SWR2 Wissen: Aula - Hartmut Rosa: Mehr Resonanz - Auswege aus der Beschleunigungsgesellschaft

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Mehr Resonanz  (H.Rosa)
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SWR2 Wissen: Aula - Hartmut Rosa: Mehr Resonanz - Auswege aus der Beschleunigungsgesellschaft
Sendung: Sonntag, 19. März 2017 Erstsendedatum: 18. September 2016 Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2016
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AUTOR
Prof. Dr. Hartmut Rosa, geb. 1965, studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik. 1997 promoviert er zum Dr. rer. soc. mit Summa Cum Laude. 2004 habilitierte er sich an der Schiller-Universität in Jena mit dem Thema "Soziale Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne". Rosa ist heute Professor für Soziologie an der Universität Jena und Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt.
Arbeitsschwerpunkte: Zeitdiagnose und Moderneanalyse, Normative und empirische Grundlagen der Gesellschaftskritik, Subjekt- und Identitätstheorien, Zeitsoziologie und Beschleunigungstheorie, Soziologie der Weltbeziehung.
Internetseite: http://www.soziologie.uni-jena.de/HartmutRosa.html
Buchauswahl:
– Resonanz - Soziologie einer Weltbeziehung. Suhrkamp-Verlag. 2016.
– Handbuch der Soziologie. (zus. mit Jörn Lamla, Henning Laux, Davis Strecker), UVK. 2014
https://de.wikipedia.org/wiki/Hartmut_Rosa

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ÜBERBLICK
Wenn Beschleunigung das Problem der Gesellschaft ist, dann ist die Lösung die Resonanz. Sie befreit aus falschen, weil oberflächlichen Welt- und Selbstzusammenhängen, sie konterkariert unsere permanenten Zerstreuungsmodi durch eine neue Aufmerksamkeit und kontemplative Sinnhaftigkeit. Die Resonanz ist der Ausweg aus der Steigerungslogik der Moderne, die sich das Immer-Mehr, Immer-Schneller und Immer-Besser auf die Fahnen geschrieben hat. Professor Hartmut Rosa, Soziologe an der Universität Jena, zeigt, wie Resonanz wirkt und wie sie strukturiert ist. (Produktion 2016)

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INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: "Mehr Resonanz – Auswege aus der Beschleunigungsgesellschaft".
Wenn Beschleunigung das Problem der Gesellschaft ist, dann ist die Lösung die Resonanz. Sie befreit aus falschen, weil oberflächlichen Welt- und Selbstzusammenhängen, sie konterkariert unsere permanenten Zerstreuungsmodi durch eine neue Aufmerksamkeit und kontemplative Sinnhaftigkeit.
Die Resonanz ist der Ausweg aus der Steigerungslogik der Moderne, die sich das Immer-Mehr, Immer-Schneller und Immer-Besser auf die Fahnen geschrieben hat. Professor Hartmut Rosa, Soziologe an der Universität Jena, zeigt, wie Resonanz wirkt und wie sie strukturiert ist.
Hartmut Rosa:
Wir wissen nicht genau, wann unser Leben gelingt. Vielleicht wissen wir noch nicht einmal so recht, was ein gutes Leben sein kann. Aber wir wissen, dass es ein paar Dinge gibt, die zu haben auf jeden Fall besser ist als sie nicht zu haben. Der amerikanische Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls nennt diese Güter Grundgüter. Er sagt z. B., es ist immer gut, mehr Freiheit zu haben als weniger, selbst wenn ich sie gar nicht nutze. Auch Einkommen, ökonomische Ressourcen, Reichtum zählen nach Rawls zu den Grundgütern. Selbst wenn ich ganz altruistisch leben will, ist es gut, über mehr Einkommen zu verfügen, weil ich es dann verteilen kann. Geld zu haben ist auch deshalb wichtig, weil es uns die Welt gewissermaßen näher bringen kann. Mit Hilfe von Geld kann ich überall hinfliegen, kann fremde Länder, Meere, selbst den Himmel erobern und besiedeln.
Das Gleiche sagen wir über Bildung. "Egal, was Du aus Deinem Leben machst", sagen Eltern zu ihren Kindern, "es ist wichtig, dass Du Fähigkeiten und Kenntnisse hast, vielleicht über Abschlüsse verfügst." Abitur zu haben ist immer gut, sagen sie, eine Fremdsprache zu beherrschen, könne neue Welten eröffnen, die sonst verschlossen blieben.
Ebenso denken wir über Beziehungen. Soziale Bindungen zu haben, Freunde und Bekannte zu haben, Lebenspartner ist immer wichtig, egal, was wir dann aus dem Leben machen wollen.
Gesund, fit und attraktiv zu sein, kreativ und flexibel – auch dieses "Körperkapital" ist eine Ressource für gelingendes Leben. Heutzutage sind gerade diese Körperressourcen sehr wichtig.
Die verschiedenen Kapitalsorten, mit denen wir unser Leben bestreiten, kann man mit Pierre Bourdieu benennen:
Wir brauchen ökonomisches Kapital – Einkommen und Vermögen, kulturelles Kapital – Bildung und Fähigkeiten, soziales Kapital – Beziehungen insbesondere und
Körperkapital. Die moderne Gesellschaft ist auf die Vermehrung dieser Ressourcen eingestellt, sie hat sich geradezu darauf umgestellt. Nach meiner soziologischen
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Analyse kann man eine moderne Gesellschaft daran erkennen, dass sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermag. Sie braucht Wachstum, Beschleunigung, beständige Innovation und Steigerung, um sich ihre Struktur und ihren Status quo zu erhalten. Das sehen wir besonders gut am Wirtschaftssystem: Ohne Wirtschaftswachstum verlieren wir Jobs, Firmen schließen, das Steuereinkommen sinkt, ein Haushaltsdefizit droht und das ganze System gerät in Gefahr. Also ist die Vermehrung von Ressourcen strukturell und institutionell notwendig. Und sie ist ein kulturelles Ziel, weil wir glauben, dass wir damit die Voraussetzungen für gelungenes Leben schaffen und es verbessern. So entsteht der Traum vom immerwährenden oder sogar wachsenden Wohlstand.
Ist das eine richtige Strategie? Wird unser Leben dadurch besser, dass wir die Ressourcenausstattung permanent verbessern? Ich möchte meine Zweifel daran an einer kleinen Geschichte illustrieren: Nehmen wir an, zwei Maler – Gustav und Vincent – nehmen an einem Mal-Wettbewerb teil. Sie sollen innerhalb von 24 Stunden ein schönes Bild malen. Gustav weiß, dass ein Kunstwerk dann gut wird, wenn er über die richtige Ausstattung verfügt. Er besorgt sich also hochwertige Pinsel, dicke und dünne, feine und grobe, er beschafft sich verschiedene Leinwände, eine stabile Staffelei, gute Beleuchtung, vielleicht macht er noch einen Schnellkurs im Internet über Maltechniken, und natürlich braucht er noch alle Arten von Farben. Vincent verfolgt eine andere Strategie: Er nimmt das Papier, das er gerade zur Hand hat, sammelt die Stifte ein, die bei ihm herumliegen, und fängt an zu malen.
Wer wird von beiden ist nun ein richtiger Maler? Und wer wird am Ende des Tages das bessere Bild gemalt haben?
Ich will damit nicht sagen, dass Ressourcen nicht wichtig sind, natürlich hängt es auch von Leinwand und Farben ab, wie gelungen das Bild sein wird. Ohne Leinwand, Farbe und Pinsel wird sicherlich kein gutes Bild entstehen. Aber wenn Gustav sich komplett auf die Verbesserung seiner Ressourcen konzentriert, wird er wahrscheinlich gar nicht zum Malen kommen. Vielleicht ist er nicht mal ein Maler.
Nun ist es natürlich ein bisschen gewagt, ein Kunstwerk mit dem Leben gleichzusetzen. Trotzdem glaube ich, es gibt Parallelen zwischen gelingender Kunst und dem gelingenden Kunstwerk des Lebens. Ich glaube, wir gleichen als Einzelne und als Gesellschaft ein wenig dem Gustav. Wir sammeln eifrig Ressourcen, wir sind suchtartig darauf fixiert, die Ressourcen-Grundlage zu verbessern, verfehlen dabei aber möglicherweise das gute Leben. Stattdessen träumen wir davon, dass wir das später einmal haben werden. Wenn die Kinder groß sind. Oder wenn das Häuschen im Grünen einmal steht, oder wenn ich mir die Yacht gekauft habe oder das Motorrad, von dem ich schon lange träume. Die meisten verschieben irgendwann das gute Leben in die Rente und haben die Hoffnung aufgegeben, dass es so etwas wie eine Work-Life-Balance im Alltag gibt. Viele Menschen fühlen sich gestresst und sind ständig damit beschäftigt, die To-Do-Liste abzuarbeiten. Dabei dämmert uns natürlich langsam, dass diese Strategie wahrscheinlich niemals aufgeht.
Immer mehr Menschen setzen deshalb auf Entschleunigung, wenigstens als Idee: Das Leben wäre besser, wenn es entschleunigt wäre. Oder sie träumen von so etwas wie Achtsamkeit. Was ist damit gemeint?
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Ich würde schlichtweg bestreiten, dass das Leben einfach dadurch besser wird, dass es langsamer ist. Langsame Achterbahnen fallen aus der Spur, langsame Notärzte sind eine Gefahr und eine langsame Internet-Verbindung nervt. Langsamkeit kann nicht Selbstzweck sein. Wer auf Langsamkeit und Achtsamkeit wert legt, meint eigentlich eine andere Art des In-Beziehung-Tretens zur Welt, zu den Menschen, zu den Dingen und zum eigenen Körper und zur eigenen Identität. Wovon träumen wir da eigentlich? Was meinen wir, wenn wir von einem besseren Leben reden oder von Entschleunigung schwärmen?
Ich glaube, dass das gar nicht so kompliziert ist, denn wir alle kennen in unserem Leben Momente des Gelingens. Erfahrungen, die wir als Oasen erlebt und in uns abgespeichert haben, von denen wir sagen, so sollte es sein. Dafür möchte ich den Begriff "Resonanz" verwenden. Es geht um die Idee, dass unser Leben nicht dort gelingt, wo wir immer mehr Ressourcen anhäufen, sondern dann, wenn wir auf die richtige Weise auf die Welt bezogen sind, d. h. wenn wir auf die richtige Weise mit den Menschen, mit den Dingen, mit der Natur, mit dem Raum, in dem wir leben, und mit uns selbst verbunden sind.
Was meine ich mit Resonanz? Lassen Sie mich drei Annäherungen an den Begriff versuchen. Resonanz ist so etwas wie die Erweiterung der Anerkennungstheorie oder des Anerkennungsbegriffs. Mein Lehrer und Doktorvater, der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth, lehrt, dass Menschen immer darauf ausgerichtet sind, geliebt, geschätzt und geachtet zu werden. Wir brauchen diese Art der sozialen Anerkennung und fürchten soziale Missachtung zutiefst. Meiner Meinung nach ist das richtig, wir brauchen und suchen Anerkennung. Ich bin aber davon überzeugt, dass das nicht alles ist. Manches ist für uns wertvoll, was sich nicht unter dem Begriff der Anerkennung fassen lässt. Wenn wir beispielsweise Musik hören und davon tief berührt und bewegt sind, dann kann eine Ahnung von Glück oder von gelingendem Leben entstehen, ohne dass man das in Anerkennungsbegriffe fassen kann. Wenn Menschen in die Natur, in den Wald, auf die Berge oder vielleicht in den Gemüsegarten gehen wollen, dann geht es ihnen um etwas anderes als um Anerkennung. Das gilt z. B. auch für Menschen, die beten oder in die Kirche gehen. Da geht es, glaube ich, nicht darum, Liebe von Gott zu wollen, sondern es geht um eine Art von Verbunden-sein mit der Welt, die sich nicht anerkennungstheoretisch erklären lässt.
Die erste These lautet also: Resonanz ist ein umfassenderer Begriff als Anerkennung. Und ich glaube, Menschen streben danach, auf lebendige Weise mit der Welt verbunden zu sein. Dazu gehört das Verbunden-sein mit anderen Menschen, Liebe und Wertschätzung, dazu gehört aber auch das Verbunden-sein mit der Natur, mit sich selbst und mit dem eigenen Körper.
Die zweite These: Resonanz ist das Gegenstück zu Entfremdung. Entfremdung ist in der Sozialphilosophie in den letzten Jahrzehnten ein wichtiger Begriff gewesen. Wir haben ihn benutzt, um soziale Verhältnisse zu kritisieren, die zu Entfremdung führen. Damit sind Situationen oder Gegebenheiten gemeint, in denen Menschen nicht mehr in Beziehung mit der Welt sind. Wir sitzen beispielsweise mit der Familie am Frühstückstisch und fragen uns: Was habe ich mit diesen Menschen eigentlich zu schaffen? Was verbindet mich mit ihnen außer, dass ich für sie sorgen muss? Vielleicht haben wir eine Arbeit, die uns leer und sinnlos vorkommt, nichts davon berührt uns und bedeutet uns etwas. Wir haben auch nicht den Eindruck, dass wir
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durch unsere Tätigkeit jemanden oder etwas erreichen. Das sind Formen der Entfremdung. Jeder von uns kennt solche Erfahrungen oder Zustände. Manchmal erfahren wir sie im Kleinen, an einem Tag, der uns misslungen erscheint, an dem wir Streit mit der Familie haben, an dem Freunde sich nicht gemeldet haben, Nachbarn nicht grüßen, uns einfach nichts recht gelingt und Musik, die uns sonst gefällt, uns nicht sagt. Das sind Situationen, die uns nicht mehr berühren und auf die wir innerlich nicht mehr zu antworten vermögen. Ich nenne das Entfremdungsbeziehungen, und ich glaube, die radikalste Form von Entfremdung ist die Erfahrung von Burnout, wenn alle Resonanzachsen verstummt sind und uns die Welt bleich, tot und leer erscheint und wir uns auch selbst als bleich, tot und leer erfahren. Dann vibriert der Resonanzdraht zur Welt nicht mehr. Auf resonante Weise verbunden zu sein bedeutet, so mit der Welt in Kontakt zu stehen, dass wir von außen erreicht und bewegt werden, aber auch in lebendiger Verbindung innerlich darauf antworten können. Man kann von einem verflüssigten Weltverhältnis sprechen.
Die dritte Annäherung besteht darin sich zu überlegen, was Resonanz physikalisch bedeutet. Der Begriff stammt ja eigentlich aus der Akustik und meint, dass zwei Körper miteinander in Beziehung treten, die eine ganz bestimmte Charakteristik hat. Man kann sich das an einem Beispiel deutlich machen:
Wenn man zwei Metronome auf eine Steinplatte stellt und in jeweils unterschiedlicher Geschwindigkeit laufen lässt, eines mit 190, das andere mit 180 Schlägen pro Minute, dann haben sie keinerlei Einfluss aufeinander. Sie haben eine Indifferenz-Beziehung. Es spielt gar keine Rolle für das eine Metronom, was das andere macht. Kurzfristig werden sie in einen Gleichtakt geraten, wenn das Schnelle das Langsame eingeholt hat. Danach treten sie wieder auseinander.
Wenn man die beiden Metronome aber auf ein dünnes Tablett stellen und das Tablett auf zwei liegende Getränke-Dosen platziert, dann passiert etwas Erstaunliches: Innerhalb weniger Minuten laufen die beiden Metronome im perfekten Gleichklang, obwohl sie unterschiedlich eingestellt sind. Warum ist das so? Die überschüssige Energie des schneller eingestellten Metronoms überträgt sich auf die Konstruktion als Ganzes, so dass die Getränkedosen und das Tablett in eine leichte Schaukelbewegung geraten. Spannend daran ist aber eigentlich der Prozess, wenn beiden Metronome einen Gleichtakt erreichen. Sie erreichen sich, sie berühren sich in gewisser Weise gegenseitig, sie beeinflussen sich aber nicht auf hierarchische oder deterministische Weise. D. h., das eine Metronom zwingt dem anderen den eigenen Rhythmus nicht auf, sondern beide beeinflussen sich in ihrem Schwingungsverhalten gegenseitig. Jedes schwingt mit eigener Frequenz, lässt sich aber auch von der Frequenz des anderen berühren und erreichen. Und so reagieren sie ganz fein so lange aufeinander, bis sie tatsächlich in einen Gleichtakt geraten.
Was also ist Resonanz? Resonanz ist eine Form von Beziehung, in der zwei Entitäten, manchmal zwei Menschen, manchmal ein Mensch und ein Ding, sich wechselseitig beeinflussen, dass sie aufeinander reagieren und sich so verändern. Das geht allerdings nur in einem Resonanzraum. In sterilen Räumen, die Schwingungen nicht zulassen, ist das nicht möglich.
Mit Hilfe dieser drei Thesen bzw. Annäherungen:
1. Resonanz ist eine Erweiterung der Anerkennungstheorie
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2. Resonanz ist das Gegenteil von Entfremdung
3. Resonanz ist eine spezifische Beziehungsform
können wir verstehen, was es heißen könnte, resonant in der Welt zu sein. Resonanz bedeutet, sich von der Welt berühren zu lassen. Etwas erreicht mich, bewegt mich, verändert mich, versetzt mich in Schwingung. Ganz häufig erzählen wir ja mit genau diesen Begriffen von gelingenden Momenten. Aber Resonanz bedeutet auch, ich habe auf etwas geantwortet, vielleicht mit einer Emotion (emovere = nach außen bewegen). Ich habe mich als selbstwirksam erfahren, indem ich diese Anrufung beantwortet habe. Resonanz besteht auch darin, sich als wirksam in der Welt zu erfahren: Ich habe die andere Seite erreicht. Wir können uns das gut in einem Gespräch vorstellen. Ein Gespräch kann ein toter Informationsaustausch sein, aber auch eine Resonanzbeziehung, in der mich das, was der andere sagt, wirklich berührt und ich umgekehrt den anderen durch meine Worte bewegen kann, so dass wir uns beide verändern.
Solche Resonanzbeziehungen gibt es aber auch, wenn wir z. B. musizieren, Gitarre oder Geige spielen. Da erfahren wir uns als berührt und bewegt, aber auch als selbstwirksam. Wir können selber Musik formen und bewegen.
Diese Art von Resonanzbeziehung hat zwei wichtige Eigenschaften.
1. Unverfügbarkeit. Wir können sie nicht erzwingen. Man kann nie genau vorhersagen, wann Resonanz eintritt. Das kennt jeder aus eigener Erfahrung: Wenn wir unser Lieblingslied anhören, dann bewegt es uns manchmal sehr, aber wenn wir versuchen, es jeden Tag, vielleicht noch zu einer bestimmten Uhrzeit zu spielen, dann bewegt sich irgendwann gar nichts mehr. Man kann Resonanz also nicht erzwingen. Außerdem weiß man nicht, wie lange sie andauert und was dabei herauskommt.
2. Resonanzbeziehungen sind Beziehungen der Anverwandlung. Dort, wo ich mich auf Resonanz einlasse, werde ich mich verändern, kann aber nicht genau sagen, in welche Richtung. Ich kenne das Ergebnis der Resonanzprozesse nicht. Ich nenne das Anverwandlung. Da geht es nicht um Aneignung – ich bringe etwas unter Kontrolle –, sondern ich lasse mich so auf eine Sache ein, dass sie mich dabei auch verändert und in gewisser Weise transformiert. Welt-Anverwandlung ist also das Ergebnis einer Resonanzbeziehung.
Es gibt drei Dimensionen von Resonanzbeziehungen: horizontale, diagonale und vertikale. Horizontale sind solche, die wir zu anderen Menschen eingehen, dort sind sie am offensichtlichsten. Liebesbeziehungen stellen wir uns z. B. als Resonanzbeziehungen vor, sowohl die Liebesbeziehung zwischen zwei Intimpartnern als auch die zwischen Eltern und Kindern. Die Idee dabei ist, dass wir uns nicht wechselseitig verdinglichen oder instrumentalisieren, sondern dass wir uns so gut es geht aufeinander einlassen und uns diese Beziehung auch verändert. Ähnlich stellen wir uns Freundschaften vor. Freundschaften haben genau das Phänomen der transformierenden Kraft. Eine intensive Freundschaft bedeutet, dass wir so miteinander in Beziehung stehen, dass wir uns auch zu widersprechen vermögen und wir uns im gegenseitigen Reden und Antworten verändern.
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Ich glaube, dass wir auch politische Beziehungen als horizontal verstehen können. Demokratie ist das Versprechen, dass jede Bürgerin und jeder Bürger eine eigene Stimme hat, die – und genau darauf kommt es an – im politischen Konzert gehört wird, auf die geantwortet und reagiert wird. Daraus kann Transformation, gemeinsames politisches Gestalten entstehen. Gegenwärtig beherrschen eher Wut- oder Kampfgeschrei oder Wut- und Kampfgeheul das politische Geschehen, indem es gerade nicht mehr darum geht, aufeinander zu antworten und sich zu hören, sondern den anderen stumm zu machen.
Diagonale Resonanzbeziehungen haben wir zu Dingen, zu stofflicher Materie, das können beispielsweise ästhetische Erfahrungen in einem Museum sein. Wir gehen in ein Museum, um uns von einem Bild erreichen und berühren zu lassen auf eine Weise, die wir nicht genau vorhersehen können. Häufig passiert auch nichts mit uns, aber manchmal gibt es Gegenstände, sei es nun ein Bild oder auch eine antike Nähmaschine, die uns so berühren, dass es zu einer Resonanz zwischen uns und dem Gegenstand kommt.
Diagonale Resonanzbeziehungen, also Beziehungen zu Dingen und Stoffen, erfahren wir insbesondere auch bei der Arbeit. Arbeiten heißt, sich an einem Weltgegenstand abzuringen. Das kann für die Bäckerin der Teig sein oder die Pflanzen für den Gärtner oder der Text für einen Wissenschaftler oder eine Journalistin. Da steht uns jeweils etwas gegenüber, was mit eigener Stimme spricht, was immer einen Moment des Unverfügbaren hat. Das Abarbeiten an diesem Gegenstand transformiert uns, so dass Arbeiten eine zentrale Resonanzachse für moderne Menschen ist. Die Angst davor, den Arbeitsplatz zu verlieren, ist eben nicht nur die Angst, seine Ressourcen einzubüßen, sondern eben auch die Angst, eine Resonanzachse zur Welt zu verlieren.
Schließlich gibt es als dritte Achse einen Welt- und Resonanzsinn als Ganzes. Es gibt eine tiefe Sehnsucht von uns Menschen, mit dem Leben, der Welt oder dem Universum, wie der Religionsphilosoph William James sagt, als Ganzes verbunden zu sein. Dabei wissen wir gar nicht genau, ob das Universum schweigend, tot und kalt ist oder ob da wirklich eine Antwortbeziehung am Grunde unserer Existenz liegt, wie Martin Buber z. B. sagen würde. Ich glaube, Religion gewinnt daraus ihre anhaltende Kraft und Attraktivität, dass sie ganz tief die Idee anlegt, dass da draußen einer ist, der uns meint, uns hört und sieht, der uns den Lebensatem einhaucht und damit an den Grund unserer Existenz eine Resonanzbeziehung setzt, eine Antwortbeziehung.
Religion ist nicht das einzige Konzept, mit dem wir mit dem Leben oder der Welt als Ganzes in Beziehung zu treten versuchen. Die Moderne kennt auch die Idee der Natur. Moderne Menschen erfahren sich als Teil einer lebendigen atmenden Natur, die mit uns intrinsisch, von innen heraus, verknüpft ist. Deswegen gehen viele Menschen gerne in die Natur, in den Wald oder an die See, auf die Berge, um sich selbst wieder zu fühlen oder auch zu hören, um so etwas wie eine Resonanzachse zur Welt aufzubauen. Auch Kunst vermag es, uns mit dem Leben als Ganzes in Resonanz zu bringen. Deshalb gehen wir ins Kino oder hören Musik. Auch Geschichte ist eine Resonanzachse, wenn wir uns als Teil eines lebendigen geschichtlichen Geschehens begreifen, auf das wir ja auch einen Einfluss haben.
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Was sind die sozialen Bedingungen, damit Resonanzbeziehungen überhaupt möglich werden? Das war unsere Ausgangsfrage. Natürlich brauchen wir Ressourcen, um in Resonanz treten zu können. Wenn ich Hunger habe, wird mir die Welt feindlich oder gleichgültig gegenüberstehen, dann kann ich sie mir nicht anverwandeln. Aber ich brauche darüber hinaus beispielsweise auch Zeit. Der Aufbau von Resonanzachsen und Resonanzbeziehungen ist immer zeitintensiv und erfordert Vertrauen. Sich auf eine Resonanzbeziehung einzulassen bedeutet, sich verletzbar zu machen, offen zu werden für anderes und sich auf einen Prozess einzulassen, der uns verändern wird. Wenn ich Angst habe vor dem, was mir gegenübersteht, vor den sozialen Kontexten, in denen ich mich befinde, werde ich mich verschließen und meine Resonanzfähigkeit verlieren. Offenheit gegenüber der Welt ist also eine Grundvoraussetzung für Resonanzbeziehung.
Meine These lautet: Die Steigerungsorientierung der Moderne unterläuft dies Offenheit. Der Zwang zu Wachstum, Zeitdruck und permanente Konkurrenzverhältnisse, die wir darüber hinaus noch mehren, führen dazu, dass wir uns schlussendlich verschließen und auf Kontrolle und Beherrschung der Welt setzen. Das bedeutet, wir begegnen andern Menschen als Konkurrenten, wir instrumentalisieren und verdinglichen Dinge und versuchen, uns selbst zu optimieren. Das alles sind aber stumme Selbst- und Weltverhältnisse, Verhältnisse, die auf Steigerung, aber nicht auf Resonanz angelegt sind.
Daraus ergibt sich die Frage, wie wir die Welt resonanter machen können. Können wir unser Leben resonanter machen? Da Resonanz nicht ein emotionaler Zustand, sondern eine Beziehung ist, können wir nicht nur bei uns anfangen. Wir müssen beide Seiten betrachten, was bedeutet, ein resonantes Leben ist nur in resonanten Verhältnissen möglich. Deshalb propagiere ich eine Soziologie als Kritik der Resonanzverhältnisse. Eine resonante Gesellschaft bedeutet, dass die Steigerungs- und Wachstumszwänge in einer Postwachstumsgesellschaft überwunden werden sollten. Dazu gehören z. B. die Begrenzung des Wettbewerbs, vielleicht auch die Existenzsicherung durch ein bedingungsloses Grundeinkommen, was die existentielle Angst herausnimmt. Ich glaube, wir brauchen auch resonantere Formen von Demokratie – eine Demokratie, die wieder das Hören und Antworten anstelle einer Kampf- und Wuthaltung möglich macht.
Aber wir können auch bei uns selbst anfangen. Das ist die andere Seite der Resonanzbeziehung. Wir können versuchen, unsere Orientierung, unsere Welthaltung mehr auf ein Weltverhältnis des Hörens und Antwortens zu lenken und weniger auf das Beherrschen und Verfügen. In der Bibel steht der Satz: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Man kann dieses Bibelwort umdeuten und sagen: Wenn wir uns nicht an die Fähigkeit der Kinder erinnern, mit der Welt in Resonanz zu treten, dann werden wir kein gelingendes Leben haben. Ich glaube, Resonanzfähigkeit ist nichts, was wir mühsam erlernen müssen. Kinder sind von Natur aus Resonanzwesen. Sie können gar nicht anders als zu versuchen, mit der Welt resonant in Kontakt zu treten, sich hörbar zu machen und auf Reaktion zu warten und auf sie zu hoffen.
Kindlich bedeutet natürlich nicht, naiv und einfältig zu werden, und es bedeutet auf gar keinen Fall, die so wichtige Kulturtechnik der reflexiven und auch manipulativen Distanzierung aufzugeben. Sie ist notwendig für Individuen und auch für die moderne
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Form von Wirtschaft und Wissenschaft. Aber was es bedeutet, resonant mit der Welt in Beziehung zu treten, das können wir von Kindern lernen.
In diesem Sinne machen Sie es gut und schwingen Sie sich ein.
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