SWR2 Wissen - Paul Feyerabend und die Demokratisierung des Wissens . Von Sven Ahnert

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Demokratisierung - Wissen (P. Feyerabend)
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SWR2 Wissen - Paul Feyerabend und die Demokratisierung des Wissens . Von Sven Ahnert
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ÜBERBLICK
"Ich scheiße auf die Wahrheit, was immer das ist. Was wir brauchen ist Gelächter." Paul Feyerabend (1924 - 1994), Philosophie-Professor und Kritiker des Wissenschaftsbetriebes, war ein Provokateur und Querdenker. Mit seinem berüchtigten und missverständlichen Diktum vom Anything goes brachte er zahlreiche Kollegen auf die Palme, die für ihn schlicht Verbrecher waren, engstirnige Verhinderer einer von ihm geforderten pluralistischen Erkenntnistheorie. "Alles ist möglich" war seine Idee von Wissenschaft und brachte ihm den Ruf eines wissenschaftlichen Scharlatans ein, dabei war Paul Feyerabend Vordenker einer demokratischen Wissensgesellschaft, die offen ist für unorthodoxe Denkansätze jenseits dogmatischer akademischer Wahrheitsbegriffe. (Produktion 2014)
Stand: 25.8.2017, 15.08 Uhr

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Paul Feyerabend und die Demokratisierung des Wissens
Von Sven Ahnert
Erst-Sendung: Dienstag, 11. Februar 2014, 8.30 Uhr
Wiederholung: Montag, 28. August 2017, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Kölbel
Regie: Felicitas Ott
Produktion: SWR 2014
Online-Teaser:
Paul Feyerabend war Vordenker einer demokratischen Wissensgesellschaft, die offen ist für unorthodoxe Denkansätze jenseits dogmatischer akademischer Wahrheitsbegriffe.
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
MANUSKRIPT
Zitator
Gegen die Vernunft habe ich nichts, ebenso wenig wie gegen Schweinebraten. Aber ich möchte nicht ein Leben leben, in dem es tagaus tagein nichts anderes gibt als Schweinebraten.
Sprecher
Paul Feyerabend in einem Brief an den Philosophen Hans Albert.
Sprecherin
Schon dem Studenten Paul Karl Feyerabend fiel es im Nachkriegs-Wien der späten 40er-Jahre immer wieder schwer, den Mund zu halten und seinem Philosophie-Professor Erich Heintel widerspruchslos und brav zu folgen. Die Vernunft, so wie sie in akademischen Kreisen gedeutet und behütet wurde, langweilte ihn wie fade
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Alltagskost. In seiner Autobiographie „Zeitverschwendung“ nannte Feyerabend sich ganz treffend und augenzwinkernd eine „Debattiermaschine“. Das war er auch Zeit seines Lebens: Ein spitzfindiger, streitbarer Philosoph, der Begriffen wie „Wahrheit“ und „Vernunft“ aus den Weg ging und sich von außerwissenschaftlichen Phänomenen, zum Beispiel aus Astrologie, Schamanismus und Kunst inspirieren ließ. Berüchtigt war seine direkte und unverblümte Art, Dinge beim Namen zu nennen und seine eigene „Philosophenzunft“ der Lächerlichkeit preiszugeben.
Zitator
Der sitzt in seinem Büro und rennt von einer Vorlesung zur anderen. Was weiß er von peruanischen Bauern und er spricht von der Menschheit. Er sagt: Die Philosophen richten. Verrückt sind diese Leute!
Ansage
Paul Feyerabend und die Demokratisierung des Wissens. Eine Sendung von Sven Ahnert.
OT Paul Hoyningen Erstens war er ein ganz frecher Kerl, der auf der sozialen Ebene DIE Professoren, die ihre eigene Wichtigkeit zelebrieren, mit dunkelgrauen Anzügen und Krawatte rumlaufen und gravitätisch durch die Gänge einer Universität sich bewegen – für die war er ein pubertärer Raufbold. Das hat nicht gepasst. Das war ja auch Teil von Feyerabend, dass sein Anti-Establishment-Verhalten auf Provokation angelegt war.
Sprecher
Paul Hoyningen, Professor für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik an der Leibniz Universität Hannover. Als junger Physiker besuchte er Anfang der 1980er Jahre die Vorlesungen von Paul Feyerabend an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Hoyningen wurde ein enger Freund Feyerabends.
OT Paul Hoyningen Viele sehr gescheite Leute haben ihm das durchgehen und sich nicht davon provozieren lassen, weil sie gemerkt haben, wie viel an intellektueller Kraft und analytischer Fähigkeit dahinterstand. Das ist nicht so ein rotzfreches pubertäres Verhalten, wo nichts dahinter ist, so wie es bei Jugendlichen oft der Fall ist, sondern das war natürlich getragen von einer großen intellektuellen Ernsthaftigkeit.
OT Lothar Schäfer Er war ein selbstsicherer Showmaster und ging auf Kongresse, um die Bühne zu beherrschen und Teil dieser Bühnenbeherrschung war auch das provokative Element.
Sprecher
Lothar Schäfer, emeritierter Philosophie-Professor der Universität Hamburg und Verfasser einer Monographie über Feyerabends Vorbild und späteren Widersacher Karl Raimund Popper.
Zitator
Eine Sache, die junge Leute lernen sollten, ist; einen gesunden Menschenverstand gegenüber angeblichen Entdeckungen zu behalten. Schaut wie viele Sachen werden auf euch zukommen: All diese Leute werden sagen: Wir haben geforscht! Wir haben
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mit großen Schwierigkeiten wichtige Wahrheiten gefunden. Wir bieten euch diese Wahrheiten an: Esst vom Baum der Erkenntnis. Ihr werdet davon höchstwahrscheinlich einen verdorbenen Magen bekommen.
OT Malte Oberschelp Es ist diese Unverfrorenheit, die da fast aus jedem zweiten Satz spricht. Er ist ein freier Geist gewesen, der sehr pointiert und witzig geschrieben hat. Im Vergleich zu vielen anderen Kollegen, die sich im Schachtelsatz bemüht haben.
Sprecherin
Malte Oberschelp, Autor einer Monographie zu Leben und Werk Paul Feyerabends.
Sprecher
Im Gespräch, wie zum Beispiel im letzten großen Interview, das Feyerabend 1993 in Rom gegeben hatte, erlebte man den Philosophen als launigen Kritiker, dem „große Worte“ immer verdächtig vorkamen.
OT Paul Feyerabend Vernunft ist ein Wort wie Wissenschaft, wie Freiheit. Das kann man zu allen möglichen Sachen verwenden. Manche Leute verwenden das Wort im Zusammenhang mit einigen Ideen und rituellen Vorstellungen, um anderen Leuten das Reden als sinnlos zu erklären. Dieser Vernunft sage ich „Lebewohl“, mit der habe ich nichts zu tun.
Sprecherin
Paul Feyerabend wurde am 13. Januar 1924 in Wien geboren. Unter deutscher Besatzung wurde er 1940 zum Arbeitsdienst und später zur Deutschen Wehrmacht eingezogen. Als junger Offizier war er in Jugoslawien stationiert, erlitt dort 1943 einen Bauchschuss. Sein ganzes Leben hatte er mit den Folgen dieser schweren Verletzung zu kämpfen. Feyerabend wollte Sänger werden, studierte zunächst Theaterwissenschaft. Ende der 40er-Jahre nahm er das Studium der Physik und Philosophie auf und wurde für kurze Zeit Assistent von Karl Raimund Popper an der London School of Economics. Poppers kritischer Rationalismus und skeptische Einstellung gegenüber wissenschaftlicher Wahrheit zogen den jungen Feyerabend in den Bann.
Zitator
Die Vorlesung fing mit einer Bemerkung an, die typisch für Popper war: „Ich bin Professor für wissenschaftliche Methode, aber ich habe ein Problem: es gibt keine wissenschaftliche Methode“.
Sprecher
Poppers Prinzip des Falsifizierens, das besagt, dass eine wissenschaftliche Theorie nur dann wirklich gut ist, wenn man diese auch widerlegen kann, begeisterte Feyerabend zunächst. Einige Jahre später allerdings kam es aus persönlichen Gründen zum Zerwürfnis zwischen Popper und Feyerabend. Ein Grund war sicher auch Poppers zunehmender wissenschaftstheoretischer Eigensinn, seine Idee des Falsifizierens erstarrte zum akademischen Dogma, das Feyerabend auf die Palme brachte. Bei vielen späteren Gelegenheiten, ob privat oder auf akademischer Bühne, teilte Feyerabend öfters gegen Popper aus; einmal bezeichnete er ihn gar als
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Ayatollah Popper. Noch auf Vermittlung Poppers hin begann Feyerabend 1955 seine bewegte akademische Karriere an der University of Bristol.
Zitator
Als ich später in Kalifornien war, erstreckte sich meine Rastlosigkeit auf mehrere Kontinente: ich hatte einen Job, bekam einen anderen dazu und dann noch einen, bis ich mich die meiste Zeit in der Luft aufhielt.
Sprecherin
Berühmt wurde Paul Feyerabend als reisender Philosophie-Professor: Von Auckland führte sein Weg über die Gesamthochschule Kassel, nach London, Berlin, an die University of Berkeley und zuletzt an die Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich. Feyerabend war vielleicht der erste „Popstar“ des Wissenschaftsbetriebes. Seinen akademischen Widersachern galt er allerdings als „größter Feind der Wissenschaften“, der mit seiner These vom “Anything goes“ – „Alles ist möglich“ als Scharlatan missverstanden wurde. Nicht Beliebigkeit, sondern erkenntniserweiternde Vielfalt war sein Credo.
OT Lothar Schäfer Der Geist der 68er wirkt schon sehr in ihm, da geht es um Befreiung, um Hedonismus, um das Abschütteln von Zwängen und Regulierungen.
OT Paul Hoyningen Es gab in Zürich immer zwei Veranstaltungen in einem Semester. Das eine war eine Vorlesung. Diese Vorlesungen waren in der Tat hervorragend besucht. 200-300 Leute.
Sprecherin
Paul Hoyningen erlebte Paul Feyerabend 1980 als flippigen, geistvollen und in jeder Hinsicht unkonventionellen Hochschullehrer, der gegen großen Widerstand an die ehrwürdige Eidgenössische Technische Hochschule nach Zürich berufen wurde.
Sprecher
Feyerabend war ein rastloser Arbeiter, der in kürzester Zeit viele Bücher konsumieren konnte und oft an mehreren Artikeln gleichzeitig arbeitete. Seine eigenen Bücher und Aufsatzsammlungen waren oft stilistisch makellose Polemiken gegen Dogmen der Wissenschaftsgeschichte und von ihm entdeckte Irrwege der Wissenschaft. Neben seinem Hauptwerk „Wider den Methodenzwang“ galten „Wissenschaft als Kunst“ und „Erkenntnis für freie Menschen“ als die bekanntesten Bücher mit ihren griffigen Thesen, Polemiken und Invektiven gegen die Allmacht wissenschaftlicher Institutionen. Es macht immer noch Spaß, seinen eloquenten, entspannten Sprachstil zu lesen, der vielen akademischen Kontrahenten nicht nüchtern genug erschien. Mit ungebremster Leidenschaft attackierte er immer wieder das Establishment des Wissenschaftsbetriebes und dessen Anspruch auf Deutungshoheit. Auch in einem seiner letzten Fernsehinterviews aus dem Jahr 1993 mokierte sich Feyerabend über den institutionellen Missbrauch mächtig klingender Begriffe wie „Vernunft“ oder „Wahrheit“.
OT Paul Feyerabend Was ist das: die Wahrheit!? Ich verstehe es völlig, wenn mir jemand sagt, also gestern hast Du mich wirklich angelogen. Aber: Was D i e Wahrheit ist, da hab ich
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keine Ahnung. Es scheint mir aber wo das Wort DIE WAHRHEIT auftaucht, dass derjenige Mensch, der von der Wahrheit spricht, immer seine Privatphilosophie darunter mit einschiebt und sagt: Da es so und so ist, müssen wir es eben s o machen, nicht?
Sprecherin
Im Laufe seiner Lehrjahre wurde Feyerabend zum reisenden Wissenschaftsphilosophen, der nach eigener Aussage eher ein fauler Mensch war und es als sehr angenehm empfand, bei hohem Gehalt wenig Lehrveranstaltungen durchziehen zu müssen. In Berkeley fühlte er sich ausgesprochen wohl, obwohl er die geliebte Oper in dieser „Kulturwüste“ vermisste. Mehrmals zog er hier um, einmal auch wegen einer Ratte, die er in Anlehnung an den berühmten Philosophen „Kautsky“ nannte. Furchtbar gern schaute er Fernsehserien, besonders Kriminalfilme, fieberte mit bei Live-Übertragungen amerikanischer Wrestling-Meisterschaften. Etwas von diesem leichtfüßigen american way of life scheint zumindest atmosphärisch in seine akademische Arbeit eingeflossen zu sein. So kostete er im Hörsaal das spielerische, mitunter dadaistische Moment voll aus, wenn er wie ein Mime auftrat oder sich blitzgescheite Rededuelle mit Gästen und Kollegen lieferte.
OT Paul Hoyningen Das war eine unglaubliche Show, die er in Vorlesungen und Vorträgen gemacht hat, unglaublich lebendig, mit großem Charisma; er hat immer vollkommen frei geredet. Praktisch druckreif. Mit unglaublicher Ausstrahlung und Präsenz. Er humpelte ja an einer Krücke rum, weil er eine Kriegsverletzung hatte. Dann humpelte er auf der Bühne im Hörsaal, gestikulierend und auch mit großer Mimik. Viel eher ein Schauspieler als was man sonst an deutschsprachigen Universitäten von den Professoren so gewöhnt ist.
Sprecherin
So beendete er einmal ein Publikumsgespräch an der Gesamthochschule Kassel unvermittelt und brüsk, ganz im Stil einer Diva:
Zitator
Ja und nun, leider: Ich habe ein Taxi bestellt, ich muss gehen – gute Nacht, bye bye.
Sprecher
Wie ein böser Fluch lastete der Slogan „Anything Goes“ – „Alles ist möglich“ – auf Paul Feyerabends kritischem Denken, das er in seinem 1975 in England veröffentlichten Hauptwerk „Against Method“ – „Wider den Methodenzwang“ – wissenschaftshistorisch zugespitzt hat. Da taucht auch – fast wie nebenbei gesprochen – jener berühmte Satz „Alles ist möglich“ auf, der Feyerabend den Ruf einbrachte, er propagiere die Beliebigkeit in der Forschung – ganz im Gegensatz zur streng methodengeleiteten Wissenschaft. Feyerabend präzisierte seine Formulierung in einer rückblickenden Replik an seine Kritiker:
Zitator
Mit dem Slogan „Anything goes“ ist die Sache aber sehr einfach. Der Slogan kommt im Text nur einmal vor, und es wird genau erklärt, was gemeint ist: Wer sich dem reichen, von der Geschichte gelieferten Material zuwendet und es nicht darauf abgesehen hat, es zu verdünnen, um seine niedrigen Instinkte zu befriedigen, nämlich die Sucht nach geistiger Sicherheit in Form von „Klarheit“, „Präzision“,
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„Objektivität“, „Wahrheit“, der wird einsehen, dass es nur einen Grundsatz gibt, der sich unter allen Umständen und in allen Stadien der menschlichen Entwicklung vertreten lässt. Es ist der Grundsatz „Anything goes“.
Sprecher
Fast vierzig Jahre nach ihrer Veröffentlichung lohnt es, sich diese Streitschrift, die Feyerabend viel Ärger einbrachte, wiederzuentdecken, meint auch sein Biograph Malte Oberschelp.
OT Malte Oberschelp Sein Buch „Wider den Methodenzwang“ war als Gegenstück gedacht zu einem ultrarationalistischen Buch seines Freundes Imre Lakatos. Da dieses Buch nicht erscheinen konnte, weil Lakatos vorher gestorben ist, war dieses komische Buch plötzlich in der Welt mit all seinen absurden Thesen, die Feyerabend viel radikaler ausgebaut hat, um eine Diskussion in Gang zu bringen.
Sprecher
Der ungarische Philosoph Imre Lakatos vertrat eine streng mathematisch aufgebaute Erkenntnislehre, die eine Art Wettkampf guter und schlechter Theorien propagierte, gedacht als raffinierte Weiterentwicklung des Popperschen Falsifizierungsdogmas. Für Feyerabend stand dagegen weniger die Brauchbarkeit und Strenge einer Theorie im Mittelpunkt, sondern mehr der historische Prozess wissenschaftlicher Erkenntnis. Wissenschaftlicher Fortschritt könne eben nicht nur herbeigeführt werden, indem man bestimmte methodologische Regeln einhält. Regeln hatten für Feyerabend eine nur begrenzte Gültigkeit. Fortschritt sei darüber hinaus nur möglich, wenn man Grenzen überschreitet oder diese sogar ignoriert. Hätte zum Beispiel Galileo Galilei die in seiner Zeit alle gültigen Regeln und Gesetze befolgt, so Feyerabend, hätte es nie die bahnbrechende Kopernikanische-Galileische Wende geben. Viele Kritiker stürzten sich auf Feyerabends provozierende Aussprüche, die den Beigeschmack des Anarchismus hatten oder einfach nur antiwissenschaftlich klangen. Von allen Seiten hagelte es böse Kritik: Den kritischen Rationalisten war er zu irrational, der feministischen Wissenschaftstheorie zu chauvinistisch und dem ganzen akademischen Betrieb zu wenig positiv. Feyerabend war kein Ideen-Lieferant für ein nagelneues Denk-System.
OT Malte Oberschelp Er hat sehr betroffen auf diese Angriffe reagiert, die nach dem Erscheinen seines Hauptwerks “Wider den Methodenzwang“ von allen Seiten auf ihn eingeprasselt sind. Von Wissenschaftlern, von Feministinnen, von allen Seiten. Das lag natürlich daran, dass er übertrieben hat, dass er Positionen aufgegriffen hat, die er nicht selber vertreten hat.
Sprecher
„Ohne häufiges Abrücken von der Vernunft kein Fortschritt“, heißt es bei Feyerabend, und „Vernunft“ sowie die „verdummende Wirkung der Gesetze der Vernunft“ stehen bei ihm auf der gleichen untersten Stufe wie „Die Wahrheit“ oder „Objektivität“ oder „Gerechtigkeit“ oder „Liebe“ – alles in seinem Sinne Wortfetische, die er entzaubert hat.
OT Lothar Schäfer Ähnlich wie Lichtenberg vielleicht. Lichtenberg war ja auch ein witziger, geistreicher
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Mann, der sich auch geweigert hat, Systeme zu bauen. Der auch der Meinung war, in der Wissenschaft geht es nicht gut voran, wenn man Systeme baut. Wir sind ja alle noch beim Sortieren und beim Suchen. Er hat eine Maxime sich zu fragen, könnte dieses nicht auch falsch sein. Das ist eine gute Feyerabend-Kennzeichnung.
Zitator
Einige lobten mein Plädoyer für einen Abbau des Dogmatismus, andere sahen in mir „den schlimmsten Feind“ der Wissenschaft“ – und warum? Weil ich gesagt hatte, dass auch solche Auffassungen, die nicht mit wissenschaftlichen Institutionen verbunden sind, ihren Wert haben können. Die Naturwissenschaftler dachten keineswegs immer so. Darwin hatte eine Menge von Tierzüchtern und Natur forschenden Amateuren gelernt. Descartes, Newton, Joule, Whewell gaben für einige ihrer elementarsten Annahmen religiöse Begründungen an.
OT Lothar Schäfer All seine Kritik an der Methodologie, die war ja inspiriert von seiner Überzeugung, man muss der Wissenschaftsentwicklung den größten Freiraum schaffen und auf ihre Entwicklung kommt es an. Er war ja der Meinung, der Fortschritt wird eintreten und ist wünschenswert und die Wissenschaft erschien in dieser Perspektive noch als ein Gut, das mit der Aufklärung verbunden war und mit der Befreiung vom Unglauben.
Sprecher
2007 entdeckten die Philosophen Helmut Heit und Eric Oberheim im Nachlass von Paul Feyerabend das maschinengeschriebene Manuskript einer auf drei Bände angelegten Naturphilosophie.
OT Helmut Heit Die Naturphilosophie von Paul Feyerabend ist der stilistisch sehr schön gelungene Versuch, die Geschichte der menschlichen Naturauffassung zu rekonstruieren, mit dem Ziel zu zeigen, dass wir einen viel größeren Reichtum an Naturauffassungen haben als in einem verengten naturwissenschaftlichen Bild vielleicht zu haben ist.
Sprecher
Immer wieder entdeckte Feyerabend in der antiken Philosophie Ideen, die seine Vorstellung einer alternativen, vergleichenden Wissenschaftsgeschichte stützten und für ihn eine Brücke bildeten zwischen dem scheinbar irrationalem Mythos und streng logischer Forschung; und immer wieder reflektierte Feyerabend über die schmerzliche Tilgung mythischer Erzählungen in der Denk-Welt abendländischer Philosophie.
OT Paul Feyerabend Wenn man auf objektive Weise aufklären will, d.h. auf niedere und höhere Götter und Geister verjagende Weise, was in einem Wald vor sich geht. Das verändert die Sicht der Leute und die Götter verschwinden, wie der Plutarch geschrieben hat: Der große Pan ist tot. Schon lange vor dem Nietzsche mit seinem sentimentalen Gott ist tot.
Sprecher
Feyerabend zeigt in seiner Naturphilosophie einerseits, dass in Kunst, Mythos und Religion bestimmte Formen der Weltauffassung enthalten sind und dass man diese Modelle wie theoretische Konzeptionen interpretieren kann. Auf der anderen Seite
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zeigt er, dass wissenschaftliche Theorien durchaus künstlerische Dimensionen haben, dass auch dort auf eine kreative Weise interpretierend mit Datenmaterial umgegangen wird. Ähnlich wie ein Baumeister aus einem Stein ein Kunstwerk schafft, so schafft ein Wissenschaftler aus einer amorphen Masse von Daten eine Theorie. Diese Prozesse sind gar nicht so weit voneinander entfernt, wie es auf dem ersten Blick erscheint. Helmut Heit.
OT Helmut Heit Man kann von zwei Kerngedanken in der Naturphilosophie sprechen. Zum einen skizziert Feyerabend alternative Weltauffassungen die zeigen sollen, dass es sich dort um funktional erfolgreiche zusammenhängende Formen der Weltanschauung handelt, mit denen die Menschen ihr praktisches Überleben erfolgreich sicherstellen.
Zitator
Wenn ich mir ansehe, wie viel die Kulturen voneinander gelernt und wie unbefangen sie das gesammelte Material übernommen haben, dann komme ich zu dem Schluss, dass jede Kultur potentiell alle Kulturen in sich birgt und dass bestimmte kulturelle Züge nichts anderes sind als die wandelbaren Ausdrucksformen einer einzigen menschlichen Natur.
Sprecher
Beinahe zeitgleich mit dem Wissenschaftsphilosophen Thomas Kuhn hat Feyerabend die Idee inkommensurabler Theorien in seine Kritik der Forschung eingeführt. Inkommensurabel sind Begriffe, Weltbilder oder Ideen, die in einer Theorie funktionieren, in einer anderen aber nicht oder nur ungenau. Sie stehen wertgleich nebeneinander, mal sich ausschließend, mal sich ideell ergänzend. In seiner Naturphilosophie entwirft Feyerabend noch stringenter vielleicht als in „Wider den Methodenzwang“ diese Idee paralleler Wissenschaftsentwürfe.
OT Helmut Heit Welche Bedeutung hat Wissenschaft in unserer Welt? Welche Bedeutung sollte sie haben? Welche kulturellen Einschätzungen von Wissenschaft sind legitim? Diese Probleme stellen sich nach wie vor, weil Wissenschaft mehr denn je ein ganz zentraler Bestandteil unserer täglichen Lebensvollzüge ist, insofern wüsste man natürlich gerne, womit wir es dort zu tun haben. Das bedeutet: Man muss generelle Wissenschaftsphilosophie nach wie vor betreiben und ernst nehmen, mit Blick auf die aktuellen Konstellationen.
Sprecher
Hierfür hat Paul Feyerabend in einer ganz grundlegenden Analyse der Geschichte und der Gegenwart der Wissenschaft in seiner Zeit, in der er lebte und arbeitete, die Augen geöffnet. Ob Paul Feyerabend ein Prophet der heutigen Wissensgesellschaft war, mit ihren im Internet generierten Wissensnetzwerken und der weltweit in Echtzeit verfügbaren schier unbegrenzten Wissensmenge, bleibt natürlich unbeantwortet.
Sprecher
Die Ökonomisierung des Wissens und die damit verknüpften Zwänge dürften Feyerabend missfallen haben; er träumte ja den naiv gescholtenen Traum einer von ökonomischen und politischen Zwängen befreiten Wissensgesellschaft. So wie in seiner Fragment gebliebenen Naturphilosophie.
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Zitator
Seite an Seite mit der großen Masse des orthodoxen wissenschaftlichen Betriebs, der sich mehr und mehr in ein business verwandelt, und von unglücklichen, furchtsamen, aber eingebildeten Sklavenseelen vorwärts gestoßen wird, erhebt sich ein Unternehmen, in dem Mittel wissenschaftlicher Forschung nicht zum Aufbau klarer, objektiver Systeme, sondern zur Schöpfung eines Prozesses verwendet werden, der Mensch und Natur zu einer höheren, aber keinesfalls totalitären Einheit verschmilzt.
Sprecher
Paul Feyerabend war sicher auch ein Kind seiner Zeit, denn gerade die Form einer ökologisch formulierten Wissenschaftskritik entsprang zu Teilen der ökologisch-alternativen Denkwelt der 70er-Jahre, die an ihrer Aktualität allerdings nichts eingebüßt hat. Ob er wirklich zum größten Feind der Wissenschaft und moderner Forschungseinrichtungen geworden wäre, ist anzuzweifeln. Forschung aus ethischen oder ideologischen Gründen zu begrenzen war seine Sache nicht. Was für Feyerabend zählte, war eher der konkrete Fall, die Übernahme persönlicher Verantwortung. In seinem letzten Fernsehinterview schnitt er ein besonders brisantes Thema an:
OT Paul Feyerabend Nehmen wir Tierversuche. Ein von mir sehr geliebter Mensch ist von einer schweren Krankheit bedroht. Es scheint von einer großen Wahrscheinlichkeit zu sein, dass wenn man einen bestimmten Tierversuch anstellt, der dieses Tier umbringt und diese Person eben rettet. Vor solch eine Entscheidung möchte ich die Leute gestellt sehen, nicht im Allgemeinen. Ich bin gespannt wie ein Antivivisektionist, wie die Leute sich da entscheiden werden. Ich würde mich für die geliebte Person entscheiden, was denn sonst.
Sprecherin
1989 heiratete Feyerabend die italienische Physikerin Grazia Borrini. Sie war die vierte und sicher wichtigste Partnerin in seinem Leben, seine große Liebe und Ratgeberin der späten Jahre. In seiner Autobiographie Zeitverschwendung, die er kurz vor seinem Tod vollenden konnte, widmete Feyerabend die letzten Seiten seiner großen Liebe und nicht etwa dem Kampf gegen das Wissenschafts-Business.
Zitat
Ich empfinde größte Bewunderung für sie, für ihre Intelligenz, ihre Beharrlichkeit, ihre Stärke in der Not, ihre Güte – die sie gelegentlich nicht davon abhält, gelegentlich ganz schön heftig zu werden.
Sprecherin
Mit ihr hatte Feyerabend während seiner letzten Lebensjahre eine erfüllte und gleichberechtigte Beziehung, ganz anders als in den drei Ehen zuvor, die der Frauenheld und notorische Verführer nicht sehr ernst genommen haben muss. Am Ende also blieb die Liebe. Wieder so ein und diesmal kitschiges Missverständnis? Altersmilde blickte der todkranke Philosoph, er war an einem Hirntumor erkrankt, auf sein streitbares Denker-Leben zurück.
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OT Paul Feyerabend Was Menschen heutzutage brauchen, ist mehr Freundlichkeit und Hilfe als Aufklärung und weiß Gott noch was. Viele Leute sind ja schon aufgeklärt mit politischen Skandalen. Mit dem Wissen, dass viele eh nichts wissen und viel Geld einstecken. Das sind ja alte Geschichten. Im alten Griechenland heißt es ja schon. Ich renn von einem Arzt zum anderen. Sagt Aristophanes. Viel Geld wird verlangt und geheilt werde ich nicht.
Sprecher
Vielleicht bleibt von Paul Feyerabend nur das Bild eines aufmüpfigen akademischen Performers haften, der nicht selten lieber im Kino und in der Oper saß als im Hörsaal und frech palavernd auf seinen Krücken durch die Flure humpelte, der vor einem King Kong-Filmplakat posierte und mit umgebundener Schürze freudestrahlend Geschirr spülte? Seine Bücher sind keine Pflichtlektüre mehr für angehende Wissenschaftstheoretiker, es sind aber wichtige Dokumente eines geistigen Umbruches, der aus der statischen Ruhe akademischer Selbstzufriedenheit geradewegs in die vernetzte digitale Welt der flüchtigen Moderne geführt hat.
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