SWR2 Wissen: Aula - Gerechtigkeit . Warum Eliten die Demokratie aushöhlen . Ralf Caspary im Gespräch mit Michael Hartmann

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SWR2 Wissen: Aula - Gerechtigkeit . Warum Eliten die Demokratie aushöhlen . Ralf Caspary im Gespräch mit Michael Hartmann
Sendung: 11. November 2018, 8.30 Uhr Redaktion: Ralf Caspary . https://www.swr.de/swr2/programm/

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Das war das Aula-Interview zur Themenwoche. Es ging um die Frage, warum Eliten
für Ungerechtigkeit sorgen. Antworten gab der Eliteforscher Professor Michal
Hartmann.

Gesprächspartmer
Michael Hartmann ist Soziologe und renommierter Eliteforscher.
Bücher (Auswahl):
- Die Abgehobenen - Wie die Eliten die Demokratie gefährden. Campus-Verlag, 2018;
- Die globale Wirtschaftselite - Eine Legende. Campus-Verlag, 2016.

 (* 24. August 1952 in Paderborn) ist ein deutscher Soziologe. Hartmann war bis 2014 Professor für Soziologie mit den Schwerpunkten Elitesoziologie, Industrie- und Betriebssoziologie sowie Organisationssoziologie an der Technischen Universität Darmstadt.
Er ist seinem Selbstverständnis nach Sozialist und Kritiker der deutschen Gegenwartsgesellschaft
https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_Hartmann_%28Soziologe%29

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Quintesessenz: 'Der verhängte Blick von Eliten'
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MANUSKRIPT
Anmoderation:
Im Rahmen der Themenwoche Gerechtigkeit geht es heute um die Frage: warum
und wie die politischen und wirtschaftlichen Eliten in Deutschland und Europa die
soziale Ungerechtigkeit befördern. Darüber habe ich mit dem Eliteforscher Professor
Michael Hartmann gesprochen, meine erste Frage war, inwieweit er sich als
Eliteforscher für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit interessiert?

Interview:
Hartmann:
Ich bin auf das Thema „Elite“ u.a. dadurch gekommen, weil ich mich immer für
soziale Gerechtigkeit interessiert habe. Elite hängt ganz wesentlich mit Macht und
Entscheidungsgewalt zusammen. Entscheidungen, die das Ausmaß an sozialer
Gerechtigkeit in diesem Land festlegen. Dieser Aspekt hat für mich immer im
Vordergrund gestanden.
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Caspary:
Sind Eliten für Sie in erster Linie politische Eliten?
Hartmann:
Nein, nicht nur, es zählen auch Wirtschaftseliten, Justizeliten, Verwaltung, Medien
dazu. Das sind verschiedene Bereiche, aber das sind die Personen, die durch ihre
Entscheidungen Entwicklungen maßgeblich beeinflussen, und ein entscheidender
Punkt ist immer soziale Gerechtigkeit, also Einkommensverteilung,
Vermögensverteilung und Ähnliches.
Caspary:
Sie haben mehrere Bücher zum Thema Eliten geschrieben. Wenn ich das richtig
verstanden habe, besagt Ihre Theorie: Es gibt in Deutschland Eliten, die schotten
sich ab, rekrutieren den Nachwuchs aus den eigenen Reihen, mischen sich nicht mit
anderen sozialen Schichten oder Bereichen, und sie haben deshalb den Bezug zur
Realität verloren. Ist das in Grundzügen Ihr Ansatz?
Hartmann:
Das ist etwas zugespitzt, aber ja, das ist der Ansatz. Die Abschottung ist
unterschiedlich. Das hat mit zwei Entwicklungen zu tun. Erstens: die Rekrutierung.
Man kann sagen, es gibt sehr exklusiv rekrutierte Eliten. Die exklusivste ist – nicht
nur in Deutschland – die Wirtschaftselite, wo seit Jahrzehnten vier von fünf
Mitgliedern dieser Wirtschaftseliten aus den oberen 4% der Bevölkerung stammen,
also bürgerlichen, groß-bürgerlichen Kreisen. Es folgen die Justizelite und die
Verwaltungselite. Am offensten war immer die politische Elite. Die politische Elite
rekrutierte sich bis Ende der 90er-Jahre zu zwei Dritteln aus der breiten Bevölkerung,
und es gab auch immer noch einen erklecklichen Anteil an Arbeiterkindern. In den
letzten 20 Jahren hat sich das verändert. Die politische Elite hat sich der Wirtschaftsund
Justiz-Elite angenähert und ist in ihrer Rekrutierung enger geworden.
Gleichzeitig hat sich der Teil der Bevölkerung, zu der auch die Eliten gehören, also
das obere Prozent, was Einkommen und Vermögen angeht, vom Rest der
Bevölkerung immer weiter entfernt, weil eine Vielzahl von politischen
Entscheidungen, aber auch von wirtschaftlichen Entwicklungen dieses Prozent
enorm begünstigt haben.
Caspary:
Kann man sagen, dass die Elite, also auch die politische Elite politische
Entscheidungen zu ihrem eigenen Vorteil fällt?
Hartmann:
Ja, sie fällt Entscheidungen zu ihrem eigenen Vorteil, weil die politische Elite zum
oberen Prozent der Einkommensbezieher zählt. Es gibt ja niemanden, der weniger
als 10.000 Euro im Monat verdient. Aber das ist nicht – und darauf will ich
ausdrücklich hinweisen – das ist nicht das Motiv, warum sie diese Entscheidungen
treffen. Sondern ähnlich wie bei allen anderen Eliten sind das Leute, die glauben,
dass das, was sie entscheiden, für das Land oder für das Unternehmen oder für das
Rechtssystem das Richtige und das Beste ist. Und das gilt auch für die politische
Elite. Das Problem ist, dass sie aufgrund ihrer eigenen Herkunft und ihrer eigenen
Lebenssituation die Realität in diesem Land nur noch eingeschränkt wahrnehmen
und das, was sie als das Beste ansehen, nicht zwingend das Beste ist.
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Caspary:
Wenn ich also sagen würde, die politische Elite sei egoistisch, dann habe ich Sie
falsch verstanden?
Hartmann:
Dann haben Sie mich falsch verstanden.
Caspary:
Warum treffen politische Eliten dann solche Entscheidungen genau?
Hartmann:
Das liegt an ihrem verengten Blickwinkel. Die politische Elite hat eine Wahrnehmung
der Wirklichkeit, die durch ihre eigene Rekrutierung und Lebenssituation bestimmt
ist. Die Elite in Berlin ist eine andere als die Elite in Bonn. Das hat mit der Stadt zu
tun und mit der Zusammensetzung der Herkunft, also dass z.B. Arbeiterkinder kaum
noch vertreten sind. Die erste große Koalition in den 60er-Jahren hatte einen
Arbeitsminister namens Walter Arendt. Walter Arendts Vater war Bergarbeiter, und er
hat auch selbst als Bergarbeiter gearbeitet. Später wurde er
Gewerkschaftsfunktionär, dann Arbeitsminister. Seine Herkunft und seine beruflichen
Erfahrungen ließen ihn Probleme wie z.B. Arbeitsgesundheit u.ä. anders
wahrnehmen. Darum geht es mir.
Caspary:
D.h., er hat sie wahrgenommen aus Sicht seiner Schicht oder der Bedürfnisse seiner
Schicht?
Hartmann:
Ja.
Caspary:
Und wenn Sie jetzt sagen, es gibt immer weniger eine Rekrutierung in der Politik aus
dem Arbeitermilieu, sondern aus dem bürgerlichen oder großbürgerlichen Milieu, fällt
ein bestimmter politischer Bereich, wo Entscheidungen notwendig sind, weg. Der
wird nicht gesehen?
Hartmann:
So ist es. Wir haben 2012 eine große Studie gemacht über die Kernelite in
Deutschland, also die Inhaber der 1.000 wichtigsten Machtpositionen. Gefragt haben
wir nach sozialer Gerechtigkeit, höheren Steuern usw. Das Ergebnis dieser Studie
war ganz eindeutig: Diejenigen, die aus Arbeiterfamilien stammten, sahen soziale
Gerechtigkeit und soziale Ungleichheit sehr viel skeptischer, waren sehr viel
sensibler als diejenigen, die in wohlhabenden oder gar reichen Familien
großgeworden sind. Die Unterschiede waren ganz gravierend, praktisch wie schwarz
und weiß. Statistisch jedenfalls, nicht auf den Einzelnen bezogen. Ich sage das, weil
als Gegenbeispiel immer Gerhard Schröder genannt wird.
Caspary:
Genau, Schröder aus dem Arbeitermilieu.
Hartmann:
Klar. Nur stammt Schröder aus einem traditionslosen Arbeitermilieu, den Vater hat er
nie kennengelernt. Diese Leute wollen sich mit Ellenbogen so weit wie möglich
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rauskämpfen. Natürlich gibt es die auch. Aber in unserer Untersuchung waren die
statistischen Ergebnisse so, dass Arbeiterkinder in der Einschätzung, wie gerecht ist
die Verteilung in der Gesellschaft, noch relativ nah an der Bevölkerung sind, während
die Bürger- und Großbürgerkinder genau gegenteiliger Meinung waren. Je reicher
jemand aufgewachsen ist, umso unproblematischer waren für ihn soziale
Ungleichheiten in der Gesellschaft.
Caspary:
Das ist eine interessante Theorie. D.h. Sie würden für soziale Heterogenität
plädieren in den einzelnen Parteien, Sie sagen, die Volksparteien haben das
verloren. Das betrifft alle großen Volksparteien, vermute ich. Woran liegt das?
Hartmann:
Es gibt eine Reihe von Gründen. Ich kann es am besten bei der SPD beurteilen, weil
ich das am ehesten verfolgt habe. Ich bin kein SPD-Mitglied, aber ich kenne über
lange Jahre viele SPDler. In den 70er-Jahren sind eine große Zahl von
„Studienräten“ in die Partei eingetreten. Das hat das Diskussionsklima verändert. In
meinem Heimatort z.B. gehörten zum Vorstand gestandene Gewerkschaftschefs,
also der ÖTV-Kreisvorsitzende, der IG Metall-Ortsbevollmächtigte. Sie haben die
Diskussion bestimmt. Dann kamen die Studienräte und die haben natürlich anders
diskutiert. Für uns war das am Anfang unserer Zusammenarbeit sehr schön, weil die
Studienräte z.B. in Fragen wie Kernenergie unserer Meinung waren, die
Gewerkschaftschefs völlig anderer Meinung. Für die waren wir technikfeindlich. Was
wir damals nicht gesehen haben, und das ist mir erst später aufgefallen: Die
Gewerkschaftschefs sind irgendwann weggeblieben, weil sie fanden, es wird nur
über so theoretisches Zeug gelabert. Mit ihrem Wegbleiben sind aber auch soziale
Themen in den Hintergrund getreten. Keiner hat mehr Fragen, die im Betrieb wichtig
sind, aufgeworfen. Heute sind in der SPD 40% der Mitglieder Akademiker, nur noch
16% Arbeiterkinder. Das ist ein krasser Unterschied zu früher. In der
Bundestagsfraktion sind es sogar 90% Akademiker. Was für mich ein schlagender
Beweis war, wie sehr das prägt, war die Bundestagsabgeordnete aus Essen, die
ihren Studienabschluss erfunden hat, weil sie das Gefühl hatte, sie gehört nicht dazu,
wenn sie nicht studiert hat. Früher hätte man in der SPD keinen Studienabschluss
erfinden müssen.
Caspary:
Sie sagen, die politische Elite wird homogener, Deutschland wird gleichzeitig sozial
immer ungerechter. Kann man diese einfache Rechnung so aufmachen?
Hartmann:
Ja, das kann man. Das ist erstmal ein statistischer Zusammenhang. Man kann dann
auf einzelne Entscheidungen gucken, was ich auch gemacht habe. Statistisch kann
man eindeutig feststellen, dass die Einkommensentwicklung sich in den letzten
knapp 20 Jahren an beiden Polen auseinanderzieht. Ich nenne ein Beispiel: Von
1999 bis 2015 haben die unteren 10% real 14% an Einkommen verloren, die oberen
10% real 17% gewonnen. In der Mitte ist es ungefähr gleichgeblieben. Die Schere
geht ganz klar auseinander. Das ist beim Vermögen ganz eindeutig so. Das oberste
10% hat ein Drittel des Gesamtvermögens. Die neue Liste ist ja gerade erschienen.
Die 100 Reichsten haben ein Vermögen von 1/2 Billionen Euro. Bei 10 Billionen
entfällt auf die alleine ein Zwanzigstel des Gesamtvermögens. Die Mitte wird kleiner.
Aus der Mitte sind zwischen 1999 und 2015 ungefähr 6 ½ Millionen Menschen
verschwunden, drei Viertel von diesen 6 ½ Millionen sind nach unten abgerutscht,
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ein Viertel ist aufgestiegen – das gibt es auch. Das ist eine reale Entwicklung, die zu
einer deutlich größeren Ungleichheit in Deutschland, was Einkommen und Vermögen
angeht, führt. Und es gibt eine Reihe von politischen Beschlüssen, die man
festmachen kann.
Caspary:
Welche sind das?
Hartmann:
Das sind u.a. die Gesetzgebungen, die man unter Agenda 2010 zusammenfassen
kann. Damit meine ich nicht nur Hartz IV, sondern aus meiner Sicht genauso wichtig
ist, sogar noch wichtiger, die Schaffung des Billiglohnsektors, wo inzwischen fast
jeder Vierte beschäftigt ist zu Bruttolöhnen von maximal 6,50 Euro pro Stunde. Dazu
kommt eine Vielzahl von steuerlichen Beschlüssen, die meisten davon sind den
Menschen weniger bekannt. Was bekannt ist, ist der Spitzensteuersatz, der gesenkt
worden ist. Außerdem gibt es eine Vielzahl von anderen Beschlüssen –
Abgeltungssteuer, Körperschaftssteuer usw. – und die Deregulierung des
Finanzsektors. Denn von der Deregulierung des Finanzsektors haben ja diejenigen
profitiert, die Aktien besitzen. Und die gehören ganz überwiegend zum oberen
Zehntel der Bevölkerung. Die haben von den steigenden Aktienkursen profitiert und
sie haben von etwas profitiert, was man gemeinhin auch nicht kennt, nämlich davon,
dass die Unternehmen immer mehr von ihren Gewinnen ausschütten. Als Beispiel:
Die Dax-Unternehmen haben 2002 insgesamt 10 Milliarden ausgeschüttet, im letzten
Jahr schon über 36 Milliarden. D.h. wenn du Aktien hast, gewinnst du auch brutto
dazu und nicht nur, was die steuerliche Belastung angeht. Der letzte Beschluss ist
jetzt die Erbschaftssteuer für Familienunternehmen, die für die
Vermögensungleichheit gravierende Konsequenzen haben wird, weil die größten
Vermögen in Deutschland, die mit Betriebsvermögen zusammenhängen, wie schon
in den letzten Jahren auch in den nächsten Jahren weitgehend erbschaftssteuerfrei
übergeben werden können.
Caspary:
Wir kommen gleich nochmal zur politischen Elite. Zunächst eine kleine Zäsur: Wie oft
hat man Ihnen schon eine Neid-Diskussion vorgeworfen und dass Sie die Eliten, die
gut verdienen, die vielleicht auch ein bisschen abgehoben sind, die aber eine super
Ausbildung haben und die wir brauchen als Firmenchefs, als politische Lenker,
schlecht machen? Weil Sie sagen, die verdienen zu viel und arbeiten in die eigene
Tasche.
Hartmann:
Das ist mir relativ häufig vorgeworfen worden. Aber das nimmt ab, weil ich a) sagen
kann – das betone ich auch immer bei Vorträgen –, ich gehöre zu denjenigen, die
profitiert haben ...
Caspary:
... als ehemaliger Professor der TU Darmstadt.
Hartmann:
Ja, mit einer hohen Pension und auch mit meinem Aktiendepot. Also ich gehöre zu
den Wohlhabenden des Landes und ich habe auf vielfältige Art und Weise von
unserem System profitiert. Ich kann auch im Detail erklären, wo ich gewonnen habe.
Zweitens: Vor langer Zeit gab es mal ein Kursbuch über Neid, für das ich auch einen
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Beitrag geschrieben habe und für das ich mich mit der ganzen Neid-Diskussion über
die Jahrhunderte beschäftigt habe. Und mein persönlicher Eindruck hat sich darin
bestätigt: Neid findet im sozialen Nah-Umfeld statt. Der habilitierte Assistent, der seit
zehn Jahren auf die Professur wartet, ist neidisch auf den Assistenten, der es schafft.
Oder der Sänger, der erfolglos bleibt, auf den erfolgreichen Sänger. Aber ein
Normalsterblicher ist nicht neidisch auf den Milliardär. Der ist so weit weg, da sage
ich, das ist kein Neid, sondern ein Gefühl von sozialer Ungerechtigkeit, die von Land
zu Land unterschiedlich ausfällt. Im skandinavischen Raum wird man schon etwas
als ungerecht finden, was wir noch akzeptieren. Und in den USA ist der Spielraum
noch viel größer. Da wird man sagen, was stellen die sich so an. Aber es ist ein tief
verwurzeltes nationales Gefühl, was noch okay und was nicht mehr okay ist, welche
Differenzen man durch die Position erklären kann und wo man sagt, die bedienen
sich.
Caspary:
Reagieren wir Deutschen auf dieses Themenbündel „Kluft zwischen arm und reich“
zu sensibel?
Hartmann:
Nein, wir sind zwar sensibel, aber das gilt genauso z.B. für Großbritannien, für
Frankreich und für viele europäische Länder. Wir haben in Europa eine relativ
gemeinsame Tradition, was akzeptabel ist und was nicht. Und wir haben in Europa
im skandinavischen Raum die Länder, die traditionell eine sehr egalitäre Vorstellung
haben von einer Gesellschaft, wo dann eben Dinge nicht gehen, die für uns
problemlos wären. Ich habe einen französischen Kollegen, der hat in Norwegen eine
Studie gemacht, bei der er für ihn völlig unverständlich festgestellt hat, dass in
Norwegen Spitzenpolitiker keinen großen BMW fahren, weil sie damit negativ
auffallen. Das wäre in Frankreich, siehe Macron, kein Problem, da ist man das von
den Eliten gewohnt, dass die sich so präsentieren. So gibt es in Kontinentaleuropa
durchaus Unterschiede. Aber es gibt eine Vorstellung, ich sage mal bei Manager-
Einstellungen, die waren ja lange so, dass ein Manager das 14-Fache eines
normalen Arbeitnehmers verdient hat – im selben Unternehmen. Da hat man gesagt,
der hat mehr Verantwortung, der arbeitet seine 70 Stunden, das ist irgendwie okay.
Jetzt ist es aber das 50- bis 70-Fache, und da sind die Dimensionen gesprengt. Da
sagt man, nein, soviel mehr arbeitet der auch nicht und so viel besser ist der auch
nicht, warum muss der so viel mehr verdienen.
Caspary:
Ich muss mal skeptisch sein und sagen, dass die Gesellschaft sozial homogener
wird, die Eliten homogener werden, liegt daran, dass wir in Deutschland z.B. nicht
mehr die klassische Arbeiterschaft haben, wo Menschen ausgebeutet werden und
um die man sich andauernd kümmern muss bezüglich sozialer Gerechtigkeit. Ist das
nicht ein wichtiger Punkt: das Zurückfahren der Industriegesellschaft und das
Aufstreben der Dienstleistungsgesellschaft? Ist das nicht eigentlich die Ursache für
Homogenität?
Hartmann:
Es spielt zwar eine Rolle, dass die Arbeiterklasse nicht mehr so ist wie früher. Aber
wenn wir zurückdenken an die Arbeiterschaft Anfang des 20. Jahrhunderts, dann
stellen wir uns meistens Bergarbeiter, Stahlarbeiter, Metallarbeiter vor, weniger die
ostdeutschen Landarbeiter oder Textilarbeiterinnen. Aber auch sie machten einen
erheblichen Anteil der Arbeiterschaft aus. Wir haben so etwas wie ein Idealbild des
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Arbeiters kreiert und vergessen dabei, wie hoch der Arbeiteranteil immer noch ist,
insbesondere unter den Männern.
Caspary:
Wie hoch ist er?
Hartmann:
Bei den Männern ist das immer noch ein Anteil von einem Drittel. Bis Anfang der 90-
er war der Anteil über 40%. Man hat ja immer das Gefühl, es ist unendlich lange her.
Das stimmt aber nicht. Zwischen den 50-ern und den 90-ern betrug der Rückgang
nur gut 10 Prozentpunkte, also nicht massiv. Wir haben in Deutschland immer noch
einen relativ hohen Industrieanteil, das kommt uns jetzt auf dem Weltmarkt zu Gute
kommt. Also wenn wir in den Parteien die Arbeiter halbwegs repräsentativ vertreten
haben wollen, müsste jeder Dritte in der Partei ein Arbeiter sein.
Caspary:
Ich komme nochmal zur politischen Elite. Sie haben gesagt, die blendet mittlerweile
die soziale Realität aus. Dafür gibt es viele Beispiele: Kluft zwischen arm und reich –
darüber haben wir gesprochen – es gibt keine Lösungsvorschläge seitens der Politik;
unbezahlbarer Wohnraum kennen wir auch; manipulierte Dieselfahrzeuge,
schmutzige Dieselfahrzeuge – es passiert nichts; Klimawandel – passiert relativ
wenig; Flüchtlingspolitik – man weiß eigentlich nicht, wo es langgeht; Rentenpolitik,
Steuerpolitik – es passiert nichts. Passt das zu Ihrer Theorie?
Hartmann:
Es passiert ja etwas.
Caspary:
Ja, Machtpolitik, Kalkülpolitik, die dem eigenen Überleben hilft.
Hartmann:
Man muss einen längeren Zeitraum betrachten. In Deutschland fand um den
Jahrtausendwechsel die Wende zu einer neoliberalen Politik statt und in der Folge ist
in den ersten zehn Jahren sehr viel passiert. Alle Beschlüsse, die ich genannt habe,
sind bis 2009 durchgezogen worden. Danach hat es keine maßgeblichen Beschlüsse
mehr in dieser Richtung gegeben, sondern nur noch Bestätigungen. Die
Erbschaftssteuer war der letzte Beschluss vor zwei Jahren. Das ist nur eine
Bestätigung dessen, was unter Steinbrück 2009 passiert ist. D.h. man hat einmal die
Verhältnisse gravierend verändert, und seitdem hält man es auf dem Niveau. Das ist
in Großbritannien und den USA auch nicht anders. Da gibt es keine gravierenden
Einschnitte, sondern es wird einfach immer das fortgeführt, was man schon hat. Das
Problem ist, dass man in diesen zehn Jahren in der Bundesrepublik einschneidende
Veränderungen in der steuerlichen Belastung, in der Einkommensentwicklung und
ähnliches hatte, und auf dem Niveau bewegt man sich jetzt. Man verändert es nicht
zurück zu etwas Positivem.
Caspary:
Warum dieser Stillstand? Was bewegt die politische Elite dazu, nichts zu tun? Kritiker
sagen ja, es wird nicht mehr gestaltet.
Hartmann:
Wenn man die wesentlichen Schritte gemacht hat ...
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Caspary:
... meint man, der Laden läuft irgendwie.
Hartmann:
Genau so ist das. Selbst die Finanzkrise hat man in Deutschland halbwegs glimpflich
überstanden. Also ist das Gefühl, man muss keine großen Schritte unternehmen,
sondern nur das Bestehende vielleicht im Detail ein bisschen korrigieren. Aber
eigentlich kann man alles lassen, wie es ist.
Caspary:
Aber das ist doch eine Illusion – siehe AfD – es ist eben nicht alles in Ordnung.
Hartmann:
Nein. Das ist aber mit der AfD erst deutlich geworden. Denn seit die AfD Aufwind
bekommen hat, wird das ja auf einmal alles diskutiert. Weil die AfD das erste Mal
dafür gesorgt hat, dass dieses System „es wird schon laufen“, also das typische
Merkel-System „du musst nicht viel machen, du musst dir angucken, wie die
Stimmung so ist, und dann machst du ein bisschen was, dann bleiben die Leute
schon ruhig“ – durch die AfD ist diese Haltung in den Grundfesten erschüttert
worden. Auf einmal stürzt in Bayern die CSU als quasi Staatspartei ab, in der
Bundesrepublik hat eine große Koalition keine Mehrheit mehr. Man ist gezwungen,
darüber nachzudenken, was jetzt getan werden muss. Aber wenn man sich über
lange Jahre daran gewöhnt hat, es einfach laufen lassen kann, findet man auf die
Schnelle keine Antworten, glaube ich.
Caspary:
Aber nach Ihrer Theorie würde das auch für die SPD gelten, für alle „Volksparteien“.
Hartmann:
Ja.
Caspary:
Das ist sozusagen ein Dornröschenschlaf, in den sie gefallen sind?
Hartmann:
Ich war immer wieder bei Veranstaltungen in SPD-Untergliederungen, ob das die
Bezirksdelegiertenkonferenz Mainz ist oder ein Gewerkschaftsforum usw. Meine
Beobachtungen sind immer ähnlich: Die Parteibasis ist sehr unglücklich über die
Vergangenheit, vor allem unter Schröder. Aber diejenigen, die heute in der
Verantwortung sind, wollen nicht daran rühren, weil die Mehrzahl von denen daran
beteiligt war. Auch Leute, die sympathisch sind – Beispiel Malu Dreyer,
Ministerpräsidentin Rheinland-Pfalz. Sie gehört ja in der SPD nicht zu den
Hardlinern, sondern sie ist sehr umgänglich, freundlich. Aber wenn es um den Punkt
geht, wie setzen wir uns mit unserer eigenen Vergangenheit auseinander, dann sind
die Reihen sofort geschlossen. Man war in den vergangenen 20 Jahren 16 Jahre an
der Regierung beteiligt, so dass vom SPD-Führungspersonal keiner in Erwägung
zieht, den Bruch mit der eigenen Politik aus der Vergangenheit zu thematisieren. Und
so wurschtelt man halt weiter.
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Caspary:
Was machen wir jetzt mit dieser Bestandsaufnahme? Ist unsere Demokratie
ermüdet? Wie kann man den Laden aufbrechen jenseits von AfD mit ihrer
Katalysatorfunktion?
Hartmann:
Mein Beispiel im Augenblick ist Großbritannien. Nun gibt es bestimmte britische
Besonderheiten wie das Zwei-Parteien-System usw. Aber wenn man sich die
Labour-Party anguckt und man hätte vor drei Jahren einen Beobachter gefragt, dann
hätte der über die Labour-Party das Gleiche gesagt wie über die SPD. Aber da war
es noch schlimmer. Die Labour-Party hatte damals noch 160.000 Mitglieder, also ein
dramatischer Mitglieder-Verlust. Die Blair-Leute haben alle Gremien beherrscht und
waren auch nicht bereit, über ihre Vergangenheit zu diskutieren. Und dann haben sie
einen taktischen Fehler gemacht und die Kandidatur von Corbin nicht unterbunden.
Corbin hat auf einmal eine Aufbruchstimmung erzeugt, weil er eine Alternative
geboten hat. Er sagte, ich bin dafür, die Eisenbahn wieder zu verstaatlichen, den
Sozialstaat auszubauen, die Steuern zu erhöhen. Das war wirklich ein
Kontrastprogramm zu den vergangenen vier Jahrzehnten. Und die Stimmung vor
allem unter der britischen Jugend war für so eine Wende. Es gibt jetzt eine Umfrage,
wie Menschen unter 30 abstimmen würden mit dem Ergebnis: 66% Labour und noch
12% für die Torys. Die jungen Leute wollen jetzt einfach etwas anderes. Die Partei ist
jetzt wieder bei 600.000 Mitgliedern, ganz viele Jüngere sind eingetreten, weil
parallel hat sich die Politik verändert und die Leute haben sich engagiert. Das ist in
Deutschland nicht so drastisch. Wenn man sich die kurze Phase unter Schulz
anguckt, wo die SPD auf über 30% geschossen ist, weil sie auch eine Alternative
angeboten hat, wenn auch nur in Worten, oder die No-GroKo-Kampagne. Viele junge
Leute sind in kurzer Zeit in die SPD eingetreten, weil sie ein konkretes Ziel gehabt
haben, für das es sich lohnt. Das Entscheidende ist: Man engagiert sich, gerade
wenn man jung ist, politisch, wenn man glaubt, es lohnt sich. Dafür muss man ja in
einer Partei etwas haben, womit man sagt, damit kannst du es wirklich ändern. Wenn
du das Gefühl hast, du änderst sowieso nichts, dann sagst du, gut, dann macht das
eben alleine.

Caspary:
Wie kann man die Homogenität, die Selbstbezüglichkeit der Eliten aufbrechen?

Hartmann:
Das ist genau dasselbe. Ich habe mir mal das Schattenkabinett von Corbin
angeguckt: Es ist nicht nur so, dass die Anzahl der Mitglieder sich drastisch erhöht
hat, es sind auch andere Personen. Das Schattenkabinett von Corbin hat zur Hälfte
Arbeiterkinder. In den vorherigen Kabinetten seit Thatcher, also auch in den ganzen
Labour-Kabinetten, lag die Quote bei maximal 20%. Und sie haben einen einzigen
Absolventen einer Privatschule. Während normalerweise die Anzahl der
Privatschüler in diesen Kabinetten zwischen 30 und 80% lag. D.h. sie haben
Personen wirklich aus der Normalbevölkerung und aus der unteren Hälfte auch in
politisch verantwortlicher Position. Das ist parallel gegangen.
Caspary:
D.h., es geht eigentlich um Rekrutierung des politischen Nachwuchses.
10
Hartmann:
Ja.
Caspary:
Was könnten Sie den politischen Parteien mit auf den Weg geben? Wir haben in
Deutschland eine interessante Entwicklung, nämlich unter dem Stichwort
„Akademisierungswahn“, wie der Philosoph Julian Nida-Rümelin das mal genannt
hat, also dass alle Abiturienten jetzt zur Universität streben. D.h., diese
Homogenisierung wird ja weitergehen. Es entsteht eine große bildungsbürgerliche
Schicht und daneben noch eine etwas kleinere abgehängte Schicht. Das ist doch das
Problem oder?
Hartmann:
Das ist erst seit einem guten Jahrzehnt so, dass wir Prozentzahlen von 50%
Studierquote haben. In den 90-ern waren es um die 30%. Das ist jetzt drastisch
hochgegangen, das wird sich irgendwann bemerkbar machen. Aber die
Generationen, die jetzt in Frage kommt, da ist der Anteil nicht so hoch. Außerdem ist
es heute nicht mehr so, dass du mit einem Studium noch die gleichen Positionen
erreichen kannst wie früher. Heute sind das halt auch durchschnittliche mittlere
Positionen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn man diejenigen, die in „normalen“
Positionen arbeiten, für Politik begeistern könnte. Ich meine die Ebene der
Krankenschwestern, Polizisten bis hin zu Grundschullehrern. Das sind Berufe, die
nicht zum Prekariat gehören, aber es sind eben auch keine akademischen Berufe,
sondern sie gehören zum mittleren Bereich. Und die Leute kriegst du nur, wenn du
ihnen ein Angebot machst, zu dem sie sagen können, ja, dafür lohnt es sich, weil das
die Lebensbedingungen der Menschen, die um mich herum sind und meine eigenen
auch.
Caspary:
Dann warten wir, bis die erste Krankenpflegerin oder der erste Krankenpfleger
BundeskanzlerIn wird.
Hartmann:
Das wäre schön, aber das werden wir wahrscheinlich nicht erleben.
Caspary:
Was wünschen Sie sich von der ARD-Themenwoche „Gerechtigkeit“?
Hartmann:
In den letzten Monaten sind z.B. bei Talkshows alle möglichen Fragen, die
aufgegriffen wurden, immer wieder beim Thema Flüchtlinge gelandet. Ich wünschte
mir, dass das mal aufgebrochen wird. Der Aufstieg der AfD ist untrennbar damit
verbunden, dass alle Diskussionen irgendwie mit Flüchtlingen zusammenhingen. Es
gab eine Umfrage in einer großen Fernsehzeitung, was die Leute denn gerne hätten
in Talkshows und was sie glauben, was behandelt worden ist. Und sie hätten wirklich
gerne: Wohnen, soziale Gerechtigkeit mit Prozentsätzen um die 60; wahrgenommen
haben sie aber, dass es zu 60% um Flüchtlinge geht. Ein Beispiel: Rentenpolitik. In
der AfD gibt es zwei Rentenkonzepte, die völlig unvereinbar miteinander sind. Das
eine Konzept kommt aus dem Westflügel, das sind Wirtschaftsliberale, also Meuthen,
Weiden, Gauland usw. Ihr Rentenkonzept besagt, jeder muss für sich selber sorgen.
Das andere ist der Ostflügel, dessen Konzept heißt: Renten nur für „richtige“
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Deutsche. Wenn man das Problem in den Medien wirklich gezielt über einen
längeren Zeitraum zum Mittelpunkt machen würde, würde man der AfD ganz anders
beikommen können, weil sie dann Farbe bekennen müssten, als wenn man immer
auf ihr Lieblingsthema einsteigt. Denn alle Stellungnahmen der AfD laufen auf
Flüchtlinge heraus, weil sie damit die gravierenden Unterschiede in der eigenen
Partei und v.a. die unsoziale Politik, die sie letztendlich machen werden, kaschieren
können.
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