Forschungspreis der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde und 2002 mit dem Preis der Cogito-Foundation zur Förderung der Zusammenarbeit von Geistes- und Naturwissenschaften ausgezeichnet.

Wulf Bertram
Dipl.-Psych. Dr. med., geboren 1948 in Soest. Nach dem Besuch der Deutschen Schule in Mailand/Italien Abitur in Hamburg, wo er zunächst Psychologie und Soziologie studierte. Von einer interdisziplinären Vorlesung über Neurophysiologie war er so fasziniert, dass er auf der Stelle zusätzlich ein Medizinstudium begann. Nach dem Diplom in Psychologie arbeitete er als klinischer Psychologe im Universitäts-Krankenhaus Hamburg-Eppendorf, medizinisches Staatsexamen und Promotion brachte er 1981 hinter sich, danach war er mit einem DAAD-Stipendium Assistenzarzt in einem psychiatrische Dienst bei Arezzo/Italien. Es schloss sich eine psychiatrische Ausbildung in Kaufbeuren/Allgäu an. 1985 begann er als Lektor für medizinische Lehrbücher in einem Münchener Fachverlag, wo er versuchte, seinen Ärger über unverdauliche Lehrbücher während des eigenen Studiums in leserfreundliche didaktische Konzepte umzumünzen. Seit 1988 ist er wissenschaftlicher Leiter des Schattauer Verlags in Stuttgart, seit 1992 dessen verlegerischer Geschäftsführer. Er absolvierte eine Ausbildung in Gesprächs- und Verhaltenstherapie, später in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie und arbeitet neben seiner Verlagstätigkeit weiterhin als Psychotherapeut in eigener Praxis. 1992 gründete er gemeinsam mit Thure von Uexküll die „Akademie für Integrierte Medizin“, deren Vorstand er seit dem angehört.

Fazit
Zu den Themen Hirnforschung und Humanmedizin ist von den beiden Herausgebern und Kapazitäten Manfred Spitzer und Wulf Bertram das Diskursbuch " Braintertainment" bei Suhrkamp erschienen (Bd. 6 der Reihe medizinHuman, herausgegeben von Bernd Hontschik) und unternimmt Expeditionen in die Welt von Geist und Gehirn ".
Im ersten Moment kommt der schwer kaubare Text durch die Zwischentitel locker und klar zum Ausdruck, bei eingehender Lesung sind einige Stolpersteine zu überwinden und so Ruhepausen zwischen den einzelnen Themenbeiträgen einzuschalten.
Wir erfahren vom Hippocampus, dass: er die Zentrale im Hirnstamm ist, der für Ruhe und Ordnung sorgt, das Kleinhirn der Bewegungssupervisor und Feintuner ist, das limbische System die Regie von Erinnern und Empfinden führt (Bertram). Von Valentin Braitenberg erfahren wird , dass es die wichtigste Aufgabe des Gehirn ist Hallizunationen zu erzeugen " aber nur solche die dem wirklichen Zustand der Welt möglichst ähnlich sind". Für Axel Karenberg ist das Gehirn, Geschichte und Sprache ein Paradies der Phantasie. Barbara Wild sorgt sich insbesonders um den Mandelkern, der vor allem für aktive Erheiterung zuständig ist. Und Katja Gaschler berichtet über die lange vermutete und nun gefundene Verbindung zwischen Wahrnehmung und Bewegung sowie die Spiegelneuronen zu Themen "Mein Schmerz, dein Schmerz" und Autismus. Spitzer ertappen wir in seiner lapidar anschaulichen Art diesmal beim Glück-Messen mit Reliabilität, Validität und den Ergebnissen nach Ländern dargestellt. Gerhar Roth frägt: "Wo im Gehirn sitzt die Seele", wobei er drei Gehirne schildert, die in engster Verbindung stehen: das Reptiliengehirn, das die körperlichen Grundfunktionen reguliert, das Limbische System (Paläomammalier), und das Isokortex. der Sitz von Vernunft und Verstand, abstraktes Denken, Logik und Wissenschaft.
Das Diskursbuch " Braintertainment" gestattet dank seines Autorenteams einen tiefen und zugleich erweiternden Einblick in unser Wesen auf aktuellste Art und Weise

Peter Walla, Peter Dal-Bianco : Verrückt, was unser Gehirn alles kann . Selbst wenn es versagt

 Online-Publikation: Dezember 2010 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
<< Peter Walla, Peter Dal-Bianco : Verrückt, was unser Gehirn alles kann . Selbst wenn es versagt >>
224 Seiten; ISBN 978-3-902533-50-0 ; 21,90 € / 39,50 SFr
Galila Verlag, A-3492 Etsdorf am Kamp ; www.galila.at

Inhalt
Unser Handeln im Alltag wird vom Unterbewussten weitaus stärker kontrolliert als wir glauben. Unser kulturelles Bewusstsein, damit verbunden unsere Weltanschauung, wird schon in der Kindheit durch unterbewusste und unbewusste Einfl üsse geprägt. Was bedeuten solche Erkenntnisse der modernen Hirnforschung für unser Leben? Ob beispielsweise Depressionen überhaupt als Krankheit gesehen werden, hängt davon ab, in welcher Kultur man aufgewachsen ist. So gibt es bei türkischen Zuwanderern weitaus mehr Selbstmordversuche als bei Österreichern und Deutschen; betroffen davon sind vor allem Frauen. Ist Homosexualität eine Krankheit? In der „Kultur“ der katholischen Kirche – ja! Sind hyperaktive Kinder krank, oder ist ADHS eine Modeerscheinung der westlichen Gesellschaft? Unser Gehirn ist zwar ein Produkt der Natur, aber auch ein Spiegelbild unser Kultur. In diesem leicht verständlichen Buch zeichnen die beiden Hirnforscher Peter Dal-Bianco und Peter Walla das Bild von einem Gehirn, das lebenslang einem Anpassungsprozess unterworfen ist.

Autoren
Peter Walla
stammt aus Feldkirch in Vorarlberg und lehrt zur Zeit Neurowissenschaften im australischen Newcastle. Er hat sich sowohl in Kognitiver Neurobiologie als auch in Biologischer Psychologie habilitiert. Sein Forschungsinteresse gilt Hirnfunktionen unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Darüber hinaus betreibt Peter Walla eine Neuroconsulting-Firma.
Peter Dal-Bianco,
geb. in Innsbruck/Tirol, lehrt am Institut für Klinische Neurologie an der Medizinischen Universität Wien, wo er ab 1987 die Spezialambulanz für Gedächtnisstörungen aufbaute. Sein Forschungsgebiet umfasst u. a. die Alzheimer-Krankheit und andere Demenzformen.

Fazit
Peter Walla und Peter Dal-Bianco nennen ihr Diskursbuch mit Recht " Verrückt, was unser Gehirn alles kann . Selbst wenn es versagt " . Denn es ist ein weites Feld dass da zum Thema gemacht wird. Es geht um ein Organ, gleich den andern im Körper, es kontrolliert das Verhalten, ist neuroplastisch, lern- und gedächtnisfähig, emotional empfänglich. Das Autorenteam schildert darüber hinaus die Gehirnentwicklung - auch Alzheimer, das Stirnhirn und widmet sich im besonderen dem oft unvollständig ausgestalteten kulturellen Bewusstsein, z.B. was das Verhältnis zu Spinnen oder indogene Identität und patriachale Gesellschaften betrifft, wobei die eigene Gruppierung ihre Normen und Werte verinnerlicht, das von Kindheit an und so nennen es die Autoren auch den Rotkäppcheneffekt. Ein äussert anschaulich geschriebenes Diskursbuch zum Thema Bewusstsein und Gehirnkapazität. m+w-p10-12