SWR2 Aula - Manfred Lütz: Ich rate Ihnen zu einem Ratgeber mit gutem Rat . Über das Gelingen

Gelingen (M. Lütz)

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SWR2 Aula - Manfred Lütz: Ich rate Ihnen zu einem Ratgeber mit gutem Rat . Über das Gelingen

Sendung: Sonntag, 20. Dezember 2015
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Produktion: SWR 2015
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
 
AUTOR
Manfred Lütz, geboren 1954, Studium der Humanmedizin, katholischen Theologie und Philosophie, 1979 Approbation als Arzt, danach Diplom in katholischen Theologie; 1989 Facharzt für Nervenheilkunde, 1991 Facharzt für Psychiatrie; seit 1997 Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln.
Bücher (Auswahl):
- Wie Sie unvermeidlich glücklich werden. Eine Psychologie des Gelingens. Gütersloher Verlagshaus. 3. Aufl. 2015.
- Irre - Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde. Gütersloher Verlagshaus.
- Das Leben kann so leicht sein. Lustvoll genießen statt zwanghaft gesund. Carl-Auer-Systeme Verlag.

ÜBERBLICK
Wir sind umstellt von Ratgeber-Literatur und können ihr nicht mehr entfliehen. Wir sollen uns gesund ernähren, wir sollen eine gute Partnerschaft führen, wir sollen ökologisch leben, wir sollen gute motivierte Mitarbeiter/innen sein. Wie wir das alles schaffen sollen und können, das zeigen uns Ratgeber. Das Problem dabei ist nur: Wir verlernen dabei das richtige selbstbestimmte Leben und wissen nicht mehr, wie ein gelungenes glückliches Leben aussieht. Professor Manfred Lütz, Psychiater und Buchautor, zeigt, wie man unvermeidlich glücklich werden kann.

INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: "Ich rate Ihnen zu einem Ratgeber mit gutem Rat – Über das Gelingen und das Glück".
Wir sind umstellt von Ratgeber-Literatur, die uns aufzeigen will, wie man glücklich wird. Und das scheint ja ganz einfach zu sein: ein bisschen Wellness, ein bisschen Munterkeit, ein bisschen Motivation, ein bisschen Entspanntheit – und fertig ist das kleine Glücksgefühl.
Pustekuchen, alles Unsinn, sagt Manfred Lütz, Psychiater und Buchautor. In seinem neuen Buch mit dem Titel "Wie Sie unvermeidlich glücklich werden" rechnet Lütz mit der Ratgeber-Literatur ab und präsentiert einen Alternativ-Ratgeber:
Manfred Lütz:
Es gibt inzwischen eine Ratgeber-Literatur, die, wie der Soziologe Ulrich Beck es einmal formuliert hat, eine Schneise der Verwüstung durch Deutschland schlägt. Es scheint so, als wäre man für sich selbst gar nicht mehr kompetent. Gehen Sie mal in einen Buchladen und sehen Sie sich die ganzen Ratgeber an, dann haben Sie den Eindruck, das muss ich alles lesen, dann kann ich mit dem Leben anfangen. Dann sind Sie aber in Rente!
Das heißt, diese Ratgeber haben das große Problem, dass sich irgendeiner als Experte aufplustert und das Publikum als ganz kleine Würstchen zurücklässt. In manchen Glücks-Ratgebern beschreibt der Autor, wie er selbst persönlich glücklich geworden ist und lässt dabei den Leser unglücklich zurück, weil der Leser nun mal nicht der Autor ist. Der kann dann gleich wieder den nächsten Glücks-Ratgeber kaufen.
Der Philosoph Karl Jaspers hat gesagt, die Grenzsituationen menschlicher Existenz sind unvermeidlich. Diese Grenzsituationen sind Leiden, Schuld, Kampf (Auseinandersetzungen) und Tod. Und wenn man zeigen könnte, wie man in diesen unvermeidlichen Grenzsituationen menschlicher Existenz glücklich sein kann, dann kann man unvermeidlich glücklich werden. Das ist ja logisch. Denn wenn man nicht die Gewissheit hat, auch in Krisensituationen seines Lebens nicht ins Nichts zu fallen, dann kann man heute schon nicht glücklich sein, weil man ja jederzeit befürchten muss, dass man unmittelbar – jetzt, morgen oder in kürzester Zeit – in eine schreckliche Krise fällt und einem dann sozusagen der Teppich unter den Füßen weggezogen wird.
Platon hat gesagt, die ständige Sorge um die Gesundheit ist auch eine Krankheit. Und tatsächlich ist es auch im Bereich des Glücks so, dass Leute, die dauernd über das Glück reden, häufig nicht die glücklichsten Mitmenschen sind. Für Menschen, die wirklich glücklich sind, die etwas Sinnvolles tun, was sie ausfüllt, ist Glück kein Thema, die reden nicht über Glück. Glück ist manchmal im Nachhinein ein Thema, wenn wir rückblickend an glückliche Momente unseres Lebens denken. Aber nicht im Moment selbst.
Jede/r von Ihnen war schon einmal glücklich, und zwar sehr persönlich glücklich. Und wenn Sie sagen, ich bin glücklich, dann meinen Sie damit etwas ganz Bestimmtes. Kein anderer Mensch kann ganz genau verstehen, was Sie meinen, wenn Sie sagen "Ich bin glücklich". Weil Sie das assoziieren mit bestimmten Situationen Ihres Lebens, mit bestimmten Gerüchen, bestimmten Melodien, bestimmten Menschen, bestimmten Begegnungen. Das heißt, dieses Wort benutzen wir alle, aber letztlich ist das, was dieses Wort bedeutet, etwas doch sehr Persönliches.
Der Philosoph Aristoteles hat gesagt: Alle Menschen wollen glücklich werden. Das Dramatische ist nun, dass Glück, wie ich schon sagte, nicht definierbar ist. Mein Philosophie-Professor in Bonn hat einmal gesagt: "Wenn Sie eines Tages mal jemand fragen sollte, was ist Philosophie, dann antworten Sie ihm folgendermaßen: Philosophie ist dasjenige, was jeder unter dem Wort Philosophie sofort versteht".
Die wichtigen Dinge des Lebens kann man nicht genau definieren. Nicht nur Glück ist wichtig, sondern auch zum Beispiel Liebe. Wenn Sie Liebe definieren wollen, dann laufen Sie Gefahr, die Liebe zu zerstören. Wenn Sie zum Beispiel 30 Jahre verheiratet sind und es ist jetzt ein bisschen langweilig geworden: Dann könnte man sich überlegen, wie man vielleicht einen Ehestreit provozieren könnte. Dafür gibt es eine sehr gute Methode: Man nimmt sich einen Abend frei und dann sagt die Frau völlig überraschend zu dem Mann: "Warum liebst Du mich eigentlich?". Das reicht. Damit ist der Abend gerettet. Denn alles, was der Mann jetzt antwortet, führt in die Katastrophe. Entweder der Mann sagt nichts. Dann fragt die Frau natürlich völlig zu Recht: "Wie? Dazu hast Du nichts zu sagen? 30 Jahre sind wir verheiratet. Ich koche für Dich, ich wasche für Dich, ich tue alles für Dich, und dann hast Du zu dieser einfachen Frage – Subjekt, Prädikat, Objekt – nichts zu sagen? Dann kann ich ja gehen! Das ist ja gut, dass ich die Frage gestellt habe, offensichtlich führen wir überhaupt keine vernünftige Ehe mehr." Oder die zweite Möglichkeit: Der Mann denkt, ich muss jetzt unbedingt etwas sagen, und er sagt: "Ich liebe Dich wegen Deiner schönen Augen." Das führt natürlich sofort wieder zur Katastrophe, weil die Frau völlig zu Recht sagt: "Wie? Nur wegen meiner Augen? Das ist ja wohl das Letzte. Hinter meine Augen habe ich Hirn, sowas interessiert den Herrn offensichtlich überhaupt nicht. Ich habe unsere Kinder erzogen, ich habe alles gemacht, und Du reduzierst mich auf diese Augen."
Das heißt, wenn man Liebe versucht zu definieren, dann kann man sie zerstören. Die wichtigen Dinge des Lebens kann man nicht definieren, das macht das Leben ja so spannend. Auch das Glück kann man nicht definieren.
Manchmal scheinen wir ja besser zu wissen, was Unglück ist. Als ich noch nicht verheiratet war, war ich mit meiner Behindertengruppe, die ich vor 30 Jahren gegründet habe, in Wien. Wir saßen in einem Schnell-Imbiss in der Wiener Innenstadt, und ich beobachtete am Nachbartisch ein altes Ehepaar, beide wahrscheinlich über 80. Sie aßen eine Fischsuppe, hingen über ihren Tellern, löffelten langsam ihre Fischsuppe und sagten kein Wort, schauten sich noch nicht einmal an. In dem Moment habe ich überlegt, so kann es gehen – man ist 50 Jahre verheiratet, man hat sich nichts mehr zu sagen, und das Ganze endet in einem Schnell-Imbiss in Wien. Nach einer gewissen Zeit stand der Mann auf und ging zur Toilette. Die Frau schaute gar nicht auf und löffelte weiter ihre Suppe. Dann kam der Mann zurück, ging an seiner Frau vorbei, streichelte ihr ganz zärtlich über den Kopf und setzte sich wieder hin. Die Frau schaute nicht auf, weil sie genau wusste, wer
das war. Und beide löffelten weiter ihre Suppe. In diesem Moment habe ich mich so geschämt für meine Gedanken, weil ich wahrscheinlich eines der glücklichsten Ehepaare gesehen hatte, die ich je erlebt habe. Dieses Ehepaar hat gegen alles verstoßen, was in Ehe-Ratgebern steht: Man soll miteinander reden, man soll sich anschauen, man soll sich wertschätzen usw. Aber ich glaube, dass dieses Ehepaar zutiefst glücklich war.
Glücklichsein ist etwas sehr Persönliches. Manche verwechseln Glück mit Erfolg, das gilt für sie als eins. Es gibt Erfolgstrainer, Erfolgsseminare, Erfolgsvorträge, Erfolgsbücher usw. Aber ist Erfolg wirklich so wichtig? Beim Geburtstag meiner Töchter, als beide aus der Pubertät waren, kamen viele Freunde zu ihrer Geburtstagsparty, und da musste ich als Vater ein paar Worte sprechen. Ich habe gesagt, ich finde, wir haben tolle Töchter, wir sind stolz auf unsere Töchter, Ihr seid engagiert, Ihr engagiert Euch auch für andere Menschen, ich wünsche Euch viel Glück für Euer Leben, aber ich wünsche Euch keinen Erfolg, Erfolg ist nicht wichtig im Leben, Ihr braucht auch keine guten Schulnoten zu haben; Ihr sollt die Fähigkeiten, die Ihr mitbekommen habt, fleißig einsetzen. Ob man damit Erfolg hat, hängt von so vielen Zufällen ab, das ist nicht wirklich wichtig.
Der erfolgloseste Maler aller Zeiten war wahrscheinlich Vincent van Gogh, seine Bilder waren sozusagen unverkäuflich. Aber wir werden doch nicht bestreiten, dass Vincent van Gogh ein gelungenes Leben geführt hat, dass er Bleibendes für die Menschheit geschaffen hat? Der erfolgreichste russische Herrscher aller Zeiten war Josef Stalin. Er hat den Einflussbereich Russlands bis Mitteleuropa hin erweitert. Aber wer wird denn sagen, dass Josef Stalin, dieser Massenmörder, ein gelungenes Leben geführt hat? Die Menschen denken heute häufig, wenn ich Erfolg und viel Geld habe, dann kann ich glücklich sein. Glück gilt sozusagen als etwas Machbares. Aber das ist eigentlich genau der kranke Gedanke einiger meiner Patienten im Krankenhaus, nämlich der Gedanke von Drogenabhängigen. Der Gedanke von Drogenabhängigen ist genau der: dass Glück machbar sei – mit der Droge, der unglaubliche Kick, was natürlich viel Geld kostet. Ich habe manchmal den Eindruck, dass in unserer Gesellschaft Drogenabhängige etwas an den Rand gedrängt werden, weil sie mit letzter radikaler Konsequenz genau das tun, was alle sich irgendwie ersehnen, nämlich sie machen Glück.
Und dann gibt es noch diese ganzen Ratgeber, wo man sich irgendwie kompetent machen kann und dadurch angeblich glücklich werden soll. Wenn man so tatsächlich glücklich würde, dann wäre gar nicht zu erklären, warum bei einer Umfrage in verschiedenen Ländern der Welt das Land, wo die meisten glücklichen Menschen lebten, Bangladesh war, eines der ärmsten Länder der Welt. Möglicherweise betreiben wir hier eine gigantische kostspielige Anleitung zum Unglücklichsein. Möglicherweise hat Glück gar nichts mit viel Geld und Erfolg zu tun, sondern damit, dass man in einer sinnvollen Welt lebt, in einer Familie, in einer Heimat, in einer Religionsgemeinschaft. Glück ist kein Ego-Trip, wo man zusammenrafft, was man an Glücksgefühlen zusammenraffen kann, wie das in Glücks-Büchern steht. Denn der Mensch ist ein soziales Wesen.
Unser Dorf im Rheinland ist glücklicher, seit wir Flüchtlinge haben. Ich meine das gar nicht als Gag. Wir haben mehr ehrenamtliche Helfer als wir Flüchtlinge haben. Viele Ehrenamtliche, die bisher allein gelebt haben, können nun Menschen in Not helfen. Und das macht glücklich. Rentner, die alleine gelebt haben, geben Deutsch-Kurse
oder helfen Familien mit vielen Kindern. Es gibt ein "Book of Happiness", da haben 200 Glücks-Experten aus allen Ländern der Welt auf jeweils 2 Seiten geschrieben, was sie für das Glück halten. Ich kann Ihnen sagen: 95 % Banalitäten. Dass man sich mal entspannen soll, mal was Leckeres essen soll usw. – das hätte meine Großmutter auch geraten. Aber es wird dargestellt mit dem Pathos: Ich bin der Experte. Derjenige, der das gläubig liest, wird dabei ganz klein und letztlich unglücklich.
Glücklich wollen alle sein, Menschen streben nach Glück, manche sogar übermäßig. Eine Sucht ist letztlich eine Sehnsucht nach Glück. Das gilt für jede Sucht. Doch Glück ist kein Zufall, das haben schon die frühesten Philosophen erkannt. Von der Philosophie kann man lernen, was wirklich Glück ist. Mein Buch ist sozusagen auch eine kleine Geschichte der Philosophie des Glücks und darüber, was die gescheitesten Menschen der Welt über das Glück gedacht haben. Das sind sehr unterschiedliche Gedanken, die ich versucht habe darzustellen. Ich habe das lesen lassen von einem der bekanntesten deutschen Philosophen, Robert Spaemann, – und von meinem Friseur. Und der hat das auch verstanden. Friseure sind geerdete Leute, und was Friseure nicht verstehen, ist auch nicht wirklich wichtig.
Ich finde, man sollte Dinge, und das Glück ist ein wichtiges Thema, so formulieren, dass sie für jeden Menschen verstehbar sind. Manche Glücks-Ratgeber behaupten ja, die modernste Forschung heute habe ganz tolle Lösungen für das Glück. Aber das ist großer Unsinn. Die Menschen vor 2.500 Jahren waren genauso intelligent wie wir heute. Und natürlich ist es sinnvoll, sich für eine Waschmaschine einen modernen Waschmaschinen-Ratgeber zu kaufen. Aber das Leben ist doch keine Waschmaschine und Gebrauchsanweisungen für das Leben gibt es eben nicht.
Philosophie hat die Aufgabe, die Welt zu verstehen und zu zeigen, wie man gut leben kann. Das ist eine überzeitliche Aufgabe, die vor 2.500 Jahren genauso wichtig war wie heute. Mir geht es darum, Menschen von Glücks-Ratgebern zu emanzipieren und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, wie Sokrates das gemacht hat. Sokrates hat keine Glücks-Ratgeber geschrieben, er hat überhaupt keine Bücher geschrieben, sondern er ist auf den Marktplatz gegangen und hat gesagt: Erkenne dich selbst.
Das Kapital über die Philosophie beginnt mit dem Satz: "Mit schallendem Gelächter begann die Philosophie“. Thales von Milet war in einen Brunnen gefallen, weil er mal wieder in die Sterne geguckt hatte, und eine tragische Magd lachte ihn aus. Thales galt als etwas merkwürdig, er grübelte nach über irgendwelche Dinge, die man nicht genau verstand. Und eines Tage behauptete er, er könne eine Sonnenfinsternis voraussehen. Da lachten sie ihn aus. Doch dann trat im Jahr 585 v. Chr. diese Sonnenfinsternis wirklich ein. Und da lachte nur einer: Thales von Milet.
Thales von Milet hat auch darüber geschrieben, wie man glücklich werden könne: gesund, gescheit und gebildet müsse man sein. Der Philosoph Heraklit hat gesagt, Glück sei nicht etwas Äußerliches, es sei etwas Innerliches. Wenn man mit viel Geld, viel gutem Essen und sonstigen Genüssen glücklich sein könnte, dann könnten Ochsen glücklich genannt werden. Wenn man heute in den Glücks-Ratgebern immer vom Wohlfühl-Glück liest, dann ist dieser Gedanke des Philosophen Robert Spaemann nachdenkenswert: Es sei doch wirklich die Frage, ob wir uns am wohlsten fühlen, wenn es uns um nichts anderes geht als ums Wohlfühlen. Glücksgefühle
kann man am sichersten herstellen durch Heroin – natürlich mit unangenehmen Nebenwirkungen. Oder man kann sich eine Elektrode ins Gehirn setzen, ins Glückszentrum, und hat ein Leben lang ein euphorisches Glücksgefühl. Aber ich habe noch niemanden erlebt, der das wirklich wollte.
Der SS-Mann Gustav Wagner wurde 1978 in Brasilien verhaftet. Er war KZ-Aufseher gewesen. Und er sagte, er habe ein glückliches Leben geführt. Kurz danach hat er sich umgebracht. Wenn tatsächlich Glücksgefühle das Entscheidende wären, dann müsste man dem Mann recht geben. Schon Platon hat gesagt, ein glückliches Leben ist nur dann ein glückliches Leben, wenn es auch ein gutes ist. Nur gute Menschen könnten wirklich glücklich sein. Aristoteles hat darauf hingewiesen, dass man Muße haben müsse, um glücklich zu sein. Wir arbeiten, um Muße zu haben, sagt Aristoteles. Viele Deutsche leben, um zu arbeiten, viele Italiener arbeiten, um zu leben, was sehr viel sinnvoller ist. Loriot hat das wunderbar in einem Sketch dargestellt, bei dem der Mann in einem Ohrensessel sitzt, in der Küche brabbelt die Frau und fragt: "Was tust Du gerade?" – "Ich sitze." – "Ja, möchtest Du nicht einmal einen Spaziergang machen?" – "Nein, ich möchte keinen Spaziergang machen, ich möchte hier sitzen." – "Möchtest Du nicht mal mit dem Hund rausgehen?" – "Nein, ich möchte nicht mit dem Hund rausgehen, ich möchte hier sitzen." Und so muss der Mann sich dauernd rechtfertigen, dass er völlig zwecklos, aber höchst sinnvoll da sitzt. Das müssen Sie sich mal mit Ehepaaren anschauen: Immer die Hälfte lacht. Scheint ziemlich präzise beobachtet zu sein.
Das heißt, wir müssen mal überlegen, wie wir mit unserer Zeit eigentlich umgehen. Ich habe neulich mit einer sehr gescheiten Afrikanerin gesprochen, die sagte: Ihr habt Uhren, wir haben Zeit. Ein sehr nachdenkenswerter Spruch.
Es gab die großen Schulen der Stoiker, die sagten, man dürfte am besten gar keine Bedürfnisse haben, dann kann man auch nicht unglücklich werden. Die Epikureer meinten, wir müssen den Genuss optimieren, also eine ganz andere Richtung. Sehr aktuelle Themen sind das übrigens.
Ein Kapitel in meinem Buch ist überschrieben mit: "Ist Glück vermeidbar?" Ja, und wie! Es geht ein bisschen um Psychotherapie, also meine eigene Profession. Es gibt ja Psychotherapeuten, die arbeiten nach dem Motto "Sie lächeln, also was verdrängen Sie?" Oder: "Sie haben ein Problem? Da hätte ich noch eins für Sie: frühe Kindheit und so." Ich traue mir inzwischen zu, durch ein 20-minütiges Gespräch mit einem beliebigen glücklichen Rheinländer eine kleine Depression bei ihm herzustellen, egal wie die frühe Kindheit gelaufen ist. Dieses dauernde Zurückschauen, dieses dauernde auf Defizite schauen, das führt nicht weiter, das macht auf Dauer unglücklich, weil die Vergangenheit ja nicht zu ändern ist. Deswegen ist es viel besser, auf die Ressourcen eines Lebens zu schauen, auf die Gegenwart und auf die Zukunft.
Paul Watzlawick schreibt in seinem Buch "Anleitung zum Unglücklichsein" vom Utopie-Syndrom. Das bedeutet, dass man irgendwelche Ziele hat, die unerreichbar sind. Wenn man sich dauernd mit anderen Leuten vergleicht, diese Casting-Mentalität, führt das dazu, dass man unglücklich wird, weil man natürlich nicht die Fähigkeiten von den anderen hat.
Man muss aufpassen, dass im Rahmen der Psychotherapie normale Lebensschwierigkeiten nicht pathologisiert werden. Ich wurde neulich von einem Journalisten angerufen, der sagte, er würde eine Sendung über Burn-out machen. Ich war irgendwie gut drauf an diesem Tag und sagte: "Burnout gibt es doch gar nicht, in der ICD-10, der internationalen Klassifikation psychischer Störungen, ist Burnout als Krankheit gar nicht vorgesehen. Das ist eine Z-Kategorie, also so etwas Ähnliches wie Falschparken." Er war etwas verunsichert und sagte, er habe recherchiert, die Leute seien doch heute rund um die Uhr erreichbar durch Handy, Email usw. Ich habe geantwortet: "Im 30-jährigen Krieg waren die Menschen rund um die Uhr durch die Schweden erreichbar, das war viel unangenehmer. Im 19. Jahrhundert gab es 12 Stunden Arbeit unter Tage ohne Urlaub, im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege. Wir müssen mal auf dem Teppich bleiben." Ich bestreite gar nicht, dass die Arbeit heute manche Menschen krank macht und dagegen muss man etwas tun, das ist ganz klar. Aber der Burn-out-Begriff ist völlig untauglich.
Ich mache mich nie über jemanden lustig, der zu mir kommt und sagt, ich habe einen Burn-out. Für mich ist das eine Aufforderung, eine richtige Diagnose zu stellen. Viele Menschen haben eine Depression, und die kann man sehr gut behandeln. Das ist wichtig als Information. Unter Burn-out laufen aber auch reine Befindlichkeitsstörungen. Lesen Sie mal einen Artikel über Burn-out, dann bekommen Sie den Eindruck, der Autor versteht mich, ja, man schläft nicht mehr richtig, ist nicht mehr so konzentriert wie früher, kriegt einen Hals, wenn man den Chef sieht usw. Das sind aber keine wirklichen Krankheiten. Das sind häufig dann die Menschen, die beim Psychotherapeuten sitzen, und die richtig Kranken bekommen keinen Therapieplatz mehr.
Es gibt eine dritte Gruppe, nämlich die, die existenzielle Krisen erleben. Wenn eine Frau plötzlich von ihrem Mann verlassen worden ist, ist das schrecklich und schlimmer als eine Depression. Aber das ist keine Krankheit, das ist eine gesunde Reaktion auf eine schreckliche Situation. Diese Frau braucht eine gute Freundin und keine junge Psychotherapeutin, die überhaupt keine Lebenserfahrung hat. Die Leute denken immer, wir Psychotherapeuten hätten Lebenserfahrung. Woher denn? Wir haben auf dem Schulhof nie mitgespielt, weil wir den Numerus Clausus erreichen mussten, dann haben wir viele dicke Bücher gelesen und tragen deswegen eine Brille, und wir verbringen Jahrzehnte mit gestörten Menschen in hässlichen kleinen Räumen. Zuviel Therapie kann durchaus auch unglücklich machen.
Ich glaube, Glück kann man nur erleben, wenn man einen Sinn im Leben sieht. Wenn man weiß, dass man auch in Krisen nicht völlig scheitern wird, dass nicht das Damokles-Schwert des völligen Scheiterns dauernd über einem schwebt.
Ich habe versucht, anhand der Philosophie von Karl Jaspers zu erklären, wie man unvermeidlich glücklich sein kann. Karl Jaspers hatte die Existenz-Philosophie begründet. Er geht von der Einmaligkeit jedes Menschen und seines Glücks aus. Das ist eine Philosophie, die für einen Philosophen, aber durchaus auch für eine Verkäuferin relevant ist. Sie ist nicht abgehoben. Jaspers hat eine etwas abgehobene Sprache, die habe ich aber so übersetzt, dass es mein Friseur verstand. Wenn Jaspers sagt, dass man auch im Leiden glücklich sein kann, dann versteht man das zunächst nicht.
Am 26. Januar habe ich im Heute-Journal einen Bericht gesehen über den Holocaust, in dem wurde Yehuda Bacon interviewt, einer der letzten Holocaust-Überlebenden. Er sagte sehr beeindruckend, auch im Leiden könne man den Sinn des Lebens erleben, auch im Leiden könne man glücklich sein, wenn man Menschen erlebe, die wirklich lieben könnten, und das habe er auch in Auschwitz erleben können.
Ich habe eine Behindertengruppe in Bonn gegründet, da gab es einen jungen Mann, Michael, mit dem ich befreundet war. Dem fiel mit 12 Jahren seine Tasche aus der Hand. Es stellte sich heraus, er hatte tödlichen Muskelschwund, seine beiden jüngeren Brüder bekamen das auch, und schließlich saßen alle drei Brüder im Rollstuhl und starben nacheinander, seine jüngeren Brüder zuerst, er zum Schluss. Bei seiner Beerdigung sagte mir die Mutter, eine sehr nette, ganz geerdete normale Frau: "Wir wollen jetzt ein behindertes Kind adoptieren." Ich hatte fast Tränen in den Augen. Auch im Leiden glücklich sein zu können, auch da einen Sinn sehen zu können, ist Voraussetzung dafür, dass man ein tieferes Glück erleben kann. Wie man in der Schuld glücklich sein kann, im Kampf, in der Auseinandersetzung glücklich sein kann, wie man sogar angesichts des Todes glücklich sein kann, darum geht es mir. Dafür hat Karl Jaspers die Grundlage geschaffen.
Im pompejianischen Bordell sind Totenschädel an die Wände gemalt als Aufforderung: Mensch, denke daran, dass du stirbst, lebe jeden Tag lustvoll, carpe diem – nutze den Tag. Der Totenschädel beim Heiligen Hieronymus in der Wüste sagt in gewisser Weise etwas Ähnliches: Christ, denke daran, dass du stirbst, und lebe jeden Tag ganz bewusst – natürlich nicht im Bordell, das ist der Unterschied.
Wenn ich Ihnen jetzt im Moment das genaue Datum Ihres Todes sagen könnte, dann bin ich sicher, dass Sie morgen schon anders leben werden, weil Ihnen klar ist: Das ist ein unwiederholbarer Tag auf der Rechnung, den bekomme ich nie wieder, damit mache ich keinen Unsinn. Nun ist es aber so, dass wir alle sterben und dass der morgige Tag ein unwiederholbarer Tag weniger auf der Rechnung ist. Nichts können wir wiederholen.
Wir leben heute mit einer Video-Mentalität, als könnte man alles auf Video aufnehmen und wiederholen. Das ist eine Voraussetzung für fröhlichen Atheismus. Der Moment, in dem Sie das jetzt hören, ist niemals wiederholbar. Selbst wenn Sie das aufzeichnen, werden Sie genau dieselbe Situation nie mehr erleben.
Glück ist also etwas sehr Persönliches, was sehr von der Aufmerksamkeit für jeden Moment lebt. Loriot hat sehr witzig in seinem "Ödipussi" beschrieben, wie er selbst mit einer Psychologin bei einem alten Ehepaar auftaucht, und die Psychologin versucht, dem alten Ehepaar, das in grauen Klamotten in einer grauen Wohnung sitzt und ziemlich grau guckt, klar zu machen, sie müssten Farbe ins Zimmer lassen. Am Schluss wählt das Ehepaar Aschgrau. Die sind offensichtlich glücklich damit.
Joseph Sledge saß in Amerika 37 Jahre lang unschuldig im Gefängnis. Als er rauskam, sagte er, er sei ein glücklicher Mensch. Die überraschten Journalisten fragten, warum. Er antwortete: Wenn man 37 Jahre unschuldig im Gefängnis sitzt, dann ist man mit sich selbst einigermaßen im Reinen, und dann kann man glücklich sein.
Nur wer also in Leiden, Schuld, Kampf und Tod, in den Krisensituationen des Menschen glücklich sein kann, der kann unvermeidlich glücklich sein. Und das geht, aber nur wenn man einen Sinn im Leben sieht. Dann blitzen Momente auf, wie Hape Kerkeling das in seinem Buch "Ich bin dann mal weg" beeindruckend geschildert hat. Oder wie Platon das beschrieben hat. Momente, in denen man ganz erfüllt ist vom Glück. Kontemplation nannte man die Zuwendung zum Wesentlichen der Welt, es geht um eine Betrachtung der Welt, die zu einer Ahnung des Wesentlichen führt, zu einer anderen Sicht auf die Welt und das Leben, aber zu einer sehr persönlichen Sicht.
Der Philosoph Josef Pieper hat darauf hingewiesen, dass der Mensch gar nicht anders könne als das Glück zu suchen. Ein wenig suche er das gewiss schon bei einem guten Glas Wein. Und das sei auch gut so. Doch die Fülle des Glücks, die der Mensch letztlich suche, könne er allein so nicht erleben. Man betrinkt sich nie genug, hat schon der französische Literatur-Nobelpreis-Träger André Gide gesagt. Das Bedürfnis nach Glück sei nämlich nicht, wie Kant meint, bloß ein sinnliches, sondern auch ein geistiges Bedürfnis, sagt Pieper. Es sei sozusagen in der Natur des Menschen angelegt und es hat die Triebfeder hinter all dem ernsthaften oder auch banalen Suchen nach Glück. Das höchste Glück des Menschen aber liege in der liebevollen Kontemplation, im ruhigen oder überwältigenden Schauen, im sinnlichen und geistigen Ergriffensein von der Schönheit und Wahrheit der Welt. In solchen Momenten höchster Aufmerksamkeit, vielleicht nur in kurzen Augenblicken, könne man tiefe Sinnerfahrung, Gotteserfahrung machen, eine Erfahrung von Ewigkeit. Jeder Mensch könne das. Und das könnten ganz alltägliche Anlässe sein: Das Lächeln eines Kindes, der Anblick einer entzückenden Landschaft, ein ergreifendes Kunstwerk, aber auch die Erfahrung von Liebe, von Güte, von Zuneigung. Solche Glückserfahrung sei kein Lohn für ein moralisches Leben. Diese Glückserfahrung sei ein Geschenk. Man kann sich nicht selber glücklich machen, sagt Pieper.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen Frohe Weihnachten.
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