SWR2 Wissen - Aula - Till van Treeck: Mehr Pluralität .Wie sich die Ökonomie verändern muss.

Diskurs SWR2

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Pluralität (T. v. Treeck)
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SWR2 Wissen - Aula - Till van Treeck: Mehr Pluralität .Wie sich die Ökonomie verändern muss.

Quintessenz: Pluralität contra Neoklassik*, so Ungleichheit (Krisen) verringen !
https://de.wikipedia.org/wiki/Neoklassische_Theorie
https://de.wikipedia.org/wiki/Neoklassik
Alfred Müller, Günter Buchholz: Ein Vergleich von Neoklassik, Keynesianismus und Marxismus: http://grundrisse.net/grundrisse31/vergleich_marxismus.htm

Sendung: Samstag, 26. Dezember 2015
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2015
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

AUTOR
Till van Treeck lehrt Sozialökonomie an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Makroökonomische Theorie, Einkommensverteilung aus makroökonomischer Perspektive, Deutsche und europäische Wirtschaftspolitik, Ökonomische Bildung. Er ist außerdem Geschäftsführendes Vorstandsmitglied im Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) und Redakteur der Fachzeitschrift European Journal of Economics and Economic Policies (EJEEP).
Buch:
Bofinger, P., Horn, G., Schmid, K., van Treeck, T. (Hrsg.): Thomas Piketty und die Verteilungsfrage - Analysen, Bewertungen und wirtschaftspolitische Implikationen für Deutschland. SE Publishing. 2015.

ÜBERBLICK
Den meisten Studenten der Wirtschaftswissenschaften gefällt nicht, wie ihre Professoren wirtschaftliche Zusammenhänge vermitteln, nämlich sehr einseitig: Es geht um den rationalen Menschen, um vollkommene Märkte, um mathematische Modelle, um Wachstum und Neoklassizismus. Selten werden diese ausgetretenen Pfade verlassen und auf eine neue Pluralität gesetzt. Till van Treeck, Professor für Sozialökonomie an der Universität Duisburg-Essen zeigt, warum diese Neuorientierung notwendig ist.

INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: "Mehr Pluralität – Wie sich die Ökonomie verändern muss".
Die Wirtschaftswissenschaften befinden sich in einer Krise, Jung und Alt stehen sich gegenüber, junge Professoren verlangen neue Konzepte und einen Paradigmenwechsel, um die Komplexität der modernen Welt adäquat durchleuchten zu können, und die Traditionalisten wollen das alles so bleibt, wie es ist.
Im Aula-Gespräch befrage ich nun einen jungen Professor, er heißt Till van Treeck, ist Sozialökonom an der Universität Duisburg-Essen.
INTERVIEW:
Caspary:
Guten Morgen Herr van Treeck, Sie kritisieren die Einseitigkeit der ökonomischen Lehre und die Einseitigkeit der Experten auf diesem Gebiet. Warum?
Van Treeck:
Es gibt seit einigen Jahren eine internationale Bewegung, die sich für ein neues ökonomisches Denken in den Wirtschaftswissenschaften stark macht. Diese Bewegung wird getragen einerseits von sehr renommierten internationalen Ökonomen, darunter einige Nobelpreis-Träger, aber zunehmend auch von jüngeren ÖkonomInnen, die enttäuscht sind von ihrem Studium und von der derzeitigen Ausrichtung der Wirtschaftswissenschaften. Das hat vor allem mit den Krisen der letzten fünf bis zehn Jahre zu tun: begonnen mit der Finanzkrise 2007 und dann die Euro-Krise, die vor allem seit 2010 virulent geworden ist. Die akademische Wirtschaftswissenschaft war nicht in der Lage, diese Krisen vorherzusehen oder sie angemessen zu analysieren und Auswege aus ihnen zu zeigen. Das hat dieser Bewegung Auftrieb gegeben. Insbesondere gibt es Zweifel daran, ob die großen Herausforderungen unserer Zeit – aus meiner Sicht gehören dazu die hohe Ungleichheit bei den Einkommen und Vermögen, die erwähnten Finanz- und Wirtschaftskrisen und die ökologischen Probleme – im aktuellen ökonomischen Denken noch angemessen abgebildet werden. Und das ist vor allem ein Thema der ökonomischen Lehre an den Universitäten. Es hat sich in den letzten Jahren international, aber auch in Deutschland eine Studierendenbewegung entwickelt, die kritisiert, dass die Lehrinhalte an den Universitäten sehr einseitig seien. Konkret kann man sagen, dass im Wesentlichen die sogenannte neoklassische Wirtschaftstheorie aber wenig Alternativen und interdisziplinäre Ansätze gelehrt werden. Dagegen richtet sich die Kritik, nicht nur von mir, sondern von der internationalen Bewegung.
Caspary:
Es ist interessant, dass es so einen vehementen Protest der Studenten gibt. Kennen Sie Professoren, die sagen, ja, die haben recht und wir steigen darauf ein?
Van Treeck:
Bei den jüngeren ProfessorInnen beobachte ich Zustimmung mit den Studierenden, es wird auch gemeinsam versucht, neue Konzepte zu entwickeln. Ich glaube, dass es teilweise tatsächlich ein Generationenproblem ist, denn die ältere Generation ist ja ganz anders sozialisiert worden, lange vor der Wirtschafts- und Finanzkrise. Sie ist in
einer Zeit groß geworden, als der Staat das Wirtschaftssystem deutlich beeinflusst hat, die Umverteilung durch das Steuersystem hoch war und die Gewerkschaften eine starke Stimme hatte. Das haben viele ältere Ökonomen als das Problem ihrer Zeit, in den 70er-, 80er-Jahren, angesehen, das es zu lösen gilt. Die Zeit seit den 80er-Jahren war sehr geprägt von einer Deregulierung der Finanz- und Arbeitsmärkte, durch eine Privatisierung der Altersvorsorgesysteme und durch Steuersenkungen. Ökonomen, die durch die 70er- und 80er-Jahre und die damaligen ökonomischen Herausforderungen geprägt sind, scheint heute nun ein Umdenken sehr schwer zu fallen. Teilweise gibt es auch großes Unverständnis für die Proteste der Studierenden. Das ist jedenfalls mein Eindruck.
Eine Forderung der Studierenden ist, dass die Lehre von Beginn des Studiums an pluralistisch sein sollte, also dass verschiedene Denkschulen gelehrt werden sollten, nicht nur die Neoklassik, die, vereinfacht gesagt, auf politischer Ebene die Grundlage bietet für neoliberale oder eine angebotsorientierte Politik, die auf freie Märkte und Deregulierung setzt, sondern dass auch keynesianische, marxistische, ökologische, evolutorische, feministische usw. Ideen gelehrt werden und eine stärkere Interdisziplinarität Einzug hält, also dass man sich inspirieren lässt von anderen Fächern, z.B. der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Psychologie, auch dass Wirtschaftsgeschichte thematisiert wird und man vielleicht Parallelen ziehen kann zwischen der großen Krise 1929 und der jetzigen Krise. Viele Studierende haben das Studium begonnen, weil sie wissen wollten, wie die Krise entstanden ist, wie man auf die Ungleichheit antworten soll, wie die ökologischen Probleme zu lösen sind. Ihr Eindruck ist aber, dass in den Lehrbüchern immer noch das gleiche steht wie vor der Krise. Und das enttäuscht sie. Die Wirtschaftswissenschaft heute ist, das kann man sicher so sagen, eine verunsicherte Disziplin.
Caspary:
Lassen Sie uns nochmal zu dem Begriff Neoklassizismus kommen. Welche Protagonisten gibt es, und wie haben sie die Idee der freien Märkte theoretisch unterfüttert?
Van Treeck:
Die Neoklassik hat ihren Ursprung im 19. Jahrhundert und hat sich methodisch sehr stark der Mathematik, der Differenzialrechnung bedient. Ein Traum der Neoklassik ist es seit langem, die Wirtschaftswissenschaft zu so etwas wie einer zweiten Naturwissenschaft zu machen. Mathematisch kann man sehr filigran und mit einer durchaus vorhandenen Ästhetik ausrechnen, dass freie Märkte unter bestimmten vereinfachenden Annahmen, bei denen es beispielsweise kein Marktversagen gibt, zu so etwas wie einem gesellschaftlichen Optimum führen, wo die Bedürfnisse der Menschen, die als homo oeconomicus modelliert werden, also als rationale Nutzenmaximierer, bestmöglich erfüllt werden. Eingriffe des Staates, Regulierungsversuche, Mindestlöhne, Steuern, mit denen die Einkommen umverteilt werden sollen und Gerechtigkeitsziele realisiert werden sollen, stören in diesem Modell und führen zu ineffizienten Ergebnissen. Das ist immer das Ideal der neoklassischen Ökonomen gewesen. Das Ziel war das Marktoptimum. Die Studierendenbewegung und viele Nobelpreis-Träger, die nicht neoklassisch ausgerichtet sind, sind nicht mehr überzeugt von dem Ansatz, der das Gleichgewicht freier Märkte zum zentralen Referenzpunkt macht.
Caspary:
Sie bekommen zur Zeit Schützenhilfe von der Hirnforschung, die sagt, das Konzept des homo oeconomicus, des rationalen Nutzenmaximierers, gibt es sowieso nicht, das sei falsch.
Van Treeck:
Ja, das ist in der Tat faszinierend, wenn man als Ökonom mit anderen Sozialwissenschaftlern ins Gespräch kommt. Ich habe eine Professur für Sozialökonomie und bin an einer gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, an der auch Soziologen und Politikwissenschaftler sind. Und wenn man versucht, denen das näherzubringen, dass im Kern diese dominante neoklassische Theorie der Wirtschaftswissenschaften auf dem Modell des homo oeconomicus basiert, ist das für sie oft sehr schwer zu glauben. Nicht nur in der Hirnforschung, auch in der Soziologie ist es beispielsweise eine Selbstverständlichkeit, dass Menschen sich in ihrem Verhalten sehr stark an anderen orientieren und dass deswegen – das ist mein Forschungsgebiet – Veränderungen in der Einkommensverteilung auch zu einer Veränderung des Konsumverhaltens führen. Das ist ein Gedanke, der international sehr stark diskutiert wird, auch vom Internationalen Währungsfond, von der OECD, von vielen internationalen Ökonomen, dass es möglicherweise einen Zusammenhang gibt zwischen dem Anstieg der Ungleichheit und der Finanzkrise. Vor allem in den USA ist die Ungleichheit sehr stark gestiegen. Die unteren Einkommensgruppen haben sich in ihrem Konsum am Konsum der Reichen orientiert, d.h. dadurch, dass die Reichen mehr ausgegeben haben für die Bildung ihrer Kinder, für Häuser, Autos usw. haben sie neue Bedürfnisse geschaffen, die sich auch die Mittelschicht erfüllen wollte. In der Konsequenz hat die Mittelschicht immer mehr Kredite aufgenommen und sich verschuldet, um mit den Reichen mithalten zu können. Und das hat letztlich in die Krise geführt. Ich nenne dieses Beispiel nur, weil es diese Mechanismen verdeutlichen, dass es solche Interdependenzen beim Konsumverhalten gibt. Man achtet darauf, wofür gibt der Nachbar sein Geld aus oder die reicheren Mitglieder der Gesellschaft, und stellt sich die Frage, ob man da nicht irgendwie mithalten kann. Dieser Mechanismus ist aber im Modell des homo oeconomicus nicht vorhanden, dort spricht man von sogenannten "exogenen Präferenzen". Das heißt, jedes Individuum optimiert seinen Nutzen über die Zeit, es zieht Nutzen aus Freizeit und Konsum und interessiert sich nicht dafür, wieviel andere z.B. konsumieren.
Caspary:
Das ist eine sehr egoistische Theorie, oder?
Van Treeck:
Egoistisch und egozentrisch. Das Verhalten des homo oeconomicus ist vor allem auf sich selbst bezogen und orientiert sich nicht an dem, was andere tun. Deswegen spielen beispielsweise die Verteilung und auch gesellschaftliche Konflikte, z.B. im Konsumverhalten, keine große Rolle. Sondern jeder optimiert seinen Nutzen und sieht sich nicht so sehr als Teil der Gesellschaft an, die von sozialen Normen geprägt ist usw. Aus meiner Sicht ist das eine krasse Fehlkonstruktion und ein problematischer Ausgangspunkt für theoretische Modelle.
Caspary:
Wir sind beim Neoklassizismus, bei neoklassischen Konzepten. Sie hatten schon angedeutet, es geht dabei um mathematische Dinge. Resultiert daraus die Mathematik-Lastigkeit der Wirtschaftswissenschaften?
Van Treeck:
Ja, die Wirtschaftswissenschaft hat sich sehr stark mathematisiert. Ein Grund ist, dass man einige vereinfachende Annahmen über das Verhalten von Individuen zugrunde gelegt hat, damit man sie mit gängigen mathematischen Methoden modellieren kann. Die aktuelle Kritik bezieht sich genau auf dieses Konzept, denn viele Aspekte des menschlichen Verhaltens kann man nicht so richtig einfangen. Deswegen sollte man sich vielleicht stärker an den anderen Sozialwissenschaften orientieren, die Wirtschaftswissenschaft dorthin zurückholen und den alten Traum aufgeben, so etwas wie eine Naturwissenschaft der Gesellschaft sein zu wollen.
Caspary:
Wenn ich einem älteren Professor der Wirtschaftswissenschaften sage, seine Disziplin gehört für mich ganz klar zu den Sozialwissenschaften, wird er dann sauer?
Van Treeck:
Das kann passieren. Eine kleine Anekdote: Zu Beginn meines Studiums damals in Münster saß ich in einer meiner ersten Kurse für Volkswirtschaftslehre. Der Professor hat tatsächlich gesagt, die Wirtschaftswissenschaften seien eher vergleichbar mit Physik, Chemie oder Mathematik und viel weniger mit anderen Sozialwissenschaften. Er hat uns sogar geraten, uns nicht so sehr mit den anderen Sozialwissenschaften abzugeben oder den Austausch zu suchen, sondern uns lieber an den harten Wissenschaften zu orientieren. Das steckt ganz tief drin in vielen Wirtschaftswissenschaftlern, gerade vielleicht der älteren Generation.
Caspary:
Waren Sie ein aufmüpfiger, unbequemer Student?
Van Treeck:
Ja, ich war schon unbequem. Eigentlich hatte ich sehr viel Glück mit meinem Studium. Ich habe in Frankreich begonnen zu studieren. Dort habe ich erlebt, was sich heute viele Studierende im Netzwerk "plurale Ökonomik" wünschen, denn dieses Studium war interdisziplinär aufgebaut, neben Wirtschaftswissenschaften hatte ich Soziologie, Politik, Geschichte, Jura, und das war extrem befriedigend, weil ich in alle Bereiche eintauchen konnte und so Querverbindungen zu den Wirtschaftswissenschaften versuchen konnte zu verstehen. Im zweiten Studienjahr bin ich nach Münster gegangen. Dort gibt es eine sehr traditionelle wirtschaftswissenschaftliche Ausrichtung, für die ich mit meinen kritischen Gedanken, die ich in Frankreich aufgesaugt hatte, gut ausgerüstet war. Ich fand es sehr befruchtend. Ich behaupte ja nicht, dass der Neoklassizismus keine Daseinsberechtigung habe, sondern ich plädiere für einen Pluralismus in der Lehre. Ich denke, für die Studierenden wäre es sehr sinnstiftend, wenn sie sowohl die Neoklassik lernen als auch die Alternativen, denn gerade am intellektuellen Wettstreit zwischen den Theorien wächst man als Student.
Caspary:
Lassen Sie uns kurz die Fehleinschätzungen oder falsche Voraussagen besprechen, die Ökonomen aufgrund einseitiger Modelle und Konzepte hatten. Sie hatten schon die Finanzkrise angesprochen. Hat man die nicht kommen sehen?
Van Treeck:
Das ist sicherlich ein ganz großes Versagen der Ökonomen. Man hat die Finanzkrise tatsächlich nicht kommen sehen. Selbst in den Jahren kurz vor der Krise war das kaum ein Thema im Mainstream der Wirtschaftswissenschaften. Meine These, die Ergebnis meiner Forschungsarbeiten ist, wäre, dass der starke Anstieg der Ungleichheit, vor allem in den USA, aber auch in Großbritannien und anderen Ländern, eine Hauptursache der Krise ist. Normalerweise würde man, wenn die Ungleichheit ansteigt, eine Abschwächung der Konsumnachfrage erwarten Das ist aber nicht passiert. In den 30 Jahren vor der Krise war der Konsum in den USA und in Großbritannien sehr kräftig, deswegen war das Wachstum relativ hoch, die Arbeitslosigkeit eher gering. Aber man hat übersehen, dass ein großer Teil des Konsums der Mittelschicht durch steigende Verschuldung finanziert wurde. Die Verschuldung der amerikanischen Haushalte ist von 60 Prozent der verfügbaren Einkommen Anfang der 80er-Jahre auf fast 140 Prozent kurz vor der Krise gestiegen. 2007 ist die Immobilienblase geplatzt und das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. So kam es zur Krise. Die Wirtschaftswissenschaften haben auch insofern versagt, als dass es ganz ähnliche Entwicklungen schon in den 20er-Jahren gab. 1929 war die letzte Weltwirtschaftskrise, und auch da war es ein kreditfinanziertes Wachstum, das einherging mit einem Anstieg der Ungleichheit zwischen Mittel- und Unterschicht. Man hat aus meiner Sicht historisch verlernt, dass soziale Ungleichheit destabilisierend auf den Markt wirken kann. Denn in den Jahren nach der großen Depression, in den 20er- und 30er-Jahren, die ja politisch mit zum Faschismus und zu den beiden Weltkriegen beigetragen hat, hatte man eigentlich verstanden, dass eine zu große Ungleichheit eine Gefahr ist nicht nur für die politische, sondern auch für die wirtschaftliche Stabilität. Das wäre ein aus meiner Sicht erstes großes Versäumnis.
Caspary:
Wie sieht es eigentlich aus mit der Griechenland-Krise?
Van Treeck:
Das ist mein zweiter Punkt: In Bezug auf das Management der Euro-Krise haben Wirtschaftswissenschaftler sicherlich ebenfalls versagt haben. Allerdings muss man hier differenzieren zwischen Wirtschaftswissenschaftlern in Deutschland einerseits und international andererseits. Denn gerade die deutschen ÖkonomInnen haben während der Griechenland-Krise, aber auch während der Euro-Krise insgesamt sehr stark für eine Austeritätspolitik plädiert, d.h. für die Senkung der Staatsausgaben. Dagegen meinen internationale Ökonomen, mittlerweile auch der Internationale Währungsfond und viele Nobelpreis-Träger, dass die deutsche Fixierung auf solide Staatsfinanzen die Krise verschlimmert habe. Hier tut sich ein Graben zwischen der deutschen und der internationalen Wirtschaftswissenschaft auf. Das wäre ein zweites großes Versagen gerade der deutschen Ökonomie: der Umgang mit der Euro-Krise.
Ein dritter Punkt ist für mich das Desinteresse der Wirtschaftswissenschaften an zwei Bereichen: an der Einkommensungleichheit und an der ökologischen Krise. In den
letzten 10 Jahren sah man einen ewigen Zielkonflikt zwischen einerseits wirtschaftlicher Effizienz und andererseits sozialer Gerechtigkeit oder gleichmäßiger Einkommensverteilung. Man hat gesagt, eine gleichmäßige Einkommensverteilung ist sicherlich sozial und politisch wünschenswert, aber wenn man über das Steuersystem umverteilt, dann zerstört man die Leistungsanreize für die Leistungsträger auf dem Arbeitsmarkt, die Unternehmen und die Reichen. Deswegen haben die Wirtschaftswissenschaften die Senkung von Steuern auf hohe Einkommen und Unternehmen stark befürwortet. Dadurch wurde die Einkommensungleichheit befördert, die neben den vorhin aufgeführten ökonomischen Problemen auch zu gesellschaftlichen Verwerfungen führt. Auf diesem Auge waren die Ökonomen sicherlich blind und haben auch wieder historisch vergessen, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg eigentlich Konsens war, dass man eine Einkommensgleichheit braucht. Ich darf nur daran erinnern, bis in die 30er-Jahre war der Spitzensteuersatz in der Einkommenssteuer in den USA und Großbritannien um die 80-90 Prozent. Man hatte über das Steuersystem massiv umverteilt und dadurch versucht, gesellschaftliche Konflikte zu entschärfen. Ökonomen in jüngerer Zeit haben immer dafür plädiert, Steuern zu senken, und dabei in Kauf genommen, dass die Ungleichheit steigt, weil man sagte, dann haben wir kräftigeres Wachstum. Heute weisen neuere Forschungen vom Internationalen Währungsfond darauf hin, dass es eben keinen negativen Zusammenhang zwischen Ungleichheit und ökonomischer Effizienz gebe, sondern dass im Gegenteil Ungleichheit zu weniger Effizienz beitragen kann.
Der vierte Punkt wäre das große Thema Ökologie. Die Studierenden, die in dem Netzwerk plurale Ökonomik engagiert sind und sich für neues ökonomisches Denken aussprechen, erzählen mir, dass sie ganz enttäuscht sind, dass das wichtige Thema Ökologie und Grenzen des Wachstums nicht mitgedacht wird. Und ich finde auch, dass von den Wirtschaftswissenschaften, die ja einflussreich und auch in der Politikberatung sehr dominant sind, hierzu mehr kommen müsste.
Caspary:
Politikberatung ist ein wichtiges Stichwort. Es gibt Wirtschaftsweise, die Tipps an die Bundesregierung geben. Ich habe in der Zeitschrift "Kapital" gelesen, dass Sie dieses Gremium kritisieren, auch aufgrund unseres Themas "Defizite der Wirtschaftswissenschaften". Stimmt das?
Van Treeck:
Ja. Denn was ist eigentlich die Aufgabe der fünf Wirtschaftsweisen? Ihr Auftrag lautet, der Politik unterschiedliche Perspektiven wirtschaftlicher Zusammenhänge darzustellen, Statistiken aufzubereiten und eine Entscheidungsgrundlage zu schaffen. Zu ihrer Aufgabe gehört es nicht, klare wirtschaftspolitische Empfehlungen auszusprechen und schon gar nicht, stark normativ geprägte Werturteile zu formulieren. Aber genau das machen sie. Z.B. lautete der Titel des letzten Jahresgutachtens "Mehr Vertrauen in Marktprozesse". Das hat gerade bei den jüngeren ÖkonomInnen verstörend gewirkt. Denn sie sind in der Finanzkrise großgeworden, die ja gerade durch eine Deregulierung der Märkte mit verschuldet wurde. Wo soll dieses Vertrauen in Marktprozesse herkommen? Weiter heißt es in dem Gutachten, in Deutschland gebe es momentan keinen politischen Handlungsbedarf hinsichtlich der Einkommens- und Vermögensungleichheit. Die Thesen des französischen Ökonomen Piketty, der international sehr renommiert ist und in den besten Zeitschriften veröffentlich hat, fertigen die Wirtschaftsweisen in einigen wenigen Sätzen ab und sagen, sie seien aus wissenschaftlicher Perspektive nicht haltbar. In den Gutachten des Sachverständigenrates stellt man immer wieder fest, dass da Politik gemacht wird und normativ sehr starke Werturteile formuliert werden. Man kann sich fragen, ob es die Aufgabe ist eines solchen Beratergremiums und ob die Politik auf Dauer damit zufrieden sein kann, dass sie immer wieder solche Gutachten bekommt.
Caspary:
Kommen wir nochmal zurück auf die Vermittlung von Ökonomie in der Öffentlichkeit, in Schulen und Universitäten. In Baden-Württemberg wird demnächst das Fach Wirtschaft auf dem Stundenplan stehen. Könnte das ein Baustein sein, um den Pluralismus, den Sie angemahnt haben, schon sehr früh einzuführen, nämlich in der schulischen Bildung?
Van Treeck:
In der Tat haben wir gerade eine große Diskussion darüber, ob man mehr Wirtschaft in der Schule braucht. In Baden-Württemberg wird es als eigenes Fach eingeführt, Sigmar Gabriel hat sich dafür ausgesprochen, dass Wirtschaft an Schulen bereits gelehrt wird. Aus meiner Sicht ist das eine zweischneidige Sache. Als Ökonom kann ich ja nichts dagegen haben, wenn an Schulen mehr Wirtschaft gelehrt wird. Auf der anderen Seite muss man aber wirklich darauf achten, dass nicht die gleichen Fehler gemacht werden wie es häufig noch in den Universitäten der Fall ist, und eine relativ einseitige Perspektive auf Wirtschaft gelehrt wird, die tendenziell neoliberal ausgerichtet ist. Es gibt allerdings in der Tradition der politischen Bildung ein sehr schönes Prinzip, das sogenannte Kontroversitätsgebot, das besagt, dass alles, was in der Schule besprochen und diskutiert wird, kontrovers sein muss und kontroverse Debatten aus der Gesellschaft, aus der Wissenschaft aufnehmen muss. Wenn an den Schulen mehr Wirtschaft gelehrt werden soll, muss m.E. sehr darauf geachtet werden, dass dieses Kontroversitätsgebot eingehalten wird.
Caspary:
Man sollte davon ausgehen, dass an den Schulen Ideengeschichte gelehrt wird, also Konzepte aus verschiedenen Zeiten, das wäre für mich z.B. eine sinnvolle Ergänzung.
Van Treeck:
Eine ähnliche Forderung formuliert die derzeitige Studentenbewegung, dass an den Universitäten sehr viel mehr Ideengeschichte gelehrt werden sollte, damit man beispielsweise Parallelen zwischen der Krise von 1929 und der aktuellen Krise herausarbeiten kann. Das wäre sicher ein ganz wichtiger Lehrinhalt für Schulen. Aber leider geht die Diskussion vielerorts in eine andere Richtung, weil private Lobbyverbände (Arbeitgeberverbände sind hier sehr stark, Gewerkschaften haben mittlerweile nachgezogen) eigene Materialien für das Schulfach Wirtschaft erstellen. Dieses Phänomen ergibt sich durch die neuen Medien. Bei meinen Studierenden erlebe ich es, wenn sie Referate vorbereiten sollen, schauen sie nicht in die Bücher, sondern sie googeln zunächst mal, was es im Internet gibt. Und wir beobachten in den letzten Jahren, dass immer mehr frei verfügbare Unterrichtsmaterialien online gestellt werden, die zum großen Teil von Arbeitsgeberverbänden finanziert werden, wo natürlich direkt bestimmte ökonomische Denkmuster und Ideologien in die Schulen getragen werden sollen. Das ist eine große Gefahr für das Fach Wirtschaft, denke ich.
Caspary:
Ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch. Ich hoffe, dass die Studenten und Sie mit Ihrem Engagement für Pluralismus etwas erreichen und dass die alten Modelle ergänzt werden durch neue.
Van Treeck:
Danke Ihnen auch.
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