Martin Hubert: Gehirnmanipulation – Der perfektionierte Geist

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SWR2 Wissen: Radio Akademie

Aus der 12-teiligen Reihe: "Die Grenzen des Erlaubten" (7)

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Darf man die Gehirne von Pädophilen und Verbrechern manipulieren, um sie auf die richtige Bahn zu bringen? Die Hirnforschung boomt und lockt mit großen Versprechungen. Mithilfe chemischer Substanzen will man das Gehirn regelrecht aufpäppeln. Der Mensch könne dann besser denken, leistungsfähiger und sogar moralischer sein. Tief ins Gehirn eingebaute Stimulatoren sollen nicht nur Parkinsonkranken helfen, sondern auch Zwangserkrankten, Depressiven oder Schizophrenen. Handelt es sich hier nur um eine Therapie? Oder um einen Eingriff in die Persönlichkeit eines Menschen?
 Synästheten haben besonders starke Nervenverbindungen
Unser Gehirn hat 100 Milliarden Nervenzellen
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Es ist ein fein gesponnenes Netz. Ergebnis von 650 Millionen Jahren beständiger Weiterentwicklung. Es ist die Basis für Wahrnehmung, Bewegung, Denken, Sprechen, Fühlen, Handeln. Es kann sich an verschiedenste Umwelten und Kulturen anpassen. Denn es ist lernfähig und kreativ. Unser Gehirn.
Aber sein Träger, der Mensch, ist noch nicht zufrieden. Er möchte das Gehirn weiter optimieren. Und zwar mit den besten Absichten. Nicht nur die geistig-kognitive Leistungsfähigkeit soll gesteigert werden, sondern auch die moralische. Wissenschaftler sprechen von „Moral Enhancement“. Kann der Mensch durch Eingriffe ins Gehirn zu einem besseren Mensch werden – im ethischen Sinne des Wortes?
Menschen zu guten "Menschen" machen
Manche Philosophen rufen die Wissenschaft offen dazu auf, das menschliche Gehirn vernünftiger zu machen. Einige Ideen kursieren schon, zum Beispiel von Forschern an der Universität Oxford.
 Durch einen Trichter fallen Pillen in ein Gehirn
Können wir uns moralisch besser machen?
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Vorschlag eins: Man dämpfe die Aktivität der sogenannten Mandelkerne im Gehirn, die unter anderem Furcht verarbeiten. Auf diese Weise würden die Menschen weniger ängstlich und könnten so toleranter und friedfertiger werden.
Vorschlag zwei: Man verabreiche Menschen das vertrauensbildende Hormon Oxytocin. Damit könne man sie sozialer machen, Untreue verhindern, Scheidungen vermeiden und das Problem des Geburtenrückgangs lösen.
Doch ist das wirklich "vernünftig"? Sabine Müller ist Philosophin und Neuroethikerin am Forschungsbereich Mind and Brain der Berliner Charité. Sie beobachtet die neuen Debatten um die moralische Aufrüstung des Gehirns mit spürbarer Skepsis: Es gebe schließlich eher ein Überbevölkerungsproblem, außerdem seien Scheidungen nicht unbedingt amoralisch. Und was wäre der Mensch ohne Ängste?
 "Moral Enhancement" klingt auf den ersten Blick gut, doch die vermeintliche ethische Verbesserung des Menschen wirft bei näherem Hinsehen selbst eine Menge ethischer Fragen auf. Wer bestimmt, wann ein solcher Hirneingriff vernünftig ist, zu gefährlich oder auf Abwege führt?
 op
Sollten Ärzte das Gehirn Gesunder manipulieren?
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Soll der Einzelne selbst darüber bestimmen, wie er sein Gehirn manipuliert? Oder muss die Gesellschaft Schranken setzen? Beim "Moral Enhancement" geht es noch um Zukunftsvisionen. Schon heute jedoch ermöglichen die Neurowissenschaften Eingriffe ins Gehirn, die ähnliche Fragen aufwerfen:
Mehr Leistung, mehr Konzentration
"Kognitives Neuro-Enhancement", also geistige Hirnverbesserung. Päpple dein Gehirn auf und steigere deine Geisteskraft. Diese Idee hat in den letzten Jahren heftige ethische Debatten ausgelöst. Denn sie empfiehlt gesunden Menschen, Medikamente einzunehmen, die eigentlich für Krankheiten vorgesehen sind, zum Beispiel Modafinil. Ärzte verschreiben es üblicherweise gegen die Schlafkrankheit Narkolepsie, um die Patienten wach zu halten
Bis heute ist unklar, wie viele Menschen Modafinil und andere Substanzen einnehmen, um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Manche Studien besagen, dass fünf Prozent der deutschen Studierenden solche Neuroenhancer nutzen. Andere kommen auf zwanzig Prozent. Auf eine Umfrage in Deutschland aus dem Jahr 2010m antworteten 80% der Befragten auf die Frage "Würden Sie Neuroenhancer nehmen, wenn Sie sicher wüssten, dass sie keine Nebenwirkungen hätten und Ihnen helfen würden?" mit Ja.
Für die Ethikerin Sabine Müller ist das die entscheidende Frage: Halten diese Substanzen bei Gesunden, was sie versprechen? Und wie schädigend können sie sein? Bisher nimmt man an, dass nur bestimmte kognitive Teilfunktionen verbessert werden und unter anderem die Kritikfähigkeit reduziert wird – man merkt also möglicherweise nicht, wenn man Fehler macht.
Wie weit geht die Selbstbestimmung?
Ist es Manipulation, wenn Eltern ihren Kindern Neuroenhancer wie Ritalin gegen ADHS geben? Ist es Selbstmanipulation, wenn Jugendliche das vor Abiprüfungen aus freien Stücken tun? Es wäre nicht nur manipulativ, meint die Ethikerin Sabine Müller, sondern auch gefährlich. Denn Ritalin und Modafinil wirken auf das Belohnungssystem des Gehirns ein, die Einnahme könne die Nutzer süchtig machen. Ihrer Ansicht nach sollten die Neuroenhancer deshalb verboten werden.
 Gehirn-Doping: Glückspillen und leistungsteigernde Medikamente - Pillen aus dem Glas -Sujetbild
Neuroenhancer machen nichter klüger, steigern aber die Konzentration
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Isabella Heuser, Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité, widerspricht. Sie führt an, dass nicht jeder Mensch, der Suchtmittel einnimmt, auch süchtig wird. Außerdem seien viele Menschen schon für geringe Effekte von Neuroenhancern dankbar. Es gehe schließlich nur um Konzentration und nicht darum, wirklich klüger zu werden. Heuser ist der Ansicht, dass ein erwachsener Mensch selbst entscheiden muss, ob er ein solches Präparat einnimmt. Deshalb sollte es ihm auch ermöglicht werden, vom Arzt auf Wunsch ein solches verschrieben zu bekommen – auch wenn er nicht krank ist.
Moralisches Enhancement ist eine Zukunftsvision. Kognitives Enhancement findet bereits mehr oder weniger legal statt. Aber auch der ganz normale medizinische Fortschritt wirft ethische Fragen auf. Zum Beispiel die sogenannte Tiefe Hirnstimulation, mit der Ärzte kranke Gehirne therapieren wollen.
Elektrische Impulse ins Gehirn
Das für Parkinson typische starke Zittern kann beispielsweise mit einem Hirnschrittmacher gemildert werden. Die Operation dauert sechs Stunden. Ärzte bohren den Schädel auf und bauen zwei winzige Elektroden ins Gehirn ein. Diese funken elektrische Signale in das Bewegungszentrum des Gehirns, das bei Parkinsonkranken außer Takt geraten ist. Die Signale können Parkinson nicht heilen, aber das Bewegungszentrum wieder so weit ins Lot bringen, dass das Zittern aufhört. Für jeden einzelnen Patienten muss dieser Hirnschrittmacher persönlich eingestellt werden. Über 80.000 Menschen tragen weltweit inzwischen ein solches Gerät. Zunehmend setzt man es nicht nur gegen Parkinson ein, sondern auch gegen psychische Krankheiten, gegen Zwangsstörungen, Depression, in Ansätzen auch bei Schizophrenie.
Immer wieder gab und gibt es Hinweise darauf, dass die Hirnstimulation die Persönlichkeit der Patienten negativ beeinflussen könne. Lange Zeit war unklar, ob es sich dabei nur um wenige Einzelfälle oder um ein größeres Problem handelt. Eine deutsch-kanadische Forschergruppe stellte daher dreißig Parkinsonpatienten und deren Angehörigen vor der Operation, nach drei und nach zwölf Monaten folgende Frage:
Sind Sie nach der Einsetzung des Hirnstimulators anders geworden bzw. haben das bei Ihrem Partner beobachtet?
 Hirnschrittmacher bei Parkinson
Hirnschrittmacher werden schon regelmäßig bei Parkinson eingesetzt
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Bin ich dann ein anderer?
Christiane Woopen, Professorin für Ethik und Theorie der Medizin an der Universität Köln und Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, koordinierte die Studie. Jeder dritte Patient, erklärt sie, habe gesagt, dass sich sein Charakter geändert habe – von den Angehörigen sagt das sogar jeder zweite über ihn. Einerseits berichten Angehörige und Patienten von positiven Veränderungen: Die Operierten seien agiler, selbstsicherer, motivierter und kommunikativer als früher. Andererseits schildern sie auch negative Veränderungen wie Impulsivität, Aggressivität oder Depressivität. Andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Die Veränderungen müssen zwar nicht immer vom Hirnstimulator herrühren, sondern können Folge der Krankheit selbst oder der veränderten Lebenssituation nach der Operation sein. Aber es ist nicht zu leugnen, dass die Tiefe Hirnstimulation zu schweren ethischen Konfliktfällen führen kann.
Wie weit wollen wir gehen?
Die Diskussion hat erst begonnen. Sollten beispielsweise Straftäter einen Strafnachlass erhalten, wenn sie zustimmen, dass man ihre Psyche durch Hirneingriffe verändert? Es ginge dann um eine neue Art von Resozialisierung. Könnte das aber nicht dazu führen, dass bei potenziellen Tätern Hemmschwellen fallen? Denn schließlich könnten sie ihr Strafmaß selbst vermindern.
 Monitor mit Aufnahmen von Gehirnmessungen
Mit einem MRT können Forscher messen, ob unser Belohnungszentrum aktiviert ist
.Selbst wenn die moralische Optimierung des Menschen eines Tages möglich sein sollte – wäre der damit verbundene Eingriff in die Persönlichkeit ihrerseits ethisch vertretbar? Die Gesellschaft sollte solche Fragen diskutieren, bevor die Hirnforscher tatsächlich zu diesen Eingriffen in der Lage sind. Nur dann kann sie auch die Richtung des neurowissenschaftlichen Fortschritts beeinflussen.
SWR2 Wissen. Von Martin Hubert. Internetfassung: Charlotte Grieser
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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen: Radio Akademie
Die Grenzen des Erlaubten (Folge 7)
Gehirnspielereien
Der perfektionierte Geist
Von Martin Hubert
Sendung: Samstag, 13. Juni 2015, 8.30 Uhr
Redaktion: Gábor Paál
Regie: Günter Maurer
Produktion: SWR 2015
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MANUSKRIPT
Radio Akademie Intro: Die Grenzen des Erlaubten
Ansage:
Gehirnmanipulation – Der perfektionierte Geist
Von Martin Hubert
Musik 1 und Atmo 1 gemixt kurz frei, dann unterlegen
Sprecherin:
Das Knistern elektrisch sich entladender Nervenzellen in den Windungen des Gehirns.
Ein Meisterwerk der Evolution. Elektrische Signale rasen durch Nervenbahnen, chemische Empfangsstrukturen leiten sie weiter: in Areale, Subareale, Nervennetze.
Atmo 1 kurz hoch, dann wieder unterlegen
Sprecherin:
Ein fein gesponnenes Netz. Ergebnis von 650 Millionen Jahren beständiger Weiterentwicklung. Es ist die Basis für Wahrnehmung, Bewegung, Denken, Sprechen, Fühlen, Handeln. Es kann sich an verschiedenste Umwelten und Kulturen anpassen. Denn es ist lernfähig und kreativ.
Atmo 1 kurz hoch dann wieder unterlegen
Sprecherin:
Aber sein Träger, der Mensch, ist noch nicht zufrieden. Er möchte das Gehirn weiter optimieren. Und zwar mit den besten Absichten. Nicht nur die geistig-kognitive Leistungsfähigkeit soll gesteigert werden, sondern auch die moralische. Wissenschaftler sprechen von „Moral Enhancement“. Kann der Mensch durch Eingriffe ins Gehirn zu einem besseren Mensch werden – im ethischen Sinne des Wortes?
Cut 1: Sabine Müller
Da wird argumentiert, dass die Menschheit sich selbst nicht retten wird, weil wir eben aufgrund unserer Biologie so egoistisch und kurzsichtig sind, dass wir Kriege, Umweltkatastrophen usw. immer weiter produzieren werden, bis wir uns ausrotten. Und da könnte natürlich ein Lösungsansatz sein, dass wir die Menschen moralisch verbessern.
Musik 1 und Atmo 1 weg
Sprecher:
Sabine Müller ist Philosophin und Neuroethikerin am Forschungsbereich Mind and Brain der Berliner Charité. Sie beobachtet die neuen Debatten um die moralische Aufrüstung des Gehirns mit spürbarer Skepsis.
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Sprecherin:
Andere Philosophen rufen die Wissenschaftler offen dazu auf, das menschliche Gehirn vernünftiger zu machen. Einige Ideen kursieren schon, zum Beispiel von Forschern an der Universität Oxford.
Musik 1 und Atmo 1 gemixt beginnt unter den letzten Sätzen, weiter unterlegen
Sprecher:
Vorschlag eins: Man dämpfe die Aktivität der sogenannten Mandelkerne im Gehirn, die unter anderem Furcht verarbeiten. Auf diese Weise würden die Menschen weniger ängstlich und könnten so toleranter und friedfertiger werden
Sprecherin:
Doch was wäre ein Mensch ohne seine Ängste? – antworten die Kritiker.
Sprecher:
Vorschlag zwei: Man verabreiche Menschen das vertrauensbildende Hormon Oxytocin. Damit könne man sie sozialer machen, Untreue verhindern, Scheidungen vermeiden und das Problem des Geburtenrückgangs lösen.
Sprecherin:
Doch ist das wirklich „vernünftig“, fragt Sabine Müller?
Cut 2: Sabine Müller
Zum einen denke ich, wir haben kein Nachwuchsproblem auf der Welt, wir haben eher ein Überbevölkerungsproblem auf der Welt. Dann sehe ich Scheidungen nicht unbedingt als amoralisch an, und es geht auch nicht in allen Fällen um Untreue, sondern es sind auch viele andere Gründe. Beim Menschen wird es so einfach nicht funktionieren und es kann auch sein, dass wenn ein Mann bereits eine Geliebte hat und er dann Oxytocin bekommt, er dann der Geliebten und der Ehefrau gleichermaßen treu ist. Man muss das regelmäßig nehmen und man weiß nicht, ob die Wirkung nicht mit der Zeit auch nachlässt.
Musik 1 und Atmo 1 weg
Sprecherin:
„Moral Enhancement“ klingt zunächst einmal gut, doch die vermeintliche „ethische Verbesserung“ des Menschen wirft bei näherem Hinsehen selbst eine Menge ethischer Fragen auf. Wer bestimmt, wann ein solcher Hirneingriff vernünftig ist, zu gefährlich oder auf Abwege führt? Soll der Einzelne selbst darüber bestimmen, wie er sein Gehirn manipuliert? Oder muss die Gesellschaft Schranken setzen?
Beim „Moral Enhancement“ geht es noch um Zukunftsvisionen. Schon heute jedoch ermöglichen die Neurowissenschaften Eingriffe ins Gehirn, die ähnliche Fragen aufwerfen.
Atmo 4 kurz hoch, geht dann über in Musik 1: kurz frei, dann unterlegen
Cut 3: Nicolas Langlitz
Das Modafinil habe ich in der Bibliothek genommen, zum Schreiben.
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Sprecherin:
„Kognitives Neuro-Enhancement“: „Geistige Hirnverbesserung“. Päpple dein Gehirn auf und steigere deine Geisteskraft. Diese Idee hat in den letzten Jahren heftige ethische Debatten ausgelöst. Denn sie empfiehlt gesunden Menschen, Medikamente einzunehmen, die eigentlich für Krankheiten vorgesehen sind. Zum Beispiel Modafinil. Ärzte verschreiben es üblicherweise gegen die Schlafkrankheit Narkolepsie, um die Patienten wach zu halten
Sprecherin:
Der Medizinanthropologe Nicolas Langlitz von der New School of Social Research in New York hat es an sich ausprobiert.
Cut 4: Nicolas Langlitz
Also ich habe das Modafinil gegen Mittag genommen, normalerweise hat man dann ja ein Mittagstief. Das blieb dann aus, ich war sehr viel wacher als gewöhnlich, jedenfalls wacher als normalerweise am frühen Nachmittag, war vor allem sehr viel konzentrierter auf den Schreibprozess, weniger ablenkbar. Und diese Nervosität, die man kennt, wenn man zu viel Kaffee getrunken hat, die fehlte dabei.
Musik 1 allmählich unter den nächsten Sätzen weg
Sprecherin:
Bis heute ist umstritten, wie viele Menschen Modafinil und andere Substanzen einnehmen, um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Manche Studien besagen, dass fünf Prozent der deutschen Studenten solche Neuroenhancer nutzen. Andere kommen auf zwanzig Prozent. Isabella Heuser ist Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité. Sie ist auch ohne diese Zahlen davon überzeugt, dass das Problem virulent ist.
Cut 5: Isabella Heuser
Ich meine, gucken Sie mal, wenn sie im Fernsehen oder im Radio hören, dass irgendwelche Tariftagungen bis morgens um vier gedauert haben. Was glauben Sie denn, wie die Leute sich da irgendwie über Wasser halten, was die Aufmerksamkeit betrifft? Das ist nicht nur Kaffee und Tee!
Sprecherin:
Eine deutsche Umfrage aus dem Jahr 2010:
Sprecher:
Würden Sie Neuroenhancer nehmen, wenn Sie sicher wüssten, dass sie keine Nebenwirkungen hätten und Ihnen helfen würden?
Sprecherin:
Achtzig Prozent antworteten mit „Ja“. Für die Ethikerin Sabine Müller von der Berliner Charite ist das die entscheidende Frage: Halten diese Substanzen bei Gesunden, was sie versprechen? Und wie schädigend können sie sein?
Cut 6: Sabine Müller
Es kann zum Beispiel sein, dass eine bestimmte Dosis von Modafinil bestimmte kognitive Leistungen verbessert und gleichzeitig andere verschlechtert, während eine
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höhere Dosis den umgekehrten Effekt hat. D.h. man kann nicht pauschal sagen, dass es die kognitive Leistungsfähigkeit verbessert, sondern es werden bestimmte Teilfunktionen verbessert, andere werden möglicherweise verschlechtert. Speziell bei Modafinil nimmt man auch an, dass die Kritikfähigkeit reduziert wird, und das kann natürlich dann dazu führen, dass man das Gefühl hat, man sei ja viel leistungsfähiger. Zum einen kann man etwas länger durchhalten, zum anderen bemerkt man nicht, dass man möglicherweise auch mehr Fehler macht.
Sprecherin:
Durchwachsen ist die Bilanz nach Sabine Müller auch bei anderen Psychopharmaka.
Musik 1 unterlegen
[Sprecher:
Donepezil. Das Alzheimermittel soll gegen das Vergessen wirken.
Sprecherin:
Manche Studien legen nahe, dass gesunde Menschen sich etwas besser erinnern können, wenn sie Donepezil einnehmen. Andere Studien kommen dagegen zum Ergebnis, dass ihr Gedächtnis schlechter wird.]
Sprecher:
Ritalin, das ADHS-Medikament. Es soll „Zappelphilipp“-Kinder beruhigen.
Sprecherin:
Manche Studienergebnisse belegen, dass es bei gesunden Erwachsenen die Aufmerksamkeit stärken kann. Andere zeigen, dass es sie gleichzeitig impulsiver macht und gründliches Nachdenken verhindert.
Musik 1 weg
Sprecherin:
Der Philosoph Michael Pauen von der Berliner Humboldt-Universität hält Ritalin nicht nur deshalb für problematisch. Er hat auch grundsätzliche Bedenken, wenn Eltern versuchen, ihren Kindern damit zu besseren Noten zu verhelfen.
Cut 7: Michael Pauen
Wenn Sie das machen, behandeln Sie Ihr Kind letztlich wie eine Art von Sache, insofern als Sie natürlich auch die Leistungsfähigkeit Ihres Computers durch irgendeinen sachlichen Eingriff steigern können, wobei der Computer dazu überhaupt keine Stellung nehmen kann. Das Gegenbeispiel wäre der Versuch, das Kind z.B. dazu zu animieren, besser zu lernen oder sich besser auf irgendwelche Arbeiten vorzubereiten. Das Kind könnte in dem Fall stärker autonom entscheiden und Sie würden es stärker als autonome Persönlichkeit betrachten, einfach deshalb, weil das Kind sich dann zu Ihren Vorschlägen oder möglicherweise auch zu Ihren Aufforderungen verhalten könnte. Das heißt, es kann sagen: So, ich lerne jetzt die Vokabeln oder ich lerne die Vokabeln nicht. Und das ist bei dem Eingriff dieses Ritalin – das wirkt einfach auf bestimmte neuronale Prozesse, und dann gibt es diese Möglichkeit der Stellungnahmen nicht mehr.
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Musik 1 beginnt unter den letzten Sätzen wieder, weiter unterlegen.
Zitator:
Guten Abend zusammen. Mein Abi steht vor der Tür und ich bin auf der Suche nach Möglichkeiten, meine Leistungen gezielter nutzen zu können.
Sprecher:
Anonyme Anfrage in einem Webforum.
Zitator:
Da ich seit jeher Konzentrationsprobleme habe, die sehr schwer in den Griff zu bekommen sind, suche ich nach Möglichkeiten, mir da vielleicht in den entscheidenden Vorprüfungstagen etwas Unterstützung zu verschaffen.
Musik 1 allmählich in der nächsten Passage weg
Sprecherin:
Ist es Manipulation, wenn Eltern ihren Kindern Neuroenhancer geben? Ist es Selbstmanipulation, wenn Jugendliche das aus freien Stücken tun? Es wäre nicht nur manipulativ, meint die Ethikerin Sabine Müller, sondern auch gefährlich. Denn Ritalin und Modafinil wirken auf das Belohnungssystem des Gehirns ein, die Einnahme könne die Nutzer süchtig machen. Sabine Müller hat daher eine klare Antwort auf die Frage, ob man Neuroenhancer für Gesunde erlauben sollte:
Cut 8: Sabine Müller
Nein! Und zwar deswegen nicht, weil diese Medikamente eine ganz negative Nutzen-Risiko-Bilanz haben. Also das sind eben keine Medikamente, die einfach nur verboten sind, aber gut wären für den Einzelnen. Sondern es sind Medikamente, die unter dem Strich schädlich sind für den Einzelnen. Und deshalb sollte ein Arzt gerade im Interesse seines Patienten so etwas nicht machen.
Sprecherin:
Isabella Heuser von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité widerspricht:
Cut 9: Isabella Heuser
Es gibt Kollegen von mir, die sagen, das wirkt doch alles nicht bei Gesunden, oder es wirkt genauso gut wie ein paar Tassen Kaffee oder so und kaum besser als ein Scheinpräparat. Das sehe ich so überhaupt nicht, sondern Sie müssen immer auch bedenken, dass es eine Abstimmung mit den Füßen gibt. Und die Leute wollen das offensichtlich haben, und Leute besorgen es sich und Leute nehmen es ein, ohne dass sie abhängig sind von diesen Substanzen, das sind sie nicht.
Sprecherin:
Nicht jeder Mensch, der ein Mittel mit Suchtpotenzial nimmt, werde auch süchtig. Außerdem wären viele Menschen eben schon für geringe Effekte von Neuroenhancern dankbar.
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Cut 10: Isabella Heuser
Man wird unter deren Einnahme nicht klüger, der IQ steigt nicht, man wird auch nicht kreativer – aber man kann sich länger mit einer Aufgabe beschäftigen, selbst bei Aufgaben, die eigentlich für uns eher monoton sind. So ein motivationaler Faktor wird da offensichtlich angesprochen, vor allem durch Amphetamine, dass man länger auch Stupides, Langweiliges, was einem nicht so liegt, was man nicht so gerne macht eben, erledigen kann.
Sprecherin:
Obwohl über die Wirkung und die Nebenwirkungen von Neuroenhancern keine Einigkeit unter den Experten herrscht, ist Isabella Heuser gegen ein striktes Verbot:
Cut 11: Isabella Heuser
Ich vertrete da eher einen weniger paternalistischen und einen eher, wenn man so will, liberalen Standpunkt. Wenn ein erwachsener Mensch über Wirkungen und Nebenwirkungen informiert ist, aufgeklärt ist, dann hat er für meine Begriffe eine relative Autonomie, um mit seinem Körper das zu machen, was er eben machen möchte.
Musik 1 beginnt unter dem letzten O- Ton, weiter unterlegen
Sprecherin:
Die Lerndroge gibt es nicht, so viel ist klar.
Sprecher:
Fortsetzung der anonymen Anfrage aus dem Webforum:
Zitator:
Mir stellt sich die Frage, ob es aber womöglich Medikamente gibt, welche mir Erleichterung verschaffen. Je einfacher erlangbar, desto besser – falls nötig, gehe ich deswegen auch zu Arzt und Psychiater.
Musik 1 unter den nächste Sätzen allmählich weg.
Sprecherin:
Bisher durften Ärzte solche Medikamente nur verschreiben, um Krankheiten zu behandeln. Isabella Heuser plädiert dafür, diese Schranken aufzuheben.
Cut 12: Isabella Heuser
Ja, ich denke, dass es in der Hand von Ärzten sein sollte. Es gibt ja verschiedene ärztliche Aufgaben, wenn man so will. Und es gibt ärztliche Praktiken, die sind absolut gefordert, also jemandem zu helfen und zu heilen. Aber es gibt auch ärztliche Praktiken, die sind erlaubt, also zum Beispiel einem kosmetischen Chirurg, und so finde ich, sollte es auch vielleicht Enhancementspezialisten geben, so wie es plastische Chirurgen gibt unter den Ärzten.
Sprecherin:
Ärztlich verschriebene Substanzen zur Leistungskosmetik. Die einen verjüngen ihr Gesicht, die anderen ihren Geist. Wiegt die menschliche Autonomie schwerer als das
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Argument, dass Neuroenhancer nicht wirklich intelligenter machen und schädlich sein können?
Cut 13: Sabine Müller:
Das ist die liberale Einstellung. Wenn man die ins Extrem steigert, müsste man auch sagen, es sollten alle Drogen freigegeben werden und die Rezeptpflicht für Medikamente sollte grundsätzlich abgeschafft werden. Also nicht nur für Psychopharmaka, sondern für alle Medikamente, auch beispielsweise für Herzmedikamente oder Nierenmedikamente.
Sprecherin:
Lassen sich sinnvolle Grenzen und Leitlinien für die Verschreibung von Neuroenhancern definieren? Schließlich ist es schon bei Kranken schwierig genug, die richtige Dosis für Psychopharmaka zu verschreiben. Und selbst Isabella Heuser – die den Menschen an sich die Freiheit des Gehirndopings einräumen würde – verweist letztlich auf einen kritischen Punkt:
Cut 14: Isabella Heuser
Ich sehe eine große Gefahr eigentlich in der Möglichkeit oder ich würde fast sagen Wahrscheinlichkeit, dass Menschen, die so etwas nicht einnehmen wollen, möglicherweise durch Gruppendruck da hineingedrängt werden. Was sagen Sie zum Beispiel? Sie sind junge Assistenzärztin in der Chirurgie und Sie haben eine schwierige Operation hinter sich gebracht und haben 12 Stunden am Tisch gestanden. Und jetzt kommt noch ein Polytrauma rein, Sie müssen noch einmal an den Tisch und Ihr Chef sagt, ja, nehmen Sie doch bitte mal das und das, denn das sind Sie dem Patienten, den Sie jetzt noch operieren müssen, verpflichtet, dass sie dieselbe Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit und Wachheit haben wie bei der ersten Operation. Wenn ich sage, nein, ich möchte so etwas nicht einnehmen, was sage ich denn dann? Dann sage ich: „Nee, ich operiere nicht!“ Vielleicht muss ich aber operieren, weil kein anderer da ist. Das ist ein Dilemma.
Sprecherin:
Damit wäre dann doch keine autonome Entscheidung möglich.
Atmo 1 beginnt unter den letzten Sätzen, kurz frei, dann unterlegen
Sprecherin:
Moralisches Enhancement ist eine Zukunftsvision. Kognitives Enhancement findet bereits mehr oder weniger legal statt. Aber auch der ganz normale medizinische Fortschritt wirft ethische Fragen auf. Zum Beispiel die sogenannte Tiefe Hirnstimulation, mit der Ärzte kranke Gehirne therapieren wollen.
Atmo 1 kurz hoch geht dann über in Musik 1, kurz frei, dann unterlegen und unter der nächsten Passage allmählich weg.
Cut 15: Hannelore Meier (Pseudonym)
Das war das Zittern, das Zittern war ganz schlimm. Das war also wirklich eine Katastrophe, ich konnte nicht mehr richtig laufen. Sie müssen sich das so vorstellen, als wenn sie ewig einen Stromstoß kriegen. Da ist also ständig alles in Bewegung und man kann nicht still sitzen. Und nachts, das Schlafen, drei Stunden maximal
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schlafen, dann musste ich wieder Medikamente nehmen, also ich war ständig, ja – Schlafdefizit!
Sprecherin:
Hannelore Meier – der Name ist ein Pseudonym – erhielt schon mit 26 Jahren eine niederschmetternde Diagnose: Morbus Parkinson. Sie zitterte heftig, ihre Haltung wurde starr, sie hatte Probleme sich zielgerichtet und sicher zu bewegen. Medikamente halfen ihr nur vorübergehend. Ärzte empfahlen daher eine neuere Methode.
Musik 1 und Atmo 1 gemixt beginnen unter den letzten Sätzen, weiter unterlegen
Sprecherin:
Die Operation dauert sechs Stunden. Ärzte bohren den Schädel auf und bauen zwei winzige Elektroden ins Gehirn ein. Diese funken elektrische Signale in das Bewegungszentrum des Gehirns, das bei Parkinsonkranken außer Takt geraten ist. Die Signale können Parkinson nicht heilen, aber das Bewegungszentrum wieder so weit ins Lot bringen, dass das Zittern aufhört. Für jeden einzelnen Patienten muss dieser Hirnschrittmacher persönlich eingestellt werden.
Musik 1 und Atmo 1 allmählich unter den nächsten Sätzen weg.
Sprecher:
Dauerhafte tiefe Stimulation des Gehirns. Über 80.000 Menschen weltweit tragen inzwischen ein solches Gerät. Zunehmend setzt man es nicht nur gegen Parkinson ein, sondern auch gegen psychische Krankheiten, gegen Zwangsstörungen, Depression, in Ansätzen auch bei Schizophrenie.
Sprecherin:
Sabine Müller fordert auch hier Grenzen.
Cut 16: Sabine Müller
Ich denke, das sollte immer nur die letzte Möglichkeit sein, weil es erhebliche Risiken sind. Also Mortalitätsrisiko etwa ein Prozent, es sind Blutungsrisiken da von zwei, drei oder auch mehr Prozent, das hängt also natürlich auch immer von dem Zentrum ab und dem Operateur. Dann gibt es Infektionsrisiken, die auch langfristig noch viele Jahre nach der Operation auftreten können. Also es bilden sich Biofilme auf den Geräten, sodass auch langfristig noch Infektionen auftreten können. Dann muss regelmäßig das Gerät ausgetauscht werden, was dann weitere Operationen erfordert. Also es ist medizinisch sehr aufwendig und nicht risikoarm. Deswegen sollten bei psychischen Erkrankungen auf jeden Fall alle anderen Methoden vorher ausprobiert werden.
Sprecherin:
Bei der Parkinsonpatientin Hannelore Meier klappte die Operation sehr gut – aber dann hörte sie von möglichen Folgeproblemen.
Musik 1 und Atmo 4 gemixt beginnen unter den letzten Sätzen, unterlegen und nach Cut 19 allmählich weg.
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Cut 17: Hannelore Meier
Als ich dann in der Reha gewesen bin, da saß neben mir jemand, der hat mir dann erzählt, er hat also praktisch Haus und Hof verspielt und alles wegen dem Eingriff. Ich habe gedacht, du lieber Gott, hoffentlich steht mir das nicht auch noch bevor!
Sprecherin:
Immer wieder gab und gibt es Hinweise darauf, dass die Hirnstimulation die Persönlichkeit der Patienten negativ beeinflussen könne. Im dem Fall, von dem Hannelore Meier hörte, war der Patient spielsüchtig geworden. Lange Zeit war unklar, ob es sich dabei nur um wenige Einzelfälle oder um ein größeres Problem handelt. Eine deutsch-kanadische Forschergruppe stellte daher dreißig Parkinsonpatienten und deren Angehörigen vor der Operation, nach drei und nach zwölf Monaten folgende Frage:
Sprecher:
Sind Sie nach der Einsetzung des Hirnstimulators anders geworden bzw. haben das bei Ihrem Partner beobachtet?
Sprecherin:
Christiane Woopen, Professorin für Ethik und Theorie der Medizin an der Universität Köln und Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, koordinierte die Studie:
Cut 18: Woopen
Als Ergebnis kann ich Ihnen zum Beispiel benennen, dass jeder dritte Patient von sich sagt, dass sich sein Charakter geändert habe und dass jeder zweite Angehörige das über den Patienten sagt. Das heißt mehr Angehörige als Patienten empfinden eine Änderung bei den Patienten.
Sprecherin:
Einerseits berichten Angehörige und Patienten von positiven Veränderungen: Die Operierten seien agiler, selbstsicherer, motivierter und kommunikativer als früher. Andererseits schildern sie auch negative Veränderungen.
Cut 19: Woopen
Eine höhere Impulsivität, Unkontrolliertheit, Aggressivität, Depressivität, Ungerechtigkeit, das ist ja auch ein ethisch schon sehr aufgeladener Begriff oder eine Gleichgültigkeit.
Sprecherin:
Mal also werden Patienten apathisch und lustlos, mal dominant und manisch. Andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Die Veränderungen müssen zwar nicht immer vom Hirnstimulator herrühren, sondern können Folge der Krankheit selbst oder der veränderten Lebenssituation nach der Operation sein. Aber es ist nicht zu leugnen, dass die Tiefe Hirnstimulation zu schweren ethischen Konfliktfällen führen kann.
Musik 1 und Atmo 1 beginnen unter den letzten Sätzen, weiter unterlegen
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Sprecher:
Bericht über einen niederländischen Patienten: Der Mann leidet so stark an Parkinson, dass er sich kaum mehr eigenständig bewegen kann. Er wird zum Pflegefall. Als er einen Hirnstimulator erhält, bessert sich das dramatisch. Aber jetzt fängt er manisch an, Geld auszugeben, verschuldet sich und kommt in Konflikt mit der Polizei. Sein Verhalten wird zunehmend unkontrollierbar, also weist man ihn in eine psychiatrische Klinik ein. Als die Ärzte dort den Stimulator versuchsweise ausschalten, kippt die Situation erneut. Die Manie verschwindet – aber der Mann wird wieder völlig unbeweglich und zum Pflegefall. Die Ärzte lassen ihn nun wählen: Will er ohne Stimulator psychisch gesund, aber als Pflegefall versorgt werden – oder will er ohne Stimulator als schwer manischer Patient in einer psychiatrische Klinik leben?
Musik 1 und Atmo 1 kurz hoch
Sprecher:
Der Mann entschied sich für die Manie.
Musik 1 und Atmo 1 allmählich weg.
Sprecherin:
Ein realer Fall mit einer kaum rational zu bewältigenden Entscheidungssituation. Für Christiane Woopen sprechen solche Fälle nicht dagegen, die Hirnstimulation einzusetzen. Allerdings fordert sie, die Patienten vor und nach der Operation über alle Eventualitäten aufzuklären, sie psychologisch zu begleiten und ihre autonome Entscheidung ohne Druck zu respektieren.
Sprecher:
Hannelore Meier hat sich entschieden – aber nicht ohne heftige Diskussionen mit ihrem Lebenspartner.
Cut 20: Mann:
Viele malen sich dann aus, super, natürlich kann ich viel machen und den nächsten Halbmarathon laufe ich dann auch noch. Das funktioniert nicht! Ich würde es mir dreimal überlegen, ob ich das machen würde.
Cut 21: Hannelore Meier
Er ist gesund, ich bin krank, ich bin betroffen: Dass wir da nicht einer Meinung sein können, das ist ja logisch! Ich hatte das Gefühl, dir muss jetzt geholfen werden, egal wie. Ich hätte wahrscheinlich auch eine Spielsucht dafür in Kauf genommen.
Sprecherin:
Auch für Sabine Müller gilt: Die freie Entscheidung des aufgeklärten Patienten ist letztlich das oberste Prinzip. Aber sie unterstreicht gleichzeitig, dass es immer wieder ethische Grenzfälle gibt, bei denen die autonome Entscheidung problematisch wird:
Cut 22: Sabine Müller
Auf einer Tagung ist einmal ein realer Fall diskutiert worden. Da hatte ein Arzt, ein Neurologe, einen Patienten mit Parkinson, der ein guter Kandidat für tiefe Hirnstimulation gewesen wäre, aber er hatte eine Vorgeschichte von sexuellem Kindesmissbrauch. Und der Arzt hatte dann Bedenken, den Patienten zu behandeln,
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weil ja in manchen Fällen Hypersexualität und Impulskontrollstörungen und eine leichte Manie auftreten. Das heißt er hatte Angst, dass er damit eine gefährliche Reaktion und vielleicht einen Übergriff auf ein Kind auslöst.
Sprecherin:
Gilt hier das Gebot, kriminellen Handlungen vorzubeugen? Oder das Gebot ärztlicher Hilfe?
Cut 23: Sabine Müller
Dazu gibt es leider noch keine gesetzliche Grundlage. Meine Kollegen und ich hatten vorgeschlagen dazu eine Art Patientenverfügung, eine modifizierte Patientenverfügung zu verwenden, die dem Arzt das Recht gibt, für den Fall, dass der Patient zum Beispiel manisch, enthemmt und impulskontrollgestört wird, die Stimulation abzuschalten, bzw. zu reduzieren. Inwieweit das jetzt vor Gericht durchzusetzen ist, das ist noch eine andere Frage. Möglicherweise hätte ein solcher Vertrag eine gewisse moralisch bindende Wirkung für den Patienten, aber es ist natürlich keine Sicherheit.
Sprecherin:
Wenn Kriminelle aus dem Gefängnis oder dem Maßregelvollzug entlassen und wieder straffällig werden, ertönt regelmäßig der Ruf nach mehr Sicherheit. Die wäre möglich, wenn man im Voraus aus dem Gehirn ablesen könnte, ob ein Mensch zur Gewalt neigt. Tatsächlich arbeiten weltweit Studiengruppen an Verfahren, um die Gewaltbereitschaft zu unterdrücken.
Cut 24: Sabine Müller
Die Forschungslage dazu ist allerdings noch sehr inkonsistent.
Sprecherin:
Der Hirnforschung ist es bisher noch nicht einmal gelungen, psychiatrische Erkrankungen genau zu diagnostizieren. Die menschlichen Gehirne sind einfach zu komplex, zu unterschiedlich und zu individuell. Eigentlich wäre deshalb auch Vorsicht geboten, wenn es um das Gehirn Krimineller geht. Aber wo eine neue Methode ist, wachsen auch die Visionen.
Atmo 2: Kernspingeknatter
Cut 25: Sabine Müller:
Es gibt einen Vorschlag, mit tiefer Hirnstimulation Sexualstraftäter zu behandeln und zwar ungefähr so, dass man das Gehirn stimuliert und gleichzeitig Bilder von unbekleideten Kindern präsentiert. Und es sollen dann immer elektrische Reize gegeben werden, wenn die Kinder präsentiert werden, und zwar so, dass das Belohnungszentrum dann nicht aktiviert wird. Also normalerweise würde es ja aktiviert bei diesen Reizen und da sollte es dann regelmäßig ausgeschaltet werden, sodass der Patient dann dadurch lernt, dass unbekleidete Kinder eben nichts Schönes für ihn sind.
Sprecherin:
Ein technischer Weg, um aus Kriminellen bessere Menschen zu machen. Auch das ist bisher nur eine Vision. Sollte man solche Ideen in Zukunft überhaupt praktisch
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testen, um potenzielle Opfer zu schützen? Oder gibt es auch bei Gehirnen von Straftätern eine Grenze des Erlaubten? Die Diskussion hat erst begonnen.
Cut 26: Sabine Müller
Wenn, dann müsste das an sehr streng überwachte Bedingungen geknüpft werden. Also es müsste wirklich Freiwilligkeit vorausgesetzt sein, der Betreffende müsste voll umfänglich aufgeklärt sein über die Risiken, die nicht so ohne sind. Und er müsste eine realistische Chance haben, wenn das Verfahren erfolgreich ist, auch aus dem Gefängnis oder der Forensik entlassen zu werden.
Sprecherin:
Sollten Straftäter einen Strafnachlass erhalten, wenn sie zustimmen, dass man ihre Psyche durch Hirneingriffe verändert? Es ginge dann um eine neue Art von Resozialisierung. Könnte das aber nicht dazu führen, dass bei potenziellen Tätern Hemmschwellen fallen? Denn schließlich könnten sie ihr Strafmaß selbst vermindern
Atmo 2: Kernspingeknatter kurz hoch
Sprecherin:
Selbst wenn die moralische Optimierung des Menschen eines Tages möglich sein sollte – wäre der damit verbundene Eingriff in die Persönlichkeit ihrerseits ethisch vertretbar? Die Gesellschaft sollte solche Fragen diskutieren, bevor die Hirnforscher tatsächlich zu diesen Eingriffen in der Lage sind. Nur dann kann sie auch die Richtung des neurowissenschaftlichen Fortschritts beeinflussen.
Atmo 1 kurz hoch und dann abrupt weg
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