SWR2 Onur Güntürkün: Kluge Raben . Neue Erkenntnisse über die Intelligenz der Vögel

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Intelligenz der Vögel
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SWR2 Onur Güntürkün: Kluge Raben . Neue Erkenntnisse über die Intelligenz der Vögel

Sendung: Sonntag, 7. August 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
 
AUTOR
Onur Güntürkün studierte Psychologie an der Universität Bochum, bevor er sich der Erforschung der Tier-Verhaltenspsychologie und den Neurowissenschaften zuwandte. Nach mehrjährigen Forschungsaufenthalten u.a. an Universitäten in Paris, Brisbane und Istanbul kehrte er nach Bochum zurück. Dort leitet er die Abteilung Biopsychologie am Institut für Neurowissenschaften. 2014 hat er den Communicator-Preis für die herausragende Vermittlung seiner Forschungsergebnisse in die Öffentlichkeit erhalten.

ÜBERBLICK
Vögel besitzen bestimmte anspruchsvolle kognitive Fähigkeiten, das zeigen viele Studien der vergangenen Jahre. Das mentale Geschick von Rabenvögeln und Papageien ist sogar soweit ausgeprägt und vielfältig wie das der Menschenaffen. Sie können Werkzeuge gebrauchen, ansatzweise logisch denken, sich selbst im Spiegel erkennen und sich in andere hineinversetzen. Professor Onur Güntürkün, Leiter der Abteilung Biopsychologie an der Universität Bochum, schildert, wie weit diese Fähigkeiten gehen.

INHALT
Ansage:
Vögeln traut man als Laie in kognitiver Hinsicht nicht so viel zu, sie funktionieren eben wie kleine Automaten, darüber hinaus gibt es wenig oder sogar gar nichts.
Und diese Meinung ist falsch, sie wurde in den letzten Jahren durch viele Forschungsergebnisse und Studien konterkariert, denn: Vögel haben sehr wohl anspruchsvolle Kompetenzen, sie können lernen, schwierige Situationen meistern, Probleme lösen.
Darüber wollen wir sprechen, und zwar mit Professor Onur Güntürkün, Leiter der Abteilung Biopsychologie an der Uni Bochum.
Interview:
Frage:
Herr Güntürkün, warum hat man die Intelligenz von Vögeln lange Zeit unterschätzt?
Güntürkün:
Man hat die Intelligenz von Vögeln beiseitegeschoben, weil man – auf Grundlage von neuroanatomischen Daten – ein Jahrhundert lang davon ausging, dass sie dumm sein müssen, weil sie keine Hirnrinde besitzen wie wir Menschen und wie auch alle Säugetiere. Es stimmt, dass die Hirnrinde der Ort ist, an dem sich die komplexesten Denkprozesse abspielen. Und wenn eine Tiergruppe keine Hirnrinde hat, so nahmen wir an, dann kann sie eben keine komplexen Denkprozesse schaffen. Punkt. Aus. Erst als Verhaltensforscher neugierig wurden und angefangen haben, Experimente mit Vögeln zu machen, entdeckten sie, wie intelligent sie sind.
Frage:
Wir Menschen sind ja manchmal egoistisch und selbstbezogen. Haben wir uns bei der Erforschung der Intelligenz vielleicht auch deshalb auf Primaten konzentriert, weil die uns am ähnlichsten sind?
Güntürkün:
Natürlich. Der Mensch ist das intelligenteste Tier auf diesem Planeten. Insofern ist es auch gar nicht so furchtbar dumm anzunehmen, dass an Primaten oder noch allgemeiner an Säugetieren, zu denen wir gehören, etwas Besonderes sein muss. Die Grundannahme ist gar nicht unbedingt falsch, sie war aber zu eng gedacht. Das ist das Großartige an der Wissenschaft. Es gibt so viele durch Neugier getriebene Wissenschaftler, die sagen, es spricht zwar alles dagegen, aber ich finde z.B. Krähen so spannend, ich probiere das jetzt einfach mal.
Frage:
Krähen sind sehr intelligente Vögel, oder?
Güntürkün:
Ja, Krähen und Papageien gehören sicherlich zu den intelligentesten Lebewesen auf diesem Planeten.
Frage:
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Das ist ein starker Spruch, finde ich. Von Papageien weiß ich, dass sie nachplappern können …
Güntürkün:
… genau. Eigentlich haben wir vier Gruppen von Lebewesen, bei denen wir sagen können, dass sie wirklich außerordentliche kognitive Leistungen bringen können. Das sind die Menschenaffen, dann gibt es einen kleinen Teil der Zahnwale, da sprechen wir vor allen Dingen von Delfinen. Es gibt Krähen und dann eben Papageien. Das sind die vier intelligentesten Gruppen.
Frage:
Worin sind die so intelligent?
Güntürkün:
Es gibt keinen IQ für Tiere. Die Wissenschaft hat aber eine ganze Schatzkiste voll verschiedener Arten von Kognitionstests, die ungefähr alle folgendermaßen funktionieren: Sie geben dem Tier eine bestimmte Aufgabenstellung, für die es lernt, weil es dann Futter bekommt. Und dann stellen Sie dem Tier eine Aufgabe, die in dieser Art und Weise noch nie da gewesen ist. Das Tier kann diese Aufgabe also nicht nach 0-8-15-Schema abarbeiten, sondern muss sich eine intelligente Lösung einfallen lassen. Es gibt alle möglichen Testverfahren, die diese Art von Denkprozess fordert. Wenn Sie die Summe dieser verschiedenen Testverfahren nehmen, dann sehen Sie immer, dass es einzelne Tiere gibt – sei es unter den Delfinen, sei es unter Menschenaffen oder anderen Tieren –, die mal bei einem Test gut oder schlecht abschneiden. Aber diese vier Gruppen, also Menschenaffen, Krähen, Papageien und Delfine, schneiden im Schnitt in der Summe der Tests am allerbesten ab.
Frage:
Bei diesen Tests geht es um das Umgehen mit neuen Situationen. Sie wenden nichts Auswendiggelerntes an, es läuft also kein Automatismus ab, sondern die Tiere werden mit neuen Situationen konfrontiert und müssen darauf kreativ reagieren?
Güntürkün:
Genau. Im Kern ist es so, dass diese Tiere erstens schnell lernen, zweitens sehr schnell eine Regel erkennen in dem, was man ihnen präsentiert. Das bedeutet, beim nächsten Mal weiß das Tier sofort die richtige Antwort. Es hat zwar z. B. das eine bestimmte Bild noch nie gesehen, aber das Bild folgt einer gewissen Regel, die es früher erkannt hat. Und das Tier ist in der Lage, bei vollkommen neuartigen Problemen mit intelligenten Lösungen zu reagieren.
Frage:
Können Sie mal so einen Versuch beschreiben?
Güntürkün:
Nehmen wir folgenden Versuch. In einem schlanken und tiefen Trog befindet sich eine Nuss, für das Tier eine echte Leckerei. Nun möchte das Tier diese Nuss haben, kommt aber mit dem Schnabel nicht in den Trog hinein, weil er so schmal und tief ist. Wie kommt es jetzt da dran? Es schaut sich um, will den Trog umschmeißen, damit die Nuss rausfällt, aber der ist fest montiert. Nach einer Weile kommt es auf die Idee, Wasser in den Trog zu spucken. Es macht sich den Schnabel voll mit Wasser und
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spuckt das Wasser in den Trog, so dass das Wasser die Nuss hochtreibt, bis sie an die Oberfläche kommt. Das wäre z. B. eine Aufgabe.
Frage:
Und das Tier macht das, weil es intuitiv eine Vorstellung vom Auftrieb hat?
Güntürkün:
Ja, und ein Vogel hat sogar noch viel mehr Intuition. Ein Vogel kann ja nicht ausreichend Wasser in seinen Schnabel einfüllen, damit sie den Trog damit auffüllen könnten. Was Vögel dann machen ist, dass sie z. B. zusätzlich zum Wasser Steine reinschmeißen, die das Wasser verdrängen. Und dadurch schwimmt die Nuss weiter oben. Jetzt könnten sie ganz poröse Steine wählen, die zwar viel Volumen haben, aber dadurch, dass das Wasser in die Poren des Steins eindringt, nicht viel Wasser verdrängen. Vögel verstehen sofort, dass ein poröser Stein nur wenig nützt. Auch Holzstücke vermeiden die Vögel, weil die ja oben schwimmen würden. Sie haben also nicht nur allgemeines Wissen über Verdrängung, sondern auch Wissen über Materialeigenschaften.
Frage:
Verinnerlichen die Tiere diesen Lernprozess und können ihn später wieder anwenden und sogar variieren?
Güntürkün:
Sie können ihn variieren, ja, Es ist aber gar nicht so viel Lernen dabei. Sie gucken sich um, und irgendwann kommen sie auf die Idee mit dem Wasser und den Steinen. Ganz am Anfang muss man manche Tiere ein bisschen dazu bringen, und zwar so, dass man ein Steinchen ganz in die Nähe legt, so dass sie quasi mit ihrem Blick darauf stoßen und sich sagen: "Ah, das könnte der richtige sein." Das wäre eine Aufgabe für eine ungewohnte neue Situation, für die man eine kreative Lösung braucht.
Nehmen wir einen anderen Versuch: In einer Plexiglas-Schachtel liegt etwas ganz Leckeres, aber der Vogel kommt nicht dran, weil die Schachtel verschlossen ist. Jetzt hat man ihm vorher aber beigebracht, und das muss man den Tieren wirklich beibringen, darauf würden selbst wir Menschen nicht kommen, dass diese Plexiglas-Schachtel aufspringt, wenn man in ein Rohr, das oben an der Schachtel befestigt ist, einen Stein rein schmeißt. Das Tier sieht also das Futter in der Schachtel, es nimmt sich einen Stein und schmeißt ihn in die Röhre. Die Schachtel springt auf, Grundbedingung erfüllt. Aber das ist nicht der eigentliche Versuch. Der Versuch ist jetzt folgender: Sie schalten mehrere dieser Plexiglas-Schachteln in eine Art Batterie. In einer Schachtel ist Futter drin, daran ist aber ein ganz dünnes Röhrchen befestigt, in das nur ein Stein einer bestimmten Größe reinpasst. Dieser Stein liegt nun wiederum in einer anderen verschlossenen Plexiglas-Schachtel. Also muss das Tier zuerst diese Schachtel öffnen, um den kleinen Stein herauszuholen, bevor es den Stein in das dünne Röhrchen an der Futterschachtel einwerfen kann. Sie können diese Aufgabe bis zu 7 Stationen komplex machen, und zwar so, dass Sie die Röhrchen immer so gestalten, dass es nur ein passendes Werkzeug gibt, das blöderweise auch in einer verschlossenen Schachtel liegt. Die Tiere müssen also zunächst den Anfang finden, sich dann systematisch vorarbeiten, bis sie das letzte Werkzeug erreichen, mit dem sie an das Futter rankommen. Die Kollegen in Oxford, die diesen Test nicht entwickelt, aber weiterentwickelt haben, nennen das den
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"Kanzler-Test", weil der Kanzler der Universität Oxford ihn nicht geschafft hat– Krähen aber sehr wohl.
Frage:
Wir sprechen hier über Problemlösungsintelligenz. Es gibt aber auch andere Formen der Intelligenz. Besonders in Bezug auf Primaten reden wir oft über emotionale Intelligenz. Der Primatologe Volker Sommer sagt, Primaten wissen sogar, was ihr Gegenüber fühlt, denkt, was er vorhat. Was meinen Sie? Gibt es diese empathische soziale Intelligenz auch bei Vögeln?
Güntürkün:
Ich würde Herrn Sommer vehement widersprechen. Gerade bei Schimpansen sind die Evidenzen dafür extrem gering. Bei Vögeln sind sie viel größer. Es wird viel darüber diskutiert, warum sie bei Schimpansen so gering sind. Es könnte sein, dass die Tiere die emotionale Intelligenz nicht besitzen oder sie nur sehr schwach entwickelt haben. Es könnte aber auch sein, dass einem Schimpansen ein anderer Schimpanse absolut egal ist. Es sind keine freundlichen Tiere, die sich gegenseitig unterstützen. Deshalb ist ein solcher Test vielleicht auch nicht ganz der optimale. Denn in diesem Test schafft man eine Situation, bei dem ein Tier quasi die Gedanken eines Artgenossen, häufig auch dessen Bedürfnisse lesen muss. Bei Schimpansen klappt das eher, wenn das Gegenüber ihnen etwas Böses will. Sie verstehen, wenn etwas im Busch ist, z. B. "der will mir etwas wegnehmen". Dafür gibt es Evidenzen bei Schimpansen, aber wie gesagt, die Evidenzen bei Krähen sind noch viel größer.
Frage:
Inwiefern?
Güntürkün:
Krähen zeigen ein ganz starkes Futter-Versteck-Verhalten, was ein sehr schönes Testen ermöglicht. Sie geben z.B. einem Kolkraben Futter, er frisst es, bis er satt ist, und das überschüssige Futter versteckt er irgendwo. Das Blöde an Verstecken ist, dass andere Tiere sie ausrauben können. Für Kolkraben gibt es keinen größeren Feind als der andere Kolkrabe. Wenn sie beobachten, dass einer ein Versteck anlegt, dann warten sie nur auf den Moment, bis er weg fliegt, um das Versteck zu plündern. Das führt dazu, dass Kolkraben sehr ungern Futterverstecke anlegen, wenn ein anderer Kolkrabe zugucken kann. Jetzt kann man also eine Test-Situation schaffen, in der ein Kolkrabe ein Futterversteck anlegt, bei dem ein Tier – nennen wir es "Willi" – zuguckt. Widerwillig legt das Tier das Futterversteck an, und Willi guckt zu. Wenn z.B. jetzt "Johnny" dazu geflogen kommt, bleibt das futterversteckende Tier ganz relaxed. Wenn jedoch Willi dazu kommt, der ihn ja beim Verstecken beobachtet hat, dann gräbt er sofort sein Futter aus und würgt es sich rein, bloß damit Willi es nicht bekommt. Nur unter einer Bedingung ist er auch in der Gegenwart von Willi ganz entspannt, nämlich dann, wenn Willi ihm in der Hierarchie unterlegen ist. Denn dann würde Willi sich nicht trauen, das Futterversteck in Gegenwart des überlegenen Besitzers zu plündern. Der wiederum würde aber niemals den Bereich des Verstecks verlassen, solange Willi da ist. Denn sonst würde Willi das Versteck ausrauben, auch wenn er unterlegen ist.
Bei diesen Vorgängen passieren ganz viele komplexe Dinge. Erstens: Der Rabe weiß: Johnny war beim Verstecken nicht dabei, Johnny kann das Versteck also nicht
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kennen. Willi hat mich beobachtet, Willi weiß aber, dass er unterlegen ist, würde es also in meiner Anwesenheit nicht ausrauben. Wenn ich aber weg fliege , würden alle Schamgrenzen fallen und Willi würde es doch tun. All diese Dinge muss das Tier mit bedenken, um sich so zu verhalten, wie es sich verhält. Das ist ein enorm komplexer Vorgang.
Ein letztes Beispiel hierzu: Kolkraben verprügeln sich öfter mal, um ihre Hierarchien festzulegen. Teilweise gehen sie dabei sehr rabiat miteinander um. Andererseits haben Kolkraben aber auch "Freundschaften". Nehmen wir wieder Willi und Johnny. Angenommen, Willi und Johnny sind Freunde, das bedeutet, sie sitzen häufig zusammen, helfen sich gegenseitig, fliegen gemeinsam weg usw. Sie verbringen viel Zeit miteinander. Wir wissen nicht genau, warum, aber wir nennen das jetzt einfach mal Freundschaft. Nun wird Willi von einem dritten, sehr starken Kolkraben angegriffen. Er ist sogar stärker als Willi und Johnny zusammen. Was passiert? Johnny hilft Willi nicht, sondern schaut zu, wie Willi verprügelt wird. Wenn die Prügelorgie vorbei ist, geht er aber zu Willi und macht Tröstungsbewegungen. Manchmal bekommt er dann eine Ohrfeige von Willi ab, weil der ihm schließlich nicht geholfen hat. Wenn nun aber das angreifende Tier schwächer ist als Willi und Johnny zusammen, dann kommt Johnny Willi sofort zu Hilfe. Um dieses Verhalten verstehen zu können, muss man das Konzept von so etwas wie Freundschaft bedenken, man muss auch bedenken, dass das Tier das Kräfteverhältnis untereinander abschätzen kann. Und auch dass Johnny bereit ist, eine Ohrfeige von Willi zu bekommen und trotzdem den Freundschaftsdienst des Tröstens vornimmt.
Ich erzähle das in einer sehr vermenschlichten Art und Weise und nenne die Raben Willi und Johnny. Vermenschlichung ist sicher ein Problem, aber ich nutze sie, um das Rabenverhalten anschaulicher zu vermitteln. Ob ich die Tiere Willi und Johnny nenne oder XQ3Z – sie sind Individuen. Und ich beschreibe ein Verhalten, das Ähnlichkeiten aufweist zu unserem menschlichen Verhalten. Ob es aus einem ähnlichen Mechanismus heraus entsteht, wissen wir allerdings nicht, es können auch ganz andere Mechanismen im Spiel sein.
Frage:
Diese starke soziale Kompetenz hätte man bei Vögeln gar nicht vermutet. Es gibt eine kontroverse Diskussion über Empathie bei Primaten z. B. zwischen Volker Sommer und Julia Fischer. Frau Fischer sieht Primaten, glaube ich, genauso wie Sie, also eher egoistisch und eindimensional in ihren kognitiven Leistungen. Die schwierigste Frage überhaupt: Wie spiegelt sich das auf neuronaler Ebene wider, wenn – wie sie eingangs gesagt haben – Vögel ein völlig anderes Gehirn haben als Säugetiere?
Güntürkün:
Um es radikal auszudrücken: Vögel müssen einen Trick entdeckt haben, um aus einem viel kleineren Gehirn viel mehr Leistung zu ziehen. Wir finden auf wissenschaftlicher Ebene keinen Leistungsunterschied zwischen einem Kolkraben mit einem Gehirn von ungefähr 15 bis 16 Gramm Gewicht und einem Schimpansen mit einem Gehirngewicht von 400 Gramm. D. h. 16 Gramm schaffen die gleiche Leistung wie 400 Gramm, zumindest auf der Ebene der Tests, über die wir gerade gesprochen haben. Es mag andere Variablen geben, die wir bisher nicht getestet haben, die reflektieren vielleicht diesen Größenunterschied. Aber wir haben es hier nicht mit kleinen, sondern mit riesigen Unterschieden in der Hirngröße zu tun. D.h.,
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Vögel müssen einen Weg gefunden haben, aus weniger Gehirn mehr herauszuholen, zumindest was kognitive Leistungen angeht. Und da sind wir immer noch nicht dahinter gekommen, was das ist.
Frage:
Könnte das in irgendeiner Weise mit der Evolution zusammenhängen, dass aus pragmatischen Gründen die Evolution gesagt hat, Vögel müssen weniger Gehirngewicht haben, um sich überhaupt in die Luft zu bewegen. Und daraus ist dann doch noch ein Vorteil entstanden?
Güntürkün:
Was immer die evolutionären Gründe sein mögen – und es liegt nah, dass Vögel keine großen Gehirne haben können, wenn sie flugfähige Tiere sein müssen –, muss es ja trotzdem realisiert werden. Aber zwischen dem Wunsch, etwas machen zu können, und der Fähigkeit dazu liegt immer noch ein Unterschied.
Frage:
Gibt es denn Erklärungsmuster, die Sie anpeilen?
Güntürkün:
Nein, im Moment tatsächlich nicht. Wir haben ja gerade eben erst den Zeitpunkt hinter uns, bis zu dem wir gedacht haben, die Hirnrinde mit ihrer beschichteten Struktur sei das Nonplusultra, das die Evolution hervorgebracht hat. Wir haben gerade gelernt, dass das nicht stimmt. Jetzt dreht sich das Ganze sogar um, ohne eine Hirnrinde scheinen Vögel manches besser hinzukriegen. Und da stehen wir noch ganz am Anfang, wir wissen einfach noch nicht, was es ist.
Frage:
Die Hirnrinde ist beim Menschen der Neocortex, die jüngste Schicht im Evolutionsprozess. Und sie ist zuständig für Intelligenz?
Güntürkün:
Ja, sie ist auf jeden Fall notwendig für kognitive Intelligenz. Der Name Neocortex suggeriert eigentlich, dass es neu ist. Die aktuellen Daten lassen jedoch daran etwas zweifeln, inwieweit der Neocortex wirklich so "neo" ist. Aber das ist eine andere Geschichte. Auf jeden Fall ist es der Hirnbereich, mit dem wir denken. Und um Missverständnissen vorzubeugen: All diese Forschung bedeutet nicht, dass ein Kolkrabe uns kognitiv überlegen ist. Die schlichte Tatsache, dass wir in einen Zoo reingehen und uns im Gegensatz zu Tieren außerhalb des Geheges befinden, sagt schon relativ viel über unsere kognitive Überlegenheit aus. Der Mensch ist ein Sonderfall der Biologie. Wir können darüber diskutieren, warum er ein Sonderfall ist. Er ist nicht vom Himmel gefallen, das ist alles knallharte Neurowissenschaft, warum wir so sind, wie wir sind. Aber wir sind ein Sonderfall. Bei nicht-menschlichen Lebewesen sind die kognitiven Leistungen komprimierter, sie sind enger beieinander. Und innerhalb derer finden wir eben diese Diskrepanz, dass Menschenaffen mit ihren großen Gehirnen, Delfine mit ihren riesigen Gehirnen und dann eben die Rabenvögel mit den kleinen Gehirnen doch alle auf einer Ebene zu liegen scheinen.
Frage:
Kommen wir nochmal zu einem anderen Aspekt der Intelligenz: Selbstbewusstsein. Für uns Menschen ist es sehr wichtig. Wir können über uns reflektieren, wir können
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Abstand zu uns nehmen, wir können uns aus einer anderen Perspektive beobachten. Jetzt gibt es ja bei Schimpansen Versuche, dass man ihnen einen Fleck auf die Stirn klebt und ihnen dann einen Spiegel gibt. Und wenn sie den Fleck sehen, versuchen sie, ihn wegzubekommen. Das heisst, die haben schon eine Ahnung von einem Bewusstsein über sich selbst. Ist das bei Vögeln ähnlich?
Güntürkün:
Wir haben eine Untersuchung mit Elstern gemacht und konnten zeigen, dass Elstern sich in der gleichen Art und Weise verhalten. Bei anderen Rabenvögeln und Papageien ist das nicht gelungen, genauso wenig bei einer ganzen Reihe von Primaten. Das ist ein offenes Forschungsfeld. Eine kleine Anzahl von Lebewesen schneidet bei diesem Test positiv ab, da gehören Schimpansen, Orang-Utans, Elstern, wahrscheinlich Delfine und indische Elefanten dazu. Ich sage wahrscheinlich, weil diese Testergebnisse noch umstritten sind. Aber es geht um einen Elite-Club, wenn Sie so wollen, einen sehr sehr kleinen Club von Tieren. Und dann stellt sich die natürlich Frage: Ist der Test der richtige Test? Churchill soll ja mal gesagt haben, die parlamentarische Demokratie sei eine schlechte Institution, aber unter allen anderen ist sie die beste. Das gleiche kann man für diesen Test sagen. Er ist wirklich schlecht, aber ich kenne keinen besseren. Und das ist das Problem dieses Tests. Letztlich bin ich darauf angewiesen, dass ein Tier ein bestimmtes Verhalten zeigt. Denn wenn das Tier sich selbst zwar im Spiegel erkennt, ihm der Fleck aber egal ist, dann würde ich niemals merken, dass es Bewusstsein hat. Es gibt z.B. gerade unter den Primaten viele, die sich nicht in die Augen schauen können, auch im Spiegel nicht. Das erzeugt ein extremes Unwohlsein bei den Tieren, so dass sie das vermeiden. Es gibt jetzt gerade neue Daten von Rhesus-Affen, bei denen man immer ganz sicher war, dass sie sich nicht selbst im Spiegel erkennen. Wenn Rhesus-Affen, z.B. im Rahmen von neurophysiologischen Experimenten, auf dem Schädel unter Anästhesie eine Platte aufmontiert wird (die später für Ableitungen notwendig ist), dann betrachten die Tiere, wenn man ihnen einen Spiegel gibt, sich lange im Spiegel und fokussieren dieses Ding auf ihrem Kopf. Sie zeigen ein Verhalten, das sie niemals zeigen würden mit einem Fleck. Viele Experimente dieser Art sind mittlerweile kumuliert, die darauf hindeuten, dass dieser Test schlecht ist, trotzdem ist es der beste, den wir haben. Aber dieser Test hat das große Manko, dass er sehr viele Tiere als nichtbewusstseinsfähig – scheinbar – identifiziert, die jedoch wahrscheinlich durchaus bewusstseinsfähig sind.
Frage:
Würden Sie denn sagen, es ist ein Spezifikum des Menschen, dass er selbstbewusstseinsfähig ist? Ist das sozusagen der menschliche Sprung aus der Evolution heraus?
Güntürkün:
Naja, wenn es unser Sprung wäre, dürfte Selbstbewusstsein bei anderen Tieren nicht vorkommen. Zumindest bei einigen wenigen kommt es jedoch vor. Ich glaube, dass Bewusstsein überschätzt wird. Das ist meine ganz persönliche, nicht wissenschaftlich fundierte Meinung, dass Bewusstsein eine Leistung ist, die ein halbwegs komplexes Gehirn wahrscheinlich realisieren muss, ich muss mich ja im Hier und Jetzt selber abbilden können, damit ich in der Lage bin, Wenn-Dann-Beziehungen durchzuspielen: Wenn ich z.B. zu einer Person gehe und ihr einfach den Kuchen vom Tisch wegnehmen würde, weil ich gerne so diesen Kuchen hätte, was würde dann passieren? Der würde sich wahrscheinlich wehren und "Halt! Dieb!" brüllen.
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Und bevor ich die Tür erreiche, wäre ich schon gefangen genommen. Wegen einem Stück Erdbeerkuchen würde ich dann ins Gefängnis wandern. Schlechte Idee! Dann verzichte ich auf Kuchen, auch wenn ich kein Geld habe. Das sind solche trivialen Dinge, die wir ja ununterbrochen durchspielen und von denen wir enorm profitieren, weil wir in der Lage sind, sie durchzuspielen. Ich behaupte nicht, dass ein Hund, eine Katze, eine Taube Bewusstsein hat wie wir. Ich sage nur, dass sie das Grundprinzip des Selbstbewusstseins beherrschen könnten, weil es einen wahnsinnigen Überlebensvorteil bieten würde. Davon bin ich privat, als Nichtwissenschaftler, überzeugt. Aber ich kann es nicht beweisen.
Frage:
Das wäre ein pragmatischer Ansatz: Wir brauchen das Bewusstsein, weil es Überlebensvorteile gibt.
Güntürkün:
Genau. Und dann wiederum der Punkt, ich brauche es, aber kann ich es überhaupt technisch realisieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ungeheuer kompliziert ist, das Bewusstsein zu bauen. Es kommt uns nur so kompliziert vor, weil es als Problem aufgebauscht wird, weil wir es nicht experimentell angehen können. Das macht es so mysteriös. Wäre es experimentell leichter zugänglich, würden wir uns wahnsinnig Gedanken machen über eine triviale visuelle Illusion und würden sagen: "Ach Bewusstsein, das ist einfach."
Frage:
Wenn wir solche Ergebnisse haben, die auf die Intelligenz von Vögeln hindeuten, müssen wir dann den ganzen evolutionären Prozess nochmal neu analysieren, neu bewerten und müssten wir dann nicht auch zu graduellen Abstufungen der Intelligenz kommen? Es gibt ja z.B. die Diskussion über Menschenrechte für Affen.
Güntürkün:
Absolut. Wir müssen zu graduellen Unterscheidungen kommen. Juristen arbeiten ja anders als wir Psychologen z.B. mit Grenzziehungen. Sie sagen, das ist Recht, und ab da ist es Unrecht. Sie müssen so arbeiten, anders geht es nicht, denn vor Gericht muss man sagen können "ab ins Gefängnis" oder "nicht ab ins Gefängnis". Ich muss also Grenzen definieren. Wir Psychologen neigen mehr dazu zu sagen, hier ist ein Schwerpunkt eines Verhaltens, dort ist der Schwerpunkt eines anderen Verhaltens, dazwischen gibt es einen graduellen Übergang. Wo die Grenze ist, kann ich nicht genau sagen und ist mir eigentlich auch egal. In dem Moment, in dem ich aber z.B. Tierschutz, Tierrechte in ein juristisches Werk aufnehme, muss ich Grenzziehungen machen. Und da sehen wir, dass die derzeitigen Grenzziehungen im Grunde ausschließlich aus einer merkwürdig romantisierten und archaischen Vorstellung von Tieren kommen. "Alles, was Fell hat, muss geschützt werden; alles, was kein Fell hat, darf weniger geschützt werden". "Fische haben keine Schmerzen", das scheint von der Fischerei-Industrie gesponsert zu sein und viele andere Dinge, die wissenschaftlich keine Grundlage haben. Es ist natürlich für Juristen wirklich viel schwieriger, wenn wir eines Tages kommen und sagen, es gibt ganz subtile graduelle Unterschiede, aber wo, bitteschön, ziehe ich dann die Grenzen? Das sind alles schwierige Fragen, die Gottseidank ich nicht zu lösen brauche, sondern das müssen Juristen machen.
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Frage:
Vielen Dank für das Gespräch. Ich wünsche Ihnen noch viel Erfolg für die Forschung. Und wir haben wirklich gelernt, der Neocortex ist nicht alles.
Güntürkün:
Ganz genau.
(Die Fragen stellte Ralf Caspary)
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