Susan Neiman: Mut zum Erwachsenwerden . Ein philosophisches Plädoyer


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SWR2 Wissen Aula - Susan Neiman: Mut zum Erwachsenwerden . Ein philosophisches Plädoyer


Sendung: Sonntag, 12. Juli 2015, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2015
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:

AUTORIN
Susan Neiman ist Direktorin des Einstein Forums in Berlin. Sie wurde in Atlanta, Giorgia, geboren, und studierte Philosophie in Harvard und an der Freien Universität Berlin, bevor sie eine Professur für Philosophie an der Yale University und der Tel Aviv University innehatte. Im Jahr 2000 übernahm sie die Leitung des Einstein Forums.
http://www.susan-neiman.de


ÜBERBLICK
Wenn es stimmen sollte, dass wir in einer infantilen Gesellschaft leben, dann gilt das Erwachsensein eher als Makel. Wenn es richtig sein sollte, dass unsere beste Zeit die zwischen dem 16. und dem 20. Lebensjahr ist, dann wird es für einen 40-Jährigen schwer, neue Lebensmuster zu erobern. Deshalb benötigen wir eine Ermutigung zum Erwachsenwerden, sagt die Philosophin und Direktorin des Einstein-Forums in Berlin, Professorin Susan Neiman.

MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema "Mit zum Erwachsenwerden – Ein philosophisches Plädoyer".
Wenn es stimmen sollte, dass wir in einer infantilen Gesellschaft leben, dann gilt das Erwachsensein eher als Makel. Wenn es richtig sein sollte, dass unsere beste Zeit die zwischen dem 16. und dem 20. Lebensjahr ist, dann wird es für einen 40-Jährigen schwer, neue Lebensmuster zu erobern. Deshalb benötigen wir eine Ermutigung zum Erwachsenwerden, sagt die Philosophin und Direktorin des Einstein-Forums in Berlin, Professorin Susan Neiman.
Susan Neiman:
Seit gut zwei Jahren beschäftigt mich die Frage: Was heißt es, erwachsen zu sein? Da wurde mir erst klar, wie widersprüchlich unsere Beziehung zum Erwachsen-werden ist. Wir erwarten von gesunden Menschen, dass sie erwachsen werden sollen; Psychologen stellen ja Kriterien auf, die erwachsene Menschen erfüllen müssen, ob Trennung vom Elternhaus, Ausübung eines Berufes oder die Fähigkeit zu intimen Beziehungen. Jemand, der nach einem bestimmten Alter die Kriterien nicht erfüllt, wird pathologisiert. Gleichzeitig ist das schönste Kompliment, das wir uns vorstellen können: Du siehst aber viel jünger aus! Menschen, die im höheren Alter weltoffen und lebensfroh sind, werden als „junggeblieben“ oder „jung im Herzen“ gelobt; ganze Therapien werden entwickelt, um „das innere Kind“ zu pflegen. Das klingt alles harmlos, beinahe banal, aber damit wird eine heimtückische Botschaft transportiert: Die schönste Zeit des Lebens findet vor dem 30. Geburtstag statt, und in der Zeit danach sollen wir versuchen, das Jugendliche möglichst aufzubewahren, wenn wir lebendig bleiben wollen.
Nun kenne ich aber keinen Menschen, der die Zeit zwischen 18 und 28 wiederholen möchte. Wer ehrlich ist, wird sich an die Ängste und Zerrissenheit erinnern, und wer Gedächtnisstütze braucht, kann sich vieler empirischer Studien bedienen, die allesamt beweisen, dass das Glück gewöhnlicherweise mit dem Alter steigt. Das Jahrzehnt, das wir idealisieren, ist meist tatsächlich das schwierigste. Weil es das erste Mal ist, das wir selbstbestimmte Entscheidungen treffen, erscheint jede Entscheidung schicksalhaft. Später werden wir lernen, dass falsche Entscheidungen, selbst richtige Fehler auch möglich sind, ohne den Rest des Lebens zu verderben; vorerst schwanken wir, voller Angst. Wenn wir jungen Menschen wohlwollend raten, die besten Jahre ihres Lebens zu genießen, machen wir diese Jahre noch schwieriger für diejenigen, die sie durchmachen. Weil sie sich ihrer Unsicherheiten bewusst sind, auch wenn wir sie vergessen haben, können sie sich nur fragen: Wenn ich mich jetzt zerrissen und unsicher fühle, was kann ich von einer Zeit erwarten, die mir alle versichern, nicht die beste sein wird? Ich glaube, das ist tatsächlich der Punkt. Wenn wir das Leben als Verfallsprozess darstellen, bereiten wir junge Menschen darauf vor, wenig davon zu erwarten und noch weniger zu verlangen.
Eine Aufgabe der Philosophie ist zu fragen: Kann ein Mensch sich vom Elternhaus lösen, einen Beruf ausüben, ja selbst solide Freundschaften und Liebesbeziehungen führen, und dennoch nicht erwachsen sein? Wenn Sie nur eine Zeile von Kant im Kopf haben, ist es wohl der erste Satz aus „Was ist Aufklärung“: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Der Aufsatz ist lesbarer als seine gelehrten Schriften, was es umso rätselhafter macht, dass sich wenige die Mühe geben, mehr als die ersten paar Sätze zu lesen oder sie jedenfalls im Gedächtnis zu behalten.
Zugegeben: Es sind brillante Sätze. Unsere Unmündigkeit sei selbst verschuldet, aus
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mangelndem Mut: Nicht Unwissenheit oder Dummheit, sondern Faulheit und Feigheit halten uns vom Selbstdenken ab. Es ist so bequem, andere für sich entscheiden zu lassen! Kant hat Recht, es ist in der Tat oft unser eigenes Versagen: Wir sind nicht bereit, die Energie aufzubringen oder die Risiken einzugehen – sei es auch nur das Risiko der Peinlichkeit, die Selbstdenken von uns forderten. Es ist kein Rätsel, warum ein Lehrer eben diese Botschaft übermitteln möchte, wenn er den Aufsatz im Gymnasium behandelt. Schließlich sollten junge Menschen nicht auf die Idee kommen, dass es Probleme in der Gesellschaft gibt, deren Lösung mehr fordert, als ein wenig Mühe und Anstrengung ihrerseits. Die Botschaft von „Was ist Aufklärung?“ ist daher zu einem neoliberalen Mantra geworden, das nur die bestehenden Ordnungen stärkt: Es ist also Ihre Schuld, wenn Sie mit der Welt nicht zufrieden sind. Sie müssten bloß Ihre Faulheit und Feigheit überwinden, und schon wären Sie aufgeklärt, erwachsen und frei. Kein Wunder, dass Deutsche bestimmter Altersgruppen nur stöhnen, sobald das Wort „selbstverschuldete Unmündigkeit“ fällt.
Aber stöhnen Sie noch nicht! Es ist nicht allein Ihr Fehler. Sie mögen, wie ich auch, zu Faulheit und Feigheit neigen, aber diese Neigungen werden, wie Kant sagt, missbraucht. Die darin liegende politische Botschaft ist ebenso radikal wie kräftig. Unsere Unmündigkeit ist nicht, oder nicht ausschließlich, unser Versagen. Die gesellschaftlichen Strukturen, in denen wir leben, sind so beschaffen, dass sie uns infantilisieren. Um uns am Denken zu hindern, kultiviert der Staat unsere übelsten Neigungen. Mit einer Kenntnis, die bei einem kinderlosen Mann erstaunt, beschreibt Kant, wie wir laufen lernen. Ohne Hinfallen geht es nicht, aber Kinder am Gängelband zu halten, um sie vor Schrammen zu bewahren, macht sie ewig infantil. Hier denkt Kant natürlich nicht an überbetuliche Mütter, sondern an autoritäre Staaten, für die erwachsene Bürger nur Ärger bringen. Das Streben des Staates nach Kontrolle und unser Streben nach Bequemlichkeit schaffen zusammen Gesellschaften, in denen es weniger Konflikte gibt, nur sind es keine Gesellschaften für Erwachsene.
An welche Vormünder dachte Kant? Er lebte im Absolutismus, als selbst aufgeklärte Herrscher paternalistisch waren, und „paternalistisch“ noch kein Schimpfwort war. Wie sie ihre Untertanen damals auf Kinderniveau hielt, ist leicht zu verstehen, doch haben westliche Demokratien damit nicht aufgeräumt? Naja. Es kann kein Zufall sein, dass Europas mächtigste Politikerin regelmäßig „Mutti“ genannt wird, ebenso wenig wie es ein Zufall sein kann, dass Merkels wichtigste Botschaft vor allem beschwichtigend ist: Macht Ihr nur so weiter, Mutti kümmert sich schon um alles, und hält Euch Alpträume wie griechische Schulden und spanische Arbeitslosigkeit vom Leibe.
Aber nennen wir das Metapher: nicht unwichtige Metapher, aber keine wirkliche Beschreibung dessen, wie westlichen Demokratien funktionieren. Wie gelingt es einer modernen demokratischen Gesellschaft dann, uns infantil zu halten?
Ein Baby, das gerade gelernt hat, wie es auf die Welt einwirken kann, indem es durch das Zusammenspiel von Händen und Augen, einen Gegenstand ergreift, streckt die Hand vielleicht nach den falschen Sachen aus: der Brille seines Vaters, den Ohrringen seiner Mutter, dem Messer, das man versehentlich auf dem Boden hat liegen lassen. Doch wie leicht lässt es sich ablenken. Man braucht ihm nur etwas anderes hinzuhalten – ein Schlüsselbund reicht meistens aus – und schon hat es das Ziel seiner Begierde vergessen. Wenn es größer wird, fällt das Ablenken schwerer, das Prinzip aber bleibt das gleiche. Autoritäre Eltern scheuen sich nicht, ein Kind zu ohrfeigen, das unbedingt etwas haben möchte, was sie ihm nicht geben wollen. Alle anderen müssen verschiedene Formen der Ablenkung bereit haben.
Ältere Menschen von einem Gegenstand der Begierde abzulenken, kann komplizierter sein, aber die Sachen, mit denen wir abzulenken sind, sind nahezu grenzenlos – seit der Erfindung des Cyberspace vermutlich buchstäblich grenzenlos. Letzen November nahmen sich weitaus mehr Millionen von Leuten die Zeit, Kim Kardashians Hinterteil zu betrachten, als bei den amerikanischen Midterm-Wahlen eine Woche zuvor an die Urnen zu gehen.
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Doch Europäer durften nicht allzu selbstzufrieden sein: Aus den Webseiten geht hervor, dass erschreckend viele von Euch ebenfalls Kim Kardashian betrachtet haben, während Ihr stattdessen zum Beispiel Thomas Piketty hättet lesen könntet.
Meine Tochter meint, Erwachsene wie ich könnten wohl gar nicht verstehen, wie entsetzlich unsere Kultur ist, weil wir Social Media nicht benutzen. Vermutlich hat sie Recht. Nun kenne ich viele Erwachsene, die zu den Milliarden von Facebook-Mitgliedern gehören, und andere, die mich von des haiku-artigen Twitterns überzeugen möchten. Ich werde mich nicht anschließen, auch nicht um den neunten Kreis der Hölle des 21. Jahrhunderts zu verstehen. Es gab nämlich noch andere Dinge, die mich letzte Woche abgelenkt haben. Mein Computer hat die letzten Monate ziemlich rumgestottert – er ist ja auch darauf programmiert, das kurz nach Ablauf der Garantie zu tun – also habe ich schließlich einen neuen bestellt. Nun hat dieser aber neue Funktionen, die angeblich Verbesserungen darstellen, so dass ich alle mir angeeigneten Routinen jetzt wieder verlernen muss. Würde man all die Stunden zusammenrechnen, die wir mit den so munter bezeichneten Upgrades verplempert haben – wie stelle ich jetzt den neuen Wecker ein, grille ich mit dem neuen Backofen, archiviere die Nachrichten auf dem neuen Smartphone, speichere die Bilder auf der neuen Kamera, entsichere ich die neue Autozündung? –, wären das nicht genug Stunden, um Nahrungsmittel für alle hungrigen Kinder der Welt zu produzieren oder wenigstens ein Heilmittel für Krebs?
Die autoritären Mechanismen, zu denen der Absolutismus griff, um seine Untertanen unmündig zu halten, sind weitaus subtileren, aber auch machtvolleren gewichen. Zu den heutigen Mechanismen gehören nicht nur die zunehmenden Bemühungen, uns alle unter elektronische Überwachung zu stellen, sondern noch mehr das Geschick der Industrie, uns durch eine überwältigende Vielfalt von Wahlmöglichkeiten zwischen Automodellen oder Müslisorten zu blenden – während die wichtigen Entscheidungen von Erwachsenen getroffen werden. Die Unmündigkeit braucht nicht durch Gewalt oder List herbeigeführt zu werden, wir spielen ja freiwillig mit. Totalitäre Regime sind selten nötig und oft kontraproduktiv, denn wenn die Repressionsmechanismen klar erkennbar sind, werden sich immer mutige Geister finden, die dagegen aufbegehren. Einfacher und subtiler sind die Infantilisierungsprozesse nichttotalitärer Gesellschaften. Sie bestärken uns in unserer natürlichen Faulheit, indem sie unser Leben durch Spielzeuge bequemer machen. Natürlich werden weder Smartphones noch Autos als Spielzeug bezeichnet; man stellt sie vielmehr als Werkzeuge dar, ohne die ein Erwachsenenleben kaum noch zu bewältigen wäre. Vorstellungen einer gerechteren Welt werden hingegen als kindische, utopische Träume abgetan, die man zugunsten einer ernsthaften Tätigkeit aufgeben sollte, nämlich Spielzeug zu kaufen, und das heißt, einen ordentlichen Job zu finden, der uns einen Platz in der Konsumökonomie sichert – eine perfide Verkehrung, die uns dauerhaft den Kopf verwirrt. Kein Wunder, dass Kant den Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit als die wichtigste Revolution bezeichnet, die im Innern des Menschen stattfinden kann.
Wie schwierig diese Revolution sein muss, wusste Kant schon aus Rousseaus brillanter Schrift, die Abhandlung über die Wissenschaften und Künste. Darin hinterfragt Rousseau die grundlegendste Annahme der Aufklärung, dass nämlich nur Kultur und Wissenschaft den Weg zum Fortschritt und zur Freiheit ebnen. Nach Rousseau führten sie uns aber gar nicht zum Fortschritt, im Gegenteil, sie würden uns sogar versklaven. Die Werkzeuge, die sie für befreiend hielten, seien in Wahrheit Blumengirlanden, die unsere Ketten verzieren – und damit verbergen. Die Kultur ist zwar weniger despotisch, aber letztlich mächtiger als der Staat, weil sie uns unsere Versklavung lieben lässt, indem sie uns den Gedanken einflößt, genau das sei Zivilisation. Nun war Rousseau kein Asket. Weder gutes Essen, noch guter Wein, noch das jüngste Hightech-Spielzeug sind an sich ein Übel. Das Problem ist, dass sie falsche Bedürfnisse erzeugen, die uns abhängig machen. Das Vergnügen beim Kauf des neuesten Smartphones ist flüchtiger als die Unruhe, wenn man es aufzuladen vergisst: Plötzlich sind wir hilflos. Die Herrschenden fördern unsere Abhängigkeit, denn so werden wir davon abgehalten, über die realen Bedingungen nachzudenken, die unser Leben
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bestimmen. Wir können aus einer schwindelerregenden Vielfalt an Smartphones wählen. Aber wie steht es mit der Regierung, die uns vertritt, mit der Verwendung der Steuern, die sie verlangt, mit den Gesetzen, die wir einhalten?
Abgesehen vom Smartphone findet sich all das schon in Rousseaus erster Abhandlung, die 1750 in Paris Furore macht. Seine Argumente haben nichts von ihrer Kraft eingebüßt. Vielleicht glauben Sie, sie träfen zwar auf Steve Jobs oder auf die Vogue-Chefredakteurin Anna Wintour zu, nicht aber auf die Schöpfer höherer Kulturformen. Was ist mit uns Schriftstellern und Kritikern, Künstlern und Philosophen, deren Aufgabe es ja ist, sich mit den wirklich wichtigen Dingen auseinanderzusetzen? Für Rousseau sind wir meist die schlimmsten von allen. Erstens sind wir nicht weniger anfällig für die Versuchungen des Luxus als alle anderen, und etwas mehr für die Versuchungen der Eitelkeit. Deshalb schmücken wir die Ketten, die uns alle binden, mit Girlanden aus Rationalisierungen. Rousseau ist der erste gewesen, der den Begriff der falschen Bedürfnisse entdeckt. Er zeigt uns, wie die Herrschaftssysteme, in denen wir leben, uns vom Erwachsensein abhalten. Sollen wir doch ruhig unsere Zeit mit trivialen Entscheidungen verplempern, dann vergessen wir, dass andere die wichtigen Entscheidungen treffen. Diese Ideen sind noch heute subversiv. Nur ist noch alles schlimmer gekommen, als selbst die weitsichtigsten Denker des 18. Jahrhunderts sich haben vorstellen können.
Der Schriftsteller Ingo Schulze hat diejenigen, die derartige Gedanken hegen, mit dem Kind in Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ verglichen. Niemand wagt zu sagen, dass der Kaiser nackt ist – und nicht aus Angst vor Folter, Kerker oder Tod. Wir fürchten uns vor nichts schlimmer, als kindisch, naiv oder dumm genannt zu werden. Wir denken, vielleicht bin ich die einzige, die die angeblich unabdingbare Komplexität der Finanzmärkte oder des griechischen Schuldenbergs nicht durchschaut? Schulze war verblüfft, als die Finanzkrise Winkelzüge enthüllte, die weitaus schlimmer waren als alles, was man ihn in der Schule über den Kapitalismus gelehrt hatte – in den 1970er-Jahren in Dresden. Und es ist sicher kein Zufall, dass der religiöse Fundamentalismus genau zu dem Zeitpunkt ins Kraut schoss, als der Marktfundamentalismus zur führenden globalen Ideologie wurde, aber es ist eine Tragödie, dass der religiöse Fundamentalismus zur populärsten Kritik am Marktfundamentalismus geworden ist.
Die Weigerung, erwachsen zu werden, sieht daher wie eine Revolte aus – immerhin und endlich eine erwachsene Reaktion. Zwei gute Freunde – die ich auf eine erfreuliche Weise für erwachsen halte – waren entsetzt zu hören, ich schreibe an einem Buch über erwachsen werden. Die herrschende Vorstellung vom Erwachsensein ist so sauertöpfisch, dass selbst sehr kluge Leute ein Zeichen von Freiheit sehen in der Weigerung, erwachsen zu werden. Beide Freunde waren über meinen Thema konsterniert und einer sogar davon abgestoßen. Der andere bekannte freimütig: „Mein Held war immer Peter Pan“. Würden Sie ihn kennen, wären Sie nie darauf gekommen.
Diejenigen, die ein Interesse daran haben, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, mögen diese trostlose Ansicht der Mündigkeit nie ausdrücklich beabsichtigt haben, aber ihren Interessen ist dadurch bestens gedient. Wie könnte man die Menschen besser in ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit halten als dadurch, dass man ihnen eine Ansicht der Mündigkeit präsentiert, nach der kein vernünftiger Mensch streben würde? Nach der verbreiteten Auffassung heißt erwachsen sein, auf die eigenen Hoffnungen und Träume zu verzichten, die Grenzen, die uns die Realität setzt, zu akzeptieren und sich mit einem Leben abzufinden, das weniger aufregend und bedeutsam ist, als man anfangs angenommen hat. Weil es uns nicht gelungen ist, Gesellschaften zu schaffen, in die unsere Jugend gerne hineinwachsen möchte, idealisieren wir die Phasen der Kindheit und Jugend.
Finden wir bei Kant eine andere Ansicht vom Erwachsensein? Sein Ausspruch über die selbstverschuldete Unmündigkeit wird sehr oft angeführt – für meinen Geschmack zu oft – während seine Bemerkungen über die Mündigkeit kaum beachtet werden. Wenden wir uns
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kurz dem Schluss der Kritik der reinen Vernunft zu. Kant spricht hier selbstverständlich vom Erwachsenwerden der reinen Vernunft, nicht von dem der Individuen, dennoch ist sein Modell des Erwachsenwerdens so überzeugend, dass es sich ohne weiteres übertragen lässt. Die Kindheit der Vernunft ist dogmatisch. Kleine Kinder neigen dazu, alles, was man ihnen sagt, für bare Münze zu nehmen. Von welchem Standpunkt aus könnten sie denn auch etwas in Frage stellen? Mit etwas Glück scheint jeder Schritt, den das Kind macht, die eigenen Fähigkeiten und die Erkennbarkeit einer Welt zu bestätigen, die anfangs geheimnisvoll erschien. Das Kind lernt, dass Löffel stets nach unten und nicht nach oben fallen, wenn es sie loslässt; dass Bälle (und Spielautos und Kätzchen) sich nicht auflösen, wenn sie hinter einem Vorhang verschwunden sind. Mit der Zunahme der eigenen Fähigkeiten wird die Welt immer verständlicher. Warum sollte das Kind nicht annehmen, dass beidem keine Grenze gesetzt ist? Mit jedem Tag versteht es ein wenig mehr, enthüllt sich ihm ein weiteres Geheimnis seiner Welt. Einem Kleinkind wird die dogmatische Metaphysik des überzeugten Optimisten Leibniz selbstverständlich erscheinen: Hätten wir nur Welt und Zeit genug, wären wir in der Lage, alles zu wissen – und zu begreifen, dass diese Welt die beste aller möglichen Welten ist. Wäre alles andere nicht sinnlos?
Die nächste Stufe der Vernunft ist der Skeptizismus, und obwohl der Ausdruck „Adoleszenz“ zu Kants Zeiten noch nicht geprägt war, beschreibt dieser doch all deren Symptome: Die seltsame Mischung aus Enttäuschung und Hochgefühl, die die Entdeckung des Teenagers begleitet, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte. Sogar die allerbesten Eltern und Lehrer sind schwach. Sie wissen weniger, als wir glaubten, und können weniger Probleme lösen, als wir hofften. Selbst wenn sie uns nicht belügen, haben sie nicht alles gesagt, was sie hätten sagen können. Sie wollen uns auf die falsche Weise behüten und schaffen es nicht, uns auf die richtige Weise zu schützen. Sie nerven uns mit Gewohnheiten und Überzeugungen, die sie in früheren Zeiten erworben haben. Weshalb sollten wir da nicht denken, dass alle Wahrheiten und Regeln, die sie uns beigebracht haben, fehlgeleitet sind; ja dass schon allein die Vorstellung von Wahrheit und Regel beerdigt werden sollte? Weshalb sollten wir nicht von grenzenlosem Vertrauen in die Welt zu grenzenlosem Misstrauen wechseln?
Kant sagt, diese Stufe sei reifer als die großäugige Leichtgläubigkeit aus den Kindertagen und daher notwendig und wertvoll. (Allerdings hat er niemals einen Heranwachsenden erziehen müssen.) Doch der ungestüme Wechsel von grenzenlosem Vertrauen zu grenzenlosem Misstrauen bedeutet noch nicht, dass wir nun mündig geworden sind. Mündigkeit ist, wie niemanden überraschen dürfte, Kants Metapher für seine eigene Philosophie, die uns die Weisheit verleihen soll, einen Mittelweg zu finden zwischen den beiden Möglichkeiten: Alles, was man uns sagt, gedankenlos zu akzeptieren oder ungeprüft zu verwerfen. Erwachsen werden heißt, die Ungewissheiten anzuerkennen, die unser Leben durchziehen, und – schlimmer noch – ohne Gewissheit zu leben, aber einzusehen, dass wir nicht aufhören können, nach ihr zu suchen. Solch ein Standpunkt ist leichter zu beschreiben als durchzuhalten. Aber wer hat schon behauptet, erwachsen zu werden sei einfach?
Wenn uns das auf den ersten Blick nicht gefällt, dann nicht darum, weil es schwer, sondern weil es öde und langweilig ist. Ja schlimmer noch als öde, es klingt nach purer Resignation. Ist an diesem Standpunkt mehr dran, als das, was Ihr harmloser, wohlmeinender Onkel mit dem behaglichen Bauchansatz Ihnen mit auf den Weg gibt, wenn er sagt, das Leben werde weder so wunderbar sein, wie Sie als Kind dachten, noch so qualvoll, wie Sie als Jugendlicher meinten, und dass es an der Zeit ist, sich zusammenzunehmen und das Beste daraus zu machen? So banal diese Feststellung sein mag, so wahr ist sie auch. Aber ist es deshalb erstrebenswert? Warum nicht auf Kant pfeifen und lieber auf die Rolling Stones hören? If you try sometimes, you just might find you get what you need. Und da wir gerade von harmlosen Onkeln sprechen: Kants Leben kann kaum als Vorbild für ein erstrebenswertes Erwachsenendasein dienen. Heinrich Heine spöttelte gar, Kants Lebensgeschichte sei schnell beschrieben, da er weder ein Leben noch eine Geschichte gehabt habe. Derselbe Heine aber beschreibt Kant als einen Rebellen, der den Himmel
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erstürmte und den französischen Revolutionär Robespierre spießbürgerlich erscheinen ließ.
Um das zu verstehen, sollten wir noch einmal Kants These betrachten, Erwachsenwerden sei eher eine Frage des Mutes als des Wissens: Es braucht Mut, um mit dem Riss zu leben, der unser Leben, mag es auch noch so gut sein, durchziehen wird. Ideale der Vernunft sagen uns, wie die Welt sein sollte; die Erfahrung sagt uns, dass sie selten so ist. Erwachsenwerden verlangt, sich der Kluft zwischen beidem zu stellen, ohne eines davon aufzugeben.
Wer ist schon nicht versucht, eine der beiden Seiten aufzugeben? Während es zahlreiche Beispiele von Menschen gibt, die an den Dogmen der Kindheit festhalten – manche Prediger oder Politiker fallen da ein –, trifft man heute eher auf Menschen, die im Sumpf ihrer Adoleszenz steckengeblieben sind. Die Welt entspricht nicht den Idealen, die sie darin verwirklicht sehen wollen? Umso schlimmer für die Ideale. An Idealen festzuhalten, für die es anscheinend in der Welt keine Verwendung gibt, wird zu einer Quelle der Enttäuschung, sogar der Scham. Da erscheint es doch besser, sie gleich ganz aufzugeben, als unter der Erinnerung an eine enttäuschte Hoffnung zu leiden, und weitaus mutiger, der ungeheuren Verkommenheit der Wirklichkeit ins Auge zu blicken, als an etwas festzuhalten, das doch nur eine Illusion war.
Aber es ist keine Illusion. Die Vernunft veranlasst uns zu der Auffassung, dass die Welt Sinn haben sollte. Nicht dass sie wirklich einen Sinn hat – in diesen Irrtum verfallen Kinder, Leibniz, Hegel und andere dogmatische Philosophen. Die Vernunft treibt uns dazu an, die Welt als eine sinnvolle zu gestalten, indem sie uns die Frage aufdrängt, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Im Bereich der theoretischen Vernunft führt diese Suche zur Wissenschaft, im Bereich der praktischen Vernunft ist das Ergebnis eine gerechtere Welt.
Für den Stoiker ist die Weigerung, die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist, eine Frage menschlicher Schwäche, die kurierbar ist, wenn wir nur unsere Gefühle verändern. Spätere Autoren wie Freud meinten, unsere Unfähigkeit, die Realität zu akzeptieren, entstammte infantilen Wünsche, die wir hinter uns lassen sollten. In Kants Augen dagegen entstammen sie der Stimme der kritischen Vernunft, auf die wir immer hören sollten.
So gesehen ist die Philosophie selbst ein entscheidender Teil des Erwachsenwerdens. Es ist zwar kein Wunder, dass viele Philosophen so denken, aber sie tun es auf unterschiedliche Weise. Hegel zum Beispiel meinte: „Die Philosophie will […] die verschmähte Wirklichkeit rechtfertigen.“ Heine nannte ihn deshalb den deutschen Pangloss, und so gesehen könnte Hegels Philosophie als Wiegenlied gelten.
Für Kant übernimmt die Philosophie genau die entgegengesetzte Aufgabe. Sie soll uns weder trösten noch beruhigen; sie ist praktisch dazu garantiert, uns das Leben schwieriger zu machen. Denn die Wirklichkeit ist nicht vernünftig, und die Vernunft hat dafür zu sorgen, dass wir das niemals vergessen. Indem die Philosophie uns durch die Dialektik von Dogmatismus und Skeptizismus führt, drängt sie uns, sowohl das Staunen als auch die Empörung zu akzeptieren, die beiden innewohnen.
Mut vor Regimen, die ihre Gegner töten und foltern, ist oft leichter aufzubringen als der Mut, den vielfältigen Formen des Spotts standzuhalten, mit denen demokratischere Kulturen ihre Kritiker zu schwächen versuchen. Es ist eine peinliche Tatsache, dass wir uns vor Peinlichkeit oft mehr fürchten als vor anderen Unannehmlichkeiten, aber die Tatsache ist deshalb nicht weniger wahr. Wie oft haben Sie es schon unterlassen, Hoffnung oder Empörung zu äußern, aus Angst, als kindisch abgetan zu werden? Seltsamerweise ist dies eine Furcht von Jugendlichen. Sie entsteht in einer Zeit, in der weniges so schlimm erschien wie die Erfahrung, als nicht so erwachsen wie die Gleichaltrigen zu gelten. Kant kann hier eine Hilfe sein, nicht indem er uns tröstet, wohl aber indem er uns versichert, dass es nicht unser Fehler ist, wenn wir außerstande sind, in der einen oder anderen Version des
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Stoizismus Trost zu finden. Unser Zorn ist durchaus berechtigt – und soll uns anspornen, das Sein und das Sollen in unserer Umgebung ein bisschen näher zu bringen.
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